Die Inselpastorin - Pamela Hansen - E-Book
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Die Inselpastorin E-Book

Pamela Hansen

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Beschreibung

Ein herzerwärmendes Buch über das besondere Leben auf Deutschlands einziger Hochseeinsel. Pamela Hansen erzählt auf ebenso lustige wie anrührende Weise, wie es sich als Pastorin und als Mensch mitten in der Nordsee so lebt. Denn wenn das Pfarrhaus umringt von Wasser ist, muss man sich auf so einiges einstellen – vor allem, wenn man sich plötzlich am Haken eines Helikopters der Seenotrettung wiederfindet oder beinahe in eine Robbenkolonie stolpert. Zum Glück steht ihr die Inselgemeinschaft zur Seite, die sich schnell als große, liebenswerte Familie entpuppt. Welche Abenteuer der Küstenwind wohl noch für Die Inselpastorin an Land spült?

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Seitenzahl: 332

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Pamela Hansen

Die Inselpastorin

Mein Leben mitten in der Nordsee

 

 

 

Über dieses Buch

«Solange es nicht Hallig Hooge oder Helgoland wird, ist alles okay.» Als es Pamela Hansen dann doch nach Helgoland verschlägt, um dort die neue Inselpastorin zu werden, muss sie sich auf so einiges Neue einstellen: Seelsorgegespräche auf dem Klippenrandweg, Winschen mit der Seenotrettung oder Begegnungen mit den größten Raubtieren, die Deutschland zu bieten hat: den Kegelrobben! Warum ihr oberster Boss dennoch recht daran getan hat, sie auf diesen Felsen zu pflanzen, und sie sich ausgerechnet dort dem Himmel ganz nah fühlt, erzählt sie auf ebenso lustige wie anrührende Weise.

Vita

Pamela Hansen, geboren 1971, studierte in Kiel Theologie und hatte ihre erste Stelle als Pfarrerin in den USA. 2011 kehrte sie nach Deutschland zurück. Bevor Gott die Autorin auf diesen Felsen mitten in der Nordsee verpflanzte, wusste sie so gut wie nichts über Helgoland. Heute ist es für sie ein Sehnsuchtsort.

Für meinen großen Boss

und für den Wanderhemdbügler,

die es beide immer wieder schaffen,

mich zu den unmöglichsten Dingen

zu motivieren.

Prolog

«Solange es nicht Hallig Hooge oder Helgoland wird, ist alles okay.» Das waren die Worte meines damaligen Mannes, als wir uns im Sommer 2011 nach einem fünfjährigen USA-Aufenthalt überlegten, wo in Deutschland ich eine Pfarrstelle annehmen könnte. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich im Grunde freie Wahl hätte bei allem, was mir das Landeskirchenamt vorschlug. Nur eben bitte nicht Hallig Hooge oder Helgoland. Eine weitere Bedingung hatte mein Mann noch: Landschaftlich schön sollte es gerne sein!

Ich kam dann im Herbst 2011 von einem Gespräch im Landeskirchenamt in Kiel zurück und wusste nicht recht, wie ich die Botschaft überbringen sollte, dass man mir genau das vorgeschlagen hatte: Helgoland!

Mein Mann hatte natürlich gleich gefragt: «Na, und? Wie war’s? Was haben sie gesagt?»

Und ich antwortete: «Es wird nicht Hallig Hooge.»

Dann nahm ich innerlich Anlauf und gestand: «Sie haben mir allerdings tatsächlich Helgoland vorgeschlagen.»

Daraufhin herrschte erst einmal ein paar Minuten Schweigen.

Schließlich fragte ich: «Könntest du dir das vorstellen? Nach Helgoland zu ziehen und da zu leben?»

Erneutes Schweigen.

«Wie viele Einwohner hat Helgoland eigentlich?» Die Frage kam zögerlich.

Ich kramte in meinem Gedächtnis: «So etwa 1400.»

«Helgoland ist ziemlich klein, oder?»

«Ungefähr eineinhalb Quadratkilometer. Es gibt immerhin ein Unterland, ein Mittelland und ein Oberland. Drei Etagen sozusagen. Ich war als Kind mal mit einer Jugendgruppe auf Helgoland und erinnere mich noch, dass ich ganz beeindruckt von dem Fahrstuhl war, der das Unterland mit dem Oberland verbindet. Natürlich mussten wir die Treppe nehmen.»

Nochmals Schweigen.

Schließlich meinte mein Mann: «Wenn es auf Helgoland auch für mich eine Stelle gibt, sollten wir es zumindest versuchen. Und wenn es nicht gutgeht, müssen wir da eben wieder weg.»

Ich nickte: «Das klingt nach einem Plan. Außerdem wolltest du ‹landschaftlich schön›. Jetzt kriegst du ‹landschaftlich schön›.»

In den nächsten Tagen wurden natürlich noch so einige Vor- und Nachteile abgewogen. Es wurde viel überlegt und geredet, und noch mehr überlegt und weitergeredet. Wir zogen Erkundigungen ein, wie es arbeitstechnisch für meinen Mann auf Helgoland aussehen würde, und: Sie suchten tatsächlich eine Lehrerin oder einen Lehrer[*]! So dauerte es am Ende gar nicht so lange, bis die Entscheidung getroffen war: Ja, wir wollen es auf Helgoland versuchen. Der abschließende Kommentar meines Mannes dazu war: «Auf Hallig Hooge hätte ich mich aber wirklich nicht eingelassen!»

Schnell teilte ich dem Landeskirchenamt unsere Entscheidung mit. Es wurde alles auf den Weg gebracht und der Umzug organisiert.

 

Es gibt Leute, die der Meinung sind, man sei auf Helgoland dem Himmel näher als anderswo. Das kann ich total unterstreichen! Als es mich dorthin verschlug, war ich dem Himmel wirklich schon sehr nah. Umgezogen bin ich nämlich per Flugzeug. Der Hund auch. Das Hab und Gut nicht. Das kam mit dem Schiff hinterher. Die Ankunft hier war schon so wirklich Helgoland: mit dem Flieger auf die vorgelagerte kleinere Insel, die Düne, und von da ging es mit der Dünenfähre rüber zur Hauptinsel. Manche Leute behaupten ja, die Fähre sei ein Dünentaxi, vermutlich, weil es schöner klingt. Das Dünentaxi gibt es auch, ist aber ein echtes Taxi, also ein Auto. Dieses Taxi verfrachtete mich und meine Hundedame Jessie vom Flugplatz zum Anleger der Dünenfähre. Damals war Jessie noch eine Hundedame. Heute ist sie ziemlich in die Jahre gekommen und eher eine Oti (Helgoländisch für «Oma»).

In Sachen Helgolandreisen war ich zu diesem Zeitpunkt bereits Profi, denn meinen ersten hochoffiziellen Besuch auf dieser Nordseeinsel hatte ich schon hinter mir. Der hatte zunächst vor Weihnachten stattfinden sollen, aber ich hatte Schiss bekommen, dass ich womöglich über Weihnachten ohne meine Familie auf Helgoland festhängen könnte. Im Winter ist die Gefahr nämlich ziemlich groß, dass witterungsbedingt schon mal Flüge ausfallen. Bei Nebel. Und Schiffe fallen auch mal aus. Bei Sturm. So hatte das erste Vorstellungsgespräch vom Büro unseres Propstes aus via Skype stattgefunden, denn das pröpstliche Büro[*] im schönen Dithmarschen in Schleswig-Holstein ließ sich im Gegensatz zur Insel auch bei Nebel oder Sturm gut wieder verlassen. Es befand sich ja auf dem Festland und konnte mit dem Auto erreicht werden.

Normalerweise stellt sich die angehende neue Pastorin persönlich in der Gemeinde vor, in der sie tätig werden möchte, damit sich alle beschnuppern und kennenlernen können. Also, sie stellt sich zuerst dem Kirchengemeinderat zu Beschnupperungszwecken vor. Der Rest der Gemeinde ist später dran.

Da ich aber ja witterungsbedingte Bedenken hatte, die Reise zu dieser Jahreszeit nach Helgoland anzutreten, reiste ich, wie schon erwähnt, nach Meldorf ins schöne Dithmarschen. Dort nahm ich in der Kirchenkreisverwaltung zusammen mit dem Propst den ersten Kontakt zum Helgoländer Kirchengemeinderat über das Internet auf. Wir unterhielten uns während dieses digitalen Treffens darüber, wie die Insel so tickt, und natürlich auch, wie ich als Pastorin so ticke. Im Grunde ging es da schon um ein erstes Vorfühlen, ob eine kleine Inselgemeinde mitten in der Nordsee und eine Pastorin, die gerade fünf Jahre in einer Kleinstadt nahe Detroit hinter sich hat, überhaupt zusammenpassen. Immerhin ist das PastorinnenDasein im US-Bundesstaat Michigan ein ganz anderes als das auf Deutschlands einziger Hochseeinsel.

Während des Gesprächs mit dem Kirchengemeinderat erfuhr ich auch, dass tatsächlich gerade die Flüge von und nach Helgoland wegen Nebel ausfielen. Wie gut, dass wir ein «analoges» Treffen gar nicht erst versucht hatten.

Dieser erste Kontakt mit Hilfe der modernen Technik hatte jedenfalls bei den Beteiligten einen positiven Eindruck hinterlassen, denn wir alle konnten uns gut vorstellen, dass ich in der Kirchengemeinde auf Helgoland meinen Dienst als Pastorin antrete. Auch wenn ich schon einen ersten Vorgeschmack bekommen hatte, was mich in Zukunft wetter- und reisetechnisch erwartete, freute ich mich auf die neue Aufgabe und auf die netten Menschen, die mir auf dem Bildschirm entgegengelächelt hatten.

Woran ich mich heute noch genau erinnern kann, ist ein Gedanke, der mir während des Gesprächs durch den Kopf schoss: Da, wo die zusammensitzen, sieht es saugemütlich aus! Wie sich später herausstellte, war das das pastorale Amtszimmer. Ich finde es heute immer noch saugemütlich!

Die persönliche Vorstellungsrunde wurde schließlich Anfang Januar nachgeholt. Per Flugzeug. Passenderweise zum Dreikönigstag war ich zwar nicht dem Stern, aber doch meiner Berufung gefolgt und zum persönlichen Kennenlernen auf die Insel gereist.

 

Zum Zeitpunkt meines offiziellen Umzugs wusste ich also schon, was mich erwartete, und war nach der Landung fröhlich mit Jessie auf die Dünenfähre geklettert. Und dann war ich verwirrt. Wir fuhren nämlich nicht dahin, wo wir im Januar hingefahren waren: zur Landungsbrücke. Wir fuhren in den Nordosthafen, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, dass der überhaupt existiert.

Ich hatte mir schon in allen Einzelheiten ausgemalt, wie meine Reise verlaufen würde: Wie ich in dem kleinen Örtchen Österdeichstrich in der Nähe von Büsum das Flugzeug besteige, wie wir über die Nordsee fliegen, wie wir landen, wie ich freundlich zu den Leuten am Flugplatz bin (ich bin schließlich die neue Pastorin), wie ich mit der Dünenfähre zur Hauptinsel schippere und wie ich an der Landungsbrücke in Empfang genommen werde. Und genau hier holte die Realität das Kopfkino ein. Denn am Nordosthafen sah alles irgendwie anders aus. Unbekannt. Und mit unbekanntem Terrain bin ich schnell überfordert, weil ich dann auf einmal ganz viel denken muss, um mich zurechtzufinden.

Zum Glück stimmte der letzte Teil meiner Vorstellung. Ich wurde abgeholt! Noch bevor ich mit Jessie von der Dünenfähre runtergeklettert war, sah ich zwei bekannte Gesichter auf der Rampe stehen, an der wir angelegt hatten: zwei liebe Menschen aus meinem Kirchengemeinderat, die sich schon bei meinem Besuch im Januar sehr nett um mich gekümmert hatten.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wollte ich die beiden begrüßen, aber bevor ich überhaupt ein Wort herausbringen konnte, wurde ich schon fest gedrückt.

Ich: «Das ist ja schön, dass ihr mich abholt!»

Sie: «Na klar. Das muss doch sein.»

Ich: «Vor allem, weil ich gar nicht gewusst hätte, wo ich lang muss. Ich weiß nämlich nicht mal, wo ich bin. Letztes Mal bin ich doch woanders angekommen, oder?»

Er: «Ja, an der Landungsbrücke. Das ist da drüben.» Er zeigte mit dem Finger auf einen Punkt irgendwo hinter sich.

Sie: «Und damit du zum Pastorat findest, sind wir hier. Wir bringen dich da hin.»

Ich: «Ach, ist das klasse, endlich hier zu sein!»

Und dann wurde ich noch mal umarmt. Aber erst, nachdem auch Jessie ihre Begrüßungsstreicheleinheiten erhalten hatte.

Der herzliche Empfang am Anleger gab mir tatsächlich das Gefühl: Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause. Seitdem versuche ich, wenn es die Zeit zulässt, meine Gäste auch immer vom Hafen abzuholen und ihnen so zu zeigen: «Schön, dass du da bist!» Das gilt im Übrigen auch für dich, liebe Leserin oder lieber Leser: «Schön, dass du da bist!»

Denn so kann ich dir durch Streiflichter aus meinem Alltag einen Eindruck vermitteln, wie es sich mitten in der Nordsee so lebt – als Pastorin und als Mensch. Dich erwarten Geschichten über Menschliches und Zwischenmenschliches, Inseltypisches, Bauliches und Erbauliches, Tierisches und die Herausforderungen des täglichen Lebens. Wenn du Lust hast, dann komm jetzt mit in meine Welt und sieh dir an, was da so los ist. Aber Vorsicht: Es weht manchmal ein steifer Wind!

Ankunft mit drei Containern

«Die ist mit drei Containern gekommen!»

«Dann muss sie ja einen ziemlich großen Hausstand haben!»

«Na ja, sie muss ja auch ein ganzes Pastorat möblieren!»

«Aber trotzdem: Die sind doch nur zu zweit!»

«Zu zweit mit Hund.»

«Ein Hund braucht aber nicht viel. Was anderes wär’s, wenn sie Kinder hätten.»

«Guck mal, was die da alles auspacken!»

«Das sind aber viele Kartons!»

«Da sind bestimmt Bücher drin. Pastoren haben doch immer viele Bücher.»

So oder so ähnlich muss sich die eine oder andere Unterhaltung zugetragen haben, die an der Ecke des Pastoratsgrundstücks geführt wurde, kurz nachdem mein Hausstand auf der Insel eingetroffen war. Jedenfalls wurde mir das später so berichtet.

Von der Ecke des Pastoratsgrundstücks aus verbreitete sich die Nachricht dann wie ein Lauffeuer über die Insel, sobald der letzte Umzugscontainer vor dem Helgoländer Pastorat abgestellt worden war. Eine Stunde später wusste die ganze Insel bis ins Detail über den Inhalt der drei Container Bescheid. Obwohl diese noch gar nicht ganz ausgepackt waren.

Na gut, das war jetzt etwas übertrieben. Aber ich schwöre, dass ein Großteil der Insel spätestens nach Abtransport des letzten Containers bestens über den Inhalt besagter Container informiert war. Ich weiß das, weil es nicht lange dauerte, bis man mich über den Inseltratsch informiert hatte, der sich mit dem Einzug der neuen Pastorin ins Helgoländer Pastorat befasste. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert. Ich weiß immer noch ziemlich schnell, wer hier was über wen redet.

Ja, ich war tatsächlich mit drei Umzugscontainern auf Helgoland angekommen! Heute finde ich das auch viel, weil ich die Lebensverhältnisse der Insulanerinnen und Insulaner inzwischen gut kenne: Alles hat nur einen beschränkten Raum, weil alles klein ist. Die Insel ist klein. Die Häuser sind klein. Sogar die Drehleiter der Feuerwehr ist klein. Die Keller sind klein – wenn sie überhaupt vorhanden sind. Die Dachböden sind klein – wenn sie überhaupt vorhanden sind. Die Supermärkte sind klein – wenn sie überhaupt … Okay, okay, war ein Scherz. Es gibt immerhin zwei davon. Die Gärten sind klein – wenn sie überhaupt vorhanden sind. Manche Häuser haben nur eine klitzekleine Terrasse. Es gibt auch Häuser, die haben nicht mal diese. Dann steht eine Bank vor der Tür, auf der man ein paar Sonnenstrahlen und etwas frische Luft einfangen kann. Einige Leute haben dafür einen Schrebergarten. Die Schrebergärten sind auch klein. Aber Schrebergärten sind ja überall klein. Das Helgoländer Pastorat ist übrigens auch klein – jedenfalls im Vergleich zu den meisten seiner Pastoratsgeschwister auf dem Festland. Vergleicht man es mit den Häusern hier auf der Insel, ist es allerdings ziemlich groß.

Jedenfalls sollte sich jeder Mensch, der auf dieser Insel lebt, überlegen, wie viel Zeugs er oder sie sich ans Bein bindet. Denn das, was wir in unserem Haushalt anhäufen, muss auch irgendwo untergebracht werden. So gesehen ist die schockierte Aussage «Die ist mit drei Containern gekommen!» schon gut zu verstehen.

Allerdings muss ich zu meiner Verteidigung anführen, dass es sich bei den drei Containern um kleine Container handelte. Es waren keine regulären Zwanzig-Fuß-Container, sondern klitzekleine Zehn-Fuß-Container. So gesehen waren es also nur eineinhalb Container und nicht drei!

Außerdem war in dem letzten Container fast nix drin. Nur meine heißgeliebte Gartenschaukel, die unbedingt mitmusste und die man mir seit dem Einzug ins Helgoländer Pastorat versucht abzuschwatzen. Erfolglos! Die Gartenschaukel steht immer noch im Pastoratsgarten, wird fröhlich hin- und hergeschaukelt und mit Zähnen und Klauen und unter Einsatz meines Lebens gegen alle verteidigt, die irgendwelche unlauteren Absichten haben.

Es passiert dennoch weiterhin mit schöner Regelmäßigkeit, dass mich jemand im Vorbeigehen auf der Schaukel schaukeln sieht, abrupt stehen bleibt und ein massives Abschwatzmanöver startet.

«Du hast es aber gut.» Die meisten Menschen duzen sich hier.

«Ja, ich mache gerade eine kurze Pause.»

«So eine Schaukel ist schon was Schönes.»

«Finde ich auch. Sie war mein erstes amerikanisches Möbelstück. Mein amerikanischer Traum sozusagen. Als ich nach Amerika zog, habe ich mir gleich als Erstes diese Schaukel für die Veranda unseres Hauses gegönnt.»

«Die ist wirklich schön!» (Sehnsüchtiger Blick)

«Ich hänge auch sehr an ihr. Deshalb musste sie unbedingt mit nach Helgoland umziehen, auch wenn dafür ein Extra-Container nötig war.»

«Kann ich verstehen.» (Enttäuschter Blick)

«Hm.»

«Also, wenn du sie mal loswerden willst …»

«Will ich nicht. Ich liebe diese Schaukel.»

«Bei mir würde sie sich auch richtig gut machen. Ich wüsste sogar schon, wo ich sie hinstellen würde.»

«Also, falls der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass ich mich von ihr trennen will, sage ich Bescheid.»

«Mach das, unbedingt.»

«Aber eigentlich werde ich mich erst von ihr trennen, wenn sie auseinandergefallen ist und sich wirklich, wirklich, wirklich nicht mehr reparieren lässt.»

(Niedergeschlagener Blick)

Ich hoffe nur, dass aus der Schaukelsehnsucht nicht irgendwann kriminelle Energie entsteht und meine Schaukel plötzlich verschwunden ist. Ich wüsste nämlich gar nicht, auf welcher Terrasse ich zuerst nachsehen sollte.

 

Aber zurück zum Umzug. Eine Mitarbeiterin der amerikanischen Gemeinde, in der ich als Pastorin arbeitete, erklärte mir mal, dass Psychologinnen folgende Meinung vertreten: Ein Umzug haut das persönliche Stresslevel weit nach oben, in schwindelerregende Höhen. Man muss sich das tatsächlich so vorstellen, als ob jemand auf einen Lukas haut. Nur dass der Stressball nicht gleich wieder runterkommt. Wäre ja auch zu schön. (Gibt’s diese Jahrmarktattraktion eigentlich noch?)

Ich war an dem Tag, an dem die Container ankamen, also ziemlich gestresst. Nicht so, dass der Stressball die Glocke zum Läuten gebracht hätte, aber über die Hälfte der Strecke hatte er schon geschafft. Damit der Stressball nicht über das Ziel hinausschoss, hatte ich die Container-Entladeaktion so organisiert, dass sie mir möglichst wenig zusätzlichen Stress verursachte: Damit alles koordiniert ablaufen konnte, hatte ich mich an der Wohnungstür postiert, und die Möbelpacker mussten an mir vorbei, bevor sie die Wohnung betraten. So konnte ich ihnen die richtige Parkposition für Tische, Schränke, Sitzgelegenheiten und Kartons zuweisen. Ein bisschen wie in dem Film Top Gun, in dem die Einweiser auf dem Deck des Flugzeugträgers ein wahres Ballett aufführen, um den jeweiligen Piloten wissen zu lassen, wo er denn mit seiner Tomcat hinmuss. Wer den Film gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Wer ihn nicht kennt, hat vermutlich den Eindruck, dass die Helgoländer Pastorin öfter mal wirres Zeug von sich gibt.

Wie gesagt, ich hatte die Entladeaktion gut organisiert, und es lief alles nach Plan. Bis zwischen den hin und her flitzenden Möbelpackern ein mir unbekannter Mensch auftauchte und mich ansprach. Dadurch erhöhte sich im Verlauf des folgenden Gesprächs mein Stresslevel um ein Vielfaches. Ich sag nur: Hau den Lukas!

 

Unbekannter Mensch: «Sind Sie Frau Hansen?»

Ich: «Ja, bin ich.»

Unbekannter Mensch: «Na, dann herzlich willkommen.»

Ich: «Danke!»

Zu diesem Zeitpunkt war das Stresslevel noch da, wo es vorher auch war. Ich freute mich nur, dass mich jemand freundlich willkommen hieß.

Möbelpacker Nr. 1 drängelte sich dazwischen: «Ich habe hier Bücherkartons. Wo sollen die hin?»

Ich: «Lassen Sie mal sehen. Was sind das für Bücher?»

Möbelpacker Nr. 1: «Steht ‹Kirche› drauf.»

Ich: «Dann in mein Amtszimmer.»

Möbelpacker Nr. 1: «Wo ist Ihr Amtszimmer?»

Ich: «Da stehen Sie vor.»

Unbekannter Mensch: «Ich brauche den Gottesdienstablauf mit den Liedern für Ihren Vorstellungsgottesdienst, damit die Musiker proben können.»

Ich: «Ach so, ja. Aber …»

Möbelpacker Nr. 2 und 3 kamen mit dem Sofa an: «Wo sollen wir das aufbauen?»

Jetzt geriet die Entladeaktion ins Stocken. Mein Stressniveau erhöhte sich.

Ich: «Im Wohnzimmer. Hinten rechts.»

Unbekannter Mensch: «Wie gesagt, ich hätte gerne den Gottesdienstablauf.»

Ich: «Aber den habe ich noch gar nicht fertig. Und alles, was ich brauche, um den zusammenzustellen, ist noch in den Umzugskartons.»

Mein Stressniveau kam dem roten Bereich gefährlich nahe.

Möbelpacker Nr. 1: «Ich habe hier noch mehr Kartons. Wo sollen die denn hin?»

Möbelpacker 2 und 3: «Wir kommen gleich mit den Regalen. Sie müssen uns kurz sagen, wo wir die aufbauen sollen.»

Mein Stressball hatte fast die Glocke erreicht.

Ich: «Mache ich gleich. Ich muss das hier nur eben kurz regeln.»

Unbekannter Mensch: «Bis wann haben Sie denn den Ablauf fertig?»

Ich: «Keine Ahnung. Mal überlegen. Erst müssen wir die Container entladen. Dann muss ich die richtigen Kartons mit dem Material für die Gottesdienstvorbereitung finden. Ich schätze, in ein paar Tagen könnte er fertig sein. Reicht das?» (War ich eigentlich völlig bescheuert? Das würde ich nie schaffen!)

Unbekannter Mensch: «Ja, das reicht. Danke.»

 

Irgendwann ging mir noch auf, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wer diese unbekannte Person eigentlich war und wie ich ihr den Gottesdienstablauf zukommen lassen sollte. Beziehungsweise, wie ich ihr in ein paar Tagen mitteilen sollte, dass ich es nicht geschafft hatte, den Gottesdienst zu planen.

Nachdem die Gottesdienstablauffrage aber vorerst geklärt war, nahm ich mein Einweisungsballett an der Wohnungstür wieder auf, und alles lief wie am Schnürchen. Den Möbelpackern gelang es, sämtliche Container ordnungsgemäß zu entladen, das Helgoländer Pastorat genauso ordnungsgemäß mit meinem Hausrat zu bestücken und damit mein Stresslevel auf ein erträgliches Niveau zu senken.

Zum Glück war ich relativ schnell wieder relativ gelassen. Denn dadurch hatte dieses besondere Gefühl die Gelegenheit, an die Oberfläche zu treiben: das Gefühl, nicht in ein Pastorat eingezogen zu sein, sondern in ein Ferienhaus. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt, dass sich dieses Ferienhaus-Feeling damals eingestellt und bis heute gehalten hat. Vielleicht hat es mit der Bauweise des Hauses zu tun, vielleicht mit der Tatsache, dass ich ständig den Wind ums Haus wehen und bei geöffneten Fenstern die Wellen rauschen hören kann. Vielleicht liegt es am Leuchtturm, der in den dunklen Stunden alle fünf Sekunden durch die Fenster ins Haus blinkt. Vielleicht ist der Grund der, dass das Pastorat vergleichsweise klein ist. Vielleicht sind es auch die Fußbodenbeläge aus Kork, die in fast allen Räumen zu finden sind. Vielleicht ist es das Schlafzimmer mit Aussicht, durch dessen Fenster man einen Blick auf die Nordsee und auf einen Zipfel der Düne erhaschen kann. Vielleicht ist es der Balkon ebendieses Schlafzimmers, auf dem es sich so wunderbar im Sonnenschein frühstücken lässt. Wenn ich da frühstücken kann, auch wenn noch ein ganzer Arbeitstag vor mir liegt, habe ich immer das Gefühl, in den Ferien zu sein – und sei es nur für eine halbe Stunde.

Dieses Ferienhaus-Feeling ist wirklich schön, denn es hilft mir dabei, den «Stress-Lukas» im Griff zu behalten. Es passiert immer wieder, dass ich alles auf einmal regeln will, und auch ohne Umzug gibt es genügend andere Dinge, um die ich mich am besten sofort kümmern muss. Da ist es dann toll, wenn ich einfach mal aus dem Amtszimmer in meine «Ferienwohnung» flüchten kann, um es mir mit einem Becher Tee und einem Stück Kuchen am Küchentisch gemütlich zu machen. Selbstverständlich lege ich bei der Gelegenheit auch die Füße hoch. Eigentlich lege ich bei fast jeder Gelegenheit die Füße hoch, weil mir das unheimlich hilft zu entspannen.

Es muss also unbedingt ein zweiter Stuhl, ein Hocker, eine Kiste oder sonst irgendwas in der Nähe sein, worauf ich meine Füße platzieren kann. Füße hochlegen ist für mich gleichbedeutend mit Auszeit. Und wenn ich auf dem Weg bin, mir eine solche Auszeit in meiner Wohnung zu gönnen, fühlt es sich nicht an, als würde ich eine Dienstwohnung betreten. Nach Dienstwohnung hat es sich im Grunde noch nie angefühlt, auch wenn das der offizielle Begriff für diese Art von Behausung ist. Nein, es fühlt sich meistens nur nach «meiner Wohnung» an – und hin und wieder auch ein bisschen nach Ferienwohnung. Obwohl ich längst vollständig auf der Insel angekommen bin, habe ich manchmal dieses leise Gefühl, hier in den Ferien zu sein. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich mich wohl fühle.

Ja, ich fühle mich wohl in dem Ferienhaus, das gefüllt ist mit dem Inhalt zweier Umzugscontainer und dessen Garten die Schaukel aus dem dritten Container ziert. Ich fühle mich wohl unter den Menschen, die so gerne über den Hausstand anderer Leute tratschen und die so liebenswert und direkt sein können. Ich fühle mich wohl auf der Insel, die es immer wieder schafft, meinen Stresspegel nach oben schnellen zu lassen, die andererseits aber auch so viel zu bieten hat, was diesen Stresspegel wieder runterholt.

«Wie bist du eigentlich auf Helgoland gelandet?»

Der Nachbar von gegenüber schleppte einen Schaukelstuhl auf die überdachte Veranda meiner Doppelhaushälfte, positionierte ihn strategisch günstig und setzte mich hinein mit den Worten: «Deine Stühle sind ja schon verpackt, und irgendwo musst du schließlich sitzen.»

Das war der Beginn meiner Reise nach Helgoland. Sie hatte nicht in Deutschland begonnen, sondern auf der Veranda eines Hauses in Michigan, wo ich in besagtem Schaukelstuhl saß und dem Beladen eines Umzugscontainers zusah.

Schon oft wurde ich gefragt: «Wie bist du eigentlich auf Helgoland gelandet?» Habe ich keine Lust, lang und breit zu antworten, sage ich: «Mit dem Flugzeug.» Ernte ich daraufhin irritierte Blicke, füge ich noch hinzu: «Ich hätte auch mit dem Fallschirm abspringen können, aber das wollte ich nicht.»

Meistens lasse ich mich aber dazu hinreißen, etwas ausführlicher davon zu erzählen, wie es mich aus den USA ausgerechnet nach Helgoland verschlagen hatte.

 

Als Pastorin in der Nähe von Detroit hatte es mir ausnehmend gut gefallen. Ich hatte mich dann aber doch entschieden, nach Deutschland zurückzukehren, weil ich eine zwanghafte Sicherheitsfanatikerin bin. Der wirtschaftliche Einbruch in der US-amerikanischen Autoindustrie zog einen Rattenschwanz von finanziellen Konsequenzen nach sich, die sich am Ende auch auf meine Gehaltszahlungen auszuwirken drohten. In den USA wird keine Kirchensteuer gezahlt wie bei uns in Deutschland, sondern die Kirchengemeinden finanzieren sich auf direktem Weg mit dem Geld, das in der Kollekte landet. Die Kollekte ist eine Geldsammlung während des Gottesdienstes.

Und wenn ich sage, die Gemeinden finanzieren sich auf direktem Weg von diesem Geld, dann meine ich das auch so: Von ihm werden Strom-, Wasser-, Gas- und Heizrechnungen beglichen, fällige Renovierungen bezahlt, neues Mobiliar angeschafft, und es geht sogar noch ein Zehntel der Einnahmen an die Landeskirche. Von diesem Geld werden ebenfalls sämtliche Gehälter bezahlt. Verlieren die Menschen allerdings reihenweise ihre Arbeit, haben die Kirchengemeinden ein Problem. Ohne Arbeit haben die Mitglieder weniger bis gar kein Geld übrig, das sie in den Kollektenteller tun können. Und ohne Kollekte können keine Gehaltsschecks ausgestellt werden. Das ist der Rattenschwanz, von dem ich sprach, oder zumindest ein Teil davon.

Dass ich nie wusste, ob ich am Ende eines Monats überhaupt einen Gehaltsscheck bekommen würde, verursachte mir zunehmend seelischen Stress. Plötzlich überfielen mich erhebliche Existenzängste. Deshalb beschloss ich, meinem Seelenleiden ein Ende zu setzen und ins sozial gut abgesicherte Deutschland zurückzukehren.

Mein Mann war bereits ein Jahr vor mir zurück nach Deutschland gezogen, da seine Beurlaubung nicht verlängert worden war und er seinen Beamtenstatus hätte aufgeben müssen, um in den USA bleiben zu können. Dazu kam, dass er ohnehin keine Arbeitserlaubnis gehabt hatte und folglich nichts dazuverdienen durfte. Noch mehr bedrohte Existenz also. Mein Mann hatte sich inzwischen in unserer alten Heimat bereits wieder häuslich eingerichtet, und ich kam mit etwas Verspätung hinterher.

So saß ich also am Auszugstag auf meiner Veranda im Schaukelstuhl meines Nachbarn und versuchte, mir keine Sorgen um die korrekte Beladung des Umzugscontainers zu machen.

Der war doppelt so groß gewesen wie die «zehnfüßigen», die mir nach Helgoland gefolgt waren. Dafür war es dann aber auch nur einer.

Dieser Container parkte damals in dem kleinen Örtchen Wyandotte vor dem «Chestnuthouse» und wartete darauf, mit meinem Hab und Gut bestückt zu werden. Das Chestnuthouse, also Kastanienhaus, war von meiner Vermieterin so betitelt worden, weil es sich in der Chestnut Street, in der Kastanienstraße befand. Es sah aber auch wirklich aus wie ein Chestnuthouse: In den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gebaut, mit rotbrauner Farbe und einer überdachten und erhöhten Veranda nach vorne zur Kastanienstraße raus, die gesäumt war mit, natürlich, Kastanienbäumen.

Ich schaukelte also auf der Veranda vor mich hin und freute mich, dass ich den Möbelpackerinnen unter den Füßen raus war. (Für alle, die diese norddeutsche Redewendung nicht kennen: «Unter den Füßen raus sein» bedeutet «nicht im Weg sein».) Die Möbelpackerinnen freuten sich vermutlich noch mehr, dass ich ihnen unter den Füßen raus war, denn ich war ihnen anfangs schon ziemlich auf den Senkel gegangen, weil ich unbedingt mithelfen wollte. Ich wusste sonst nichts mit mir anzufangen. Ich kann einfach nicht rumstehen und anderen Leuten bei der Arbeit zugucken. Sie machten mir jedoch schnell klar, dass genau das mein Job war: mich entspannt zurückzulehnen und sie in Ruhe ihre Arbeit machen zu lassen. Also saß ich in der Gegend rum und sah den Leuten bei der Arbeit zu.

Mein Leben, verpackt in einem Zwanzig-Fuß-Container, sollte von Wyandotte, Michigan, zunächst nach Heide, Schleswig-Holstein, verschifft werden. Dort hatte mein Mann ein Jahr zuvor eine Wohnung bezogen. Allerdings zog ich deutlich vor meinem Hausstand ein, denn der Container brauchte ein paar Wochen, bis er es von Michigan nach Schleswig-Holstein geschafft hatte.

Nach meiner Ankunft rückte ich einigermaßen zügig beim Landeskirchenamt an, nach dem Motto: «So, ich bin wieder da. Habt ihr eine Stelle für mich?»

Wäre es nach meiner Mutter gegangen, hätte ich noch zügiger den Kontakt zu besagtem Amt aufgenommen. Gleich nachdem sie das Pelzgesicht (unseren Hund) und mich auf dem Hamburger Flughafen begrüßt und umarmt hatte, sagte sie: «Du musst dich unbedingt morgen wegen einer Pfarrstelle beim Kirchenamt melden.»

«Mama, jetzt lass mich doch erst mal ankommen und mich wieder einigermaßen in Deutschland einleben», widersprach ich. «Dann ist immer noch Zeit, um mich beim Kirchenamt zu melden. Außerdem ist morgen Feiertag!»

Ich war am 1. Juni 2011 gelandet und der 2. Juni war Himmelfahrt. Auch nach fünf Jahren USA hatte ich die deutschen Feiertage durchaus noch auf dem Schirm.

Mama: «Dann aber gleich nächste Woche. Warte nicht zu lange, das ist wichtig! Nicht dass du die Chance auf eine Pfarrstelle verpasst.»

Ich: «Ja, Mama.»

Im Grunde stimmte ich ihr natürlich zu, aber nach fünf Jahren im Ausland ist es nicht so leicht, sich wieder auf das Leben in der alten Heimat einzustellen. Das braucht seine Zeit. Ein Mitarbeiter des Missionszentrums (damals hieß es noch so, heute ist es das Zentrum für Mission und Ökumene) hatte mir mal erklärt, dass der Kulturschock gar nicht so groß sei, wie man denkt, wenn es in ein fremdes Land geht. Der Kulturschock bei der Rückkehr nach Hause sei viel größer. Ich kann nur sagen: Recht hat er!

Ein paar Wochen brauchte ich also, bis ich mich in Deutschland wieder zurechtfand. Ein echtes Problem waren die Panikattacken beim Autofahren. In Deutschland waren die Straßen während meiner Abwesenheit offensichtlich geschrumpft. Sie waren auf einmal furchtbar schmal, und ich war fest davon überzeugt, dass selbst auf der Autobahn ein Fahrzeug nicht an einem anderen vorbeifahren konnte, weil die Spuren im Leben nicht breit genug waren. Herzrasen bekam ich, wenn es sich bei einem dieser Autos auch noch um einen Lkw handelte oder sich die Fahrspuren bei einer Baustelle noch weiter verengten! Wie hätte ich da bitte alleine in einem Auto von Heide nach Kiel zum Landeskirchenamt fahren sollen, ohne einem Herzinfarkt zu erliegen?

Öffentliche Verkehrsmittel waren keine Alternative! Wie man Zug fährt, hatte ich in der Neuen Welt komplett verlernt. Obwohl ich einmal mit dem Amtrak unterwegs gewesen war, aber das zählt nicht, denn Amtrak fahren ist eigentlich wie mit dem Flugzeug reisen, nur auf Schienen.

Irgendwann war ich schließlich so weit, dass ich mich wieder einigermaßen entspannt im deutschen Straßenverkehr bewegen und Mamas Wunsch nachkommen konnte. Ich fragte beim Landeskirchenamt an, ob sie eine Pfarrstelle für mich hatten.

Sie hatten eine Pfarrstelle.

Sich auf Helgoland einzulassen, war nicht selbstverständlich und anfangs auch nicht ganz einfach für meinen Mann und mich. Ist ja doch ein bisschen am Hinterteil der Welt, dieses Inselchen. Nach einigen Überlegungen und Gemütsschwankungen setzte ich dann aber doch wie immer mein Vertrauen in meinen allerobersten Boss. Der würde schon wissen, warum er mich unbedingt auf Helgoland haben wollte. So nahm mein Dasein als Inselpastorin auf Helgoland im Februar 2012 seinen Lauf, als ich mich mit etwa dreißig «Füßen» Containerinhalt hier einrichtete.

Das bedeutete, mal wieder, eine Fernbeziehung. Und es glaube nur keiner, dass eine Fernbeziehung zwischen dem Kreis Dithmarschen und dem Kreis Pinneberg leichter zu wuppen ist als zwischen den USA und Deutschland. Die sechzig Kilometer Nordsee plus ein bisschen Landfläche zwischen Heide und Helgoland können einem Paar das Leben schon schwermachen. Zum Glück konnte mein Mann dann aber nach einem guten halben Jahr nachkommen. Was zur Folge hatte, dass noch ein Container vor dem Helgoländer Pastorat entladen wurde!

Leider wurde nach zwei Jahren aus dem «Uns» ein «Ich», weil irgendwo zwischen Festland und Insel die Liebe auf der Strecke geblieben war. Nun waren es schon so viele Container mit so viel Platz, doch die Liebe hatten wir offensichtlich nicht mehr mit hineinbekommen. Einmal noch musste ein Container gepackt werden: mit den Habseligkeiten meines Mannes. Sein Leben wurde nach der Trennung wieder zurück aufs Festland verschifft.

Meins blieb, wo es war, denn ich hatte mich inzwischen wieder über beide Ohren verliebt: in diese Insel. Für mich war Helgoland nicht nur einer von diversen Orten, an denen Gott mich haben wollte, weil er (oder sie) mit mir und diesem Ort irgendwas vorhatte. Ja, ich war und bin immer noch fest davon überzeugt, dass Gott Pläne hat und es gerne so einfädelt, dass ich Teil dieser Pläne werden kann, wenn ich denn bereit bin, mich darauf einzulassen.

Deshalb habe ich auch fast immer das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, egal wo ich gerade bin. In den USA war das jedenfalls so. Aber auf Helgoland hatte ich nicht nur das Gefühl, gerade jetzt und gerade hier genau richtig zu sein. Da war mehr. Ich hatte den Eindruck, als dürfte ich dieses Mal tatsächlich mitreden, anstatt nur rauszufinden, was mein alleroberster Boss denn nun schon wieder von mir wollte, und dem einigermaßen nachzukommen. Und was noch viel wichtiger war: Es hatte den Anschein, als dürfte ich dieses Mal mehr Gefühl investieren. Das klingt jetzt alles ein bisschen wirr, aber meine Beziehung zu Gott ist auch ziemlich wirr. Von daher passt das schon alles.

Jedenfalls hatte ich hier wirklich das Empfinden, Teil einer Familie zu sein. In den USA habe ich mich auch sehr wohl gefühlt. Auch dort war ich gerne. Auch dort hatte man mich in die Familie aufgenommen. Aber da war ich mehr die entfernte Verwandte aus Europa mit manchmal etwas spleenigen Ansichten und Verhaltensweisen gewesen. Auf Helgoland war das anders. Auf Helgoland wuchs ich langsam in den engeren Familienkreis hinein und fing an, mich als Teil dieser Familie zu fühlen. Auch wenn es immer mal wieder Situationen gab und gibt, in denen ich denke: Echt jetzt? Ist das wirklich euer Ernst? Doch am Ende ist diese Inselgemeinschaft genau das: eine große, manchmal dysfunktionale, aber meistens sehr liebenswerte Familie. Und das ist auch das, was die Kirche am Ende ist: eine große dysfunktionale und meistens liebenswerte Familie – auf dem Festland genauso wie auf einer winzigen Insel mitten in der Nordsee.

Ja, Helgoland ist ein Sehnsuchtsort für mich geworden. Diesen Stellenwert musste sich die Insel allerdings erst hart erkämpfen, denn Sehnsucht nach Helgoland hatte ich nicht die geringste gehabt, bevor Gott mich auf diesen Felsen pflanzte. Als ich kurz vor Amtsantritt meinen Fuß auf das «Lunn» (Helgoländisch für «Land») setzte, dachte ich etwas panisch: Oh Gott, ist das klein hier! Hoffentlich ist es nicht zu klein.

Bis heute ist es mir nicht zu klein! Dass ich mich hier wohl fühle, habe ich ja schon erwähnt. Aber über das Wohlfühlen hinaus habe ich das Meer, die Insel, die Menschen und die Kirchengemeinde kennen und lieben gelernt. Und ich habe meine Arbeit hier lieben gelernt, mit den vielen bunten Facetten, die sie hat.

Eine Kneipenpastorin

Ich stand auf der Kanzel und sang. Ein bisschen schief, und die Stimme wackelte – leider nicht nur ein bisschen. Vor lauter Aufregung. Krampfhaft versuchte ich, die unverständliche vorarlbergische Mundart nachzumachen, in der das Lied geschrieben war. Am liebsten hätte ich aufgegeben, aber es half nix. Augen zu und durch! Nein, nicht Augen zu. Ich wollte doch sehen, wer da alles saß und mir zuhörte: junge Menschen, alte Menschen, mitteljunge Menschen, mittelalte Menschen, Insulanerinnen und Insulaner, Feriengäste, Feuerwehrleute, Seenotretter, Vertreter der Kommunalgemeinde, eine Kirchendelegation vom Festland und mein eigener Kirchengemeinderat natürlich.

Ich sang das Lied zu Ende und fragte die Gemeinde, ob sie den Text verstanden hatte. Kopfschütteln. Ich erzählte, dass uns das mit den Briefen, die vom Apostel Paulus stammen, auch oft so geht. Unter anderem, weil sich bei Paulus die längsten Sätze der Bibel finden. Aber dafür bin ich ja da, um verständlich zu machen, was der gute Paulus eigentlich mitteilen wollte. Oder es zumindest zu versuchen.

 

So begann ich meine Predigt in dem Gottesdienst, mit dem ich der Gemeinde auf Helgoland vorgestellt wurde.

Ja, der Vorstellungsgottesdienst fand tatsächlich statt, denn ich hatte es irgendwann doch noch geschafft, den richtigen Umzugskarton zu finden, der meine Gottesdienstvorbereitungsunterlagen enthielt, und einen schönen Gottesdienstablauf zusammenzubasteln.

Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich überhaupt Pastorin geworden bin: Ich liebe Gottesdienste! Schon als Kind bin ich gerne in den Gottesdienst gegangen. Interessanterweise habe ich viel lieber den «richtigen» Gottesdienst besucht als den Kindergottesdienst. Logische Konsequenz: Ich war als Konfirmandin eine totale Streberin, was Gottesdienstbesuche anging.

Als Kind konnte ich natürlich nicht erklären, warum ich so gerne im Gottesdienst war. Ich fühlte mich da einfach nur wohl, und deshalb wollte ich immer wieder hin. Heute würde ich sagen, dass Gott und ich uns im Gottesdienst ausgesprochen nahe sind. Nicht dass wir nicht auch sonst eine ziemlich enge Beziehung hätten, aber im Gottesdienst ist es noch mal intensiver. Wenn Gott und ich und andere Menschen gemeinsam feiern können, dann gibt das unserer Beziehung etwas Besonderes.

Gott war schon ziemlich früh ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Er (oder sie) war permanent mit dabei, eigentlich wie ein dritter Elternteil. Von Gott habe ich mich angenommen und geliebt gefühlt, und zwar so, wie ich bin: Mit allem, was mich ausmacht, auch mit meinen Fehlern und Schwächen. Von Gott habe ich mich aber auch wieder und wieder herausgefordert gefühlt – was manchmal verdammt anstrengend sein kann und mich so manches Mal an den Rand der Verzweiflung getrieben hat.

Gott ist ein so wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden, dass ich die Erfahrungen mit ihr (oder ihm) unbedingt weitergeben wollte. Dass ich das sogar beruflich tun und damit auch noch meinen Lebensunterhalt sichern könnte, kam mir allerdings lange nicht in den Sinn. Dafür musste erst mein Gemeindepastor sorgen.

Meine Mutter hatte mich eines Sonntagmorgens in den Gottesdienst geschleppt, «um sich endlich mal den neuen Pastor anzugucken», wie sie sagte. Ich war länger nicht mehr im Gottesdienst gewesen, weil ich aufgrund vorabendlicher Discobesuche zu müde dazu war. Dieses Mal hatte ich mich belatschern lassen.

Nach dem Gottesdienst sprach uns der Pastor an: «Oh, zwei neue Gesichter! Ich komme nächste Woche zum Kaffee vorbei, wenn es passt. Dann können wir uns besser kennenlernen.» Mama war erst etwas irritiert. Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet. Sie fing sich aber schnell wieder und meinte: «Ja, das wäre schön. Wie sieht es denn am Dienstag bei Ihnen aus?»

Dienstag passte wunderbar, und unser Pastor schlug gegen drei Uhr bei uns auf. Während des Kaffeetrinkens fragte er mich das, was Erwachsene irgendwann immer eine siebzehnjährige Gymnasiastin fragen: «Und? Was willst du denn machen, wenn du mit der Schule fertig bist?»

Ich: «Um ehrlich zu sein, ich habe keinen blassen Schimmer.»

Er: «Studier doch Theologie und werd Pastorin.»

Ich schwöre, er hat es damals nicht ernst gemeint. Es war einfach nur ein Spruch, im Scherz so dahingesagt. Aber mich hat die Idee einfach nicht mehr losgelassen. Ich dachte: Pastorin werden ist schon ziemlich cool. Da kann ich meine Beziehung mit Gott voll ausleben und gleichzeitig die christlichen Werte weitergeben, die mir so wichtig sind: Liebe, Frieden, Versöhnung, Vergebung und Annahme. Am kommenden Sonntag ging ich wieder in den Gottesdienst und sprach ihn direkt drauf an: «Wie geht das denn, wenn ich Pastorin werden will?»

Bis zu meinem Dasein als Pastorin war es von da an noch ein langer Weg mit vielen Höhen und mindestens genauso vielen Tiefen. Bis zu meinem Dasein als Pastorin auf Helgoland war es ein noch längerer Weg, aber ich war angekommen und hatte ein weiteres Etappenziel auf meinem Lebensweg erreicht: als Inselpastorin auf Helgoland tätig zu werden. An dieser Stelle muss ich allerdings nochmals betonen, dass in der Regel nicht ich diejenige bin, die die Etappenziele steckt. Dafür ist schon zum größten Teil mein alleroberster Boss verantwortlich. Sie hat mich um den halben Erdball geschleift, um den Menschen in den USA von ihr zu erzählen und dann hat sie mich auf diese Insel mitten in der Nordsee gezerrt, damit ich auch hier die Dinge tue, von denen ich denke, dass ich sie in ihrem Auftrag tun soll. Und einer der ersten Aufträge lautete: Feiern. In einem Vorstellungsgottesdienst.

Anschließend gab es im Gemeindehaus einen Sektempfang, und ich war damit beschäftigt, allen Menschen hallo zu sagen, die auf der Insel Rang und Namen haben – also allen, die da waren. Das waren im Großen und Ganzen diejenigen, die sich in der Kirche schon an meinen Singkünsten hatten erfreuen dürfen. Zum Glück kommentierte das niemand, und wir konnten uns darauf konzentrieren, uns gegenseitig kennenzulernen. Ich wanderte von Stehtisch zu Stehtisch, fragte die Leute aus und wurde selbst ausgefragt.

Das bedeutete allerdings, dass ich mich nicht sehr intensiv um meine Familie kümmern konnte und sie zeitweilig sich selbst überlassen musste. Mit verhängnisvollen Folgen: Mein Vater nutzte die Gelegenheit, um gleich mit jemandem in Streit zu geraten, und meine Mutter unterhielt sich angeregt mit diversen Leuten über ihre Tochter. Ich selbst war damit beschäftigt, den Bürgervorsteher davon abzubringen, mich zu siezen. Dieser war nämlich nicht nur als Bürgervorsteher zu meiner Willkommensparty gekommen, sondern auch als Teil der Feuerwehrdelegation. Und Feuerwehrkameradinnen und -kameraden duzen sich.

Ich war zu diesem Zeitpunkt schon Mitglied der Feuerwehr, denn ihr war ich bereits auf dem Festland beigetreten. Nach meiner Rückkehr aus den USA