Die Leben des Paul Zech - Alfred Hübner - E-Book

Die Leben des Paul Zech E-Book

Alfred Hübner

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Beschreibung

Alfred Hübner legt eine lebendig erzählte, auf neusten Forschungen beruhende Biografie vor, die auf rund 15-jähriger Recherchen beruht und sämtliche Legenden Zechs mit Zeugnissen vergleicht. Heraus schält sich ein Leben aus vielen, das seinesgleichen sucht: Der Dichter Paul Zech (1881-1946) manipulierte seinen Lebenslauf nach Belieben. Als Sohn eines Seilers aus Westpreußen besuchte er kein Gymnasium und auch die Promotion zum Dr. phil. war frei erfunden. „Dr. Zech“ führte ein Doppelleben mit Familie und Sängerin Hilde Herb, die er gern als seine Frau ausgab. Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bedeuteten den Höhepunkt seiner literarischen Karriere. Später zerstritt er sich mit seinen Verlegern, wurde Hilfsbibliothekar in der Berliner Stadtbibliothek und nach Plagiatsvorwürfen 1929 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1933 wurde Zechs Bücherdiebstahl im Dienst bekannt, er hatte 2500 Bände nebenbei verkauft. Angesichts einer Vorladung der Kripo verschwand er Anfang August 1933 aus Berlin nach Buenos Aires. Er gab sich als Verfolgter und ausgebürgerter Linksintellektueller aus, dessen Bücher sogar verbrannt worden seien. Die langen Expeditionen, die er in den 1930er Jahren gemacht haben will, darunter nach Brasilien, Peru oder Chile, sind bloße Fiktion. Das auf lange Sicht erfolgreichste Werk Zechs sind „Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon“. Hier findet sich das berühmte Gedicht „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“, das bei Villon keinerlei Vorbild hat. Der Villon hat es auf mehrere Hunderttausend Exemplare in 30 Auflagen gebracht und Zech postum zum Erfolgsautor gemacht – tragischerweise nicht unter seinem eigenen Namen.

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Paul Zech im Jahre 1914

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung von:

Dr. Werner Jackstädt-Stiftung, Wuppertal

Landschaftsverband Westfalen-Lippe/Kulturabteilung, Münster

Landschaftsverband Rheinland, Köln

Stiftung Bartels Fondation, Zum Kleinen Markgräflerhof, Basel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek registriert diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten im Internet unter http://d-nb.de.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

2021

© Morio Verlag, Heidelberg

www.morio-verlag.de

Gesamtherstellung: Morio Verlag, Heidelberg

Umschlag: Holger Matthies, unter Verwendung eines Holzschnitts von Jakob Steinhardt

Buchgestaltung: Barbara Bode

ISBN 978-3-45424-91-9

Printed in the EU

Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel

Eine halbe Spreewaldgurke (1782 – 1878)

Schwere Kindheit (1878 – 1885)

Bei der Großmutter (1885 – 1890)

Frust im Elternhaus (1890 – 1897)

Flucht in die Fremde (1897 – 1900)

Heim nach Deutschland! (1900 – 1901)

Heroin und Studium (1902 – 1903)

Umstandshalber Hochzeit (1903 – 1904)

Konditor und Poet (1905 – 1906)

Karneval im Mai (Januar 1907 – April 1908)

Lasker-Schüler soll‘s richten (Mai 1908 – Dezember 1909)

Zweites Kapitel

Die große Liebe (Januar – Mai 1910)

Nachhilfe von Münchhausen (Juni – Juli 1910)

Spaziergang mit Kokoschka (Juli – August 1910)

Vorzeitiges Gebimmel (August – November 1910)

Zweig irrt sich (November 1910 – Januar 1911)

Vorbild Verhaeren (Februar – Mai 1911)

Sturm und Gartenlaube (Mai – September 1911)

Post von Georg Heym (Oktober – Dezember 1911)

Im schwarzen Revier (Januar – April 1912)

Blumenspiele mit Adenauer (Mai – Juni 1912)

Drittes Kapitel

Flucht aus dem Muckertal (Juli 1912)

Exil in Preußen (August – September 1912)

Spree-Bohème (September – Oktober 1912)

Der Erdbeermund (Oktober – Dezember 1912)

Begegnung mit Franz Marc (Januar – Februar 1913)

Rilke und Bulcke (Februar – März 1913)

Kafka lästert (April – Mai 1913)

Munkepunke in die Küche! (Juni – Juli 1913)

Streit mit Ludwig Meidner (Juli – August 1913)

Eigenlob stinkt anderen (August – Oktober 1913)

Pfemferts Rache (November – Dezember 1913)

Benn will nicht mehr (Januar – Mai 1914)

Betonung des Erotischen (Mai – Juli 1914)

Viertes Kapitel

Schonfrist (Juli – Dezember 1914)

Das Friedenskonzil von Weimar (Dez. 1914 – April 1915)

Frontschwein (April – August 1915)

Knochenmühle Verdun (September 1915 – Juni 1916)

Schlacht-Felder (Juni – November 1916)

Ein Rohrkrepierer (Dezember 1916 – April 1917)

Oh Jeremias! (April – Juli 1917)

Aus der Schusslinie (August – November 1917)

Lieb Vaterland … (Dezember 1917 – Oktober 1918)

Fünftes Kapitel

Kleist-Preisträger (November – Dezember 1918)

In Chefsessel und Dienstwagen (Januar – Mai 1919)

Adieu Sozialismus! (Mai – Juli 1919)

Orplid mit Plumpsklo (August 1919 – Februar 1920)

Allegro der Lust (Februar – September 1920)

Erneut pleite (Oktober 1920 – Februar 1921)

Am Tisch mit Theodor Heuss (Februar – November 1921)

Stress bei Stinnes (Dezember 1921 – Dezember 1922)

Es geht aufwärts (Januar 1923 – Februar 1924)

Dramatisches Theater (März – Oktober 1924)

Bruchlandung (November 1924 – Mai 1925)

Federhalter und Zechine (Mai – September 1925)

Traum-Karriere (Oktober 1925 – April 1926)

Sechstes Kapitel

Am Boden (Mai – Oktober 1926)

Erste Hilfe (November 1926 – März 1927)

In Spezialbehandlung (März 1927 – August 1928)

Lob von Karl Kraus (September 1928 – Januar 1929)

Südamerika grüßt (Februar 1929 – März 1930)

Erfolg und Ärger (April 1930 – Januar 1931)

Gerichtstage (Januar – November 1931)

Das Attentat (November 1931 – April 1932)

Zum Deubel (April 1932 – Januar 1933)

Siebtes Kapitel

Gefahr im Verzug (Januar – Juli 1933)

Raus aus Deutschland! (Juli – August 1933)

Flucht nach Übersee (September – Dezember 1933)

Buenos Aires (Dezember 1933 – Januar 1934)

Schlimme Nachrichten (Januar – September 1934)

Weihnachtsmann Paul (September – Dezember 1934)

Gute Aussichten (Januar – Juni 1935)

Reise durch Phantasien (Juni – August 1935)

Einsam unter Millionen (September – Dezember 1935)

Zuflucht beim Theater (Januar – April 1936)

Freunde in der Not (Mai – August 1936)

Trübseliges Wiedersehen (September – Dezember 1936)

Zweig widerspricht (Dezember 1936 – Februar 1937)

Tiefpunkte (März – Juli 1937)

Im Bettleroutfit (August – Dezember 1937)

Achtes Kapitel

Böse Überraschungen (Januar – Mai 1938)

Umzug aufs Land (Juni – November 1938)

Oclla mit Rorschachtest (Dezember 1938 – April 1939)

„Endlösung“ für Ida (Mai 1939 – März 1940)

Zerstörte Hoffnungen (April – Oktober 1940)

Immer schlimmer (Oktober 1940 – Juni 1941)

Vergangenheitsbewältigung (Juni 1941 – April 1942)

Silberstreifen am Horizont (Mai 1942 – März 1943)

Gerettet (März – Juni 1943)

Erstarktes Selbstbewusstsein (Juli 1943 – Januar 1944)

Neuntes Kapitel

Kulturaustausch (Januar – Juli 1944)

Hiller redivivus (Juli – September 1944)

Von Borges hingerissen (September – November 1944)

Fake News aus Hollywood (Dezember 1944 – Juni 1945)

Die wiedergefundene Emmy (Juni – Oktober 1945)

Große Gefühle (Oktober 1945 – Januar 1946)

Visiteur du soir (Januar – März 1946)

Der indiskutable Kästner (März – Mai 1946)

Auftritt Ernst Deutsch (Mai – Juli 1946)

Finale (Juli – Anfang September 1946)

Grabgesänge (7. September – Dezember 1946)

Epilog

Von Pablo Ché zu Che Guevara und Papst Franziskus (1945 – 2021)

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Nachrichten von Paul Zech

Nachrichten an Paul Zech

Nachrichten und Texte Dritter

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Personenverzeichnis

Abbildungsnachweise

Abkürzungen

Vorwort

Klaus Wagenbach hat einmal von sich gesagt, er sei eine der „dienstältesten Dichterwitwen“. Damit meinte er seine Verdienste um Franz Kafka. Ohne unangemessen weitere Vergleiche hinsichtlich Autor und Biograph anstellen zu wollen: auf eine über fünfzigjährige Beschäftigung mit Paul Zech kann auch ich zurückblicken. Freilich ruhte diese zeitweilig, denn erst 2005 kam ich dem Thema meiner Dissertation von 1975 wieder näher. Seitdem bin ich oft gefragt worden, was einen Schriftsteller so auszeichnet, dass sich jemand derartig lange mit ihm beschäftigt.

Zum einen ist es das überlieferte Werk, dessen Verfasser rückblickend über seine Person und sein Schaffen schreibt: „Paul Zech gehört einer Gruppe von deutschen Dichtern an, die nach Stefan George, Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke, aber noch vor dem [Ersten] Weltkrieg in Erscheinung trat. Diese jungen, künstlerisch schon weit vorgeschrittenen Menschen um 1910 herum, haben als die Urheber und eigentlichen Verfechter des konsequenten Expressionismus in Deutschland und auch in Europa zu gelten. […] Die jungen Dichter […] waren aktivistisch im Geistigen und revolutionär in den Ausdrucksformen ihrer künstlerischen Gebilde. Sie übertrugen diesen revolutionären Atem auch auf die Bewegung im Raum von Bürgertum und Staat. In ihrem Manifest lautete ein wesentlicher Programmpunkt: ‚Der Dichter greift in die Politik.‘ […] Den literarischen Teil des Programms entwickelte Kurt Hiller in einer von Kampfgeist strotzenden Vorrede zum ‚Kondor‘.“1 Zu dieser ersten Sammlung expressionistischer Lyrik, 1912 in Heidelberg erschienen, hat Zech sechs Gedichte beigesteuert. Auch danach erweist er sich mit Erzählungen und Dramen als führender Vertreter der neuen literarischen Bewegung. Eines ihrer wichtigsten Dokumente, die 1919 von Kurt Pinthus herausgegebene Lyrikanthologie „Menschheitsdämmerung“, enthält zwölf Beiträge von ihm.

Eine Besonderheit des Zechschen Werkes bilden wirklichkeitsgetreue Schilderungen der Arbeitswelt um 1900, sei es in lyrischer oder epischer Form. Bedeutung erlangt hat der Autor auch im politischen Bereich als Leiter des „Werbedienstes für die Deutsche Sozialistische Republik“ nach der Revolution vom November 1918. Ferner gilt es an einen Literaten zu erinnern, der im Exil die Rolle eines Mittlers zwischen lateinamerikanischer und europäischer Literatur einnimmt. Insgesamt liegt ein ungewöhnlich umfangreiches Lebenswerk vor, von dem ein kleiner Teil den Rang eines Bestsellers erlangt hat, allerdings unter fremdem Namen. Das François Villon zugeschriebene Gedicht „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“, populär geworden durch Klaus Kinski, besitzt im Französischen keine Vorlage. Es stammt, gleich anderen Übertragungen von Werken des Franzosen, vollständig vom angeblichen „Nachdichter“.

Außer Zechs literarischem Schaffen faszinierte mich seit meinen Studientagen an der Freien Universität Berlin die problematische Persönlichkeit dieses Autors. Er war ein Lügner, Dieb, Ehebrecher, Verleumder, Hochstapler, Egozentriker, Monomane und … die Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen. Für sein Verhalten kann er im juristischen Sinne nur bedingt verantwortlich gemacht werden, denn er litt an einer von väterlicher Seite ererbten psychischen Krankheit. Spätestens seit 1905 war ihm das bewusst und im Lauf der Jahre kam er in zahlreichen Briefen auf sein „Nervenleiden“ zu sprechen. Zwei Brüder und eine Schwester teilten das gleiche Schicksal. Diese drei erreichten zwar, anders als sechzehn weitere Geschwister, das Erwachsenenalter, kamen aber früh durch die Folgen der Krankheit zu Tode. Paul Zech selbst verbrachte ab 1920 jedes Jahr mehrere Wochen oder sogar Monate in Kliniken. Nahe Freunde und Bekannte hatten Kenntnis von diesen Aufenthalten. Auch manche seiner zahlreichen Feinde mutmaßten über Jahre hinweg, der Kontrahent könne nicht bei Verstand sein. Bis heute wurde und wird ihm aber bei der Darstellung seiner Verfehlungen nirgends eine krankheitsbedingte Schuldunfähigkeit attestiert.

Im Verlauf meiner Arbeit an der Biographie war ich zuweilen versucht, selbst Zechs Handeln und Verhalten zu deuten und darzulegen, welcher Art seine Krankheit sein könnte, insbesondere da in der einschlägigen Literatur eine Beschreibung zu finden ist, die exakt auf sie zu passen scheint. In dem von Karl C. Mayer publizierten „Glossar Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie […]“ heißt es: „Eine Form der pathologischen Lüge bezeichnet man als Pseudologia phantastica“. Beim Betroffenen kommt es „zu einem Verschmelzen von Phantasie und Wirklichkeit in einer solch intensiven Art und Weise, dass der Tagträumer selbst oft nicht mehr unterscheiden kann, was Realität und was Fiktion ist“. Der Heidelberger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie führt weiter aus: „Bei der Pseudologia phantastica wird immer Aufmerksamkeit gesucht, es geht um dramatische Selbstdarstellungen, gesteigertes Geltungsbedürfnis, eine Vorliebe zur Einnahme der Rolle anderer […], übertriebene Darstellungen oft auch der eigenen Rolle in einem Ablauf.“ Weitere Merkmale treffen auf Zech ebenfalls zu: „Die Betroffenen geben sich oft falsche Biographien. Es geht darum, sich dramatisch vor fasziniertem Publikum in Szene zu setzen und große Aufmerksamkeit zu erreichen. Diese Symptome kommen auch bei dem hervorstehenden Merkmal der Befriedigung eines gesteigerten Geltungsbedürfnisses […] besonders bei histrionischen und narzisstischen Persönlichkeiten vor.“2

Der erwähnten Versuchung bin ich nicht erlegen, denn von fachkundiger Seite liegt seit Jahren eine Abhandlung zu diesem Thema vor. Sie stammt von der Schweizer Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Brigitte Boothe. Diese schreibt: „Das psychodiagnostische Bild, das sich hier [bei Zech] vermuten läßt, kommt in vielen Punkten demjenigen der histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10, F60.4) nahe: ‚Eine Persönlichkeitsstörung, die durch oberflächliche und labile Affektivität, Dramatisierung, einen theatralischen, übertriebenen Ausdruck von Gefühlen, durch Suggestibilität, Egozentrik, Genusssucht, Mangel an Rücksichtnahme, erhöhte Kränkbarkeit und ein dauerndes Verlangen nach Anerkennung, äußeren Reizen und Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist.‘ (WHO 2007)“.3

Die Zahl derer, die mich bei der Erstellung dieser Biographie unterstützt haben, geht in die Hunderte. Sie an dieser Stelle alle namentlich aufzuführen, würde zu ähnlicher Leseunlust führen, wie sie der Abspann eines Filmes bei den meisten Zuschauern hervorruft, bevor sich im Kino der Vorhang schließt. Deshalb möchte ich allen Personen und Institutionen gleichermaßen herzlich für Rat, Beistand und Kritik danken.

Vom Entschluss, das Buch zu schreiben, bis zur Drucklegung dauerte es fünfzehn Jahre. Für mich als Autor war das eine abwechslungsreiche, erfüllte Zeit. Zum einen durch zahlreiche Reisen, die ich ab 2006 unternahm, um wichtige Lebensstationen Zechs und seiner Ahnen unmittelbar kennenzulernen. Im Spreewald fand ich diverse Orte und Gebäude, die im Zusammenhang mit den Vorfahren der Mutter von Bedeutung sind, im polnischen Wąbrzeźno das Geburtshaus und Schauplätze seiner Kindheit, von denen in mehreren Werken die Rede ist. Ähnliches gelang mir auch im ostbrandenburgischen Müncheberg. Ferner besuchte ich Mont-sur-Marchienne im ehemaligen belgischen Montanrevier, das um 1900 noch ein Vorort von Brüssel war, wo der minderjährige Bergwerksgehilfe zu jener Zeit einen Arbeitsplatz und eine preiswerte Unterkunft fand. Erfolg hatte ich zudem bei der Suche nach Wohnungen sowie Lebensspuren Zechs in Elberfeld, Barmen, im Bergischen Land und im Siegerland. Meine Besuche im Wuppertal, in Berlin und anderen deutschen Städten waren verbunden mit der intensiven Nutzung der jeweiligen Bibliotheken und Archive vor Ort. Im Verlauf von sechs Aufenthalten in Buenos Aires durfte ich, dank meiner dortigen Freunde, Zechs „Neue Welt“ zumindest ansatzweise kennenlernen.

Ähnlich fruchtbringend wie die Reisen innerhalb Europas und in die argentinische Hauptstadt erwiesen sich im Verlauf meiner Recherchen die stets aufs Neue notwendigen Expeditionen in mir bisher unbekannte Bereiche der deutschen Literatur. Namen wie Rudolf Börsch, Hans Ehrenbaum-Degele, Heinrich Kämpchen, Martin Raschke oder Arthur Silbergleit hatte ich weder in Vorlesungen an der Universität, geschweige denn im Deutschunterricht am Gymnasium gehört. Noch mehr Bedeutung messe ich der im gleichen Zusammenhang geschlossenen Bekanntschaft mit lateinamerikanischen Autoren bei, die uns bundesrepublikanischen Schülern während der Fünfzigerjahre weitgehend hinter Hemingway, Orwell, Miller, Steinbeck, Wilder oder Williams verborgen blieben. Dementsprechend gab es für mich in einer Art Zweitstudium Jorge Luis Borges, Eduardo Mallea, Enrique Amorim, Jorge Icaza, Gabriela Mistral und andere zu entdecken.

Als Autor fühlte ich mich den Kriterien meines Studienfaches Germanistik verpflichtet. Ebenso wichtig schien es mir aber, Zechs Biographie einzubetten in das Panorama der Geschichte des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit allen Brüchen, Krisen und Kriegen, zugleich aber der kulturellen Vielfalt in Literatur, Bildender und Darstellender Kunst, Philosophie und Musik. Mein Ziel war es, ein Buch vorzulegen, das wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam zugleich ist.

Alfred Hübner, im August 2021

Erstes Kapitel

Eine halbe Spreewaldgurke

Paul Zech, nach eigenen Worten ein „Dickschädel aus bäurisch-westfälischem Kornsaft“1, ist – um bei seiner landwirtschaftlichen Bildsprache zu bleiben – der Herkunft nach zur Hälfte eine „Spreewaldgurke“: Der Ur-Ur-Großvater mütterlicherseits, Schuhmachermeister Johann Gottfried Leberecht, heiratet 1782 in der Spreewaldstadt Lübben die 1749 als Tochter eines Leinewebers zu Lieberose geborene Johanna Christiane Golzen.2 Beider Sohn Johann Leberecht, Zechs Urgroßvater mütterlicherseits, kommt 1785 zur Welt.3 Er wird Lehrer und ist zu Anfang seiner Laufbahn an mehreren Orten im Spreewald tätig, später einige Zeit im heutigen Ostbrandenburg, zunächst in Mittweide und schließlich in Lindenberg bei Beeskow. Außer schulischen Aufgaben muss er am jeweiligen Wirkungsort das Amt des Küsters versehen.

Johann Leberecht heiratet 1806 in Fürstenberg an der Oder Regina Karoline Jordan.4 Zwei Jahre nach der Hochzeit bekommt das Paar erstmals Nachwuchs, eine Tochter Caroline.5 Dem Mädchen folgen nacheinander vier Söhne: Traugott, Theodor, Albert und Franz. Im Dezember 1827 wird Ehefrau Regina in Lindenberg von einer weiteren Tochter entbunden, die den Namen Auguste Henriette Emilie erhält; sie ist Zechs Großmutter mütterlicherseits. Für ihre Taufe können die Eltern den Verwalter des Gutes Lindenberg, einen Gerichtsherrn namens Schliebener, als Paten gewinnen.6 Auf Auguste folgt schließlich noch ein Mädchen namens Berta.7

1832 stirbt Johann Leberecht und hinterlässt eine erwachsene Tochter sowie sechs minderjährige Kinder.8 Seine Witwe zieht mit den Halbwaisen nach Beeskow, wo ein Bruder des Verstorbenen lebt. Als ihre älteren Söhne über eigenes Einkommen verfügen, helfen sie der Mutter, indem sie jüngere Geschwister in ihren Hausstand aufnehmen. Dazu sind sie in der Lage, weil die in Straupitz und Lübben ansässige herrschaftliche Familie Houwald drei von ihnen zu Lehrern ausbilden lässt.

Theodor, der zweite Sohn, unterrichtet in Laasow, einem kleinen Dorf nahe Straupitz. 1838 heiratet er Elisabeth Kossatz, zwei Jahre später wird er Vater einer Tochter namens Marie.9 1856 verlässt Theodor Laasow und bestreitet den Lebensunterhalt für sich und die Familie einige Zeit lang als Windmüller. Der Grund für den Weggang sind, wie es heißt, Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung, weil ihm die gräfliche Herrschaft vier Morgen Ackerland sowie drei Morgen Wiese zur Nutzung überlassen hat. Das Geschehen ist in der Ortsgeschichte von Laasow festgehalten.10

Albert Leberecht, dritter Sohn von Johann und Regine Leberecht, 1820 in Mittweide zur Welt gekommen, arbeitet während der Vierzigerjahre als Lehrer und Küster in dem kleinen Ort Butzen, einem Nachbarort von Laasow.11 Urkundlich belegt ist seine Versetzung im Jahre 1854 von Butzen nach Bomsdorf bei Neuzelle an der Oder.12

Franz Leberecht, der vierte Sohn von Gottfried und Regina Leberecht, durchläuft als „Seminarist in Neuzelle“ eine Ausbildung zum Lehrer. Förderer der dortigen pädagogischen Anstalt ist Graf Houwald.13 Nach Abschluss seines Studiums arbeitet er als Lehrer in Straupitz. 1848 heiratet er Friederike Hinze, die 23 Jahre alte Tochter des Schuhmachermeisters Carl Ludwig Hinze aus Müncheberg, Kreis Lebus, im preußischen Regierungsbezirk Frankfurt an der Oder.14 Das Paar hat durch Caroline Leberecht, die älteste Schwester des Bräutigams, zueinander gefunden. Sie wohnt seit vielen Jahren in Dahmsdorf, einem Dorf bei Müncheberg in der Mark, und ist mit dem Mühlenbesitzer Carl Grohmann verheiratet. Franz und Friederike Leberecht bekommen 1849 Nachwuchs, einen Sohn.

Von Paul Zechs Großmutter, der 1827 geborenen Auguste, erfahren wir hauptsächlich durch Einträge in Kirchenbüchern. Bei der Taufe von Theodors Tochter Marie 1840 werden die „Jungfer Auguste Leberecht“ sowie ihr Bruder Albert als Paten angeführt. Auguste lebt zu der Zeit bei der Mutter in Beeskow.15 Dem jungen Mädchen bleibt Mitte des 19. Jahrhunderts ein Studium verwehrt. Nach seiner Konfirmation wird es von Bruder Albert aufgenommen und erscheint 1842 bei der Taufe von Theodors Sohn Wilhelm im Kirchenbuch von Straupitz erneut als Patin, wohnhaft „in Butzen“, ein weiterer Pate ist ihr Bruder Franz Leberecht. Möglicherweise arbeitet Auguste in Butzen als Magd auf einem Houwaldschen Gut, das sich in direkter Nachbarschaft von Kirche und Schulhaus des Dorfes befindet, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Vielleicht kümmert sich die Herrschaft schließlich doch um die Tochter des verstorbenen Johann Leberecht, weil sie ihren Brüdern an Begabung und Lerneifer in nichts nachsteht. Ein Jahrhundert später verrät ihr Enkel Paul Zech den Nachnamen der Vorfahrin: „meine Großmutter [war] eine geborene Leberecht“, fügt aber hinzu: „aus Krossen an der Oder“.16 Das ist falsch. Er verwechselt die Stadt mit einem in der Nähe von Butzen gelegenen Dorf gleichen Namens, auf dessen Gemarkung sich ein Herrschaftssitz befindet, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts den Houwalds gehört.

Eine denkbare Version von Augustes Werdegang ist folgende: das Mädchen wird nach 1840 als Kammerzofe auf dem Houwaldschen Familiensitz Schloss Neuhaus in Dienst genommen, der sich nur zwanzig Kilometer von Butzen entfernt befindet. Dort sind während der ersten Hälfte des Jahrhunderts viele Dichter der Romantik, unter ihnen Achim von Arnim, Geibel, Chamisso, de la Motte Fouqué, Tieck und Grillparzer zu Gast. Über eine derartige Tätigkeit und deren mögliche Folgen existieren keinerlei Dokumente, aber Paul Zechs Begabung als Schriftsteller könnte vererbt sein wie eine Nervenkrankheit, unter der er lebenslang leidet.

1849 findet sich Augustes Namen wieder in den Kirchenbüchern. Unter den Taufpaten des Sohns ihres Bruders Franz wird die „Jungfrau Auguste Leberecht“ aufgeführt.17 Darüber, wo die junge Frau während der nächsten sechs Jahre lebt, gibt es keine Aufzeichnungen. Erst aus einem Taufeintrag im Müncheberger Kirchenbuch von 1855 geht hervor, was Auguste weiter widerfährt. Sie bringt am 5. November 1855 in dieser Stadt ein uneheliches Kind zur Welt, das den Namen Emilie erhält. Bei diesem Mädchen handelt sich um Paul Zechs Mutter. Wo Auguste schwanger geworden ist, ob in Butzen, Laasow, Crossen, Straupitz, auf Schloss Neuhaus oder in Müncheberg, weiß nur sie selbst, verrät es aber niemandem.

Fünf Monate nach dem für ledige Mütter in jener Zeit alles andere als „freudigen Ereignis“ heiratet Auguste den Landwirt August Heinrich Liebenow aus Müncheberg. Die Verbindung kommt durch Augustes Schwester Caroline Grohmann zustande. Diese hat an ihrem Wohnort nach einem passenden Mann für die Schwester gesucht. Der 1820 geborene Bräutigam ist Angehöriger einer der vielen Familien, die in Müncheberg den Namen Liebenow tragen. Er wird in amtlichen Unterlagen als „Eisenbahnbeamter“ und „Eigenthümer“ geführt, das heißt, er besitzt Land und Vermögen.18 Die zeitliche Nähe der Geburt Emilies zur Hochzeit ihrer Mutter mit August Liebenow könnte vermuten lassen, bei diesem Mann handle es sich um den leiblichen Vater von Paul Zechs Mutter. Das trifft nicht zu. Der Großvater mütterlicherseits des Autors findet nirgends Erwähnung. Er bleibt ein Unbekannter. Auf die Beziehung der Eheleute Liebenow scheint die ungeklärte Vaterschaft des Mädchens keine Auswirkung zu haben. In der Ehe bringt die Gattin noch drei Söhne zur Welt. Zusammen mit den Stiefbrüdern wächst Emilie, die bis zu ihrer Heirat im Jahre 1878 den Namen Leberecht beibehält, im Haus der Liebenows an der Müncheberger Hinterstraße auf. Das landwirtschaftliche Anwesen liegt unweit der Knabenschule und der Pfarrkirche St. Marien, dem Wahrzeichen der Stadt Müncheberg.

Die Ahnenreihe von Pauls Vater ist weniger weit zurückzuverfolgen als die der Mutter. Zech selbst behauptet etliche Male, seine Familie habe zu jenen Protestanten gehört, die vom Salzburger Erzbischof außer Landes getrieben worden sind.19 Dokumente darüber gibt es keine. Auch die von Zech reklamierte „bäurisch-westfälische“ Herkunft ist von der väterlichen Seite her ebenso wenig nachweisbar wie von der mütterlichen.

Pauls Großvater Wilhelm und sein Vater Adolf stammen aus Briesen in Westpreußen, dem einstigen slawischen Wambrez und heutigen Wąbrzeźno in Polen. Wilhelm Zech wird im Jahre 1820 in Briesen geboren, ist von Beruf Seilermeister und zeitlebens dort ansässig. Dieses Städtchen, das in der Weichselniederung im sogenannten „Culmer Land“ zwischen Graudenz und Thorn an drei Seen liegt, hat Johannes Bobrowski zum Schauplatz seines Romans „Levins Mühle“ gemacht, der Personen, Zeit und Milieu der Gegend am Flüsschen Drewenz vor 1900 widerspiegelt. Im Roman, dessen Untertitel „34 Sätze über meinen Großvater“ lautet, heißt es: „Alle Wege führen nach Briesen“.20 Ahnen, die aus diesem Culmer Land stammen, besitzt Zech tatsächlich, doch die Herkunft der Vorfahren väterlicherseits aus Westpreußen will er zeitlebens meist verschleiern.

Zechs Vater Adolf kommt am 5. September 1850 in Briesen zur Welt. Er stammt aus der ersten Ehe von Wilhelm Zech mit Elisabeth Spinch, die 1861 verstorben ist. Nur wenige Monate nach ihrem Tod hat der Witwer damals Emilie Tiedke zur zweiten Frau genommen. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts lernt Adolf im väterlichen Betrieb das Seilerhandwerk und begibt sich anschließend auf Wanderschaft nach Westen. In Küstrin findet er Arbeit und verliebt sich Mitte des Jahrzehnts in Emilie Leberecht aus Müncheberg. Ein modernes Verkehrsmittel erleichtert ihm die Besuche bei ihr. Das dreieinhalbtausend Einwohner zählende Städtchen Müncheberg, rund vierzig Kilometer von Küstrin entfernt, besitzt einen eigenen Bahnhof an der Linie der Preußischen Staatsbahnen, die von Berlin nach Küstrin führt. Am 28. September 1878 gehen die jungen Leute in Emilies Geburtsstadt den Bund fürs Leben ein.

Schwere Kindheit

Kaum ist im Herbst 1878 in Müncheberg die Hochzeitsfeier beendet, kehrt der achtundzwanzigjährige Seiler zusammen mit seiner Frau nach Westpreußen zurück. Für Emilie bedeutet der Ortswechsel nicht nur die Trennung von der Mutter, sondern zugleich eine Verschlechterung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse auf dem Hof der Liebenows. In Bobrowskis Roman entrüstet sich der Großvater: „Was redet der Kerl da von Provinz. Briesen – und Provinz!“, doch legt der Autor diese Worte ihrem Sprecher augenzwinkernd in den Mund. Die Gegend in der Weichselniederung zwischen Thorn und Graudenz ist für ihn der Inbegriff von Provinz.21

Im westpreußischen Landkreis Briesen, dem die gleichnamige Stadt sowie Gollub, Schönsee und 63 weitere Gemeinden angehören, leben um 1880 knapp 40 000 Menschen, davon sind rund 24 000 katholischen Glaubens, etwas weniger als 15 000 Protestanten und rund 1000 Juden. Zech erwähnt in seinem Buch „Die Reise um den Kummerberg“ zwei Gotteshäuser seines Geburtsorts, die evangelische Kirche am Markt und eine auf dem Berg gelegene katholische Kirche.22 Die jüdische Gemeinde verfügt an der Schulstraße über eine Synagoge. Angeblich verkehren der Vater und die Mutter mit jüdischen Familien: „Da ich diese Art von Menschen in meiner frühen Jugend schon erfahren habe, nachbarlich nahe und den Eltern befreundet, […] komme ich mir vor wie einer der Ihrigen.“23

Gespalten ist die Bevölkerung des Landkreises, wie die Westpreußens insgesamt, nicht nur durch drei Konfessionen, sondern zusätzlich durch zwei Nationalitäten: „Man spricht polnisch und ein Deutsch mit hässlichem Dialekt.“24 Nur wenige Hundert Bürger beherrschen beide Idiome. Etwa 23 000 Menschen sprechen polnisch, ungefähr 17 000 deutsch. Insbesondere bei Wahlen befehden sich „der schwarze und der weiße Adler“ Preußens und Polens.25 Die Stadt Briesen zählt 1880 rund 4500 Einwohner. Nach Aussage von Waldemar Heym, dem Sohn des Ortschronisten Benno Heym, liegt die Kommune bis Ende des 19. Jahrhunderts in einem Dämmerschlaf. Daran ändert sich erst etwas, als sie 1887 zur Kreisstadt erhoben wird.26

Zur Zeit des Umzugs von Adolf und Emilie nach Briesen sind die örtlichen hygienischen Verhältnisse teilweise mittelalterlich. Es gibt keine Kanalisation. Nach großen Regenfällen herrscht Wassernot, denn die Niederschläge fließen auf den Straßen und Gassen mit Fäkalien aus den Häusern und Stallungen zusammen und ergießen sich in die drei Seen nahe der Stadt, aus denen die Bevölkerung Trinkwasser schöpft. Krankheiten und eine hohe Kindersterblichkeit sind die Folgen. Das Übel dauert bis zur Jahrhundertwende. Fortschritte gibt es nur allmählich. In den Neunzigerjahren erhält Briesen Anschluss an die Linie der Preußischen Staatsbahnen von Thorn nach Allenstein. Später geht eine innerstädtische Straßenbahnlinie in Betrieb. Im Industriegebiet stehen eine dampfbetriebene Mühle, eine Brauerei, eine Molkerei und eine Zuckerfabrik. Dreizehn Windmühlen ringsum verschwinden zu dieser Zeit ebenso wie der seit dem Mittelalter amtierende Nachtwächter.

Da am Briesener Markt ausschließlich Privathäuser und die evangelische Pfarrkirche Platz gefunden haben, wird ab den Achtzigerjahren die Schönseer Straße zur Behördenmeile der Stadt. An ihr entlang lässt die Obrigkeit Gebäude errichten, in die Ämter und öffentliche Einrichtungen einziehen. Seit Beginn des Jahrzehnts steht hier das Amtsgericht, 1883 ist unweit davon eine Volksschule eröffnet worden. Nacheinander folgen nun Landratsamt, Rathaus und Krankenhaus. Die einstige Nebenstraße entwickelt sich zu einer Art Boulevard, der freilich an Regentagen vom Zentrum, dem Markt und beiden Kirchen durch einen wilden Wasserlauf getrennt ist, aus dem üble Gerüche aufsteigen.

Adolf Zech bringt 1878 seine junge Frau weder in eine einladende noch saubere, geschweige denn „blühende“ Stadt. Insbesondere das Gesundheitswesen weist erhebliche Mängel auf. Die Eheleute finden im rückwärtigen Teil des Hauses Schönseer Straße 14 eine Wohnung. Das Gebäude liegt zwischen Volksschule und Friedhof und gehört Schreinermeister Christian Günther. Der stattlich wirkende Hauptbau besitzt einen unansehnlichen Seitenflügel. In dessen Erdgeschoss bekommt Emilie Zech Mitte Februar 1879 ihr erstes Kind, das den Namen Adolf Richard und zwei Monate später in der Stadtkirche am Markt die christliche Taufe erhält, aber schon fünf Wochen danach stirbt.

Ein ähnliches Schicksal ereilt auch den im Februar 1880 geborenen Knaben Erhard Robert. Er fällt im Mai einer Säuglingskrankheit zum Opfer. Schon im Juni 1880 ist Emilie erneut schwanger. Das dritte Kind der Familie, wieder ein Junge, kommt am Samstag, dem 19. Februar 1881, zur Welt und wird einen Monat später von Pfarrer August Weckwarth auf die Vornamen Paul Robert getauft. Patinnen sind Caroline Günther, eine Verwandte des Hausbesitzers, sowie Minna Werner und Auguste Tarnig aus Briesen. Die amtliche Geburtsurkunde unterzeichnet der seit 1873 im Rathaus amtierende Bürgermeister Gostomski in seiner Funktion als örtlicher Standesbeamter.27 Erneut dauert das familiäre Glück nur kurze Zeit, denn im Verlauf der folgenden Jahre bringt der Tod weiterer Kinder ununterbrochen Leid über die Eltern. Hinzu kommt schwere materielle Not. Das Seilerhandwerk wirft kein Geld mehr ab, weil die bisher manuell hergestellten Waren nun in Fabriken produziert werden und deshalb billiger sind. Viele von Adolf Zechs Berufsgenossen müssen schon als Hausierer über Land ziehen, um Städtern und Bauern ihre Waren anzubieten.

Evangelische Kirche am Marktplatz

Zechs Geburtshaus, Schönseer Straße 14 in Briesen, heute Wąbrzeźno

Trauer und Armut bestimmen das Leben der Familie Zech. Dennoch beschäftigt sich Emilie nicht ausschließlich mit den eigenen Sorgen. Während ihrer Schwangerschaft hat sie eine neunzehnjährige Frau kennengelernt, die ebenfalls ein Kind erwartet. Sie heißt Hulda Zanner. Deren Ehemann Friedrich, von Beruf Schneider, ist unheilbar an Tuberkulose erkrankt und stirbt, nur 28 Jahre alt, im März 1881. Vier Monate später bringt die Witwe ein Mädchen zur Welt, das Pfarrer Weckwarth auf die Vornamen Martha Ida tauft.28 Eingedenk ihres Schicksals als Kind, von dem in amtlichen Dokumenten verzeichnet steht, eine ledige Mutter habe es zur Welt gebracht, versucht Emilie, Hulda zu helfen. Sie schreibt an ihre Familie nach Müncheberg und bittet den jüngsten der drei Stiefbrüder, sich als Taufpate für das Neugeborene zur Verfügung zu stellen. Wilhelm Liebenow, von Beruf „Bedienter“, kommt dieser Bitte nach und eine stille Hoffnung seiner Schwester erfüllt sich. Der Zwanzigjährige findet Gefallen an Hulda und holt sie kurze Zeit später mit seinem Patenkind Martha Ida zu sich nach Müncheberg.

Weniger Glück ist den Zechs in Briesen beschieden. 1882 kommt ein weiteres Kind zur Welt, ein Mädchen, das bei einer Nottaufe den Namen Margareta erhält und zwei Tage darauf stirbt. Aus diesem Trauerjahr stammt eine erste Aufnahme von Paul Zech. Emilie fährt mit ihrem Sohn ins nah gelegene Städtchen Gollub und lässt sich dort zusammen mit ihm von einem polnischen Fotografen namens Daniel Dobrycz ablichten.29 Da Paul die kritischen Monate als Säugling ohne Erkrankung übersteht, scheint für die Eltern manches besser zu werden und sie wünschen sich weitere Kinder. In der Stadt gehören sie zwar nicht zum Bürgertum, trotz ihrer Wohnung am Briesener „Boulevard“, sind aber immerhin deutlich bessergestellt als viele polnische Familien. Eine im Jahr darauf geborene Tochter namens Elisabeth bleibt am Leben, doch zwei weitere Mädchen, von denen die Mutter 1884 und 1885 entbunden wird, sterben kurz nach der Taufe. Tränen und Hunger bestimmen weiter den Alltag im Hinterhaus der Schönsee Straße 14.

Wegen der beengten Wohnverhältnisse wird Paul des Öfteren Ohrenzeuge des Liebeslebens der Eltern. Er belauscht: „Der Mutter Scham und zärtliches Verschwenden / in Jugendfrische und erwachter Lust, / des Vaters Seufzer aus gespannter Brust / in der Umarmung hellem Aufruhr und Vollenden“. Da Emilie ihre Kinder in der Wohnung zur Welt bringt, ist er auch bei den Niederkünften der Mutter im Nebenzimmer zugegen: „und dann die bangen Abende beim Lampenschimmer / in Zuspruch und verhaltner Wartenot, / bis sich aus dem geborstnen Wundenrot / sanft löste eines Kinderstimmchens klar Gewimmer.“ Diese Eindrücke vergisst er lebenslang nicht: „alles ruht, verhundertfachte Saat, / tief in mir“.30

Emilie Zech mit ihrem Sohn Paul im Jahre 1882

Von Pauls frühen Jahren ist wenig bekannt. Freude bereitet dem Buben ein blauer Handwagen, auf dem er im Städtchen eine abschüssige Straße hinabsaust.31 Seine Schwester Elisabeth und er durchleben eine armselige Kindheit. Vermutlich können ihre Eltern die Trauerkleidung – sofern sie derartigen Luxus überhaupt besitzen – jahrelang nicht ablegen. 1885 erkrankt Paul schwer. Die Eltern befürchten seinen Tod. Um das Leben des Sohnes zu retten und die materielle Not der Familie zu lindern, wird der noch nicht schulpflichtige Knabe zur Familie der Mutter nach Müncheberg in Pflege gegeben.32 Vater Adolf bringt ihn dort hin.

Bei der Großmutter

Paul versteht die Handlungsweise der Eltern nicht und fühlt sich verstoßen. Ihm fehlt die Mutter: „Sie war in den entscheidenden Jahren leiblich nicht dagewesen. Ich litt schwer darunter“, beklagt er sich.33 Das Kind bleibt mehrere Jahre in Müncheberg und kommt dort zur Schule. Die Stadt liegt, ähnlich wie Briesen, an einem See und besitzt einige Sehenswürdigkeiten, darunter den mittelalterlichen „Küstriner Torturm“, von der Bevölkerung „Storchenturm“ genannt. An seiner Außenseite ist eine martialisch wirkende Holzkeule angebracht und darunter eine Tafel ins Gemäuer eingelassen, deren Inschrift lautet: „Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet selber Not, den soll man schlagen mit dieser Keule tot.“ Paul sieht beides auf Streifzügen durch die Stadt und kann nach der Einschulung auch den Text lesen. Die Worte bleiben ihm lebenslang im Gedächtnis.34 Das trifft auch auf eine andere seiner kindlichen Wahrnehmungen zu: er beobachtet Bäuerinnen bei der Arbeit. Nahe dem Haus, in dem er wohnt, führt eine „Butterstraße“ entlang, die diesen Namen trägt, weil es dort Butter zu kaufen gibt: „wie gebuttert wird, das wußte ich schon, als ich noch nicht wußte, wie man mit einem Griffel ein kleines deutsches ,i‘ auf die Schiefertafel kratzt“, hält er fest.35

Ein Kindheitserlebnis bestimmt Zechs Leben und Schaffen in besonderem Maß: der Bergbau. Ende des 19. Jahrhunderts gibt es rund um Müncheberg mehr als ein Dutzend Gruben. Im Untertagebau wird aus siebzig Metern Tiefe Braunkohle gefördert. Die Industrie verschafft vielen Einwohnern von Stadt und Umgebung Arbeit, doch hat sie auch ihre Schattenseiten. Es kommt unter sowie über Tage zu Unfällen und Katastrophen.36 Zur Verwandtschaft von Auguste Liebenow gehören zwei Grubenarbeiter. Einer von ihnen wohnt in der Nähe und hat zwei Söhne. Während des Zusammenseins mit diesen Spielkameraden erfährt Paul von den Gefahren der Kohleförderung und lernt die Sorgen der Bergleute kennen. Als Erwachsener behauptet er: „Auch mein Vater war, ehe er das väterliche Bauerngut übernahm, Volksschullehrer in einem ausgesprochenen Grubendorf, wo es nur Bergarbeiter und Kleinbauern gab.“37 Ein solches Gehöft besitzt August Liebenow, der Ehemann seiner Großmutter mütterlicherseits, Auguste, bei dem es sich aber nicht um seinen Großvater handelt.

Paul Zech und Karl Liebenow besuchen die Knabenschule in der Hinterstraße, obwohl das Gebäude laut Inschrift an der Fassade eigentlich den Mädchen vorbehalten ist. Im Herbst 1886 trifft die Familie des Klassenkameraden ein großes Unglück. Zuerst stirbt der vierjährige Bruder Richard, und am Tag der Geburt einer Schwester namens Martha muss der Vater auf dem Rathaus den Tod seiner Ehefrau anzeigen. Ein Jahr später verliert er auch die Tochter. Pauls Eltern in Briesen geht es nicht anders. Mitte März 1886 beerdigt das Ehepaar Zech einen tot geborenen Knaben, der keine Taufe und keinen Namen erhalten hat. Den Eltern bleibt Tochter Elisabeth und die Hoffnung, Pauls Gesundheit werde sich durch den Aufenthalt in Müncheberg festigen.

Von den Jahren bei der Großmutter berichtet Zech in seiner Erzählung „Die unterbrochene Brücke“: „Nach einer heftigen Krankheit […] brachte mich mein Vater zu seinem Bruder in die sauerländischen Berge.“38 Ersetzt man die „sauerländischen Berge“ durch „Müncheberg“ und den Hinweis „zu seinem Bruder“ durch „zur Familie der Großmutter“, so entsprechen Personen und Schauplatz der Handlung dem Lebenslauf des Verfassers. Zwar beruht der Text nicht durchgängig auf seinen eigenen Erlebnissen, doch die Darstellung des Umfeldes weist Übereinstimmungen mit dem Stadtbild von Müncheberg auf, wie es Paul ab Mitte der Achtzigerjahre vor Augen hat. Auch der Spielkamerad Karl taucht im Text auf.

Nicht erwähnt wird Martha Ida Zanner, die ebenfalls in Müncheberg lebt. Ihr Taufpate, Pauls Onkel Wilhelm Liebenow, heiratet 1886 Idas Mutter Hulda, die Freundin von Pauls Mutter aus Briesen. Den Lebensunterhalt verdient der Familienvater nicht mehr als Bedienter, sondern bei der Post im nahen Trebnitz. Dort befindet sich eine Eisenbahn-Verladestation für den Kohlebergbau der Region. Zur Hochzeit von Wilhelm und Hulda kommen Gäste aus Westpreußen, und der knapp sechsjährige Paul sieht für kurze Zeit seine Eltern wieder. Desto schwerer fällt ihm beim Abschied die Trennung von der Mutter. Anders als von Zech später behauptet, besucht er am Wohnort der Großeltern weder eine Rektoratsschule, noch lernt er an einer solchen Einrichtung „die lateinische Verskunst Ovids“ kennen. Um die Jahreswende 1889/1890 holt Adolf Zech seinen Sohn zurück nach Westpreußen.39

Müncheberg mit Waschbanksee

Müncheberg, Schule in der Hinterstraße

Frust im Elternhaus

Ab den Neunzigerjahren lebt Paul wieder bei den Eltern. Waldemar Heym, der Sohn des Briesener Ortschronisten Benno Heym, beobachtet, wie er dem Vater auf der Seilerbahn bei seiner Arbeit hilft.40 Während der Abwesenheit ihres Ältesten haben sich die familiären Verhältnisse bei den Zechs nicht gebessert. Mutter Emilie ist mit weiteren vier Kindern niedergekommen, von denen lediglich eines überlebt hat. Ein Knabe, Fritz Hermann41, sowie zwei Mädchen, Olga Anna42 und Anna Hedwig43, sind gestorben. Über Rudolf, das Brüderchen, geboren im März 1889, freut sich der Rückkehrer nicht. Zwar nimmt er sich der „kleinen, um den Puppenwagen besorgten“ Schwester an, die eine „Schlaf- und Lachpuppe“ besitzt, aber zwischen den Buben kommt es häufig zu Streitereien.44 Paul glaubt, Rudolf werde bevorzugt. Das „Trotzköpfchen“, so beobachtet er, wirft sich auf den Boden und strampelt mit den Beinen, um seinen Willen durchzusetzen. Neidisch muss er zusehen, wie die Mutter den Kleinen mit Süßigkeiten verwöhnt, während er selbst keine bekommt. Auch bleibt der Bruder, anders als er selbst, von Bestrafungen mit dem Stock verschont.45

In der Schule hat Paul Angst, wenn er ein Gedicht aufsagen muss, obwohl er die Verse zu Hause gründlich lernt und die Mutter von seinem flüssigen Vortrag sowie der guten Betonung überrascht ist. Dagegen bringt er im Unterricht vor den Mitschülern kein Wort heraus, worauf der Lehrer zum Stock greift und es Hiebe setzt. Im Elternhaus geschieht das bei kindlichen Vergehen ebenfalls. Wenn der Älteste heimlich Zucker genascht hat, sperrt die Mutter den „ertappten Sünder“ in den Keller.46 Auch sie schlägt ihn zuweilen.47 Emilie Zech selbst hat ein schweres Schicksal. 1891 sterben wenige Tage nach der Geburt ihre Zwillinge Anna Martha und Martha Anna.48 Erst ein Junge namens Robert, den sie 1892 zur Welt bringt, überlebt und wächst in Briesen heran.

Paul fühlt sich in der kleinen Stadt nicht wohl, denn hier gibt es für ihn wenig Abwechslung. Während der Sommermonate geht er in seiner Freizeit an einen der drei Seen zum Baden und besucht die Vorstellungen eines gastierenden Zirkusses, wenn sein Geld für den Eintritt reicht. Das Gleiche gilt für ein besonderes Ereignis im Ablauf des Jahres, den Markt vor der evangelischen Kirche mit Händlern und Schaustellern, der Besucher von weither anlockt. Jedem Kind in der Stadt fällt es schwer, dort „seine paar Groschen […] in der Tasche zu behalten“, vermerkt Waldemar Heym.49 Ob der Heranwachsende deutsche Freunde hat, geht weder aus Briefen noch Büchern des Autors hervor. Ein Weggefährte späterer Tage behauptet: „Aufgewachsen unter polnischen Jungen, mit denen er sich am Briesener Schlossberg prügelte, liebt er diese Rasse nicht.“50

Nach eigenem Bekunden ist Zech ein schlechter Schüler. Andererseits behauptet er, Griechisch gelernt zu haben.51 Er erinnert sich sogar, wer ihn unterrichtet hat: „Dr. Thomas Siebenseit, der von der Quinta bis zur Untertertia mein Klassenlehrer war.“52 Auf das Gymnasium will er in Graudenz gegangen sein.53 Das ist Fiktion, wie die im Archiv der Stadt Grudziądz erhaltenen Schülerlisten der örtlichen Lehranstalten belegen. Paul besucht bis zu seiner Konfirmation in Briesen die Volksschule. Zwar gibt es am Ort auch eine private „Höhere Schule“, aber die führt nur bis zur Klasse II B.54 Abgesehen davon kann der Vater das Geld für eine solche Ausbildung seines Ältesten nicht aufbringen, denn die häusliche Not wird immer größer. 1894 bringt die Mutter einen weiteren Jungen zur Welt. Er erhält den Namen Gustav. Ein Jahr zuvor ist ein anderer Bub, Hermann Adolph, kurz nach der Taufe verstorben.

Paul erweist sich in Briesen wie schon zuvor in Müncheberg als schwieriges Kind, das jede Form von Autorität ablehnt. Der Lehrer führt beim Großvater Klage über dieses Verhalten, und der Opa prophezeit dem Enkel „ein schlimmes Ende“, falls er sich auch künftig so unbotmäßig verhalte.55 Am Ostersonntag 1895 wird der Vierzehnjährige konfirmiert, nachdem er am vorbereitenden Unterricht teilgenommen und Teile des Lutherischen Katechismus auswendig gelernt hat.56 Der Festgottesdienst findet in der evangelischen Kirche am Marktplatz statt, wo Pfarrer Weckwarth, der Paul schon getauft hat, noch immer Dienst tut. Vom Großvater bekommt der Enkel eine Taschenuhr: „… es ist eine richtige silberne Konfirmandenuhr“.57 Sorgfältig verwahrt er das Geschenk sein Leben lang, denn es trägt „die bemerkenswerte Jahreszahl meiner Konfirmation“.58

Nach dem Besuch der Volksschule muss Paul auf Wunsch der Eltern eine Lehre als Bäcker beginnen, bricht sie jedoch ab und plant, möglichst bald von zu Hause wegzulaufen.59 Ursache dafür ist vor allem sein gestörtes Verhältnis zum Vater: „Immer sprecht ihr von der Vaterstadt, vom Vaterhaus und der Vaterhand. Und das Bild dessen, den ihr eigentlich mehr gefürchtet habt als geliebt, steht vor eueren Augen“.60 Mehr Verständnis für den Heranwachsenden zeigt die Mutter, der er sich zuweilen anvertraut, die aber zu schwach ist, um sich für ihn gegen den Ehemann durchzusetzen.

Der Junge lebt häufig im Streit mit den Erwachsenen seiner Umgebung, unter ihnen der Großvater sowie der Lehrer. Ihn bedrücken die dumpfe Atmosphäre im Haus an der Schönseer Straße sowie die Zustände in Briesen allgemein: „mein brodelnder Nervensaft / wieherte auf wie hengstwitternde Stuten. / Da ward ich ein Sturm / der wütend durch Gitter pfiff / und Vaters Jähzorn schürte. / Und wurde doch immer geschwächt wie ein Wurm / unter Tritten und Griff, als ich mein Bündel schnürte.“61 Aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht heraus fasst er endgültig den Entschluss, fortzulaufen. Er will ins Ausland, damit ihn kein deutscher Gendarm festnehmen und zurück zu den Eltern befördern kann. Das Ziel für die geplante Flucht ist rasch gefunden.

Flucht in die Fremde

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts heuern in- und ausländische Firmen im Osten des Deutschen Reiches junge kräftige Männer an, die willens sind, im Bergbau gefährliche, kräftezehrende, ungesunde und schlecht bezahlte Arbeiten zu verrichten. Bevorzugtes Ziel für solche Werbefeldzüge ist das zwischen Russland, Österreich und Deutschland aufgeteilte Gebiet des ehemaligen Königreichs Polen. Einige Unternehmen zahlen an ostpreußische Gastwirte drei Mark Provision pro vermittelten Arbeiter.62 In Westpreußen geschieht Ähnliches. Hier lebt eine große Zahl junger Polen, die arbeitslos sind. Es bedarf keiner großen Überredungskünste, sie für eine Tätigkeit im Westen des Deutschen Reichs, in Belgien oder Frankreich zu gewinnen.

Paul sieht diese Angebote und erinnert sich seiner Kindertage in Müncheberg, wo er den Bergbau kennengelernt hat. Nun will er selbst als Kohlenhauer arbeiten. Ohne Abschied zu nehmen verlässt er um 1897 Eltern und Geschwister. Das Geld für eine Fahrkarte mit der Eisenbahn hat er längst zusammen: „Dann sind wir in den Zug gestiegen / und sahn die Heimat vorüberfliegen; / Felder und Scheuer, Dächer und Kirchturm, / Alle Wälder zerbrachen dem qualmenden Ansturm“.63 Dem Lauf der Weichsel folgend geht die Fahrt hundert Kilometer nach Norden: „Schon donnern Brücken eines fremden Stroms mit Schiff und Damm.“64 Der Germanist Josef Nadler schreibt in seiner völkischen Literaturgeschichte: „Paul Zech […], der als Jüngling im Eisenbahnzug dem Bürgertum in das Abenteuer entfloh“.65

In Danzig angekommen, möchte der Ausreißer am liebsten umkehren: „Da wir den Zug verließen / und auf dem Bahnhofsvorplatz / mitten in Auto- und Droschkenhatz / fremd auf wildfremde Menschen stießen, / o wie klein ward unser Abenteuern, / o wie groß das Verlassensein!“66 Er irrt durch die Straßen der Stadt, hin zu einem riesigen Industriegebiet mit Werften und Docks: „Da liegt der Hafen sinnlos grau und weit gestreckt. / Schlepper und Barken, Fähren, Segelschiffe / rauchmähnig und mit Flaggen bunt besteckt. / Und siebenstöckiger Speicher gleichgetünchte Front“.67 In einem anderen Gedicht, „Schiffswerft“, heißt es: „Wanderst Du stromaufwärts den Hafen entlang, / o, wie das dröhnt und stöhnt: Walzwerk und Werften, / Schornsteine und Schienen, Schuppen mit verschärften / Maschinen mitten in dem mörderischen Chorgesang.“68 Der Minderjährige heuert auf einem Frachter als Schiffsheizer an. Wie in vielen Häfen der Welt sind auch in Danzig fehlende Personalpapiere für manchen Kapitän kein Hinderungsgrund, einen jungen Mann an Bord zu nehmen, der bereit ist, Schwerstarbeit zu leisten. Zech muss in der Tiefe des Schiffes bei glühender Hitze Koks in die riesigen Feuerungslöcher der Öfen schaufeln. Das bedeutet für den nur einen Meter sechzig großen Heranwachsenden eine Überforderung, die ihm lebenslang gesundheitlich zu schaffen macht. Der Frondienst wird in seinen späteren Werken mehrfach erwähnt. Im Roman „Kinder vom Paraná“ findet sich der Vergleich: „… wie der Glutatem aus dem riesigen Feuerloch eines Dampfkessels“.69 Über die Ostsee, den Kaiser-Wilhelm-Kanal und die Nordsee gelangt Zech nach Holland und geht in Rotterdam von Bord: „Ein Franzose (breitschultriger Bretone) spricht mich an. Ist Steuermann und will Ersatz für den entlaufenen Schiffskoch heuern. Einen Monat früher: ich hätte zugepackt!“70 Er bleibt jedoch an Land und besucht die Kneipen im Hafen, wo er mit den dort verkehrenden Damen Bekanntschaft schließt: „Da presst sich lüstern der Javaner an die kleine / geschminkte Esther aus der Judenkolonie. / Mynheer van Delft küßt frech die dänische Marie / und Jack, das Negerlein, beäugt Luisens Beine.“71

Zech genießt die neue Freiheit, bis ihm das Geld ausgeht. Dann ist er gezwungen, als Lastenträger zu arbeiten. Stefan Zweig vertraut er später an, er habe „in Rotterdam Kulidienste“ geleistet.72 Das ist ihm schnell lästig. Zudem muss er sich hüten, in eine Polizeikontrolle zu geraten, denn ihm fehlen gültige Papiere. Weiterhin hält er an seinem Plan fest, im Bergbau Geld zu verdienen und heuert auf einem Schiff an, das ihn nach Belgien bringt. In Antwerpen treibt er sich erneut in der Hafengegend herum und lässt sich mit Huren ein. In „Sackträgerin“ schildert er seine nächtlichen Erlebnisse: „ein Blutjunger schlich in das Haus /der Trägerin, auf dass sie nicht entrönne / und auch kein anderer sie zuerst gewönne. / Er blieb darin bis ein Strauß / Purpurner Rosen alle Giebel krönte /und trug ein Glück mit fort, das seinen Tag verschönte.“73

Auch in dieser Stadt hält es den Abenteurer nicht lange. Er schlägt sich zum Kohlerevier südlich von Brüssel durch. Als Hilfskraft findet er in Charleroi unter Tage eine Arbeit, die ihn wieder überfordert. Da die Stollen im Bergwerk zu niedrig sind, um sich aufrecht fortzubewegen, muss er kniend oder in gebückter Haltung Körbe mit Kohle bis zu den Stellen ziehen, an denen Gleise für Loren verlegt sind. Diesen Lebensabschnitt schildert er in „Rue St. Jacques“. Das ist eine Straße im industriell geprägten Stadtteil Mont-sur-Marchienne.74 Hier haust er für „acht Franken die Woche“ bei einer „Madame Romain“, von der er außer einer Bettstatt täglich eine warme Mahlzeit erhält. In der Nähe seiner Unterkunft befindet sich auch der Schacht, in den er einfährt.

Zu Anfang der Novelle findet sich eine Zeitangabe: „Sieben Monate diese Straße, diese Stadt –: abzuschildern Grund genug“. Beschrieben wird die düster-rußige Montanregion von Mont-sur-Marchienne mit ihren Gruben, Fördertürmen, Hochöfen, Kupferschmelzen und Eisenwalzwerken. Dabei geht Zech auch auf die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen ein, unter denen der Kohletransport sowie die Produktion von Stahl und Kupferblech erfolgen. Die fragwürdigen Vergnügungen, denen sich die Arbeiter nach Feierabend hingeben, finden ebenfalls Erwähnung. Dem Text liegt eine gründliche Ortskenntnis von Charleroi zugrunde. Der Verlauf einer Bahnlinie, die unweit von Zechs Behausung in der Industriezone eine lange Kurve macht, wird exakt beschrieben und die Kreuzung der Rue St. Jacques, an der er sich täglich aufhält, skizziert er mit den Worten: „Eine Zentrale […] mit Gassenausläufern nach vier Seiten“. Das Straßenbild bleibt unverändert bis ins 21. Jahrhundert erhalten, drei Verkehrsampeln ausgenommen.

Den Arbeitsalltag unter Tage schildert Zech auch in der Erzählung „Das Bergwerk“, deren Untertitel lautet: „Erlebnisse eines armen Grubenarbeiters namens Falkenberge“.75 Darin werde „die düstere Welt eines Bergwerks aufgezeigt. Und zwar in einer Grube, wie sie vor zwanzig Jahren in Belgien so und nicht anders aussah“.76 Auch in diesem Text erfährt der Leser von den unwürdigen und unhygienischen Zuständen in einer Unterkunft für Arbeiter. Mit Worten werden die vielfältigen akustischen Eindrücke im Schacht dargestellt: das Dröhnen der Koksbrecher, das Sausen der Förderkörbe, das Poltern der Kippwagen und die nicht zu überhörende Stille. Zech zeigt sich vertraut mit Fachausdrücken der Kohleförderung wie „Seilschläger“, „Schießmeister“, „Förderschale“ und „Sprengherd“. Viele seiner Gedichte enthalten Begriffe, die auf Erlebnisse in Charleroi zurückgehen. „Förderschächte und Schlot an Schlot“ heißt es in „Der Stahlgott Vulkan“. Zwei weitere Produktionsstätten der Stadt werden in „Kanalfahrt“ benannt: Walzwerke und Zinnschmelzen.77

Das Industriegebiet von Charleroi

Rue St. Jaques in Mont-sur-Marchienne bei Charleroi

Trotz täglicher Schwerarbeit unter Tage bringt Zech den Willen zur Lektüre von Büchern auf. Eine Glückwunschadresse an Thomas Mann aus dem Jahr 1945 enthält den Satz: „Als Sie Ihren dreißigsten Geburtstag begingen […] las ich, unter der flackernden Gasflamme eines Proletarierquartiers im Borinage, den Band ‚Tristan‘.“78 Um 1900 liest Zech weder den „Tristan“ noch ein anderes Werk von Thomas Mann, aber das Bild von der nächtlichen Lektüre bei Gasbeleuchtung spiegelt die Wirklichkeit seiner Erlebnisse in Belgien.

Stefan Zweig nennt er eine weitere Stadt, in der er unter Tage gewesen sein will: „Ich glaube, dass ich Ihnen schon einmal schrieb, wie ich in Charleroi und in Mons in den Bergwerken gearbeitet habe.“79 Auf die Frage nach der Dauer gibt er voneinander abweichende Hinweise. Der Wahrheit am nächsten kommt eine Bemerkung Zechs aus dem Exil: „Ein Jahr. Bloß [= Nur] herumgekrochen. Aber das hat ausgereicht …“80 Legt man der Berechnung seiner Tätigkeit als Bergarbeiter dieses eine Jahr zugrunde und bezieht die von ihm selbst genannten „sieben Monate“ der Arbeit in Mont-sur-Marchienne ein, verbleiben fünf Monate, die er anderwärts unter Tage gearbeitet hat.

Ab 1898 durchstreift Zech das Borinage, ein Industriegebiet rund um Mons, und kommt auch nach Frankreich, nach Charleville. Es wird ihm „dorniges Idyll eines Sommermonats“. Der Bericht darüber zeugt gleichfalls von guter Ortskenntnis: „Öfen sind da. Mit breiten Feuerbäuchen. Auf der Seite nach Mézieres zu lungern die Kostgeber. Sie borgen drei Wochen Matratze und dünnen Rotwein.“ Mehrfach schildert der Verfasser die ortsansässige Schwerindustrie: ein Eisenwerk, das seine Erzeugnisse bis nach Afrika liefert, und ein Walzwerk. Er erwähnt eine Ziegelei und das in der Umgebung gelegene Kloster Signy. Ferner beschreibt er den städtischen Alltag, den Betrieb in den Kneipen, in der Singspielhalle sowie in den Kaufhäusern. Auch etliche Aufenthalte im Bordell findet er der Erwähnung wert.81

Eines der Gedichte, die Zech rückblickend auf Charleville verfasst, trägt den Titel „Unter den Hochöfen“.82 Er arbeitet nochmals als Kesselheizer, jedoch nicht „um 1909“, wie es in diesem Text heißt, sondern vor der Jahrhundertwende. Noch im Exil macht er die Arbeit in Belgien und Frankreich zum Thema einer Kurzgeschichte. Sie handelt von einem jungen Mann, der vor den Hochöfen glühende Schlacke in Loren verladen muss, „die Kehle voller Ärger über so eine gottverfluchte Sklaverei“. Er heißt Tamm Boom. Der Name ähnelt nicht zufällig „Timm Borah“, einem der vielen Pseudonyme Zechs. Boom, ein Hilfsarbeiter, erinnert sich einer freudlosen Jugend auf dem Land, der Arbeit auf den Feldern, kindlicher Sünden wie dem Rauchen von Kartoffelkraut, alles Begebenheiten, die vor 1898 im Leben des Erzählers stattgefunden haben. Wörtlich beklagt er, „dass der Mensch sich vor den Hochöfen grauenhaft bücken muss: zehn Stunden in einer Tour scharwerken“.83

Zech kann diese Schwerstarbeit nicht länger aushalten. Wahrheitsgemäß bekennt er später, sein Versuch, als „Kohlenhauer unter Kohlenhauern“ zu arbeiten, sei gescheitert.84 Erschöpft verlässt er Frankreich und schlägt sich über Belgien nach Holland durch. Da ihm das Geld für ein „Billet“ fehlt, reist er als „blinder Passagier“ mit der Eisenbahn. Aufschluss darüber gibt sein Theaterstück „Windjacke“. Es trägt den doppeldeutigen Untertitel „Tragödie einer Jugend von Paul Zech“, und zeigt das kurze Leben eines Vagabunden, der in die bürgerliche Gesellschaft zurückfinden will.85 Klaus, ein junger Arbeitsloser, wird wegen Landstreicherei festgenommen, kommt zwei Jahre in Fürsorgeerziehung, findet anschließend Arbeit, verliert diese aber wieder, als seine Vergangenheit bekannt wird. Schließlich versucht er erfolglos, nach Amerika auszuwandern. Aus Geldmangel fährt er auf den Dächern der Waggons von Güterzügen.

Eine Stadt, in der Zech auf seiner Reise Station macht, ist Utrecht. Hier will er Ohm Krüger sehen, den im Exil lebenden Präsidenten der Republik Transvaal. Dazu harrt er drei Tage vergeblich vor dessen Palast aus. Beim Warten beobachtet er: „Auf dem Schieferdach hing schlapp die Fahne von Transvaal“.86 Das ist eine Angabe, anhand derer sich dieser Aufenthalt zeitlich fixieren lässt. Die Fahne wird im Juni 1902 letztmals gehisst. Da sich der Rückkehrer ab 1901 wieder in Deutschland befindet, kann er sie nur in der Zeit davor gesehen haben. Von Holland aus gelangt er schließlich nach Deutschland in die Gegend von Köln.

Heim nach Deutschland!

In einer biographischen Notiz behauptet Zech: „Im Jahre 1899 siedelten wir nach Elberfeld über und hier bin ich nun ununterbrochen wohnhaft.“87 Mit „wir“ sind seine Eltern gemeint, die angeblich mit ihm zusammen von Lüneburg ins Bergische Land umziehen. Das ist frei erfunden, aber die Zeitspanne der Jahre 1899 und 1900, in deren Verlauf sich der Rückkehrer aus Frankreich, Belgien und Holland im Tal der Wupper niederlässt, passt zu den gesicherten Fakten seines Lebenslaufs. Bestätigung erfährt die Datierung durch den Schriftsteller Kurt Erich Meurer, in dessen Aufzeichnungen es heißt: „Notiert sei nur, dass Paul Zech […] in frühen Jahren in die Rheingegend kam [und] Elberfeld als seine zweite Heimat für sich entdeckte“.88

Einige Zeit lebt Zech in Köln. Das geht aus Passagen hervor, die in der Erzählung „Die Mutterstadt“ enthalten sind. Diesen Text veröffentlicht er erstmals unter dem Pseudonym „Werner Pütt“, einem sprechenden Namen, denn Bergwerke heißen in rheinischer Mundart „Pütt“. Geschildert wird, wie ein Heranwachsender namens Andreas Wülfing nach dem Tod der Mutter in Köln sein Erbe für Schnaps und im Bordell ausgibt, bis er ein Mädchen namens Lena kennenlernt. Sie verliebt sich in ihn und ist um seine Rettung bemüht. Deshalb will sie ihn aus der Großstadt weglocken: „Hier am Rhein ist‘s nicht so schön wie bei uns im Bergischen.“89 Lena spricht aus, was Zech empfindet. Der erfährt um 1900 die Großstadt und das Bergische Land als gegensätzliche Lebenswelten. Die eine stößt ihn ab, in der anderen fühlt er sich geborgen. Diesen Gegensatz gestaltet er später auch im Roman „Peregrins Heimkehr“. Dessen Titelfigur lebt eine Zeit lang in Köln, wird aber dort nicht heimisch.90

Zech zieht weiter ins Wuppertal. Da ihm die Gegend gefällt, entschließt er sich, zu bleiben. Eigenen Angaben zufolge steht er 1901 in Barmen „bei Molinäus sechs Wochen vor den Kesselfeuern“.91 Mehrere Texte enthalten jedoch Hinweise auf einen anderen Arbeitgeber. Im Gedicht „Heimat“ heißt es: „Als ich in Farbfabriken schuf, in Kohleschächten, / war ich ein Fremder, eine aufnotierte Zahl“.92 Rudolf Hartig vertraut er später an: „Ursprünglich Schreiber, dann Arbeiter in Gruben, Hafenstädten und Farbfabriken.“93 Der Theologe Gustav Würtenberg erfährt von ihm: „Ich […] stand am Rührwerk in den Giftbuden der Farbenfabriken“.94 Zechs Beschreibung des Elberfelder Originals August Kallenbach enthält den Satz: „Die Mutter war in den Sielen geblieben; als Packerin in der Chemischen Fabrik.“95 Der knapp zwanzigjährige Rückkehrer arbeitet bei „Friedrich Bayers Farbenfabriken“ als Packer und Lagerist. Diese Berufsangabe findet sich 1904 in seiner Heiratsurkunde. Das Chemie-Unternehmen ist 1863 in Barmen gegründet und drei Jahre später nach Elberfeld verlegt worden. Im Wuppertal herrscht dank „Bayer“ um die Jahrhundertwende Vollbeschäftigung.

Der vormalige Bergwerksgehilfe und Kesselheizer übt nun eine Tätigkeit aus, die weniger an seinen Kräften zehrt als die Plackerei unter Tage oder an den Feueröfen, doch auch bei Bayer gibt es gesundheitsschädliche Arbeitsplätze. Ungeschönte Bilder von solchen Zuständen zeichnet Zech später mit Worten im Gedicht „Männer in der Farbenfabrik“: „Es dampft der Chlor, es spritzt die Säure aus den Kannen. / Sie hocken mit dem Rührwerk auf den engen Dämmen / und sind von dem Gebrodel in den Kupferpfannen / schon so benommen, wie die Fliegen an den Wänden.“ Was Zech beschreibt, kennt er aus unmittelbarer Anschauung: „Von ihren Schädeln hängen die verfilzten Strähnen / so grün herab, wie Zweige von den Trauerweiden. / Sie haben kaum noch eine helle Stelle an den Zähnen / und lassen sich auch die Geschwüre nicht mehr schneiden, / die auf dem Nacken wuchern“.96 Zech ist klug genug, bei Bayer keine Tätigkeit in der Produktion anzunehmen. Er gibt sich mit einer weniger gut bezahlten Stelle zufrieden, ruiniert deshalb nicht weiter seine Gesundheit und muss die ihm verbleibende kärgliche Freizeit nicht mehr ausschließlich dazu nutzen, neue Kräfte zu sammeln.

Das Wuppertal bietet dem Neuankömmling vieles, was ihn beeindruckt. In Elberfeld, um die Jahrhundertwende eine Großstadt von knapp 160 000 Einwohnern, ist vor kurzem eine prunkvolle Stadthalle im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Staunend steht er auch vor riesigen Stahlträgern, die entlang der Wupper Fluss und Straßen überspannen. Es sind Teile der im Entstehen begriffenen, weltweit einzigartigen Schwebebahn. Schon im Oktober 1900 hat Kaiser Wilhelm II. eine Probefahrt mit diesem Wunderwerk der Technik unternommen und in Elberfeld ein neues Rathaus sowie in Barmen die „Ruhmeshalle“ eingeweiht. Schriftliche Zeugnisse Zechs aus dieser Zeit gibt es nur zu seinem Privatleben. Da ihn schon von Kindheit an Jahrmärkte faszinieren, fährt er in die Nachbarstadt Schwelm, als dort ein „Rummel“ stattfindet. Zwischen Kirmesbuden, Karussells und einem Kasperletheater schließt er Bekanntschaft mit einem Mädchen, das sich auf dem Nachhauseweg von ihm küssen lässt: „Wir waren noch so kinderjung. Ihr Mund schmeckte wie eine Haselnuß. […] Ich fuhr noch ein dutzendmal herüber, um Haselnüsse zu pflücken“, schwärmt er erinnerungsselig noch im Exil von diesem Erlebnis.97

Einige Zeit später lernt Zech ein Mädchen aus Barmen kennen. Im Feuilleton „Zwei Rosen“ liest sich das so: Ein Schriftsteller mittleren Alters kommt nach Jahren wieder mit einem Freund aus Studienzeiten zusammen. Dieser ist inzwischen Arzt und verheiratet. Seine Ehefrau heißt Else. Als der Autor ihr gegenübersteht, wird beiden klar: sie haben sich vor langer Zeit einmal geliebt und danach nie mehr wieder gesehen.98 In welcher Stadt das geschehen ist und wer das Vorbild für die junge Dame abgibt, geht aus einem Brief von Dr. Aloys Buschmann hervor, der zu Anfang des Jahrhunderts im Wuppertal lebt. Bei ihm handelt es sich nicht um einen Mediziner, sondern um einen Journalisten. Nachmals berichtet er einem Bekannten: „Paul Zech […] hatte meiner Paula in Barmen sehr nahe gestanden.“99 Zwischen der späteren Gattin Buschmanns und dem bei Bayer tätigen Lageristen entwickelt sich zu Anfang des Jahrhunderts eine intensive Liebesbeziehung. Als Zech 1912 sein Feuilleton „Zwei Rosen“ veröffentlicht, verlegt er den Schauplatz des Geschehens nach Niedersachsen, denn bei „Else“ handelt es sich um Paula Rehse, die Tochter von Karl Friedrich und Berta Rehse, einem Ehepaar, das in Barmen einen Kolonialwarenladen betreibt, und auch Buschmann wohnt zu dieser Zeit noch immer in dieser Stadt.

Nach 1900 erregen im Wuppertal zwei Skandale die Gemüter der Bevölkerung. Den ersten verursacht Ludwig Fahrenkrog, ein bildender Künstler, der an der Kunstgewerbeschule Barmen Malerei lehrt und als Verkünder einer deutsch-völkischen Bewegung Aufsehen erregt.100 Seine Anschauungen sind vom Lebenskult und von einer Rassenideologie geprägt, die das Christentum ablehnt. In der neuen „Ruhmeshalle“ zeigt er Gemälde und Grafiken, mit denen aller Welt der germanische Götterglaube nahegebracht werden soll. Unter den Bildern erschreckt das eines bartlosen, völkisch-heldenhaften „Jesus von Nazareth“ mit Gesichtszügen des Lichtgottes Baldur die Besucher, was in der Öffentlichkeit heftige Proteststürme auslöst. Da Zech als Kind von Mutter und Großmutter im christlichen Glauben erzogen worden ist, interessiert er sich für religiöse Themen, während er die Kirche als Institution ablehnt. Er besucht die Ausstellung. Was er dort sieht, gefällt ihm, und er hat den Wunsch, den Künstler persönlich kennenzulernen. Das gelingt ihm nach kurzer Zeit, denn dieser schart Jünger um sich. In den folgenden Jahren macht sich Zech einen Großteil von Fahrenkrogs Anschauungen zu eigen.

Wichtige Elemente des Lebenskultes bilden die Begriffe „Erde“ und „Blut“. Bei der Gestaltung menschlichen Daseins soll gemäß dieser Lehre dem „Gefühl“ Vorrang vor dem „Verstand“ gegeben werden. Autoritäten sind Nietzsche, Bergson und Simmel. Zech vertieft sich in die Werke dieser Philosophen und übernimmt aus ihnen Schlagworte wie „Stein“, „Krankheit“ oder „Tier“ in seine Vorstellungswelt. Der Lebenskult bewahrt ihn allerdings nicht vor Enttäuschungen im Alltag. Als Vater Rehse, der gleichfalls zu den Anhängern Fahrenkrogs gehört und inzwischen zum Fabrikanten avanciert ist, vom Verhältnis seiner Tochter mit einem dahergelaufenen Habenichts erfährt, verbietet er Paula den Umgang mit dem Lageristen. Die frühe Barmer Version der „Legende von Paul und Paula“ nimmt aufgrund des Machtwortes von Vater Rehse ein jähes Ende.

Der zweite aufsehenerregende Skandal ereignet sich anlässlich der festlichen Übergabe eines Kunstwerks an die Elberfelder Bevölkerung im September 1901. Die Affäre hat folgenden Hintergrund: Auf der Spitze eines vor dem Rathaus neu errichteten Brunnens steht überlebensgroß das steinerne Abbild des römischen Gottes Neptun. Zu seinen Füßen räkeln sich Putten und Tritonen. Der Unternehmer August Freiherr von der Heydt hat die Auftragsarbeit bezahlt. Das Werk soll im Rahmen eines Festaktes enthüllt werden. Zur Vorbereitung der Zeremonie entfernen Bauarbeiter wenige Tage zuvor Planen, die die Statue bis dahin den Blicken der Vorübergehenden entzogen haben.

Als Neptun und weitere Gestalteten aus Stein ohne das übliche Feigenblatt sichtbar sind, überschlagen sich die Ereignisse. Kirchliche Würdenträger und weltliche Moralapostel geben lautstark ihrer sittlichen Empörung über die Verletzung des guten Geschmacks Ausdruck, Protestversammlungen werden abgehalten, polemische Verlautbarungen gegen Künstler und Mäzen kommen in Umlauf und anonyme Briefe werden verschickt. Ein radikaler Gegner der anstößigen Blößen belässt es nicht bei Worten, sondern geht nachts mit Hammer und Meißel gegen die Nackten auf dem Neumarkt vor. Zwei der Figuren werden „entmannt“. Das empört den Elberfelder Schriftsteller Walter Bloem. Ad hoc verurteilt er in der Presse den Kunstfrevel und Jahre später schreibt er das Stück „Der Jubiläumsbrunnen“, in dem die Kunstbanausen seiner Vaterstadt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Zech verkehrt diesen Protest schriftlich ins Gegenteil, indem er den Kollegen in die Schar derer einreiht, die das Kunstwerk ablehnen: „Von Walter Bloem, dem geschmeidigen Schriftsteller, wussten die Buchhändler um den Neumarkt herum, dass er den Jubiläumsbrunnen angestunken hatte.“101

In Belgien hat Zech seine Liebe zur schönen Literatur entdeckt. Jetzt beginnt er, selbst Verse zu schreiben. Einige davon sind erhalten. Der junge Mann preist die Schönheit der Natur und beschreibt sein Liebesleben. Auch dem jungen Mädchen von der Schwelmer Kirmes und Paula aus Barmen widmet er Gedichte. Allerdings fehlt jeweils eine genaue Zuschreibung oder Widmung. Anders verhält es sich mit den Versen für seine neue Liebe. Sie heißt Helene Siemon, ist 16 Jahre alt und die Tochter eines schon vor Jahren verstorbenen Schuhmachers aus Rotenburg an der Fulda. Die Heranwachsende wohnt zusammen mit ihrer Mutter Dorothea und einer vier Jahre jüngeren Schwester Julia im zweiten Stock eines Elberfelder Mietshauses in der Hatzenbecker Straße 26.