Die Lektionen eines Lebens - Indra K. Nooyi - E-Book

Die Lektionen eines Lebens E-Book

Indra K. Nooyi

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Beschreibung

Als erste Person of Color und Immigrantin an der Spitze eines Fortune-50-Unternehmens hat Indra Nooyi PepsiCo mit einer einzigartigen Vision und einem tiefen Sinn für das Wesentliche geprägt. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte: von ihrer Kindheit und frühen Ausbildung im Indien der 1960er-Jahre über die Yale School of Management bis hin zu ihrem Aufstieg bei Pepsi. Sie berichtet von den Schwierigkeiten, die mit der Bewältigung ihres anspruchsvollen Jobs und der wachsenden Familie einhergingen, aber auch von ihrer Mission, Pepsi zu einem nachhaltigen Unternehmen mit gesunden Produkten zu machen. Und sie erklärt, warum unser aller Wohlstand in der Zukunft entscheidend von einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie abhängt.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

MY LIFE IN FULL : WORK, FAMILY, AND OUR FUTURE

ISBN 978-0-593-19179-8

Copyright der Originalausgabe 2021:

Copyright © 2021 by Preetara LLC

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Portfolio, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Copyright der deutschen Ausgabe 2023:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Rotkel. Die Textwerkstatt

Coverfoto: © Annie Leibovitz, 2021

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Lektorat: Christoph Landgraf

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Bildquellen:

Photos on insert pages 1 (all), pages 2 (all), pages 3 (all), page 4 (top left, bottom center), pages 5 (all), page 6 (top), pages 7 (all), page 8 (top), page 9 (top, bottom), page 10 (bottom), courtesy of the author; photos on page 6 (bottom), page 8 (bottom), page 9 (middle), page 10 (top), page 11 (bottom), page 12 (bottom), page 14 (top), pages 15 (all), by Joe Vericker/Photobureau; photo on page 11 (top) PepsiCo, Inc., 2017 Annual Report Cover; photo on page 11 (middle), by Andy Ryan; photo on page 12 (top), courtesy of Reckitt Benckiser; photo on page 12 (middle), a photo taken on the stage at Tina Brown’s 2016, Women in the World conference, including Anne-Marie Slaughter, Indra Nooyi, and Norah O’Donnell; photo on page 13 (top), courtesy of Centerview Partners; photo on page 13 (bottom), courtesy of Major League Baseball, Major League Baseball trademarks and copyrights are used with permission of Major League Baseball. Visit MLB.com; photo on page 14 (bottom), courtesy of the Nelson Mandela Foundation; photo on page 16, by Jon R. Friedman.

ISBN 978-3-86470-884-8

eISBN 978-3-86470-885-5

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ˂http://dnb.d-nb.de˃ abrufbar.

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Für meinen Mann Raj,meine Kinder Preetha und Tara,meine Eltern,meinen Thatha

INDRA NOOYI

Ehemalige Vorsitzende und CEO, PepsiCo

Die Lektionen eines Lebens

Was ich über Arbeit, Familie und unsere Zukunft denke

INHALT

EINFÜHRUNG

TEIL I

WIE ICH AUFWUCHS

TEIL II

WIE ICH FUSS FASSTE

TEIL III

DIE JAHRE BEI PEPSICO

TEIL IV

BLICK IN DIE ZUKUNFT

DANKSAGUNGEN

ENDNOTEN

EINFÜHRUNG

An einem nebligen Dienstag im November 2009 stand ich nach stundenlangen Treffen mit zwei Dutzend hochrangigen amerikanischen und indischen Wirtschaftsvertretern in Washington, D.C., zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem indischen Premierminister.

Barack Obama und Manmohan Singh hatten den Raum betreten, um sich über die Fortschritte unserer Gruppe zu informieren, und Präsident Obama begann, das amerikanische Team seinem indischen Amtskollegen vorzustellen. Als er zu mir kam – Indra Nooyi, CEO von PepsiCo – rief Premierminister Singh aus: „Oh! Aber sie ist eine von uns!“

Und der Präsident antwortete, mit einem breiten Lächeln und ohne zu zögern: „Ah, aber sie ist auch eine von uns!“

Es ist ein Moment, den ich nie vergessen werde – spontane Freundlichkeit von den Oberhäuptern der beiden großen Länder, die mir so viel gegeben haben. Ich bin immer noch das Mädchen, das in einer eng verbundenen Familie in Madras, im Süden Indiens, aufgewachsen ist, und ich bin tief mit den Lehren und der Kultur meiner Jugend verbunden. Ich bin aber auch die Frau, die im Alter von 23 Jahren in die USA kam, um zu studieren und zu arbeiten, und die es irgendwie geschafft hat, ein berühmtes Unternehmen zu leiten – ein Weg, der meiner Meinung nach nur in Amerika möglich ist. Ich gehöre in beide Welten.

Wenn ich zurückblicke, erkenne ich, dass mein Leben voll von dieser Art von Dualität ist – konkurrierende Kräfte, die mich von einem Kapitel zum anderen geschoben und gezogen haben. Und ich sehe, dass dies auf jeden von uns zutrifft. Wir alle müssen das Gleichgewicht halten, jonglieren, Kompromisse eingehen und unser Bestes tun, um unseren Platz zu finden, voranzukommen und unsere Beziehungen und Verantwortlichkeiten zu bewältigen. Das ist nicht einfach in einer Gesellschaft, die sich sehr schnell verändert und dennoch an einigen uralten Gewohnheiten und Verhaltensregeln festhält, die sich unserer Kontrolle entziehen.

Meine Familie und meine Arbeit waren schon immer die beiden Anforderungen, die mich ausmachen. Ich habe 1994 bei PepsiCo angefangen, auch weil der Hauptsitz des Unternehmens in der Nähe meines Hauses lag. Ich hatte zwei Töchter, damals zehn und anderthalb Jahre alt, und einen Ehemann, dessen Büro in der Nähe lag. Das Jobangebot von PepsiCo erschien uns sinnvoll, weil der Arbeitsweg kurz war. Ich konnte in 15 Minuten zur Schule oder nach Hause zum Baby fahren. Natürlich ist das nicht der einzige Grund, warum ich mich für PepsiCo entschieden habe, ein lebendiges, optimistisches Unternehmen, das mir vom ersten Moment an uneingeschränkt gefiel. Ich hatte auch das Gefühl, dass PepsiCo ein Unternehmen war, das offen dafür war, mit der Zeit zu gehen.

Das war wichtig. Ich war eine Frau, eine Immigrantin und eine Person of Color, die eine Führungsetage betrat, in der sie anders war als alle anderen. Meine Karriere begann zu einer Zeit, als die Dynamik zwischen Frauen und Männern am Arbeitsplatz noch nicht die gleiche war wie heute. In den 14 Jahren, die ich als Beraterin und Unternehmensstrategin tätig gewesen war, hatte ich nie eine Chefin gehabt. Ich hatte keine weiblichen Mentoren. Ich war nicht verärgert, dass ich von den Gepflogenheiten der männlichen Macht ausgeschlossen wurde, ich war einfach froh, dass ich überhaupt eingeschlossen wurde. Aber als ich zu PepsiCo kam, strömten gebildete, ehrgeizige Frauen in die Belegschaft, und ich spürte, wie sich die Atmosphäre veränderte. Der Wettbewerb zwischen Männern und Frauen wurde immer schärfer, und in den folgenden Jahrzehnten haben Frauen das Spiel in einer Weise verändert, die für mich zu Beginn undenkbar gewesen wäre. Als Führungskraft in der Wirtschaft habe ich immer versucht, den Wandel der Kultur vorauszusehen und darauf zu reagieren. Als Frau und Mutter von Mädchen wollte ich alles tun, um ihn zu fördern.

Als meine Karriere voranschritt und meine Kinder heranwuchsen, kämpfte ich mit den allgegenwärtigen Konflikten einer berufstätigen Mutter. 15 Jahre lang hatte ich in meinem Büro ein Whiteboard, auf das nur meine Töchter schreiben oder etwas löschen durften. Mit der Zeit wurde diese Tafel zu einem tröstlichen Kaleidoskop von Kritzeleien und Nachrichten, eine ständige Erinnerung an die Menschen, die mir am nächsten standen. Als ich aus meinem Büro auszog, habe ich eine Leinwandkopie der letzten Version behalten: „Hey Mom, ich hab dich ganz, ganz doll lieb. XOXOXOX.“, „Halte durch. Vergiss nie, dass du Menschen hast, die dich lieben!“, „Hab einen tollen Tag!“, „Hey Mom, du bist die Allerbeste! Mach weiter so!“, heißt es auf dem Bild mit Comicfiguren und Bildern von Sonnen und Wolken, alles in grünem und blauem Whiteboard-Stift.

Als hochrangige weibliche CEO wurde ich immer wieder gebeten, vor einem großen Publikum über Konflikte zwischen Beruf und Familie zu sprechen. Ich sagte einmal, dass ich mir nicht sicher sei, ob meine Töchter mich für eine gute Mutter hielten – geht es nicht allen Müttern manchmal so? Und ein indischer Fernsehsender produzierte eine einstündige Diskussionssendung zur Hauptsendezeit – ohne mich –, in der es darum ging, was Indra Nooyi über arbeitende Frauen gesagt hatte.

Im Laufe der Jahre bin ich Tausenden von Menschen begegnet, die sich Sorgen machten, wie sie ihren Familien, ihrer Arbeit und ihren Ambitionen, gute Bürger zu sein, gerecht werden könnten. Diese Beschäftigung hatte einen großen Einfluss auf mich, ich habe detaillierte Kenntnisse erlangt und diese tief verinnerlicht. Ich habe darüber nachgedacht, dass die Familie eine so mächtige Quelle menschlicher Stärke ist, aber ich habe auch erkannt, dass es für so viele Menschen eine Quelle des Stresses ist, eine Familie zu gründen und aufzuziehen.

Gleichzeitig gehörte ich zu einer viel gepriesenen Gruppe globaler CEOs, die regelmäßig zu den einflussreichsten Führungskräften der Welt eingeladen wurden. Dabei fiel mir auf, dass die schmerzlichen Geschichten darüber, wie Menschen – vor allem Frauen – darum kämpfen, ihr Leben und ihren Lebensunterhalt miteinander zu vereinbaren, bei diesen Treffen völlig fehlten. Die Titanen der Industrie, Politik und Wirtschaft sprachen darüber, wie man die Welt durch Finanzen, Technologie und Flüge zum Mars voranbringen könnte. Die Familie – der eigentliche chaotische, reizvolle, schwierige und geschätzte Kern des Lebens der meisten von uns – war eine Randerscheinung.

Diese Diskrepanz hat tiefgreifende Folgen. Unser Versäumnis, das drängende Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den oberen Etagen der globalen Entscheidungsfindung zu thematisieren, hält jeden Tag Hunderte von Millionen Frauen nicht nur davon ab, aufzusteigen und eine Führungsposition einzunehmen, sondern auch davon, eine befriedigende Karriere mit einer gesunden Partnerschaft und Mutterschaft zu verbinden. In einem florierenden Markt müssen alle Frauen die Möglichkeit haben, einer bezahlten Arbeit außerhalb des Hauses nachzugehen, und unsere soziale und wirtschaftliche Infrastruktur muss diese Entscheidung voll unterstützen. Die finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit der Frauen, die für ihre Gleichstellung so wichtig sind, stehen auf dem Spiel.

Allgemeiner ausgedrückt: Die Tatsache zu ignorieren, dass die Arbeitswelt immer noch weitgehend auf den „idealen Arbeitnehmer“ von einst ausgerichtet ist – einen unbelasteten männlichen Ernährer – schadet uns allen. Auch den Männern. Unternehmen verlieren, weil Produktivität, Innovation und Gewinn leiden, wenn so viele Mitarbeiter das Gefühl haben, dass sie sich nicht voll und ganz in die Arbeit einbringen können. Familien verlieren, weil sie so viel Energie darauf verwenden, mit alten Systemen zurechtzukommen – von kurzen Schulzeiten bis hin zu einem Mangel an Elternzeit oder der Möglichkeit, die Eltern zu pflegen –, die nicht mit ihrer Realität übereinstimmen.

Und natürlich leidet die gesamte Weltgemeinschaft darunter. Viele junge Menschen, die sich Sorgen machen, wie sie das alles schaffen sollen, entscheiden sich gegen Kinder. Dies könnte in den kommenden Jahrzehnten nicht nur schwerwiegende wirtschaftliche Folgen haben, sondern ich ganz persönlich finde dieses Detail traurig. Bei allem, was ich erreicht habe, war es meine größte Freude, Kinder zu haben, und ich will nicht, dass jemand auf diese Erfahrung verzichten muss, wenn er das nicht möchte.

Ich glaube, dass wir das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie angehen müssen, indem wir uns mit einer Energie und einem Einfallsreichtum wie nie zuvor auf unsere Infrastruktur rund um das Thema „Betreuung“ konzentrieren. Wir sollten dies als einen „Moonshot“ betrachten, ein kühnes Vorhaben, das damit beginnt, dass jeder Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Urlaub, Flexibilität und Vorhersehbarkeit hat, damit er die Ebbe und Flut des Arbeits- und Familienlebens bewältigen kann, und dann schnell die innovativsten und umfassendsten Lösungen für die Kinderbetreuung und die Betreuung älterer Menschen entwickeln, die sich unsere klügsten Köpfe ausdenken können.

Diese Aufgabe erfordert eine Führung, wie wir sie nicht oft erleben. Meiner Meinung nach besteht die grundlegende Aufgabe einer Führungspersönlichkeit darin, nach Möglichkeiten zu suchen, die kommenden Jahrzehnte zu gestalten, anstatt nur auf die Gegenwart zu reagieren, und anderen dabei zu helfen, die Unannehmlichkeiten zu akzeptieren, die mit der Veränderung des Status quo verbunden sind. Wir brauchen die Weisheit von Unternehmensführern, politischen Entscheidungsträgern und allen Frauen und Männern, denen die Erleichterung des Nebeneinanders von Beruf und Familie am Herzen liegt, um hier zusammenzukommen. Mit Optimismus und einem zupackenden Verantwortungsbewusstsein können wir unsere Gesellschaft verändern.

Umgestaltung ist schwierig, aber ich habe gelernt, dass sie mit Mut und Beharrlichkeit – und dem unvermeidlichen Geben und Nehmen – gelingen kann. Als ich 2006 CEO von PepsiCo wurde, legte ich einen äußerst ehrgeizigen Plan vor, um die tief liegenden Spannungen in einem Unternehmen anzugehen, dessen Wurzeln immer noch im Verkauf von Limonade und Chips liegen. Ich wusste, dass wir mit vollem Einsatz ein Gleichgewicht schaffen mussten zwischen der Unterstützung unserer geschätzten Marken Pepsi-Cola und Doritos und den Bemühungen um die Herstellung und Vermarktung gesünderer Produkte. Wir mussten die Läden und Vorratskammern weiterhin mit praktischen, leckeren Snacks und Getränken versorgen, dabei aber die Umweltauswirkungen dieses Wachstums berücksichtigen. Wir mussten die auf ihrem Gebiet besten Köpfe gewinnen und an uns binden, aber auch sicherstellen, dass PepsiCo für eine Viertelmillion Menschen ein hervorragender Arbeitsplatz war. Ich nannte diese Mission „Performance with Purpose“ (Leistung mit Sinn) und wog ein Dutzend Jahre lang jede Entscheidung vor dem Hintergrund dieses Maßstabs ab, wobei ich ständig Kompromisse einging, um eine nachhaltigere, zeitgemäßere Organisation zu schaffen.

In den Monaten, bevor ich 2018 PepsiCo verließ, dachte ich darüber nach, wie ich in den kommenden Jahren einen Beitrag leisten würde, wohl wissend, dass ich eine in einer Kette von weiblichen Führungskräften bin, die uns für die nächsten Generationen voranbringen können. Ich nahm mir vor, ein Buch zu schreiben, und beharrte gegenüber jedem aus meinem Umfeld darauf, dass es keine Memoiren werden würden. Stattdessen, so dachte ich, würde ich jedes Gramm meiner Erfahrung und meines Intellekts in einen Leitfaden einfließen lassen, der uns hilft, Beruf und Familie miteinander zu verbinden.

Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist nicht dieses Buch.

Erstens stellte ich bald fest, dass die Forschung über Arbeit und Familie bereits abgeschlossen ist. Aus allen Blickwinkeln und in allen Ecken der Welt waren die Argumente und Ideen zur Unterstützung von Familien – vom Mutterschutz über die frühkindliche Bildung bis hin zum Mehrgenerationenhaushalt – von brillanten Köpfen zusammengetragen, analysiert, bewertet und diskutiert worden. Ich brauchte das alles nicht zu wiederholen.

Zweitens weiß ich jetzt, dass alles, was ich zu diesem Thema beisteuere, voll und ganz aus meinem eigenen Leben stammt.

TEIL I

WIE ICH AUFWUCHS

1

Das Wohnzimmer der Frauen im Haus meiner Kindheit hatte ein einziges Möbelstück – eine riesige Palisanderholzschaukel mit vier langen Ketten, die in der Decke verankert worden waren, als mein Großvater das Haus 1939 an einer begrünten Straße in Madras, Indien, gebaut hatte.

Diese Schaukel, die in der südindischen Hitze sanft hin- und herglitt, war der Schauplatz von einer Million Geschichten. Meine Mutter, ihre Schwestern und ihre Cousinen – sie trugen einfache Saris in Fuchsia, Blau oder Gelb – schaukelten am späten Nachmittag mit Tassen süßen Milchkaffees darauf, die nackten Füße auf den Boden gestreckt, um sie in Bewegung zu halten. Sie planten die Mahlzeiten, verglichen die Noten ihrer Kinder und studierten indische Horoskope, um passende Partner für ihre Töchter oder die anderen jungen Leute in ihren weitreichenden Familiennetzwerken zu finden. Sie diskutierten über Politik, Essen, lokalen Klatsch und Tratsch, Kleidung, Religion, Musik und Bücher. Sie waren laut, sprachen übereinander und ließen das Gespräch laufen.

Von klein auf habe ich mit meiner älteren Schwester Chandrika und meinem jüngeren Bruder Nandu auf der Schaukel gespielt. Wir schaukelten und sangen unsere Schullieder: „The Teddy Bears’ Picknick“, „The Woodpecker Song“, „My Grandfather’s Clock“, oder Songs von den Beatles, Cliff Richard oder den Beach Boys, die wir im Radio gehört hatten: „Eight Days a Week“, „Bachelor Boy“, „Barbara Ann“. Wir dösten, wir rauften. Wir lasen britische Kinderromane von Enid Blyton, Richmal Crompton und Frank Richards. Wir fielen auf den glänzenden roten Fliesenboden und standen wieder auf.

Unser Haus war ein großes, lichtdurchflutetes Haus, in dem ein Dutzend Cousins und Cousinen an Festen und Feiertagen zusammenkamen. Die Schaukel diente als Kulisse für ausgeklügelte Theaterstücke, die wir schrieben und aufführten, basierend auf allem, was uns in den Sinn kam. Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel versammelten sich, um zuzuschauen, und hielten Zeitungsfetzen in der Hand, auf die die Wörter „Ein Ticket“ gekritzelt waren. Es stand unseren Verwandten frei, unsere Aufführungen zu kritisieren, dabei zu plaudern oder einfach wegzugehen. Meine Kindheit war keine Welt des „Toll gemacht!“. Es hieß eher: „Das war so lala“ oder „Ist das das Beste, was du kannst?“ Wir waren an Ehrlichkeit gewöhnt, nicht an falsche Ermutigung.

An diesen geschäftigen, glücklichen Tagen spielten die Kritiken keine Rolle. Wir fühlten uns wichtig. Wir waren in Bewegung, lachten und zogen weiter zu unserem nächsten Spiel. Wir spielten Verstecken, wir kletterten auf Bäume und pflückten die Mangos und Guaven, die im Garten rund um das Haus wuchsen. Wir aßen auf dem Boden, im Schneidersitz im Kreis sitzend, mit unseren Müttern in der Mitte, die Sambar Sadam und Thayir Sadam – Linseneintopf und Curd mit Reis gemischt – aus Tonschüsseln löffelten und indische Pickles auf Bananenblättern verteilten, die als Teller dienten.

Abends, wenn die Cousins und Cousinen zu Besuch waren, wurde die Schaukel abgenommen – das große, glänzende Holzbrett wurde von den silberfarbenen Ketten gelöst und auf die hintere Veranda getragen, um dort über Nacht gelagert zu werden. Dann richteten wir uns zum Schlafen am selben Ort aus, Jungen und Mädchen in einer Reihe auf einer großen, bunten Matte, jeder mit seinem eigenen Kissen und Baumwolllaken. Manchmal schliefen wir auch unter einem Moskitonetz. Wenn der Strom an war, drehte sich ein Ventilator träge über uns und tat so, als würde er die Hitze brechen, wenn die Temperatur in der Nacht 29,5 Grad Celsius betrug. Wir besprenkelten den Boden um uns herum mit Wasser, in der Hoffnung, die Verdunstung würde den Ort abkühlen.

Wie viele Häuser in Indien zu dieser Zeit hatte auch Lakshmi Nilayam, wie unser Haus genannt wurde, ein Wohnzimmer für Männer – eine weite Halle mit großen quadratischen Fenstern direkt am Eingangsportikus, wo man leicht beobachten konnte, wer kam und ging.

Mein Großvater väterlicherseits, ein pensionierter Bezirksrichter, hatte sein gesamtes Erspartes eingesetzt, um dieses prächtige zweistöckige Haus mit Terrasse und Balkonen zu entwerfen und zu bauen. Aber er verbrachte seine ganze Zeit im Wohnzimmer der Männer, las Zeitung und Bücher und faulenzte in einem bequemen Sessel mit Segeltuchsitz. Er schlief auf einem geschnitzten Holzsofa mit dunkelblauer Polsterung.

Er begrüßte Besucher, die fast immer unangemeldet kamen, sehr herzlich. Die Männer versammelten sich auf den beiden großen Sofas des Raumes und sprachen über das Weltgeschehen, die lokale Politik oder aktuelle Themen. Sie vertraten klare Ansichten darüber, was die Regierung oder Unternehmen tun sollten, um den Bürgern zu helfen. Sie sprachen auf Tamil oder Englisch und wechselten oft zwischen den beiden Sprachen. Kinder kamen und gingen – sie hingen herum, lasen oder machten ihre Hausaufgaben. Ich sah nie eine Frau in dem Raum vor meinem Großvater sitzen, den ich Thatha nannte. Meine Mutter ging ständig im Zimmer ein und aus, servierte Besuchern Kaffee und Snacks oder räumte auf.

Auf einem hölzernen Beistelltisch lagen das Oxford English Dictionary und das Cambridge Dictionary, beide in weinrotes Leder gebunden. Thatha ließ meine Schwester und mich einmal Nicholas Nickleby lesen, den fast 1.000 Seiten langen Roman von Charles Dickens. Alle paar Kapitel nahm er das Buch zur Hand, zeigte auf eine Seite und fragte: „Was bedeutet dieses Wort?“ Wenn ich es nicht wusste, sagte er: „Aber du hast doch gesagt, du würdest diese Seiten lesen.“ Dann musste ich das Wort nachschlagen und zwei Sätze schreiben, um zu zeigen, dass ich es verstanden hatte.

Ich bewunderte und verehrte Thatha, dessen vollständiger Name A. Narayana Sarma war. Er war 1883 in Palghat im Bundesstaat Kerala geboren worden, der unter den Briten Teil der Präsidentschaft Madras war. Er war bereits in den späten Siebzigern, als ich ein Schulmädchen war, ein schlanker Mann von etwa 1,74 Metern mit einer dicken Zweistärkenbrille, majestätisch, sehr bestimmt und sehr freundlich. Er trug einen perfekt gebügelten weißen Dhoti und ein helles Halbarmhemd. Wenn er sprach, tat das niemand sonst. Er hatte Mathematik und Jura studiert und jahrzehntelang den Vorsitz sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innegehabt. Seine Ehe war für mich rätselhaft. Meine Großeltern hatten acht Kinder, aber als ich meine Großmutter erlebte, bevor sie starb, schienen sie nie miteinander zu sprechen. Sie lebten in verschiedenen Teilen des Hauses. Er widmete sich voll und ganz seinen kleinen Enkeln, führte uns in immer anspruchsvollere Bücher und Ideen ein, erklärte uns Theoreme der Geometrie und bestand auf Ausführlichkeit und Klarheit bei unseren schulischen Leistungen.

Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass das Oberhaupt des Haushalts – und der Familie – im Wohnzimmer der Männer residierte.

Aber das Herz und die Seele unserer lebendigen Existenz befanden sich am Ende des Flures, in dem offenen Raum mit dem rot gefliesten Boden und der riesigen Palisanderholzschaukel. Dort hielt meine Mutter den Haushalt am Laufen, mithilfe von Shakuntala, einer jungen Frau, die an der Außenspüle abwusch und den Boden wischte.

Meine Mutter war immer in Bewegung – sie kochte, putzte, bellte lautstark Befehle, verpflegte andere und sang im Radio mit. Wenn sie nicht zu Hause war, herrschte gespenstische Stille im Haus. Das gefiel keinem von uns.

Mein Vater, ein für die damalige Zeit ungewöhnlicher Mann, war auch da, half bei der Hausarbeit und bei der Betreuung der Kinder. Er hatte einen Master-Abschluss in Mathematik und arbeitete in einer Bank. Er kaufte ein, half beim Bettenmachen und machte meiner Mutter gerne Komplimente, wenn sie seine Lieblingsspeisen zubereitete. Er erlaubte mir oft, mit ihm mitzugehen. Er war ein ruhiger Mann, voller Weisheit und mit einem schalkhaften Sinn für Humor. Ich verweise oft auf das Zitat des griechischen Philosophen Epiktet: „Der Mensch hat zwei Ohren und eine Zunge, damit er doppelt so viel hören kann, wie er spricht.“ Mein Vater war ein lebendes Beispiel dafür. Er verstand es, aus jeder angespannten Situation herauszukommen, ohne sie zu verschlimmern.

Jeden Monat übergab mein Vater seinen Gehaltsscheck an meine Mutter, die sich um die täglichen Ausgaben kümmerte. Sie dokumentierte alle Transaktionen in einem „Kassenbuch“ auf Papier und schloss jede Woche die Konten ab. Es war ein Buchhaltungssystem, das sie intuitiv angelegt hatte, und es ist für mich immer noch erstaunlich, dass sie es ohne jegliche Ausbildung in Buchhaltung entwickelt hatte.

Madras war in den 1950er- und 1960er-Jahren ein riesiger, aber recht einfacher Ort für Kinder wie uns. Es war eine Stadt mit etwa 1,5 Millionen Einwohnern, eine verschlafene, nerdige, sichere Stadt, die um vier Uhr morgens zum Leben erwachte, wenn die Morgengebete und Fahrradklingeln die Luft erfüllten. Die Lichter gingen pünktlich um acht Uhr abends aus, wenn alle Geschäfte, Restaurants und Vergnügungsstätten schlossen. Die jungen Leute gingen nach Hause, um zu lernen. Der Tag war zu Ende.

Die Britische Ostindien-Kompanie war 1639 an dieser Küste gelandet, und mehr als 300 Jahre später lebten wir in einer Mischung aus alten indischen Tempeln und kolonialen Büros, Gerichtsgebäuden, Schulen und Kirchen aus dem 19. Jahrhundert. Die breiten, von Bäumen gesäumten Straßen waren voll von Bussen, Motorrädern, Rikschas, Fahrrädern und ein paar Autos – kleine Fiats oder Ambassadors. Die Luft war frisch und klar. Ab und zu fuhren wir zum Marina Beach, der sich knapp zehn Kilometer entlang des Golfs von Bengalen erstreckt. Für die Erwachsenen war das Meer bedrohlich und unberechenbar, am besten aus der Ferne zu betrachten. Wir durften nur auf dem Sand oder im Gras sitzen und uns nicht in die Nähe des Wassers begeben, um nicht weggespült zu werden.

Madras, das 1996 in Chennai umbenannt wurde, ist die Hauptstadt des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu, dessen Wirtschaft von der Textilindustrie, der Automobilindustrie, der Lebensmittelverarbeitung und – in jüngerer Zeit – von Software-Dienstleistungen geprägt ist. Die Stadt ist voll von angesehenen Colleges und Universitäten. Sie ist auch der Sitz der klassischen südindischen Künste, die die Gemeinschaft verbinden – die alte karnatische Musik und Bharatanatyam, eine ausdrucksstarke, rhythmische, erzählende Tanzform. Jedes Jahr im Dezember füllte sich die Stadt mit Besuchern für ein renommiertes Kunstfestival. Wir hörten die Konzerte im Radio und erfreuten uns an den aufschlussreichen Kritiken jeder Aufführung durch die vielen Verwandten, die während des Monats in unserem Haus ein- und ausgingen.

Wir waren eine Hindu-Brahmanen-Familie, die neben anderen Hindus und Menschen anderer Glaubensrichtungen – Christen, Jainas und Muslimen – lebte. Wir lebten nach den Regeln einer eng verbundenen, liebevollen Familie in der kulturell lebendigen, multireligiösen Gesellschaft um uns herum.

Mitte des 20. Jahrhunderts in Indien Brahmanen zu sein, bedeutete, dass wir zu einer Klasse von Menschen gehörten, die einfach lebten, fromm waren und sich in höchstem Maße auf Bildung konzentrierten. Wir waren nicht wohlhabend, obwohl das große Haus, das wir besaßen, auch wenn es nur spärlich möbliert war, bedeutete, dass wir bequem lebten und von der unschätzbaren Stabilität profitierten. Wir stammten aus einer Tradition von Familien, die in Mehrgenerationenhäusern lebten. Wir besaßen wenig Kleidung – Mode war uns nicht wichtig. Wir sparten so viel wie möglich. Wir gingen nie auswärts essen oder fuhren in den Urlaub und hatten immer Mieter in unserer zweiten Etage, um ein zusätzliches Einkommen zu erzielen. Trotz unserer bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse wussten wir, dass wir uns glücklich schätzen konnten, als Brahmanen geboren zu sein. Wir wurden sofort respektiert, weil man uns als gelehrt ansah.

Meine Mutter feierte jedes hinduistische Fest mit den entsprechenden Ritualen, aber Geburtstage wurden nicht anerkannt. Meine Eltern haben uns nie umarmt, geküsst oder gesagt: „Ich liebe dich.“ Liebe wurde vorausgesetzt. Wir haben unsere Ängste, Hoffnungen und Träume nie mit unseren Ältesten geteilt. Sie waren einfach nicht die Art von Menschen, die solche Gespräche führen. Jeder Versuch wurde mit den Worten „Betet mehr. Gott wird dir helfen, einen Weg zu finden“ unterbunden.

Der Lieblingsausdruck meiner Mutter – den sie oft mehrmals am Tag wiederholte – war „Matha, Pitha, Guru, Deivam“. Sie übersetzte ihn so: „Deine Mutter, dein Vater und dein Lehrer sollten wie Gott verehrt werden.“

Sie erinnerte uns ständig daran, alle vier zu respektieren. Zum Beispiel durften wir vor den Älteren nicht die Füße hochlegen, wir durften beim Lernen nicht naschen, als Zeichen des Respekts vor den Büchern, wir standen immer auf, wenn ein Lehrer den Raum betrat, und setzten uns nur, wenn es erlaubt wurde.

Gleichzeitig durften wir als Kinder zu Hause immer unsere Meinung äußern, unsere Ideen voll entfalten und ausdiskutieren, mussten aber auch akzeptieren, dass die Erwachsenen uns ständig unterbrachen, uns nicht ausreden ließen und oft erklärten: „Was wisst ihr schon über dieses Thema? Hört einfach auf uns. Ihr werdet schon klarkommen.“

In unserem Haushalt in Madras war es immer laut, es wurde viel gelacht, gestritten und geschrien. Es war eine strenge Umgebung, und ich wurde geschlagen – etwas, das damals in den meisten Familien üblich war –, wenn ich mich schlecht benahm. Unser Leben war beständig und zwang mich dazu, sowohl Selbstdisziplin zu lernen als auch meine Meinung zu sagen. Ich erwarb den Mut, meinen Weg zu gehen und mich zu beweisen, weil ich in einem Rahmen aufwuchs, der mir nach und nach die Freiheit gab, das Leben zu erkunden. Es gab immer ein Zuhause, das mir Halt gab.

Mein Elternhaus war von einem besonders fortschrittlichen Denken geprägt, wenn es um die Erziehung von Frauen ging. Ich war ein mittleres Kind, dunkelhäutig, groß und dünn. Ich hatte viel Energie und liebte es, Sport zu treiben, auf Bäume zu klettern und im Haus und im Garten herumzurennen, und das alles in einer Gesellschaft, in der Mädchen nach ihrer Hautfarbe, Schönheit, Gelassenheit und „Häuslichkeit“ beurteilt wurden. Ich hörte zufällig, wie sich Verwandte darüber unterhielten, wie sie jemals jemanden finden würden, der „diesen Wildfang“ heiraten würde. Das tut immer noch weh. Aber ich wurde als Mädchen nie daran gehindert, mehr zu lernen, fleißiger zu studieren oder mich neben den klügsten Kindern unter uns zu beweisen.

Bei uns zu Hause durften Jungen und Mädchen gleichermaßen ehrgeizig sein. Das heißt nicht, dass die Regeln einfach nur gleich waren. Es gab sicherlich ein Gefühl dafür, dass Mädchen anders geschützt werden sollten als Jungen. Aber intellektuell und in Bezug auf meine Möglichkeiten fühlte ich mich nie durch mein Geschlecht aufgehalten.

Das kam von ganz oben – von der Interpretation jahrhundertealter brahmanischer Werte durch unsere Familie, von Indiens Mission Mitte des Jahrhunderts, als neue unabhängige Nation zu gedeihen, und von Thathas Weltanschauung. Ich hatte das Glück, dass mein Vater, den ich Appa nannte, komplett mit dabei war. Er war immer da, um uns zum Unterricht zu begleiten, und lief mit einem stolzen Lächeln herum, wenn wir etwas gut gemacht hatten.

Er sagte mir, er wolle nicht, dass ich meine Hand ausstrecken und bei jemand anderem als meinen Eltern um Geld bitten müsse. „Wir investieren in deine Ausbildung, damit du auf eigenen Beinen stehen kannst“, sagte er. „Der Rest liegt bei dir. Sei eine eigene Persönlichkeit.“

Meine Mutter sah das auch so. Sie ist eine toughe, zielstrebige Frau, die, wie viele Schwiegertöchter damals, von den Älteren für Familienkonflikte verantwortlich gemacht wurde, selbst wenn sie nichts damit zu tun hatte.

Sie löste diese Probleme geschickt und mit fester Hand. Sie wäre eine großartige Geschäftsführerin geworden. Sie hatte nicht die Möglichkeit, ein College zu besuchen, und sie hat ihre Frustration dazu genutzt, dafür zu sorgen, dass ihre Mädchen aufsteigen konnten. Das war nicht leicht für sie. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie ihr Leben stellvertretend durch ihre Töchter lebte und sich für uns die Freiheiten wünschte, die sie nie hatte.

Die Familie, so habe ich es von Anfang an gelernt, ist für unser Leben auf diesem Planeten von grundlegender Bedeutung. Sie ist sowohl mein Fundament als auch die Kraft, die mich angetrieben hat. Die Familie, die ich mit meinem Mann Raj und meinen beiden Töchtern Preetha und Tara in den USA gegründet habe, ist der Erfolg, auf den ich am stolzesten bin. Ich gehöre einer indischen Familie aus einer bestimmten Epoche an und bin durch dieses Erbe geprägt, aber ich weiß, dass es Familie in jeder Form gibt. Wir gedeihen individuell und kollektiv, wenn wir tiefe Verbindungen zu unseren Eltern und Kindern und innerhalb größerer Gruppen haben, unabhängig davon, ob wir verwandt sind oder nicht. Ich glaube, dass gesunde Familien die Wurzel einer gesunden Gesellschaft sind.

Ich weiß, dass Familie chaotisch ist, mit schmerzhaften Themen, die nicht unter einen Hut gebracht werden können. Ich hatte 29 Cousins und Cousinen ersten Grades, 14 mütterlicherseits, denen ich sehr nahestand, und 15 väterlicherseits, von denen ich viele kaum kannte, weil es historische Zerwürfnisse gab, die ich nicht einmal beginnen kann zu ergründen. Ich denke, diese Situationen sind ein Mikrokosmos, stellvertretend für das übrige Leben, und sie belehren uns über die Schwierigkeiten, die wir bewältigen und akzeptieren müssen.

Ich wurde im Oktober 1955 geboren, 4 Jahre nach der Hochzeit meiner Eltern und nur 13 Monate nach der Geburt meiner Schwester. Meine Mutter, Shantha, war 22. Mein Vater, Krishnamurthy, war 33.

Ihre Ehe war arrangiert. Kurz nachdem meine Mutter die High-school abgeschlossen hatte, trat ein Paar, das entfernt verwandt war, an ihre Eltern heran und fragte, ob sie ihren Sohn heiraten dürfe. Ihm war aufgefallen, dass sie Tennikoit spielte, eine beliebte Sportart für Mädchen, bei der die Spieler einen Gummiring über ein Netz hin- und herwerfen. Ihm gefiel ihr Temperament, sagten sie. Horoskope wurden konsultiert, die Familien trafen sich einige Male, und der Bund wurde geschlossen. Zu den Vorteilen für meine Mutter, das sechste von acht Kindern, gehörte, dass sie in eine angesehene, gebildete Familie eintreten und den Komfort und die Sicherheit des großen Hauses genießen würde, in das sie gleich nach der Hochzeit einziehen würde.

Bei ihrem ersten Treffen sprachen meine Mutter und mein Vater kaum miteinander. Als ich auf die Welt kam, bauten sie sich zufrieden ein gemeinsames Leben auf, mit einem Einkommen aus seiner festen Anstellung. Mein Vater, eines von acht Kindern, sollte das Haus erben. Mein Großvater wollte es ihm, seinem zweiten Sohn, hinterlassen, weil er sich sicher war, dass meine Eltern im Alter für ihn sorgen würden. Er spürte, dass diese Schwiegertochter familienorientiert war und sich ihm genauso widmen würde wie ihrem Mann und ihren Kindern, als diese zur Welt kamen.

Als ich etwa sechs Jahre alt war, wurden meiner Schwester Chandrika und mir tägliche Aufgaben zugewiesen. Die unbarmherzigste begann in der Morgendämmerung, wenn an vielen Tagen eine von uns beim ersten Geräusch eines grunzenden, brüllenden Wasserbüffels vor der Haustür aus unserem gemeinsamen Bett kletterte. Eine einheimische Frau kam mit der großen, grauen Kuh und melkte sie für den Tagesbedarf. Unsere Aufgabe war es, darauf zu achten, dass sie die Milch nicht mit Wasser streckte.

Meine Mutter, die ich Amma nenne, verwendete diese Büffelmilch für den Joghurt, die Butter und den köstlichen, aromatischen südindischen Kaffee, die zu den Grundnahrungsmitteln unserer vegetarischen Ernährung gehörten. Etwas später am Morgen kam ein Händler, der frisches Gemüse verkaufte – Blumenkohl, Spinat, Kürbis, Kartoffeln, Zwiebeln. Es gab eine große Auswahl, die auch ihren Preis hatte.

Als ich sieben Jahre alt war, wurde ich oft zum Lebensmittelgeschäft ein paar Blocks weiter geschickt, um eine Liste mit Artikeln für die Lieferung nach Hause abzugeben oder um ein paar Dinge zu holen. Der Verkäufer wickelte die Linsen, den Reis oder die Hülsenfrüchte in eine Zeitung ein, die er zu einem Kegel zusammenrollte und oben mit Schnur zusammenband. Größere Bestellungen wurden in weiteren Zeitungskegeln nach Hause geliefert. Die Körner wurden in der Küche in Glas- oder Aluminiumdosen gefüllt, das Papier wurde gefaltet, die Schnur zu einem Knäuel geformt und beides zur Wiederverwendung ins Regal gelegt. Nichts wurde weggeworfen.

Ich stelle mir vor, dass Amma die ganze Zeit beschäftigt war. Sie war angezogen und in der Küche, wenn die Milch hereingetragen wurde, und brachte bald die ersten Tassen Kaffee zu Thatha und meinem Vater. Die Kinder bekamen eine Tasse Bournvita, ein Schokoladenmalzgetränk. Dann machte sie das Frühstück, meist Haferbrei mit Milch, Zucker und Kardamompulver. An sehr heißen Tagen tranken wir Kanji, gekochten Reis, der über Nacht in Wasser eingeweicht und dann mit Buttermilch gemischt wurde.

Um acht Uhr morgens war sie im Garten und arbeitete zusammen mit Shanmugam, unserem Gärtner, um die Blumen zu pflegen und die Büsche zu beschneiden. Sie pflückte Blumen, um den Gebetsraum zu schmücken, ein großer Alkoven in der Küche, in der sie ihre täglichen Gebete sprach, oft während sie kochte. Sie hörte auch karnatische Musik und sang dazu. Amma trug immer Blumen in ihrem Haar, eine Kette aus weißen oder bunten Blüten um ihren dunklen Dutt oder Pferdeschwanz. Ab und zu, an den Wochenenden, steckte sie uns Blumen in den Zopf.

Sobald mein Vater und wir Kinder das Haus verlassen hatten, stand sie wieder in der Küche und bereitete das Mittagessen für Thatha, Chandrika und mich vor. Der Herd wurde mit Kerosin befeuert, und die Dämpfe konnten sehr penetrant sein. Trotzdem kochte sie uns immer frische Mahlzeiten, die in hübsche Metalltiffin-Behälter verpackt und warm in die Schule geschickt wurden. Shakuntala löffelte das Essen aus, während wir unter einem Baum auf dem Spielplatz saßen. Jedes Stückchen wurde verzehrt, wenn wir nicht aufaßen, was uns geschickt wurde, mussten wir die Reste beim Abendessen essen, eine Situation, die wir um jeden Preis vermeiden wollten. Amma servierte Thatha sein Mittagsmahl auf einem großen Silbertablett mit kleinen Schalen für die verschiedenen Gemüse und Beilagen.

Nachmittags fuhr sie mit einer Rikscha zum Haus ihrer Eltern, das etwa eineinhalb Kilometer entfernt lag, um sich dort zu melden, Familienangelegenheiten zu besprechen und ihrer Mutter in der Küche zu helfen. Dann fuhr sie zurück nach Hause, um wieder zu kochen. Tag für Tag wurde jede Mahlzeit einzeln zubereitet, gegessen und aufgeräumt, ohne dass etwas übrig blieb. Wir hatten keinen Kühlschrank.

Chandrika und ich kamen gegen halb fünf von der Schule nach Hause und wurden von Thatha und Amma begrüßt. Wir hatten eine Stunde Zeit, um zu essen und zu spielen, bis Appa gegen halb sechs nach Hause kam. Dann setzten wir uns zu Thathas Füßen auf den Boden, um unsere Hausaufgaben zu machen, obwohl wir unsere eigenen Tische hatten. Er kontrollierte unsere Arbeit regelmäßig. Wenn wir uns in Mathe schwertaten, holte er Papiere hervor, auf denen er bereits Übungsaufgaben aufgeschrieben hatte. An vielen Tagen schrieben wir auch zwei Seiten in Handschrifthefte, um an unserer Schreibschrift zu arbeiten – normalerweise den Satz „The quick brown fox jumps over the lazy dog“ („Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund“), weil er alle 26 Buchstaben des Alphabets enthält. Thatha glaubte, dass „eine gute Handschrift eine gute Zukunft bedeutet“.

Gegen acht Uhr aßen wir zu Abend, wobei Amma uns zuerst bediente und selbst erst später aß. Dann gab es weitere Schularbeiten, Hausarbeiten – und Licht aus. Oft gab es Stromausfälle, und das Haus wurde in Dunkelheit getaucht. Wir zündeten Kerzen und Laternen an. Mücken schwirrten herum, sie liebten die Dunkelheit und taten sich an uns allen gütlich. Mücken mit einem Händeklatschen zu fangen war eine notwendige Überlebensstrategie. Vor dem Schlafengehen mussten wir unsere Gebete laut sprechen, damit meine Mutter sie hören konnte – das Vaterunser, das wir auch in der Schule aufsagten, und dann ein paar Sanskrit-Gebete.

Als ich acht Jahre alt war, brachte meine Mutter einen kleinen Jungen, Nandu, durch einen komplizierten Kaiserschnitt zur Welt. Er war der Stolz und die Freude von allen – jemand, der den Familiennamen weiterführte. Ich liebte ihn über alles. Wie es in Familien wie der unseren üblich war, verbrachten Amma und das Baby einige Monate bei ihren Eltern, eine Zeit, in der mein Vater einen Großteil der Hausarbeit erledigte und Chandrika und mich zur Schule brachte. Als sie mit Nandu nach Hause kam, hatte Amma mehr zu tun als je zuvor, mit einem neuen Baby und all ihren früheren Tätigkeiten, obwohl sie sich immer noch von der großen Bauchoperation erholte. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie nie auch nur einen Augenblick verpasst. Wie sie das geschafft hat, werde ich nie erfahren.

Chennai, das heute mehr als zehn Millionen Einwohner hat, war schon immer wasserarm. Die Region ist auf die jährlichen Monsunregen angewiesen, um Seen und Stauseen zu füllen, die teilweise Hunderte von Kilometern entfernt liegen und durch in den 1890er-Jahren verlegte Leitungen mit der Stadt verbunden sind. Das Wasser wird auch mit Lastwagen aus ländlichen Gebieten herangeschafft, und die Bewohner stehen mit großen Plastikbehältern Schlange, um ihren Anteil zu holen.

In unserem Haus war das Wasser ständig rationiert. Die Madras Corporation, die örtliche Wasserbehörde, öffnete die Ventile der Stadt sehr früh am Morgen. Das Wasser tröpfelte herein, und meine Eltern füllten alle verfügbaren Töpfe und Pfannen, um es gewissenhaft zum Kochen, Trinken und Putzen zu nutzen.

Wir hatten auch einen Brunnen auf dem Hof. Er war an eine elektrische Pumpe angeschlossen, die Salzwasser in einen Tank auf der Terrasse im zweiten Stock beförderte, das dann zu den Toiletten zurückfloss. Wir badeten, indem wir uns mit einem kleinen Stahlbecher lauwarmes Wasser über den Körper gossen, wobei ich mich zu einem kleinen Knäuel zusammenkauerte, um möglichst nass zu werden. Unsere Haare wuschen wir mit einer Handvoll Wasser, das mit Shikakai-Pulver, der zermahlenen Rinde und den Blättern eines gewöhnlichen Kletterstrauchs, vermischt war. Anfangs putzten wir unsere Zähne mit dem Zeigefinger und einem Holzkohlepulver aus verbrannten Reisspelzen. Dann stiegen wir auf Colgate-Zahnpulver um. Eine richtige Zahnbürste und Zahnpasta bekam ich, als ich etwa 9 Jahre alt war. Erst mit 24 bin ich das erste Mal zum Zahnarzt gegangen, um meine Zähne reinigen zu lassen.

Unser Leben war vorhersehbar. Unsere Hauptaufgabe bestand darin, zu lernen und gute Noten zu bekommen. Aber Chandrika und ich hatten auch abendliche Aufgaben – das Geschirr wegräumen, Kaffeebohnen in einer Handmühle für die warmen Getränke der Erwachsenen am Morgen mahlen oder, was am schwierigsten war, die Milch auf die alte, manuelle Weise zu rühren, um Butter und Buttermilch zu trennen. Das war mühsam und scheuerte unsere Handflächen wund.

Ich wurde 1958 in die Our Lady’s Nursery School eingeschult, der I Beginn von zwölf Jahren auf dem Campus des Holy Angels Convent, einer katholischen Einrichtung nur für Mädchen, etwa eineinhalb Kilometer von zu Hause entfernt. Ein paar Jahre lang fuhren Chandrika und ich jeden Morgen mit meinem Vater auf seinem Fahrrad oder seinem Roller zur Schule, zunächst, als kleine Mädchen, in grauen Trägerröcken mit weißen Blusen und dann in grün-weißen Uniformen mit runden Kragen und gestreiften Gürteln.

Jeden Mai kaufte Amma etwa 50 Meter Stoff, beauftragte einen örtlichen Schneider und bestellte sechs neue Uniformen für das kommende Schuljahr. Ich höre noch, wie sie dem Schneider sagte, er solle alles zwei Nummern größer nähen als unsere aktuelle Größe, damit wir hineinwachsen könnten. Er machte uns auch ein paar „Kleider“ für zwanglose Anlässe und Pavadais – bunte indische Röcke – für den täglichen Gebrauch. Sie waren alle ziemlich unförmig, aber wir hielten sie für sehr modisch und schätzten sie. Alles lag ordentlich gefaltet auf Regalen in einem halb leeren Schlafzimmerschrank. Für Feste und Hochzeiten bekamen wir ganz besondere Seiden-Pavadais. Diese wurden im Schrank meiner Mutter aufbewahrt und nur selten eingesetzt. Amma gab den größten Teil des Kleiderbudgets für uns aus und kaufte sich dann selbst etwas Einfaches.

Tagsüber wusch Shakuntala die Hemden und Dhotis der Männer, die Saris meiner Mutter und unsere Uniformen und hängte sie zum Trocknen auf. Und abends, nach den Hausaufgaben, polierten Chandrika und ich unsere schwarzen Lederschuhe, wuschen unsere Kniestrümpfe und bügelten in unsere Kleidung die richtigen Falten, mit Stärke, die wir aus mit Wasser angerührtem Reismehl auf dem Herd hergestellt hatten. Die klumpige Stärke hinterließ weiße Kleckse auf dem Stoff, und wir wurden zu Experten darin, sie genau richtig zu mischen, um den Prozess zu beschleunigen. Wenn es regnete, bügelten wir die Klamotten wie verrückt, um zu vermeiden, dass wir morgens etwas Nasses tragen mussten. Wenn der Strom ausfiel, was ziemlich oft vorkam, trugen wir in der Schule leicht feuchte Uniformen. Wir waren nicht die Einzigen. Ich glaube, viele andere Kinder in der Schule waren in derselben misslichen Lage.

Wir hatten sehr wenig Spielzeug. Meine Schwester und ich schätzten unsere einzigen Puppen und bezogen sie in unsere vielen Gespräche ein. Wir spielten auch „Haus“ mit kleinen Töpfen und Pfannen und „Doktor“ mit primitiven medizinischen Geräten, die wir aus Draht und Papier gebastelt hatten.

Von Anfang an liebten Chandrika und ich die Schule. Die Schule ließ uns in die Welt außerhalb unserer engen Familienstruktur eintreten, und unser Enthusiasmus wurde von den Erwachsenen voll und ganz gebilligt und beklatscht. Das ganze Arrangement machte uns frei. Wir liebten die Schule so sehr, dass wir in manchen Sommern, selbst wenn wir Cousins zum Spielen hatten, einen Kalender an die Wand unseres Zimmers hängten, um die Tage zu zählen, bis die Schule wieder begann.

Zu Hause wurde jede Aktivität genau überwacht. Wenn wir einen Film sehen wollten, bestanden meine Eltern darauf, dass sie ihn zuerst sahen, und sie schienen nie Zeit fürs Kino zu haben – also gingen wir fast nie hin. Wir konnten in die örtliche Leihbücherei gehen, ein Ein-Zimmer-Gebäude ein paar Blocks entfernt, in dem wir gegen eine sehr geringe Gebühr unbegrenzt Bücher ausleihen konnten, die aber am nächsten Tag wieder zurückgegeben werden mussten. (So habe ich das Schnelllesen gelernt!) Amma hatte ständig das Radio an, aber wie der Rest Indiens hatten wir kein Fernsehen. Das Internet gab es natürlich auch noch nicht. Wir hatten immer Besuch, aber abgesehen von den Besuchen bei meinen Großeltern mütterlicherseits haben wir nie jemanden besucht. Einer von uns musste immer zu Hause sein, um sich um meinen Großvater zu kümmern.

In der Schule gab es immer etwas Neues auszuprobieren. Zwischen den Unterrichtsstunden rannte ich buchstäblich von einer Aktivität zur nächsten durch die langen, schattigen Korridore im Freien. Die Holy-Angels-Schule, die 1897 von Franziskaner-Missionaren gegründet worden war, verfügte inzwischen über sechs Gebäude, eine Aula, einen Garten, einen Hof, einen Netzballplatz und einen wenig genutzten Tennisplatz. Ich blieb oft nach dem Unterricht, um Ball zu spielen oder den Lehrern zu helfen.

Schon früh trat ich den Bulbuls bei, der Juniorstufe des nationalen Pfadfinderinnenprogramms. Ich trug eine andere Uniform, ein blassblaues Kleid mit einem orange gestreiften Schal, den ich mit einem Ring zusammenhielt, und nach ein paar Jahren freute ich mich sehr darüber, zu den Pfadfinderinnen „aufzusteigen“. Ich erarbeitete mir fleißig Abzeichen für Nähen, Knoten, Erste Hilfe, Feuermachen, Fahnenschwenken und ein Dutzend weiterer Fähigkeiten, die die Pfadfinder propagierten. In der elften Klasse nahm ich sogar an einem nationalen Pfadfindertreffen teil. Ich habe bei den Pfadfindern unheimlich viel gelernt. Ich habe etwas über Teamarbeit gelernt – wie man gibt und wie man bekommt – und darüber, dass Menschen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Führungsrollen haben. Ich habe etwas über Vertrauen gelernt, und zwar an dem großartigen Beispiel, wie man ein Zelt aufbaut. Ich erinnere mich, dass jeder die Seile mit der richtigen Spannung halten musste, damit die Stangen aufrecht standen und das Zeltdach stützten, sonst wäre das ganze Ding umgekippt. Jeder musste seinen Teil beitragen, sonst hätte es nicht funktioniert.

Wir hatten Musik in der Schule, und unsere Lehrerin, Ms. Lazarus, hatte die Gabe, alle dazu zu bringen, sich in viele Schullieder aus dem Vereinigten Königreich zu verlieben. Chandrika und ich hatten auch einige Tage in der Woche zu Hause Unterricht in klassischer indischer Musik und klassischem Tanz – eine absolute Notwendigkeit für Mädchen wie uns. Sie galten als Grundvoraussetzung, um einen guten Ehemann zu finden. Chandrika war schon damals eine sehr begabte Sängerin und eine engagierte Schülerin. Ich sehnte mich immer danach, einfach rauszugehen und zu spielen.

Akademisch gesehen war Holy Angels kein Zuckerschlecken. Wir saßen in Klassen mit etwa 30 Mädchen, die in engen Reihen an Holzpulten aufgereiht waren. Die Schule begann jeden Tag um halb neun mit einer Versammlung und endete um vier Uhr. Der Unterricht war in einem flotten Tempo und umfassend: in Englisch, Geschichte, Mathematik, Naturwissenschaften, Geografie und den wichtigen weiblichen Fähigkeiten wie Handarbeit und Kunst. Alle paar Wochen gab es eine Prüfungsphase, die den Druck noch erhöhte.

Die Lehrer, darunter auch Nonnen, die sich von Irland nach Indien gewagt hatten, um ihr Leben Gott und dem Unterrichten zu widmen, waren herzlich und beeindruckend. Sie waren auch unausweichlich: Schwester Nessan, die Schulleiterin, und Schwester Benedict, die Leiterin der Vorschule, liefen in ihren Ordenskleidern und mit Nonnenhauben bis an das Kinn ständig durch die Gänge. Sie kamen auch regelmäßig bei uns zu Hause vorbei, um Kaffee zu trinken und mit meinem Großvater oder meinen Eltern zu plaudern.

Am Zeugnistag, dem letzten Tag eines jeden Monats, rückte Thatha einen Stuhl nach draußen in den Säulengang, um das Dokument in dem Moment in Empfang zu nehmen, in dem wir ankamen. Wenn wir nicht zu den drei Besten der Klasse gehörten, am besten zu den Ersten, war er nicht zufrieden mit sich. Er nahm unsere Ausbildung persönlich. Manchmal stellte er die Beurteilungen des Lehrers infrage, meist nicht zu unseren Gunsten.

Amma, die sich sehr für unser Lernen einsetzte, fügte ihre eigenen Tests hinzu. Sie drillte uns aus einem Lehrbuch für Allgemeinwissen über die sieben Weltwunder, die großen Flüsse und die Flaggen der Länder. Chandrika und ich saßen in der Küche, als sie ihr Abendessen aß, nachdem die Männer und Kinder fertig waren, und bekamen zehn Minuten Zeit, um Reden zu Themen wie „Wenn du Premierminister von Indien wärst, was würdest du tun?“ zu verfassen. Dann wählte sie einen Sieger aus. Der Preis war ein kleines Stück Cadbury-Schokolade aus einer großen Tafel, die sie hinter Schloss und Riegel verwahrte, und wenn ich gewann, leckte ich eine gute halbe Stunde daran. Ich liebte diese Stücke mehr als alle Schokolade, die ich heute kaufen kann.

In der Schule war ich Debattiererin und nutzte jede Gelegenheit, um bei lokalen Wettbewerben meine Argumente vorzubringen. Als Wahlfach entschied ich mich für Rhetorik, einen Kurs, in dem es um Reden, Gedichte und öffentliches Sprechen ging. Ich war von Natur aus gut im Debattieren und hatte keine Scheu, auf die Bühne zu gehen.

In der achten Klasse, als ich fast zwölf war, mussten wir uns entscheiden, ob wir uns auf Geisteswissenschaften oder Naturwissenschaften konzentrieren wollten, die nächste Stufe unseres von der Universität Cambridge erstellten Lehrplans. Für mich begannen Jahre intensiveren Unterrichts in Physik, Chemie, Biologie – das ganze Programm. Das bedeutete, dass mein Großvater, der in Englisch, Mathematik, Geschichte und den klassischen Fächern bewandert war, nicht so viel Anteil an meiner Arbeit nehmen konnte, wie er es vielleicht gerne getan hätte. Ich war auf mich selbst gestellt.

Biologie gefiel mir besonders gut. In der Schule sezierten wir Kakerlaken, Frösche und Regenwürmer und mussten die Präparate selbst mitbringen. Ich suchte nach großen Kakerlaken und setzte sie in ein Glas mit Chloroform, damit sie am nächsten Tag für das Sezieren frisch waren. Regenwürmer gab es in Hülle und Fülle, aber Frösche waren außerhalb der Monsunzeit extrem schwer zu finden. Die ganze Familie beteiligte sich an der Suche. Glücklicherweise schloss Holy Angels schließlich einen Vertrag mit einem Probenlieferanten ab, der uns mit Fröschen versorgte, und wir bekamen eine dringend benötigte Pause von der Froschjagd.

Ebenfalls in der achten Klasse wurde ich von meiner Klassenlehrerin, Mrs. Jobard, ausgewählt, einem Schulteam beizutreten, das nach Neu-Delhi zur allerersten Konferenz der United Schools Organization of India fuhr, einer viertägigen Veranstaltung, die dazu dienen sollte, Verbindungen zwischen Schülern im ganzen Land herzustellen. Dies war eine Gelegenheit, die sowohl in der Schule als auch zu Hause für unsagbare Aufregung sorgte. Ich war die jüngste Schülerin, die ausgewählt wurde, und ich war begeistert davon, welch einen Wirbel meine ganze Familie um die Reise machte – und wie schnell sie sich bereit erklärte, sie zu bezahlen.

Also bestiegen Mrs. Jobard, eine kleine Frau von etwa 45 Jahren mit einem intensiven Blick, und fünf Holy-Angels-Mädchen in Uniformen den dampfbetriebenen Zug vom riesigen, aus rotem Backstein errichteten Hauptbahnhof von Madras. Wir hatten nur wenig Gepäck dabei und fuhren zwei Tage lang 2.170 Kilometer nach Norden. Wir schliefen zwei Nächte in einem engen Abteil mit drei Kojen, die an den Wänden heruntergeklappt wurden.

Delhi, die Hauptstadt Indiens, war mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen hatte. Mich begeisterten die majestätischen Gebäude, die von Rasenflächen und Gärten umgeben waren, die Denkmäler, die breiten Straßen voller Autos, die Menschen mit Turbanen und die Straßenschilder in Hindi, der vorherrschenden Sprache in einem großen Teil Nordindiens, die ich nicht verstand. Unsere kleine Gruppe traf sich mit Jugendlichen aus mehr als 30 Schulen in einem Konferenzsaal im Vigyan Bhavan zu Debattierwettbewerben, kulturellen Aufführungen und Vorträgen über Frieden und Politik. Wir führten einen irischen Tanz über „Gut und Böse“ auf, der, wie ich mich erinnere, die Richter verwirrte. Sie gaben uns trotzdem einen Preis. Wir aßen in einem riesigen Speisesaal und schliefen in Schlafsälen.

Mein Selbstvertrauen wurde durch die Teilnahme an dieser großen Gruppe wirklich gestärkt – und mir wurden die Augen geöffnet für die Vielfalt der Kulturen in Indien.

Als ich ins Teenageralter kam, veränderte sich unsere Welt zu Hause. Mein Vater war Dozent an der Ausbildungsschule der Bank geworden und fast drei Jahre lang viel unterwegs. Er war nur zwei oder drei Tage im Monat zu Hause, und ich vermisste ihn sehr. Er und ich hatten eine besondere Verbindung, und ich dachte gerne, dass ich sein Liebling wäre. Er teilte einige seiner Gedanken über die Arbeit mit mir und gab mir immer das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein.

Ungefähr zu dieser Zeit stellte meine Mutter einen neuen Godrej-Almirah auf, einen großen Metallschrank des indischen Schlossherstellers Godrej & Boyce, in dem sie die Sachen für unsere Brautaussteuer aufbewahrte. Immer wenn sie etwas vom Familienbudget gespart hatte, kaufte sie zwei identische Artikel und legte sie für Chandrika und mich zurück. Sie füllte den Schrank mit Edelstahltöpfen und Pfannen aus rostfreiem Stahl, silbernen Tabletts, Tellern und Tassen und ein paar kleinen Goldschmuckstücken. Manchmal brachte sie alte Saris mit ein wenig Goldfaden zu einem Händler, wo sie den Stoff gegen neues Kochgeschirr eintauschen konnte. In unserem Haus gab es drei Godrej-Almirahs, einen für die Kleidung meiner Mutter, einen für die Wertsachen der Familie und einen für die Hochzeitssachen ihrer beiden Mädchen.

Ich habe dem nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ich weiß, dass Chandrika, die ältere Tochter, schön mit ihrem lockigen Haar und ihrem tollen Lächeln, den Druck spürte. Ich hatte in diesem Fall definitiv den Vorteil, die zweite Tochter zu sein. Ich konnte unter dem Radar operieren.

An einem Sommertag im Jahr 1968 wurde mein geliebter Vater auf seiner Vespa von einem Bus angefahren. Er geriet unter die Räder und wurde die Straße hinuntergeschleift. Ich erinnere mich gut daran, wie Amma an die Tür ging, als die Polizei kam, um uns von dem Unfall zu berichten. Wir hatten kein Telefon.

Meine Mutter und ich sprangen in eine Auto-Rikscha und rasten zum Krankenhaus.

Als wir hereinkamen, lag er auf einem Bett, blutete stark und war kaum bei Bewusstsein. Mit einer Hand hielt er seine teilweise abgetrennte Nase zusammen. Seine Beinknochen ragten aus den Knöcheln heraus. Am ganzen Körper hatte er Schnitte und klaffende Wunden. Er sah uns an und flüsterte, dass alles gut werden würde. Dann wurde er ohnmächtig.

Nach einer sechsstündigen Operation und wochenlangem Klinikaufenthalt erholte er sich zu Hause. Meine Mutter war seine Physiotherapeutin und half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Die Rechnungen stapelten sich – damals gab es in Indien keine staatliche Krankenversicherung –, und meine Eltern benötigten fast ihre gesamten Ersparnisse. Nach einigen Monaten nahm er seine Arbeit wieder auf, und unser Leben ging weitgehend weiter wie zuvor. Er war für immer mit Narben von diesem schrecklichen Vorfall übersät.

Hätte sich mein Vater nicht erholt, so weiß ich jetzt, wäre unser Leben ganz anders und sehr schwierig gewesen. Thathas Rente war gering, und meine Mutter hatte mit drei Kindern keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Keine meiner Tanten und keiner meiner Onkel hätte es sich leisten können, uns bei sich aufzunehmen. Da es keine staatlichen Unterstützungssysteme gab, hätte meine Mutter vielleicht weitere Mieter in das große Haus aufnehmen können, wäre aber mit voller Kraft gegen die tief sitzenden Vorurteile gegenüber den Frauen ihrer Generation geprallt, die sich fast nie selbstständig machten. Unsere Ausbildung, wie wir sie kannten, wäre wahrscheinlich beendet worden.

Die Familie, so mächtig sie auch ist, kann auch so zerbrechlich sein. Jede Familie läuft Gefahr, in unerwartete Not zu geraten. Und ohne angemessene Sicherheitsnetze seitens des Staates oder der Privatwirtschaft können sich Ereignisse wie der Unfall meines Vaters über Jahrzehnte oder Generationen hinweg auf das Leben der Menschen auswirken.

Vor allem aber wurde durch dieses Ereignis die Aufforderung meines Vaters an mich, als Frau immer für mich selbst sorgen zu können, Wirklichkeit.

In der zehnten Klasse kam ein neues Mädchen, Mary Bernard, auf die I Holy Angels, und wir wurden wunderbare Freundinnen. Mary war die Tochter eines Armeeoffiziers, und sie war witzig und abenteuerlustig. Noch wichtiger war, dass sie eine funkelnde neue Akustikgitarre besaß und Unterricht nahm.

Ich wollte auch unbedingt lernen, Gitarre zu spielen, aber Amma wollte mir einfach keine kaufen. Sie war unnachgiebig und ein wenig entsetzt. Gute südindische Brahmanen-Mädchen spielten nicht Gitarre und sangen keine englischen Rock-’n’-Roll-Songs, beharrte sie. Das sei nicht angemessen, ich solle mich auf klassische südindische Musik und Instrumente konzentrieren, sagte sie.

Aber das konnte mich nicht aufhalten. Und durch einen glücklichen Zufall fanden Mary und ich in einem Aufbewahrungsschrank in der Schule eine alte Gitarre. Wir brachten sie zu Schwester Nessan, die sich unerwartet bereit erklärte, sie für mich aufzuarbeiten. Im Gegensatz zur Einstellung meiner Mutter war sie wohl eine moderne Denkerin, die gegen die Beatles nicht immun war und wahrscheinlich von der Aussicht auf ein neues Musikgenre an der Holy Angels begeistert war.

Dann gründeten Mary und ich mit zwei weiteren Freundinnen, Jyothi und Hema, eine Band für die Schulvarietéshow. Die Nonnen nannten uns „LogRhythms“, nach den Mathe-Tabellen, die wir lernten, und wir wurden unzertrennlich. Wir übten die fünf Lieder ein, die Mary kannte: „House of the Rising Sun“, „Bésame Mucho“, „Ob-La-Di, Ob-La-Da“, „Greensleeves“ und „Delilah“. Wir waren Supernerds. Aber nachdem wir bei unserem ersten Auftritt in weißen Hosen und psychedelischen Shirts die Bühne betreten hatten, musste die Schule zwei weitere Konzerte ansetzen, um die Massen unterzubringen. Schwester Nessan und Schwester Benedict saßen in der ersten Reihe und strahlten. Mein Vater war besonders begeistert. Er lebte wieder mit uns in Madras, und obwohl er uns nie auftreten sah, machte er es sich zur Gewohnheit, herumzulaufen und unsere Lieder zu singen.

Die LogRhythms gab es drei Jahre lang. Wir begannen als einzige Mädchengruppe in Madras und traten bei Schulfesten und Musikkonzerten in der ganzen Stadt auf. Wir begannen immer mit unseren fünf Kernsongs, fügten aber noch ein paar hinzu – Instrumentalhits von den Ventures wie „Bulldog“ und „Torquay“ sowie Pop-Hits wie „These Boots Are Made for Walkin’“ von Nancy Sinatra und „Yummy Yummy Yummy“ von Ohio Express.

Unser größter Fan und Groupie war mein Bruder Nandu. Er kam zu jedem Konzert und half mit dem Equipment. Meine konservativen Tanten und Onkel, von denen ich dachte, dass sie meinen gegenkulturellen musikalischen Beschäftigungen sehr kritisch gegenüberstehen würden, prahlten vor ihren Freunden mit mir. Es war nicht ungewöhnlich, dass man sie zu Hause „Yummy Yummy Yummy“ leise vor sich hinsingen hörte. Bei jedem Familientreffen musste ich ein paar Lieder mit meiner Gitarre vortragen.

Nach etwa einem Jahr stiegen Jyothi und Hema, die Bongos und Gitarre spielten, aus. Wir nahmen ein paar Jungs hinzu, die Stephanos-Brüder, die uns am Schlagzeug und beim Gesang unterstützten. Die Familie Stephanos wurde zu guten Freunden und ist es auch geblieben, nachdem sich die Band aufgelöst hatte.

Im Dezember 1970, als ich gerade 15 Jahre alt war, machte ich meinen I Abschluss in Holy Angels. Es gab keine Abschlussfeier. Keine Fanfare. Tatsächlich hatten meine Eltern die Schule in all den Jahren, die wir dort lernten, nie besucht. Die gesamte Verantwortung und Autorität über uns war den Lehrern und Nonnen übertragen. Meine umfangreichen außerschulischen Aktivitäten hatten viel Zeit in Anspruch genommen, und ich schloss die Schule mit guten Noten ab, aber ich war keine Spitzenschülerin.