Die Liebe hat elf Dimensionen - Jane Hawking - E-Book
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Jane Hawking

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Beschreibung

Das Leben des Ausnahmephysikers aus einem völlig neuen Blickwinkel erzählt: Als Jane Wilde Stephen Hawking auf einer Neujahrsparty 1963 kennenlernt, ist der extravagante, blasierte Student aus Oxford bereits schwerkrank. Die beiden heiraten, obwohl Stephens Lebenserwartung damals nicht einmal zwei Jahre beträgt. Es folgen 25 gemeinsame Jahre, in denen Jane ein Schattendasein führt, zugleich aber ihren Mann 24 Stunden am Tag pflegt, drei Kinder mit ihm bekommt, und dazwischen selbst den Doktortitel erwirbt. Jane Hawking erzählt vom verzweifelten Kampf um Selbstbehauptung, von der Liebe zu einem Mann, in dessen verfallenem Körper der vielleicht größte Geist unserer Zeit steckt, vom bitteren Showdown ihrer Ehe – und zuletzt von Versöhnung und der Macht der Freundschaft.

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Für meine Familie

Übersetzung aus dem Englischen von Ralf Pannowitsch und Christiane Wagler

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96181-3

© Jane Hawking 1999, 2007

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Travelling to Infinity: My Life with Stephen« 2007 bei Alma Books Ltd., Richmond. Für die deutsche Fassung wurde der Text der englischen Ausgabe gekürzt.

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2015 Piper Verlag GmbH, München

Alle Bilder entstammen dem Privatbesitz der Autorin.

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: David Montgomery/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

La parole humaine est comme un chaudron fêlé où nous battons des mélodies à faire danser les ours quand on voudrait attendrir les étoiles.

Das menschliche Wort ist wie ein gesprungener Kessel, auf dem wir Melodien schlagen, nach denen die Bären tanzen, während wir doch die Sterne rühren wollten.

Gustave Flaubert

Erster Teil

1    Flügel zum Abheben

Die Geschichte meines Lebens mit Stephen Hawking begann im Sommer 1962, aber möglicherweise hatte sie auch schon zehn Jahre früher begonnen, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte. Als ich Anfang der Fünfzigerjahre als siebenjährige Erstklässlerin an die St Albans High School für Mädchen kam, gab es dort für kurze Zeit einen Jungen mit strubbeligem goldbraunem Haar, der im angrenzenden Klassenzimmer gewöhnlich an der Wand saß. Die Schule nahm nämlich auch Jungen auf, meinen Bruder Christopher beispielsweise, aber den Schüler mit dem strubbeligen Haarschopf sah ich nur, wenn unser Lehrer fehlte und wir Erstklässler uns mit den älteren Kindern in einen Raum quetschen mussten. Damals haben wir nie miteinander gesprochen, aber ich bin sicher, dass diese frühe Erinnerung mich nicht trügt, denn Stephen hat dort zu jener Zeit tatsächlich ein Halbjahr verbracht, ehe er an eine private Grundschule wechselte.

An Stephens Schwestern kann ich mich besser erinnern. Mary, die ältere von beiden, war nur 18 Monate jünger als Stephen und eine unverkennbar exzentrische Gestalt: sie war pummelig, stets zerzaust, geistesabwesend und von einzelgängerischem Naturell. Ihr großer Trumpf, ein hell schimmernder Teint, wurde durch eine unvorteilhafte Brille mit dicken Gläsern verdeckt. Philippa, fünf Jahre jünger als Stephen, hatte helle Augen, kurze Zöpfe und ein rundes rosafarbenes Gesicht; sie war nervös und leicht erregbar. Die Schule verlangte strenge Konformität sowohl in punkto Lehrstoff als auch, was die Disziplin anging, und die Schüler konnten auf grausame Weise intolerant gegenüber Außenseitern sein. Es war toll, einen Rolls-Royce und ein Landhaus zu haben, aber wenn jemand wie ich mit einem Standard 10 aus Vorkriegszeiten in die Schule gefahren wurde, war er eine Witzfigur oder jedenfalls der Gegenstand herablassenden Mitleids. Die Hawkings hatten es noch schlimmer erwischt: Sie wurden in einem ausrangierten Londoner Taxi zum Unterricht gebracht und legten sich im Auto auf den Boden, um von ihren Mitschülern nicht gesehen zu werden. (Unser Standard 10 hatte unten leider nicht genug Raum für solche Versteckspiele.) Beide Hawking-Schwestern verließen die Schule, ehe sie in die Oberstufe kamen.

Ihre Mutter war eine kleine, drahtige Person im Pelzmantel, die oft neben der Schule am Zebrastreifen stand und auf ihren jüngsten Sohn Edward wartete, der mit dem Bus aus seiner privaten Grundschule auf dem Lande kam. Auch mein Bruder besuchte nun diese Schule, die Aylesford House hieß und in der die Jungen Rosa trugen – rosa Blazer und rosa Mützen. In jeder anderen Hinsicht war sie ein Paradies für kleine Jungen, besonders für solche, die keine gelehrten Absichten hegten. Der bezaubernde und sehr gut aussehende Edward war acht, als ich die Hawkings kennenlernte, und hatte mit seiner Adoptivfamilie gerade einige Schwierigkeiten – womöglich weil man dort die Gewohnheit pflegte, den Lesestoff mit an den Abendbrottisch zu bringen und jeden zu ignorieren, der kein Bücherwurm war.

Eine meiner Schulfreundinnen, Diana King, hatte diese spezielle Hawking’sche Sitte selbst miterlebt. Vielleicht lag es daran, dass sie Jahre später, als ich ihr von meiner Verlobung mit Stephen erzählte, ausrief: »Oh, Jane, da heiratest du ja in eine total bekloppte Familie ein!« Diana war es auch, die mich in jenem Sommer 1962 zum ersten Mal auf Stephen aufmerksam machte. Nach den Prüfungen genoss ich gemeinsam mit ihr und meiner besten Freundin Gillian die herrlich entspannte Zeit bis zum Ende des Schuljahrs. Diana und Gillian sollten in jenem Sommer von der Schule abgehen, während ich im Herbstsemester noch als Schulsprecherin fungieren würde und mich dann um einen Studienplatz bewerben wollte. An jenem Freitagnachmittag schnappten wir uns unsere Taschen, rückten die Strohhüte zurecht und steuerten das Stadtzentrum an, um dort den Fünfuhrtee zu trinken. Wir waren noch keine 100 Meter gegangen, als sich uns auf der anderen Straßenseite ein seltsamer Anblick bot: Ein junger Mann hoppelte mit gesenktem Blick in die Gegenrichtung. Eine widerspenstige braune Haarmasse schirmte sein Gesicht vor der Welt ab. Ganz in Gedanken versunken, blickte er weder nach rechts noch nach links und bekam von uns überhaupt nichts mit. Für das sittenstrenge und verschlafene St Albans war er eine exzentrische Erscheinung. Gillian und ich starrten ihm vor lauter Verblüffung ziemlich unverfroren hinterher, aber Diana blieb cool.

»Das ist Stephen Hawking. Ich bin schon mit ihm ausgegangen«, verkündete sie ihren sprachlosen Freundinnen.

»Nein!«, riefen wir und lachten ungläubig. »Mach keine Witze!«

»Doch, wirklich. Er ist merkwürdig, aber sehr clever. Mein Bruder ist mit ihm befreundet. Stephen hat mich mal ins Theater mitgenommen, und bei ihm zu Hause war ich auch schon. Er geht zu den Anti-Atomkriegs-Märschen.«

Mit einem leichten Stirnrunzeln setzten wir unseren Weg fort, aber ich konnte den Ausflug nicht richtig genießen, fühlte ich mich doch irgendwie unbehaglich wegen des jungen Mannes, den wir gerade gesehen hatten. Vielleicht lag gerade in seiner Exzentrik etwas, das mich gefangen nahm. Vielleicht hatte ich auch die seltsame Vorahnung, dass ich ihn wiedersehen würde. Was immer es gewesen sein mag – diese Szene grub sich tief in mein Gedächtnis ein.

Die Ferien in jenem Sommer waren ein Traum für einen Teenager an der Schwelle der Unabhängigkeit, aber für meine Eltern mögen sie ein Albtraum gewesen sein, denn ich fuhr zu einem Sommerkurs nach Spanien, und 1962 war dieses Land derart abgeschieden und mit Wagnissen befrachtet, dass es für junge Leute ein so exotisches Reiseziel war wie heutzutage vielleicht Nepal. Mit all der Selbstsicherheit meiner 18 Jahre zweifelte ich nicht daran, dass ich auf mich selbst aufpassen konnte, und ich hatte mich nicht getäuscht. Der Sprachkurs war gut organisiert, und wir Teilnehmer wurden in kleinen Gruppen bei Privatleuten untergebracht. An den Wochenenden nahm man uns auf geführte Exkursionen zu allen Sehenswürdigkeiten mit – nach Pamplona, wo die Stiere durch die Straßen rannten, zum einzigen Stierkampf, den ich je gesehen habe und der brutal und grausam war, aber auch spektakulär und fesselnd, und schließlich nach Loyola, dem Heimatort des heiligen Ignatius.

Ansonsten verbrachten wir unsere Nachmittage am Strand, und abends gingen wir hinunter zum Hafen in die Restaurants und Bars, beteiligten uns an den Fiestas und tanzten, hörten dem heiseren Gegröle der Bands zu und blickten atemlos auf die Feuerwerke. Als ich nach England zurückkam, wurde ich von meinen Eltern gleich wieder ins Ausland entführt. Erleichtert darüber, dass ich wohlbehalten heimgekehrt war, hatten sie einen Familienurlaub in den Niederlanden und Luxemburg geplant. Solche Reisen waren eine Spezialität meines Vaters. Seiner Begeisterung hatten wir es zu verdanken, dass wir sozusagen den Vortrupp der späteren Touristenströme bildeten: Wir reisten Hunderte von Kilometern auf mäandernden Landstraßen durch ein Europa, das sich allmählich von seinem Kriegstrauma erholte, und besichtigten Städte, Kathedralen und Museen. Es war eine anregende Kombination: Bildung durch Kunst und Geschichte plus Spaß an den guten Dingen des Lebens – Wein, landestypische Küche und Sommersonne –, und in all dies mischten sich die Kriegsdenkmäler und die Soldatenfriedhöfe auf Flanderns Schlachtfeldern.

Als ich im Herbst wieder zur Schule musste, hatten mir die Erfahrungen des Sommers ein noch nie da gewesenes Gefühl von Selbstsicherheit beschert. Während ich aus meiner Verpuppung stieg, fand ich, dass die Schule nur einen blassen Rahmen für die Bewusstheit und das Selbstvertrauen lieferte, die ich auf meinen Reisen erworben hatte. In Anlehnung an die neuen Satireformen, die damals gerade im Fernsehen auftauchten, ersann ich, die Schulsprecherin, für die amüsierte Abschlussklasse eine Modenschau, bei der alle Kleidungsstücke aus bizarr umfunktionierten Einzelteilen der Schuluniform hergestellt waren. Die Disziplin brach völlig zusammen, als die ganze Schule lauthals Einlass in den Saal forderte, und Miss Meiklejohn, die stämmige, wettergegerbte Sportlehrerin, deren maskulines Gebell die Schule gewöhnlich am Laufen hielt, stand wie vom Schlag gerührt herum und konnte sich im allgemeinen Lärm kein Gehör mehr verschaffen. In ihrer Verzweiflung griff sie zum Megafon – das dröhnte sonst nur beim Sportfest, auf der Haustiershow sowie zur Steuerung jener unendlichen Zweierreihen, die wir bilden mussten, wenn wir einmal im Halbjahr zum Gottesdienst in die Abtei zogen.

Dieses lang vergangene Schulhalbjahr im Herbst 1962 war eigentlich nicht dazu angetan, irgendwelche Shows zu veranstalten. So sehr wir Präsident Kennedy auch anhimmelten – die Kubakrise im Oktober jenen Jahres hatte das Sicherheitsgefühl meiner Generation ernsthaft erschüttert. Wenn die Supermächte solche gefährlichen Spiele mit unserem Leben spielten, war es keineswegs sicher, dass wir uns noch auf eine Zukunft freuen durften. Während wir in der Schulversammlung unter Anleitung des Dekans für den Frieden beteten, musste ich an eine Prognose denken, die Feldmarschall Montgomery in den späten Fünfzigern abgegeben hatte: Innerhalb des nächsten Jahrzehnts werde es zu einem Nuklearkrieg kommen. Es war allgemein bekannt, dass uns bei einem Angriff mit Atomwaffen nur vier Minuten Vorwarnzeit blieben – einem Angriff, der das jähe Ende aller Zivilisation bedeuten würde.

Ganz unabhängig von dieser alles überschattenden Bedrohung spürte ich, dass ich nach den Prüfungen ausgebrannt war und dass es mir, nachdem ich im Sommer die Luft der Freiheit geschnuppert hatte, an Enthusiasmus für die schulische Arbeit mangelte. Die Studienplatzsuche hielt für mich nur Demütigungen bereit, da weder Oxford noch Cambridge das geringste Interesse an mir bekundeten. Als Miss Gent, unsere Schulleiterin, bemerkte, wie sehr ich mir den Misserfolg zu Herzen nahm, legte sie mir ausführlich dar, dass es keine Schande sei, in Cambridge nicht angenommen zu werden, denn viele Männer dort stünden intellektuell weit unter den abgelehnten Frauen. Damals kamen in Oxford und Cambridge ungefähr zehn Männer auf eine Frau. Miss Gent empfahl mir ein Vorstellungsgespräch am Londoner Westfield College, und so stieg ich an einem nasskalten Dezembertag in St Albans in den Bus, um ins 15 Meilen entfernte Hampstead zu fahren.

Dieser Tag war ein solches Desaster, dass ich erleichtert war, am Ende wieder im Bus zu sitzen und durch den trostlos grauen Graupelregen nach Hause zu fahren. Zuerst hatte ich mich im Spanisch-Institut durch ein Gespräch bluffen müssen, das sich fast nur um T. S. Eliot drehte – einen Autor, über den ich so gut wie nichts wusste. Dann musste ich mich in die Warteschlange vor dem Büro der Rektorin einreihen. Als ich endlich dran war, führte sie das Gespräch wie eine lustlose Angestellte aus dem öffentlichen Dienst und löste ihren Blick kaum einmal von den Unterlagen, um mich anzuschauen. Ich beschloss, wenigstens ihre Aufmerksamkeit zu wecken, selbst wenn ich mir dabei alle Chancen verbaute. Als sie mit gelangweilter Stimme fragte, weshalb ich mich für Spanisch eingetragen habe, obwohl doch Französisch meine erste Fremdsprache sei, entgegnete ich im selben gelangweilten Ton: »Weil Spanien irgendwie heißer ist als Frankreich.« Das Papier glitt ihr aus den Händen, und sie schaute mich tatsächlich an.

Zu meinem Erstaunen bekam ich dann wirklich einen Platz am Westfield College, aber von all dem Elan meines spanischen Sommers war inzwischen nicht mehr viel übrig. Für den 1. Januar 1963 lud mich Diana zu einer Neujahrsparty ein, die sie mit ihrem Bruder ausrichten wollte. Ich ging hin – ordentlich angezogen in dunkelgrüner Seide (natürlich synthetisch) und mit zurückgekämmten Haaren, die sich hinten zu einer extravaganten Rolle bauschten. In meinem Innern war ich schüchtern und meiner selbst überhaupt nicht sicher. Auf der Party traf ich den jungen Mann wieder, den ich im Sommer die Straße hatte entlanghoppeln sehen. Das Haar fiel ihm über die Brillengläser ins Gesicht, und er trug ein staubig samtschwarzes Jackett und eine Fliege aus rotem Samt. Abseits von den anderen Grüppchen unterhielt er sich gerade mit einem Freund aus Oxford und erklärte ihm, dass er in Cambridge mit Forschungen auf dem Gebiet der Kosmologie begonnen habe – anders als erhofft nicht unter dem Patronat von Fred Hoyle, dem populären Fernsehwissenschaftler, sondern betreut von Dennis Sciama. Stephen gab zu, dass er sehr erleichtert gewesen war, als er letzten Sommer in Oxford sein Studium mit »sehr gut« abgeschlossen hatte. Dies war das glückliche Ergebnis eines mündlichen Examens gewesen, mit dem die Prüfer herausfinden wollten, ob man dem außerordentlich linkischen Kandidaten, dessen Arbeiten aber auch brillante Geistesblitze enthielten, ein »sehr gut«, ein »gut« oder ein »bestanden« geben sollte, wobei Letzteres mit einem Scheitern gleichbedeutend gewesen wäre. Stephen teilte seinen Prüfern in lässigem Ton mit, dass er im Falle eines »sehr gut« nach Cambridge gehen und dort eine Dissertation schreiben wolle. Dadurch hätten die Professoren ein trojanisches Pferd ins rivalisierende Lager einschleusen können, während er bei einem »gut« (das auch zu einer Forschungslaufbahn berechtigte) in Oxford geblieben wäre. Die Prüfer gingen auf Nummer sicher und gaben ihm ein »sehr gut«.

Ich hörte amüsiert und gleichermaßen fasziniert zu; durch seinen Sinn für Humor und seine unabhängige Persönlichkeit fühlte ich mich angezogen von diesem ungewöhnlichen Charakter. Hier war ganz offensichtlich jemand, der wie ich durchs Leben stolperte und es schaffte, an allen Dingen die lustige Seite zu sehen. Jemand, der wie ich recht schüchtern war und es sich doch nicht verkniff, seine Meinung zu sagen; jemand, der im Gegensatz zu mir ein Gefühl für den eigenen Wert entwickelt hatte und die Unverfrorenheit besaß, dies auch zu demonstrieren. Als sich die Party dem Ende zuneigte, tauschten wir Namen und Adressen aus, aber ich rechnete nicht damit, ihn wiederzusehen, höchstens vielleicht einmal auf der Straße. Die verrutschte Frisur und die Fliege waren eine Fassade, eine Bekundung geistiger Unabhängigkeit, und in Zukunft würde ich diese Zeichen übersehen können, statt nur verblüfft auf ihn zu starren – falls ich ihm noch einmal über den Weg laufen sollte.

2    Auf der Bühne

Wenige Tage später bekam ich von Stephen eine Karte, auf der er mich für den 8. Januar zu einer Party einlud. Die Karte war in solch einer gestochenen Handschrift geschrieben, wie ich sie selbst niemals zustande gebracht hätte. Ich beriet mich mit Diana, die ebenfalls eine Einladung erhalten hatte. Sie sagte mir, es sei die Feier zu Stephens 21. Geburtstag (was aus der Einladung nicht hervorging), und dann versprach sie, vorbeizukommen und mich abzuholen. Es war schwierig, ein Geschenk für jemanden auszusuchen, den man gerade erst kennengelernt hatte, und so entschied ich mich für einen Schallplatten-Gutschein.

Das Haus in der Hillside Road von St Albans war eine Bastion der Sparsamkeit. Nicht dass dies in jenen Tagen ungewöhnlich gewesen wäre – in der Nachkriegszeit waren wir alle dazu erzogen worden, Geld mit Respekt zu behandeln und nichts zu verschwenden. Die Hillside Road Nr. 14 war in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet worden, ein riesiger dreigeschossiger Bau aus roten Backsteinen. Das Haus hatte einen gewissen Reiz, denn es war noch ganz in seinem ursprünglichen Zustand und hatte keine Modernisierungen wie Zentralheizung erfahren. Die Natur, die Elemente und eine Familie mit vier Kindern hatten an der schäbigen Fassade ihre Spuren hinterlassen. Vom hinfälligen gläsernen Vordach hing Blauregen herab, und oben an der Eingangstür waren von den bleigefassten Farbglasrauten der Entstehungszeit nur noch wenige übrig geblieben. Obgleich sich auf unser Klingeln erst einmal nichts rührte, wurde die Tür schließlich von Isobel Hawking, Stephens Mutter, geöffnet. Begleitet wurde sie von einem reizenden kleinen Jungen mit dunklen Locken und hellblauen Augen. Hinter ihnen erhellte eine einzige Glühbirne den langen, gelb gefliesten Korridor mit seinen schweren Möbeln und der originalen, inzwischen nachgedunkelten William-Morris-Tapete.

Als die verschiedenen Familienmitglieder zur Begrüßung der Neuankömmlinge an der Wohnzimmertür auftauchten, stellte ich fest, dass ich sie alle schon kannte: Stephens Mutter war mir durch ihr Wachestehen an der Kreuzung ohnehin vertraut; sein jüngerer Bruder Edward war der kleine Junge mit der rosa Mütze; Mary und Philippa, die Schwestern, waren mir schon in der Schule aufgefallen, und Frank Hawking, der groß gewachsene, weißhaarige und distinguierte Familienvater, war einmal bei uns vorbeigekommen, um im Garten einen Bienenschwarm einzufangen. Eigentlich hatten mein Bruder Chris und ich ihm dabei zuschauen wollen, aber er hatte uns mit seiner Schroffheit verscheucht. Außer dass Frank Hawking der einzige Imker von St Albans war, gehörte er auch zu den wenigen Einwohnern, die Skier besaßen. Im Winter pflegte er jenen Hügel hinter unserem Haus hinabzufahren, auf dem wir im Frühling und Sommer picknickten und Hasenglöckchen pflückten.

Nun war es, als würden sich die Teile eines Puzzles zusammenfügen: Von all diesen Leuten war mir jeder für sich bereits vertraut gewesen, aber ich hatte nie begriffen, dass sie zusammengehörten. Und noch ein anderes Mitglied des Haushalts erkannte ich: Agnes Walker, Stephens schottische Großmutter. Sie war stadtbekannt aufgrund ihres Könnens als Pianistin, das sie einmal im Monat unter Beweis stellte, wenn sie sich im Rathaus mit Molly Du Cane, unserer aufgedreht-nervigen Volkstanzspezialistin, zusammentat.

In den Teenagerjahren waren Tanzen und Tennis so ziemlich meine einzigen sozialen Aktivitäten. Durch sie hatte ich eine Gruppe von Freunden aus verschiedenen Schulen und Milieus gewonnen. In unserer freien Zeit traten wir überall im Rudel auf – am Samstagmorgen zum Kaffeetrinken, abends zum Tennisspielen, im Sommer zum geselligen Beisammensein im Tennisclub, im Winter zum Volkstanz. Die Tatsache, dass auch unsere Mütter die Volkstanzabende besuchten und wir dort auf einen guten Teil der älteren Bevölkerung von St Albans trafen, störte uns überhaupt nicht. Wir saßen abseits und tanzten nur mit jungen Leuten aus unserem Kreis. Gelegentlich keimten in unserer Ecke Romanzen auf und gaben Anlass zu einer Menge Klatsch, aber meist erledigten sie sich so rasch, wie sie entstanden waren. Wir waren ein unbekümmerter, freundlicher Haufen von Teenagern und führten ein einfacheres Leben als die Jugendlichen von heute.

Zu Stephens Geburtstagsparty waren Freunde und Verwandte gekommen. Einige Gäste hatte er erst in Oxford kennengelernt, aber die meisten waren alte Klassenkameraden und hatten 1959 zum großen Erfolg seiner Schule bei den Aufnahmeprüfungen für Oxford und Cambridge beigetragen. Mit 17 war Stephen jünger gewesen als die meisten Mitschüler, und so war er auch in jenem Herbst bei Studienbeginn einer der Jüngsten. Viele seiner Kommilitonen waren gleich mehrere Jahre älter als er, da sie ihr Studium erst nach dem inzwischen abgeschafften Wehrdienst aufgenommen hatten. Später sollte Stephen einräumen, dass er wegen jenes Altersunterschieds seine Studienzeit in Oxford nicht rundum hatte genießen können.

Ganz gewiss aber pflegte er zu seinen Schulfreunden engere Beziehungen als zu all seinen Bekannten aus Oxford. Abgesehen von Basil King, Dianas Bruder, waren sie mir nur vom Hörensagen als die neue Elite von St Albans bekannt. Es hieß, dass sie die intellektuellen Abenteurer unserer Generation wären: leidenschaftlich darauf bedacht, alle Gemeinplätze zu kritisieren, jede klischeehafte Bemerkung lächerlich zu machen, ihre eigene geistige Unabhängigkeit zu behaupten und bis an die Grenzen des Denkbaren vorzustoßen. Natürlich unterschieden sie sich sehr von meinen Freunden, und ich, eine aufgeweckte, aber ganz gewöhnliche 18-jährige Studentin, fühlte mich eingeschüchtert. Von ihnen verbrachte sicher niemand seine Abende mit Volkstanz. Ich war mir meines Mangels an Weltläufigkeit schmerzlich bewusst, setzte mich in eine Ecke, nahm Edward auf den Schoß und  hörte den Partygästen zu. An ihrer Konversation teilzunehmen versuchte ich gar nicht erst. Manche hatten sich hingesetzt, andere lehnten an den Wänden des großen Wohnzimmers, dessen einzige Wärmequelle ein Ofen mit Glasfront war. Die Gespräche liefen stockend und bestanden meistenteils aus Witzen, die nicht im Entferntesten so intellektuell waren, wie ich erwartet hatte.

Es verging eine gewisse Zeit, ehe ich von Stephen das nächste Mal etwas hörte. Ich absolvierte in London einen Sekretärinnenkurs, bei dem uns eine revolutionäre Form der Stenografie beigebracht wurde: Anstelle von Hieroglyphen benutzte man dabei das Alphabet, aber alle Vokale wurden ausgelassen. Abgesehen von einer kurzen Mittagspause brachte ich den ganzen Tag im Klassenzimmer zu, umschwirrt vom Geklapper zahlreicher altmodischer Schreibmaschinen und dem Geschnatter junger Mädchen aus gutem Hause, die ihren Status weitgehend danach bemaßen, wie oft sie bereits in den Buckingham-Palast, den Kensington-Palast oder nach Clarence House eingeladen worden waren.

Die neue Stenografiemethode war leicht genug zu erlernen, aber das Zehnfingersystem beim Maschineschreiben war der reinste Albtraum. Den Sinn des Stenografierens konnte ich noch einsehen, denn es würde mir für meine Vorlesungsmitschriften an der Universität nützlich sein, aber das Maschineschreiben war extrem öde, und ich war dafür hoffnungslos unbegabt und kämpfte noch damit, 40 Worte pro Minute zu schaffen, als der Rest der Klasse den Kurs bereits beendet und alle übrigen Fertigkeiten einer Sekretärin erlernt hatte.

An den Wochenenden konnte ich die Schrecken des Maschineschreibens vergessen und alte Freunde wiedersehen. Eines Samstagmorgens im Februar traf ich Diana, die inzwischen Schwesternschülerin am Sankt-Thomas-Krankenhaus war, und Elizabeth Chant, eine weitere Schulfreundin, die zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Wir saßen an unserem Lieblingsort – dem Café von Green’s, dem einzigen Kaufhaus in St Albans. Als wir über unsere Freunde und Bekannten zu reden begannen, fragte Diana plötzlich: »Habt ihr das mit Stephen gehört?«

»O ja«, sagte Elizabeth, »schrecklich, nicht wahr?«

Mir wurde klar, dass sie über Stephen Hawking sprachen. »Was meint ihr?«, fragte ich. »Ich weiß von nichts.«

»Na, er soll schon zwei Wochen im Krankenhaus sein«, klärte mich Diana auf. »Er ist dauernd gestolpert und konnte seine Schnürsenkel nicht mehr binden.« Sie hielt einen Moment inne. »In der Klinik haben sie jede Menge schreckliche Tests mit ihm gemacht und schließlich rausgefunden, dass er an einer furchtbaren unheilbaren Krankheit leidet, bei der man gelähmt wird. Ein bisschen wie bei Multipler Sklerose, aber es ist was anderes, und sie schätzen, dass ihm nur noch ein paar Jahre bleiben.«

Ich war fassungslos. Ich hatte Stephen doch gerade erst kennengelernt, und trotz seiner exzentrischen Art mochte ich ihn. Wir beide wirkten schüchtern, wenn andere dabei waren, aber innerlich waren wir voller Zuversicht und Selbstvertrauen. Für mich war es unvorstellbar, dass jemand, der nur wenige Jahre älter war als ich, schon den eigenen Tod vor Augen haben sollte. Der Gedanke ans Sterben spielte in unserem Alltag keine Rolle. Wir waren noch jung genug, um ein ewiges Leben vor uns zu haben.

»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte ich, erschüttert von der Nachricht.

»Basil ist bei ihm gewesen«, fuhr Diana fort, »und er meint, dass Stephen ziemlich deprimiert ist; die Tests sind wirklich kein Spaß, und im Bett neben seinem ist letztens ein kleiner Junge aus St Albans gestorben.« Sie seufzte. »Wegen seiner sozialistischen Prinzipien hat Stephen darauf bestanden, im großen Krankensaal zu liegen, obwohl ihn seine Eltern in ein Einzelzimmer bringen wollten.«

»Kennt man denn die Ursachen seiner Krankheit?«, fragte ich Diana.

»Nicht wirklich«, meinte sie. »Vor einigen Jahren ist er in Persien gegen Pocken geimpft worden, und sie glauben, dass man da vielleicht nicht steril gearbeitet hat und ein Virus in sein Rückenmark gelangt ist – aber das ist bloß Spekulation, genau weiß es keiner.«

Ich ging schweigend nach Hause und dachte an Stephen. Meiner Mutter fiel auf, wie besorgt ich war. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, kannte ihn aber vom Hörensagen und wusste auch, dass ich ihn mochte. Vorsichtshalber hatte ich sie schon einmal gewarnt, dass er sehr exzentrisch sei – es konnte ja sein, dass er ihr einmal unangekündigt über den Weg lief. In ihrem tief verwurzelten Glauben, der ihr während der Kriegsjahre, der letzten Krankheit ihres geliebten Vaters und der Depressionsschübe ihres Ehemanns geholfen hatte, sagte sie ganz ruhig: »Warum betest du nicht? Es könnte helfen.«

Etwa eine Woche später wartete ich auf den Neunuhrzug nach London, als zu meiner Verblüffung Stephen den Bahnsteig entlangschlenderte, in der Hand einen braunen Segeltuchkoffer. Er wirkte ganz fröhlich und schien sich zu freuen, mich zu sehen. Sein Erscheinungsbild war diesmal konventioneller und im Grunde noch anziehender als sonst: die Merkmale seines alten Images, das er wahrscheinlich in Oxford kultiviert hatte – Fliege, schwarzes Samtjackett und langes Haar –, waren einer roten Krawatte, einem beigefarbenen Regenmantel und einem ordentlicheren, kürzeren Haarschnitt gewichen. Unsere beiden vorigen Begegnungen hatten abends bei gedämpftem Licht stattgefunden, aber nun betonte das Tageslicht sehr vorteilhaft sein breites, gewinnendes Lächeln und seine hellgrauen Augen. Hinter der eulenhaften Brille lag in seinen Zügen etwas, das mich anzog und mich, vielleicht nur unbewusst, an Lord Nelson erinnerte, meinen ostenglischen Lokalhelden. Im Zug nach London saßen wir zusammen und unterhielten uns fröhlich, aber seine Krankheit erwähnten wir dabei kaum. Als ich sagte, wie leid es mir getan habe, von seinem Krankenhausaufenthalt zu hören, rümpfte er nur die Nase und entgegnete nichts. Er benahm sich so überzeugend, als wäre alles in Ordnung, und ich spürte, dass es grausam wäre, das Thema noch länger zu erörtern. Er war auf dem Rückweg nach Cambridge, und als wir uns dem Bahnhof St Pancras näherten, erwähnte er, dass er an den Wochenenden recht häufig in seinem Elternhaus sei. Vielleicht mochte ich ihn hin und wieder ins Theater begleiten? Natürlich mochte ich.

An einem Freitagabend trafen wir uns in einem italienischen Restaurant in Soho, was schon für sich genommen ein verschwenderischer Abend gewesen wäre. Stephen hatte aber auch Theaterkarten, und das Dinner musste zu einem hastigen und peinlich teuren Abschluss gebracht werden, damit wir noch rechtzeitig über den Fluss zum berühmten Old Vic Theatre kamen, wo Volpone auf dem Spielplan stand. Als wir ins Theater hineingerauscht kamen, hatten wir gerade noch Zeit, unsere Sachen unter den Sitzen zu verstauen, und schon begann das Stück. Meine Eltern waren eifrige Theaterbesucher gewesen, und so hatte ich bereits Jonsons anderes großes Stück Der Alchimist gesehen und von Anfang bis Ende genossen; Volpone war genauso unterhaltsam, und schon bald war ich gefesselt von den Intrigen des alten Fuchses, der die Aufrichtigkeit seiner Erben prüfen wollte und dessen Pläne gründlich in die Hose gingen.

Noch ganz beschwingt von der Aufführung standen wir hinterher an der Bushaltestelle. Ein Penner näherte sich uns und fragte Stephen höflich, ob er etwas Kleingeld habe. Stephen wühlte in seinen Hosentaschen und antwortete verlegen: »Tut mir leid, ich glaub, ich habe keinen Penny mehr!«

Der Penner grinste und schaute mich an. »Is schon in Ordnung, Chef, ich verstehe«, sagte er und winkte mir zu.

In diesem Moment hielt der Bus vor uns an, und wir stiegen ein. Als wir uns hinsetzten, sagte Stephen mit betretener Miene: »Es ist mir total peinlich, aber ich hab nicht mal mehr Geld für das Busticket. Hast du vielleicht noch welches?«

Da ich mich sowieso schon schuldbewusst bei dem Gedanken daran fühlte, welche Summen er für unseren Abend ausgegeben haben musste, wollte ich ihm nur zu gern aushelfen. Der Schaffner nahte und wich uns nicht von der Seite, während ich in den Tiefen meiner Handtasche nach dem Portemonnaie suchte. Meine Verlegenheit reichte an Stephens heran, als ich entdeckte, dass es fort war. An der nächsten Ampelkreuzung sprangen wir aus dem Bus und rannten zurück zum Old Vic. Der Haupteingang war schon geschlossen, aber Stephen hastete weiter – zum Bühneneingang an der Seite. Er war noch offen, und im Korridor brannte Licht. Vorsichtig wagten wir uns hinein, doch es war kein Mensch zu sehen. Als wir den Korridor bis zum Ende durcheilt hatten, fanden wir uns plötzlich auf der verwaisten, aber noch hell erleuchteten Bühne wieder. Von Ehrfurcht ergriffen, überquerten wir sie auf Zehenspitzen und stiegen die Stufen zum dunklen Zuschauerraum hinab. Zu unserer beider Erleichterung fanden wir die grüne Lederbörse im Handumdrehen unter meinem Sitzplatz. Gerade als wir zur Bühne zurückgehen wollten, gingen die Lichter aus, und wir standen in völliger Dunkelheit da. »Halt dich an mir fest«, sagte Stephen mit Autorität in der Stimme. Ich nahm seine Hand und folgte ihm atemlos und in stiller Bewunderung. Zum Glück war der Bühnenausgang noch geöffnet, und als wir auf die Straße hinaustaumelten, mussten wir erst einmal loslachen. Wir hatten auf der Bühne des Old Vic gestanden!

3    Eine gläserne Kutsche

Einige Wochen nach der Episode im Old Vic, als der Schnelltippkurs offiziell vorbei war, kam ich eines Abends nach Hause und wurde von meiner Mutter empfangen, die aufgeregt mit einer Nachricht von Stephen herumwedelte: Er hatte angerufen, um mich zum Maiball nach Cambridge einzuladen. Das waren höchst verlockende Aussichten. Eine meiner Mitschülerinnen war einmal zu einem solchen Studienjahresabschlussball eingeladen worden, und wir anderen waren gelb vor Neid gewesen und hatten begierig jedes Detail dieser Galaveranstaltung aufgesogen, die uns ein Stoff für Feenmärchen zu sein schien. Kaum zu glauben, dass jetzt ich an der Reihe war! Als Stephen noch einmal anrief, um die Einladung zu bestätigen, nahm ich sie mit Vergnügen an. Das Problem der Garderobe war bald gelöst, denn in einem Laden nahe der Sekretärinnenschule in der Oxford Street fand ich ein blauweißes Seidenkleid, das ich mir gerade noch leisten konnte.

Bis zu den Maibällen, die in typisch Cambridge’scher Widerborstigkeit im Juni stattfinden, waren es noch einige Monate. Bis dahin musste ich meine Finanzlage wieder aufbessern, denn im Laufe des Sommers wollte ich in Spanien herumreisen. So ließ ich mich in St Albans bei einer Zeitarbeitsfirma registrieren. Mein erster Auftrag war ein anderthalbtägiger Abstecher in die Westminster Bank in Hatfield, deren Filialleiter, ein geduldiger und freundlicher Mann, mit meinem Vater befreundet war. Zuerst steckte man mich in die Telefonzentrale, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wie man so ein Vermittlungspult bediente, und als die Lämpchen aufleuchteten, geriet ich in Panik, zog in meiner Verzweiflung ein paar Stöpsel heraus und steckte andere in die frei gewordenen Löcher. Damit erreichte ich allerdings nur, dass alle Anrufe von außen abgebrochen und stattdessen die Telefone von Leuten verbunden wurden, die einander im Büro gegenübersaßen. Im Laufe des Frühjahrs fand ich mich allmählich in diverse andere Zeitarbeitsjobs hinein, und schließlich wurde es Frühsommer, und der Abend des Maiballs nahte.

Als mich Stephen eines heißen Nachmittags Anfang Juni abholen kam, war ich schockiert darüber, wie sich sein Zustand seit unserem Abenteuer im Old Vic verschlechtert hatte, und ich zweifelte daran, dass er kräftig genug sein würde, den Wagen seines Vaters, einen mächtigen alten Ford Zephyr, bis nach Cambridge zu steuern. Das Auto war ein richtiger Panzer, und es hieß, dass es in Kaschmir Flüsse durchquert hatte, als die Familie vor einigen Jahren in Indien gelebt hatte (außer Stephen, der weiter in England zur Schule gegangen war). Ich fürchtete, dass das schnaubende Ungetüm viel zu schnell sein könnte für seinen heutigen Fahrer – eine schmächtige, zerbrechliche und hinkende Gestalt, die sich am Lenkrad erst einmal hinaufziehen musste, um übers Armaturenbrett blicken zu können. Ich stellte Stephen meiner Mutter vor. Sie wirkte nicht weiter überrascht oder alarmiert, sondern winkte uns fort wie eine gute Fee, die mich mit dem Märchenprinzen in einer gläsernen Kutsche auf einen Ball schickte.

Es war eine furchtbare Fahrt. Man merkte, dass Stephens Vorbild beim Autofahren sein Vater war, und der fuhr schnell und wild und überholte an Hügelkuppen oder in Kurven. Als wir mit Raketengeschwindigkeit die Felder der Grafschaft Hertfordshire hinter uns ließen und in die offene Landschaft von Cambridgeshire eintauchten, machte der durch die heruntergekurbelten Fenster pfeifende Wind jeden Versuch einer Unterhaltung zunichte. Ich wagte es kaum, auf die Straße vor mir zu blicken, aber auch Stephen schien auf alles andere zu schauen als auf die Fahrbahn. Wahrscheinlich glaubte er, sich ein gefährliches Leben leisten zu können, nachdem ihm das Schicksal so grausam mitgespielt hatte. Mich beruhigte das allerdings wenig, und so schwor ich mir im Stillen, mit dem Zug nach Hause zu fahren. Ich begann ganz entschieden daran zu zweifeln, ob ein Maiball wirklich so eine märchenhafte Erfahrung war.

Allen Unfallstatistiken zum Trotz kamen wir tatsächlich mit heiler Haut bis in Stephens möbliertes Zimmer, das sich in einem hübschen Graduiertenwohnheim aus den Dreißigerjahren befand. Die anderen Ballbesucher waren noch mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Nachdem ich die Treppe hochgestiegen war und mich in dem Zimmer, das die Haushälterin mir zur Verfügung stellte, umgezogen hatte, wurde ich Stephens Mitbewohnern, die ebenfalls Forschungsstudenten waren, vorgestellt. Mich verblüffte ihre widersprüchliche Haltung ihm gegenüber. Sie sprachen mit ihm in seiner eigenen intellektuellen Terminologie, manchmal beißend sarkastisch, manchmal vernichtend kritisch, wenn auch immer mit viel Humor. Im persönlichen Umgang aber behandelten sie ihn mit freundlicher, ja fast liebevoller Aufmerksamkeit. Für mich war es schwer, die beiden Extreme unter einen Hut zu bringen. Mich machte es sprachlos, wie diese Leute heftig mit Stephen stritten, um ihn im nächsten Augenblick so zu behandeln, als wäre nichts gewesen, und sich mit Hingabe um seine persönlichen Bedürfnisse zu kümmern, als wäre ihnen sein Wort Befehl. In meiner unschuldigen Art hatte ich noch nicht gelernt, Verstand und Gefühl, Intellekt und Herz voneinander zu trennen, und so standen mir noch einige harte Lektionen bevor. Nach den Standards von Cambridge war eine Naivität wie die meine einfach nur öde und berechenbar.

Wir alle brachen zu einem späten Abendessen in der ersten Etage eines Restaurants an der Ecke der King’s Parade auf. Von meinem Platz aus konnte ich die Türmchen und Zinnen des King’s College sehen, die Kapelle und das Torhaus – dunkle Silhouetten gegen den weiten, leuchtenden Hintergrund eines ostenglischen Sonnenuntergangs. Das allein war schon magisch genug. Dann kehrten wir ins Haus zurück, um uns noch mal zurechtzumachen, und brachen anschließend zu Trinity Hall, Stephens College, auf – ein zehnminütiger Spaziergang durch die feuchte, grüne Flussaue der Backs. Stephen hatte darauf bestanden, sein Tonbandgerät und seine Bänder mitzunehmen, damit wir sie dort zur Verfügung hatten, wenn wir eine Verschnaufpause von den Festivitäten brauchten. Selbst tragen konnte er sie allerdings nicht. »Na großartig«, brummte einer seiner Freunde, »da werde ich sie wohl für dich schleppen müssen!« Was er auch prompt tat.

Trinity Hall ist relativ klein, unprätentiös und den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. Das College besteht aus einer bunten Mischung von uralten, alten, viktorianischen und inzwischen auch modernen Gebäuden, die sich um Rasenflächen, Blumenbeete und eine Terrasse zum Fluss hin gruppieren. Wir näherten uns ihm vom anderen Ufer des Cam und blieben kurz auf einer neuen Brücke stehen, die, wie mir Stephen mit ernstem Nachdruck erzählte, zum Gedenken an den Studenten Timothy Morgan gebaut worden war, der im Jahre 1960 auf tragische Weise verstorben war, kurz nachdem er diese Brücke entworfen hatte. Von hier bot sich uns ein märchenhaftes Schauspiel, das mich an den geheimnisvollen Landsitz in Alain-Fourniers Der große Meaulnes, einem meiner französischen Lieblingsromane, erinnerte: Der Held des Buchs gelangt inmitten der tiefen Dunkelheit der nächtlichen Provinz zufällig an ein hell erleuchtetes Schloss. Zunächst ein verwirrter Beobachter, wird er schließlich selbst hineingezogen in die Festlichkeiten, die Musik und die Tänze, wobei er nie recht weiß, was ihn im nächsten Augenblick erwartet. Hier in Trinity Hall sandten Bands ihre Klänge in die Nachtluft hinaus, der Rasen zum Fluss hin und die herrliche Blutbuche waren mit funkelnden Lichtern dekoriert, und auf einem Podest unter dem Baum tanzten schon einige Paare. Im Festzelt stellte Stephen mich noch anderen Freunden vor, und dann stürzten wir uns gemeinsam auf den Champagner, der in einem Badezimmer ausgeschenkt wurde, aufs Büffet und die verschiedenen Amüsements. Irgendwo hinten im überfüllten Saal trat ein Kabarett auf, von dessen Worten man nichts verstehen konnte; in einem vornehm getäfelten Raum versuchte sich ein Streichquartett gegen die Steelband zu behaupten, die draußen auf dem Rasen spielte, und in einer Ecke bei der Alten Bibliothek wurden Esskastanien über einem Becken mit glühenden Kohlen geröstet. Unsere Gefährten hatte es schon woandershin fortgeweht, und so saßen wir zu zweit auf der Terrasse am Fluss und schauten den Tanzenden zu, die zu den hypnotischen Rhythmen der Steelband ihre Körper verdrehten.

»Tut mir leid, dass ich nicht tanze«, sagte Stephen.

»Ist doch in Ordnung«, log ich, »das macht mir überhaupt nichts.«

Und doch war das Thema Tanzen nicht völlig abgehakt, denn später entdeckten wir eine Jazzband, die sich in einem Keller verborgen hatte. Abgesehen von ein paar unheimlichen blauen Lichtern war der Raum dunkel. Von den Männern sah man nichts als Manschetten und Hemdbrust, die einen hellpurpurfarbenen Schein verströmten, und die Frauen waren erst recht so gut wie unsichtbar. Ich war fasziniert. Stephen erklärte mir, das Licht greife die fluoreszierenden Elemente auf, die in Waschpulver enthalten sind. Daher waren die Hemden der Männer so gut sichtbar, während die frisch gekauften Kleider der Frauen noch nicht mit Waschmitteln in Berührung gekommen waren und nicht in diesem geisterhaften Licht aufschienen. In der Dunkelheit dieses Kellerraums konnte ich Stephen dazu überreden, mit auf die Tanzfläche zu kommen. Wir wiegten uns sacht hin und her, lachten über die herumhüpfenden Muster aus purpurfarbenem Licht und waren enttäuscht, als die Band ihre Instrumente einpackte und abzog.

Am nächsten Tag hatte man für die Maiballpartnerinnen ein ganzes Programm organisiert, und zwar mit der Effizienz eines modernen Reiseveranstalters, wenn auch viel stimulierender. Zwei Freunde von Stephen, die Doktorarbeiten in Chemie schrieben, erstellten gleichzeitig einen Führer durch die Nachkriegsarchitektur von Cambridge, der 1964 erscheinen sollte. Stephen teilte ihr Interesse und wirkte an dem Projekt zeitweilig als Berater mit. Deshalb waren sie alle darauf versessen, jeder halbwegs interessierten Person die entsprechenden Gebäude zu zeigen. So skeptisch diese Bauwerke heute betrachtet werden – in den Sechzigerjahren lösten sie freudige Aufregung aus, standen sie doch für Nachkriegsaufschwung und dynamische Entwicklung. Um alte Anwesen, Wiesen oder Bäume, die dieser neuen Flut von Straßen, Bauten und Universitätserweiterungen im Wege standen, scherte man sich nicht. Denkmalschutz war damals noch kein weitverbreitetes Anliegen.

Nach dem Mittagessen machten wir alle eine Kahnfahrt, und dann begann sich die Frage der Rückkehr bedrohlich am Horizont abzuzeichnen.

»Ich sollte vielleicht besser mit dem Zug heimfahren …«, schlug ich Stephen zögernd vor, aber er wollte davon nichts wissen. Da ich ihn nicht verletzen wollte, nahm ich wieder auf dem Beifahrersitz des gefürchteten Ford Zephyr Platz. Die Heimreise war ebenso schrecklich wie die Hinfahrt, und als wir St Albans erreicht hatten, beschloss ich, dass ich mir eine solche Autoscooterpartie niemals wieder zumuten wollte, so sehr ich den Maiball selbst auch genossen hatte. Meine Mutter stand im Vorgarten, als wir am Tor vorfuhren. Ich sagte zu Stephen nur ganz knapp »Danke« und »Tschüs« und marschierte ins Haus, ohne mich noch einmal umzublicken. Meine Mutter kam hinterhergelaufen und schimpfte mit mir.

»Du wirst den armen jungen Mann doch nicht nach Hause schicken, ohne ihm eine Tasse Tee anzubieten?«, fragte sie, schockiert von meiner Gleichgültigkeit. Ihre Worte machten mir Gewissensbisse, und so rannte ich wieder hinaus und versuchte, Stephen noch abzufangen. Er stand tatsächlich noch am Tor und versuchte, den Wagen wieder anzuwerfen. Langsam begann der Ford Zephyr die abschüssige Straße rückwärts hinabzurollen, denn Stephen hatte die Handbremse schon gelöst, ehe das Fahrzeug angesprungen war. Nun zog er die Bremse richtig an und kam, ohne zu zögern, mit zum Tee. Als wir meiner Mutter aufgekratzt von allen Begebenheiten des Balls berichteten, war er aufmerksam und charmant. Ich stellte fest, dass ich ihn wirklich mochte, und konnte ihm sogar seine Verrücktheiten am Lenkrad verzeihen – vorausgesetzt, ich würde sie nicht zu oft ertragen müssen.

4    Verborgene Wahrheiten

Einige Wochen darauf bekamen wir zeitweilig Familienzuwachs, denn meine Eltern hatten sich bereit erklärt, als Gasteltern für französische Jugendliche zu fungieren. Also beherbergten sie ein 16-jähriges Mädchen, dessen beste Freundin durch einen unheimlichen Zufall bei den Hawkings einquartiert war. Eines Samstags im Juni lud Isobel Hawking die beiden Französinnen und mich zu einem Ausflug nach Cambridge ein. Zu meiner Erleichterung fuhr sie vernünftig und brachte zudem einen üppig gefüllten Picknickkorb mit, den wir auf der Terrasse vor Stephens Erdgeschosszimmer in der Adams Road leerten. So kam es, dass meine Familie und ich nun einen engeren Kontakt zu den Hawkings hatten, und als Stephen für ein Wochenende nach St Albans kam, luden ihn meine Eltern zum Abendessen ein. Sie behandelten ihn mit untadeliger Gastfreundschaft und waren äußerlich ungerührt von seinem Erscheinungsbild. Inzwischen war er wieder in seinen Oxfordlook zurückgefallen. Sein dünnes, glattes Haar war länger als je zuvor, und das schwarze Samtjackett und die rote Fliege waren für ihn praktisch zu einer Uniform geworden, mit der er den Konformismus, den meine Eltern verkörperten, herausforderte. Sie wiederum mochten ihren Trost darin gefunden haben, dass es für einige Zeit ohnehin unsere letzte Begegnung war, denn ich wollte in Kürze wieder nach Spanien fliegen.

An einem frühen Julimorgen des Jahres 1963 fuhr mich mein Vater zum Flughafen Gatwick, wo ein Billigflieger um neun Uhr abheben sollte, aber der Start wurde aufgrund von Reparaturen an einem Triebwerk verschoben. Diese Verspätung machte mir nichts aus, ebenso wenig wie die Tatsache, dass nach dem Start Wasser durch das Dach der Maschine einsickerte und schließlich in Eiszapfen hinabhing. Ich machte mir auch keine Sorgen, als wir Studenten ins Cockpit eingeladen wurden und dabei entdeckten, dass der Flugkapitän und sein Kopilot sich gut gelaunt ein Glas Bier genehmigten.

Bill Lewis, ein Bekannter unseres Hausarztes, erwartete mich in Madrid am Flughafen. Er fuhr mich in seine Wohnung und stellte mich seiner Frau vor, die mir versicherte, ich sei allabendlich ab sechs Uhr bei ihnen herzlich willkommen. Dann brachte er mich zu der Unterkunft, die er für mich gefunden hatte. Pilar, die Zimmerwirtin, war eine kleine, lebhafte Dame mit scharf geschnittener Nase und schwarzem Haar. Sie lebte allein in einer außergewöhnlich großen, gut eingerichteten Wohnung gleich bei den Lewis um die Ecke. Pilars anderer Quartiergast, Sylvia, kam ebenfalls aus England und arbeitete bei der Britischen Botschaft. Sylvia war nicht sehr glücklich über einige von Pilars Freunden, die zu allen Tages- und Nachtzeiten hineingeschneit kamen, und als sie mir von ihren Befürchtungen berichtete, beschloss ich, Madrid so rasch wie möglich wieder zu verlassen. Trotzdem nutzte ich meinen Aufenthalt in der Hauptstadt bestmöglich, um den Prado zu besichtigen und mit einem Touristenbus zum Königspalast von Aranjuez und zum Escorial zu fahren. Selbstverständlich fuhr ich auch nach Toledo, der auf einem Felsen über dem Tajo gelegenen mittelalterlichen Stadt, in der im 13. Jahrhundert Juden, Araber und Christen in perfekter Harmonie studiert hatten und im 17. Jahrhundert viele der besten Gemälde El Grecos entstanden waren. Mit einer Studentengruppe pilgerte ich ins »Tal der Gefallenen«, das angeblich ein Denkmal für alle Toten des Bürgerkriegs sein sollte, in Wahrheit aber nur eine Begräbnisstätte für Faschisten war – errichtet von republikanischen Kriegsgefangenen. Mir dämmerte, dass die vielen verstümmelten Bettler in den Straßen Madrids die tragischen lebenden Überbleibsel des Bürgerkriegs waren; sie enthüllten Spaniens hässliche, schizoide Züge. In der Mitte des 20. Jahrhunderts fand man in diesem Land noch immer die verstörenden Kontraste, die Goya auf seinen Gemälden und Grafiken dargestellt hatte.

Als ich wieder in Pilars Wohnung war, hatten Sylvia und ich das unbehagliche Gefühl, dass die Dinge auf einen kritischen Punkt zusteuerten. Ich ergriff die Flucht und bestieg einen klimatisierten Zug nach Granada. Dort quartierte ich mich für einen längeren Aufenthalt in einem internationalen Studentenwohnheim ein, wo besonders die jungen Spanier immer wieder anregend und überraschend waren, konnten sie doch in einem Atemzug über alle möglichen Themen von Politik bis Poesie diskutieren. Manchmal musste ich vor der Heftigkeit ihrer Streitgespräche regelrecht Reißaus nehmen. Dann wanderte ich in der Hitze des Tages die Straßen von Granada entlang, schaute den Zigeunerkindern dabei zu, wie sie vor ihren Kellern spielten, oder bummelte durch die Alhambra und die Gärten des Generalife, beinahe sprachlos angesichts der Schönheit dieser Orte.

Oft saß ich stundenlang unter den Arkaden der Gärten und schaute von dort auf die abweisenden Mauern, die das verschlungene Spitzenwerk der Alhambra-Innenhöfe verbargen. In der Sonne schillernd lag die Stadt zu meinen Füßen. Eine schöne, aber auch grausame Stadt. Von welcher anderen Stadt könnte man behaupten, sie hätte ihren berühmtesten Sohn umgebracht? Es war hier in Granada, wo zu Beginn des Bürgerkriegs die Franco-Truppen den größten spanischen Dichter des 20. Jahrhunderts ermordeten – Federico García Lorca, der mir durch die Farbigkeit, den Rhythmus und die besondere Sichtweise in seinen Versen Andalusien nahegebracht hatte, lange bevor ich den Boden dieser Region betreten hatte.

Während ich mich vor dem Hintergrund einer solchen dramatischen wie auch betörenden Schönheit der Kontemplation hingab, fühlte ich gleichzeitig oft, wie eine Welle der Einsamkeit über mich schwappte. Ich sehnte mich nach jemandem, mit dem ich meine Erlebnisse teilen konnte. Mehr noch: Mir wurde klar, dass ich sie am allerliebsten mit Stephen teilen wollte. Unsere ersten Kontakte hatten die Hoffnung geweckt, dass wir harmonieren und gut zueinander passen könnten. Aufgrund seiner Krankheit würde jede Beziehung mit ihm heikel sein, von kurzer Dauer und wahrscheinlich herzzerreißend. Konnte ich ihm dabei helfen, sich selbst zu verwirklichen und vielleicht sogar eine kurze Spanne Glück zu finden? Ich hatte meine Zweifel, ob ich dieser Aufgabe gewachsen war, aber als ich mich meinen neuen Freunden aus aller Herren Länder anvertraute, drängten sie mich zum Handeln. »Wenn er dich braucht, dann zögere nicht«, sagten sie.

Sylvias Berichten nach zu urteilen musste in Madrid während meiner Abwesenheit so mancher Kochtopf durch die Luft geflogen sein. Pilar wurde immer unzufriedener mit dem, was die zahlenden Gäste ihr einbrachten, denn sie hatte zweifellos beträchtliche Zusatzleistungen der einen oder anderen Art erwartet. Inzwischen hatte sie Sylvia aus ihrem Zimmer verbannt und mit zu mir gesteckt. Zu zweit fühlten wir uns sicherer, aber langfristig konnte es für Sylvia nicht so weitergehen, denn ich würde schon bald abreisen. Bisher hatte ich mich absichtlich zurückgehalten, der Familie Lewis die Wahrheit über die Unterkunft zu enthüllen, die sie freundlicherweise für mich gefunden hatte. Ich wollte nicht undankbar erscheinen, aber nun war die Zeit gekommen, sie von dem Treiben in der Casa de Pilar zu unterrichten. An meinem letzten Abend in Madrid begleitete mich Sylvia zur Cocktailstunde der Lewis, und dann berichteten wir ihnen gemeinsam, dass jede Menge entschieden abstoßende männliche Besucher die Wohnung frequentierten – denn Pilar führte, wenn auch in kleinem Maßstab, ein liederliches und gesetzwidriges Etablissement. Wir erzählten, wie diese Männer uns zu begrapschen versuchten, wenn wir abends nach Hause kamen. Nur dezente Andeutungen machten wir über die Spielchen, die die ganze Nacht in den anderen Zimmern abliefen, und über das ominöse Gerappel an der Klinke unserer abgeschlossenen Schlafzimmertür.

Als Sylvia und ich der aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft aus Auslandsbriten diese Geschichten erzählten, verschüttete Mrs Lewis vor Schreck ihren Gin Tonic, während die übrigen Gäste amüsiert grinsten. Sofort wurde beschlossen, dass sich jeder in seinem Bekanntenkreis nach einer neuen Unterkunft für Sylvia umhören sollte. Die meisten Stammgäste der Familie Lewis arbeiteten wie Sylvia an der Britischen Botschaft, obgleich sie dort noch keinem von ihnen begegnet war. Sie waren amüsant, aber auch bescheiden – eine gute Reklame für den diplomatischen Dienst, der für mich zu einem verlockenden Karriereziel zu werden begann. Als ich am nächsten Tag nach England zurückkehrte, war ich traurig, so viele Erlebnisse, Sehenswürdigkeiten, Bekanntschaften und Intrigen hinter mir zu lassen. Gleichzeitig aber war ich geblendet von der Unzahl verschiedenartiger Möglichkeiten, die sich vor mir auftaten.

5    Ungewisse Prinzipien

Nach meiner Rückkehr aus Spanien versuchte ich vergeblich, mit Stephen in Kontakt zu kommen. Seine Mutter sagte mir, er sei schon wieder in Cambridge, und es gehe ihm überhaupt nicht gut. Ich war damit beschäftigt, zu Hause auszuziehen und in London einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, und so war meine Aufmerksamkeit in den folgenden Herbstwochen völlig vom akademischen und gesellschaftlichen Wirbel in der Hauptstadt beansprucht. Als ich mit Freunden in der Metro saß, schnappten wir im Vorbeifahren die Schlagzeilen von der Ermordung Kennedys auf. Ungefähr zu dieser Zeit, im November 1963, hörte ich wieder von Stephen. Er kam wegen einer Zahnbehandlung nach London und fragte mich, ob ich mit ihm in die Oper gehen wolle. Obgleich ich Musik seit meiner frühen Kindheit liebte, hatte ich kaum musikalische Bildung und war erst ein einziges Mal in der Oper gewesen – mit der Schulklasse zu einer Aufführung von Figaros Hochzeit. Und mein einziger Versuch, ein Instrument zu lernen (nämlich Flöte), war schnell wieder beendet gewesen, als ich mir mit 13 beim Eislaufen auf einem zugefrorenen See beide Arme gebrochen hatte.

An einem Freitagnachmittag traf ich Stephen in der Harley Street, wo Russell Cole, sein australischer Onkel, eine Zahnarztpraxis hatte. Stephen hatte einen unsicheren, schlingernden Gang, und für jede größere Distanz wurde das Taxi für ihn zur kostspieligen Notwendigkeit. Je wackliger er auf den Beinen war, desto konsequenter und herausfordernder wurden seltsamerweise seine Überzeugungen. Auf dem Weg in die Wallace Collection sagte er mir unverblümt, dass er in die allgemeine Heldenverehrung für den ermordeten Präsidenten nicht einstimmen könne. Seiner Meinung nach konnte Kennedys Agieren in der Kubakrise nur als tollkühn und unvernünftig bezeichnet werden, habe er die Welt doch an den Rand eines Nuklearkriegs geführt. Nicht die Russen, sondern die Amerikaner hätten mit einer militärischen Konfrontation gedroht. Damit nicht genug: Stephen erklärte, dass die Siegerpose der Amerikaner lächerlich sei, denn Kennedy habe sich schließlich bereit erklärt, US-Raketen aus der Türkei abzuziehen, um Chruschtschow zu besänftigen. Trotz seiner Schwierigkeiten beim Gehen war Stephen keineswegs schnell erschöpft, und so liefen wir auf der Suche nach einem Restaurant durch die Regent Street. An einer Ampelkreuzung geriet Stephen plötzlich ins Straucheln und fiel hin. Mit der Hilfe eines Passanten brachte ich ihn wieder auf die Füße und reichte ihm meinen Arm, damit er sich auf mich stützen konnte. Ziemlich verstört von dem Zwischenfall riefen wir ein Taxi, das uns zur Oper brachte.

Stephen hatte Karten für den Fliegenden Holländer. Es war eine herrliche Oper, die uns durch die Kraft ihrer Musik und die packende Geschichte mitriss. Der Holländer war dazu verdammt, so lange in Sturm und Wetter auf den Meeren umherzuschweifen, bis er jemanden fand, der sich aus Liebe zu ihm opferte. Er war eine wilde, gehetzte Gestalt, die im Takelwerk ihres Schiffes stand und lauthals ihr Schicksal beklagte. Senta, die junge Frau, die sich in ihn verliebte, war rein und unschuldig. Wie die meisten Wagner-Soprane war sie allerdings von üppigen Ausmaßen und blieb fast die ganze Zeit hinter ihr Spinnrad gequetscht sitzen. Als ich spürte, wie sehr sich Stephen mit dem Helden identifizierte, begann ich seine dämonische Fahrweise zu verstehen. Mit dem väterlichen Auto konnte er seinen Zorn darüber austoben, dass ihm das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Auch er flog auf der Suche nach Rettung kreuz und quer über die Landstraßen – auf eine Art, die nur als tollkühn und leichtsinnig bezeichnet werden konnte.

Nach diesem Abend hatte ich das Gefühl, über Stephens Gesundheitszustand mehr herausfinden zu müssen. Ich suchte ein paar alte Bekannte auf, die inzwischen in London Medizin studierten, und frequentierte die schäbigen Büros diverser Wohlfahrtsverbände, die sich mit neurologischen Erkrankungen befassten. Überall zog ich eine Niete. Vielleicht war es auch besser, nicht zu gut Bescheid zu wissen. Und war Stephens Schicksal wirklich schlimmer als das Verhängnis, das uns alle bedrohte? Wir lebten unter dem Schatten der nuklearen Wolke, und keiner von uns konnte sich darauf verlassen, das gesegnete Rentenalter zu erreichen.

In den bleichen Wintertagen zwischen Weihnachten und Neujahr besuchte ich Stephen zu Hause in St Albans. Er wollte gerade nach London aufbrechen, um mit seinem Vater und seinen Schwestern erneut in die Oper zu gehen. Allerdings merkte ich ihm seine Freude über das Wiedersehen so deutlich an, dass ich einer spontanen Einladung gern Folge leistete – ich sollte ihn und seinen Vater eine Woche später in den Rosenkavalier begleiten. Bei den Hawkings schienen Opernbesuche eine fest verankerte Freizeitaktivität zu sein, während ich mich in diese hybride Kunstform noch hineinfinden musste. Obwohl sie durch die Kombination von Musik und Drama zweifellos eine gewaltige emotionale Kraft ausüben konnte, wirkte sie auf mich zuweilen auch lächerlich. Während des nächsten Semesters schien Stephen einen unerschöpflichen Vorrat an Opernkarten zu haben, sodass er mich oftmals in die Opernhäuser von Covent Garden oder Sadler’s Wells mitnahm. Eines Tages wagte ich anzudeuten, dass ich auch gern mal ins Ballett gehen würde (Ballett war meine Leidenschaft, seit ich ein Mädchen von vier Jahren war), aber dieser Vorschlag wurde mit kalter Verachtung vom Tisch gewischt. Ballett sei eine Zeitverschwendung, bekam ich zu hören, und die Musik dort sei trivial und keinesfalls anhörenswert.

Zu Seminaren oder Zahnbehandlungen kam Stephen weiterhin oft nach London, und ich reiste an den Wochenenden immer häufiger nach Cambridge, um ihn zu sehen. Diese Besuche verliefen oft enttäuschend für uns, obwohl wir sie sehnsüchtig erwartet hatten. Der Fahrpreis riss ein ziemliches Loch in mein elterliches Budget von monatlich zehn Pfund, und in Liebesdingen ging es auch nicht gerade flüssig voran. Man konnte sich leicht ausmalen, dass Stephen angesichts der düsteren Prognosen des Krankheitsverlaufs nicht mit einer langfristigen, stabilen Partnerschaft rechnete. Für ihn stand wahrscheinlich nur ein kurzes Liebesabenteuer in Aussicht, und ich in meiner Unschuld und dem puritanischen Klima der frühen Sechziger, wo die Angst vor ungewollter Schwangerschaft ein mächtiges Hemmnis war, wagte mir so etwas nicht vorzustellen. Diese gegensätzlichen Perspektiven führten zwischen uns zu solchen Spannungen, dass ich oft weinend nach London zurückfuhr und Stephen wahrscheinlich meinte, dass meine Gegenwart noch Salz in die Wunde seines Traumas rieb. Er verriet wenig von seinen Emotionen und wollte über seine Krankheit nicht sprechen. Ich versuchte seine Gefühle intuitiv zu verstehen, ohne ihn zu drängen, sie in Worte zu fassen. So schuf ich unwissentlich eine Tradition des Nichtkommunizierens zwischen uns, die auf Dauer unerträglich werden musste.

Später im Winter traf ich ihn erneut in der Harley Street, wo er gerade von einem Facharzttermin kam. »Wie ist es gelaufen?«, fragte ich.

Er zog eine Grimasse und antwortete: »Er hat gesagt, ich brauche mir nicht die Mühe zu machen, noch einmal zu kommen – er könne sowieso nichts für mich tun.«

Margaret Smithson, mit der ich im Studentenwohnheim das Zimmer teilte, kam mit mir zu den Treffen des Christlichen Studentenverbands. Ich erhoffte mir von ihnen ein paar hilfreiche Einsichten in meine Lage, die immer verwirrender wurde und in die ich mich immer tiefer verstrickte. Wie seine Eltern bekannte sich auch Stephen ohne Zögern als Atheist, obwohl er durch seine Großeltern aus Yorkshire einen stark methodistischen Familienhintergrund hatte. Es war verständlich, dass ein Kosmologe, der untersuchte, welche Gesetze das Universum lenkten, seine Berechnungen nicht mit dem Bekenntnis zu einem Schöpfergott durcheinanderbringen wollte, ganz davon zu schweigen, welche Verwirrung die Krankheit in ihm ausgelöst haben mochte. Ich selbst war ganz froh, der Eintönigkeit des sonntäglichen Kirchgangs entkommen zu sein, aber völlig aufgeben wollte ich meinen Glauben nicht. Noch immer war ich (möglicherweise unter dem Einfluss meiner Mutter) davon überzeugt, dass es zwischen Himmel und Erde mehr geben musste als das, was in Stephens kalter, unpersönlicher Philosophie steckte. Obwohl ich damals völlig in seinem Bannkreis stand und behext war von seinen hellen blaugrauen Augen und seinem breiten Lächeln, widerstand ich seinem Atheismus. Instinktiv war mir klar, dass ich solch einem negativen Einfluss nicht erliegen durfte, denn er bot dem Menschen keinen Trost und keine Hoffnung. Der Atheismus hätte uns beide zerstört.

Die Treffen des Christlichen Studentenverbands waren nicht gut besucht, und schon bald sollten sie noch zwei Teilnehmerinnen weniger haben. Das große Diskussionsthema war in diesem Semester die Natur der göttlichen Gnade, aber schnell wurde sichtbar, dass die Leiter der Gruppe, darunter auch der junge Studentenpfarrer, fest überzeugt waren, dass nur getaufte, beichtende und praktizierende Christen der göttlichen Gnade, der Erlösung oder wie immer sie es nannten teilhaftig werden konnten. Sie allein sollten die nötige Qualifikation für einen Platz im himmlischen Königreich haben. Margaret und ich waren so empört, dass wir den Raum verließen und in unserem Ärger lange Listen von all unseren Freunden und Bekannten aufstellten, die wir liebten und die gute Menschen waren, aber nicht alle erforderlichen religiösen Kriterien erfüllten.

Heutzutage verbringen Sprachstudenten oftmals ein ganzes Jahr im Ausland. In den Sechzigerjahren war es bereits Luxus, auch nur für ein Semester im Land der Zielsprache verweilen zu können. Wir Studenten vom Westfield College brachen Ende April per Zug und Schiff nach Valencia auf, um dort im Sommer extra für uns organisierte Universitätskurse zu absolvieren. Bei unserer Ankunft mussten wir feststellen, dass es diese Kurse überhaupt nicht gab und die Universität uns lediglich anbieten konnte, ein paar Veranstaltungen zu Shakespeare in spanischer Sprache zu besuchen. Unsere einzige Verpflichtung bestand darin, zu Semesterende die Zertifikate abzuholen. Wir gingen in ein einziges Seminar, bei dem Macbeth Gewalt angetan wurde, und beschlossen, dass wir genug davon gehört hatten. Künftig gingen wir lieber an den Strand.

Nur zwei Wochen später konnte ich die anderen nicht mehr an den Strand begleiten, sondern musste mit rasenden Kopfschmerzen in meinem Zimmer im siebten Stock bleiben. Zuerst dachte ich an einen Sonnenstich, aber dann wuchs sich das Ganze zu einer schweren Windpockeninfektion aus. Ich fühlte mich ohnehin schon elend. Stephen fehlte mir sehr. Telefonieren ins Ausland war damals noch undenkbar, und obwohl ich ihm viele Briefe schickte, schrieb er nicht zurück. Der einzige Trost waren meine Studienfreunde vom Westfield College, deren Besuche meinen Draht zur Außenwelt bildeten, und meine Zimmerwirtin, Doña Pilar de Ubeda, sowie ihre Tochter Maribel, die die Freundlichkeit selbst waren. Als ich allmählich wieder zu Kräften kam, spazierte ich in die Küche, wo Doña Pilar mir Unterricht darin gab, wie man spanische Spezialitäten kocht – etwas viel Nützlicheres, als Shakespeare auf Spanisch zu studieren. Sie brachte mir bei, wie man eine Orange ordentlich schält und Gazpacho oder Paella zubereitet.

Endlich kam der lang erwartete Augenblick: Als ich den ersten Teil meiner Heimreise antrat und in den Zug nach Barcelona stieg, war ich froh, Valencia hinter mir zu lassen. Trotz ihrer saftigen Orangen und des alles durchdringenden Dufts ihrer Zitrushaine hinterließ die Stadt bei mir einen widerlichen Nachgeschmack wegen der pausenlosen sexuellen Belästigung sowie Bitterkeit angesichts eines repressiven Systems, das sich nichts dabei dachte, Studenten von heute auf morgen ins Gefängnis zu werfen oder aus importierten Exemplaren der Times unschmeichelhafte Seiten zu entfernen.

Meine Eltern kamen mit Stephen vorbei, und die Wiedersehensfreude war groß, aber von kurzer Dauer. Bald fiel mir auf, dass er sich während meiner Abwesenheit verändert hatte: Sein körperlicher Zustand hatte sich nicht merklich verschlechtert, außer dass er jetzt regelmäßig am Stock ging, aber seine Persönlichkeit war von einer tiefen Depression verschattet. Sie manifestierte sich in einem harschen Zynismus, der noch dadurch begünstigt wurde, dass Stephen stundenlang bei voller Lautstärke Wagner-Opern hörte. Er war kurz angebunden und offensichtlich allein mit sich selbst beschäftigt. Zuweilen zeigte er seine Feindseligkeit und Frustration beinahe unverhüllt, als wolle er mich bewusst davon abschrecken, weiter mit ihm in Verbindung zu bleiben. Aber dafür war es zu spät. Ich war schon so tief in diese Beziehung verstrickt, dass es keinen leichten Notausgang mehr gab.

Es war schmerzlich, aber vielleicht auch segensreich, dass wir schon bald wieder getrennt wurden: Stephen sollte mit seiner Schwester Philippa nach Deutschland aufbrechen – auf eine Pilgerfahrt zu Wagners Heiligtum, dem Bayreuther Festspielhaus. Sie hatten Karten für den kompletten Ring des Nibelungen. Von dort wollten sie mit dem Zug hinter den Eisernen Vorhang reisen, und zwar nach Prag. Ich sollte meinen Vater währenddessen zu einer internationalen Regierungskonferenz nach Dijon begleiten.

Von Dijon fuhren wir zum Genfer Flughafen, um meine Mutter abzuholen, und dann verbrachten wir ein paar Tage an unserem bevorzugten Rückzugsort Hohfluh, einem kleinen Dorf im Berner Oberland, ehe wir nach Italien weiterreisten. Italien war bezaubernd, ein Fest für Geist und Sinne. Kunst, Geschichte, Musik, Licht und Farbe waren allerorten unsere Begleiter – Como, Florenz, San Gimignano, Pisa, Siena, Verona und Padua, eine schwindelerregende Zurschaustellung üppigen Überflusses. Eines Abends in Florenz lehnten meine Mutter und ich uns aus dem Hotelfenster und schauten über den Arno zum Palazzo Pitti hinüber, wo wir ein Konzert besuchen wollten. Da verriet sie mir in einem Augenblick der Mitteilsamkeit, weshalb sie zu Kriegsbeginn meinen Vater geheiratet hatte. Wenn er verwundet worden wäre, sagte sie, wollte sie selbst für ihn sorgen können. Diese Bemerkung war wie ein Omen, denn als wir wenige Tage später in unserem Hotel in Venedig eintrafen, reichte mir der Hoteldirektor eine an mich adressierte Ansichtskarte. Sie war von Stephen und zeigte die Salzburger Festung. Ich war überglücklich. Konnte es sein, dass Stephen genauso an mich gedacht hatte wie ich an ihn? Nun wagte ich zu hoffen, dass er sich auf unser Wiedersehen zum Sommerende freute. Die Karte enthielt ungewöhnlich viele Neuigkeiten. Stephen war in Salzburg in den letzten Tagen der Festspiele eingetroffen, und es war ein großer Kontrast zur Atmosphäre in Bayreuth. Die Tschechoslowakei war wunderbar gewesen und bemerkenswert billig – eine gute Reklame für den Kommunismus. Er erwähnte nicht, dass ihn ein schwerer Sturz in einem deutschen Zug die Vorderzähne gekostet hatte und viele Stunden sorgfältigster Dentaltechnik bei seinem Onkel in der Harley Street notwendig sein würden, um sie zu ersetzen. Im Licht meiner Fernromanze flimmerte Venedig mit seinen Kanälen und Palästen, seinen Kirchen, Galerien, Inseln und seiner Lagune noch herrlicher, und doch war ich nicht betrübt, die Stadt wieder zu verlassen, wartete ich doch ungeduldig darauf, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.