Die Nordsee-Krimis: Der Tote auf der Seebrücke & Die Schatten von Sylt
Zwei Fälle für Kommissarinnen Petersen & Hansen
Mirko Kukuk
Impressum © 2025 Mirko Kukuk
Texte: © Copyright by Mirko KukukUmschlaggestaltung: © Copyright by Mirko KukukMirko KukukKleinfeld 10221149
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[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Inhalt
Titelseite
Impressum
1. Der Tote auf der Seebrücke
Kapitel 1: Der Fund
Kapitel 2: Erste Spuren
Kapitel 3: Das Netz der Verdächtigen
Kapitel 4: Alte Geschichten und neue Gesichter
Kapitel 5: Sackgassen und neue Fährten
Kapitel 6: Der Sturm zieht auf
Kapitel 7: Persönliche Verwicklungen und ein blauer Mann
Kapitel 8: Das Puzzle fügt sich
Kapitel 9: Die Jagd auf offener See
Kapitel 10: Die Konfrontation und das Geständnis
Kapitel 11: Die Wahrheit ans Licht
Kapitel 12: Nachhall und neue Anfänge
Kapitel 13: Neue Wellen
Epilog
2. Die Schatten von Sylt
Kapitel 1: Sommerfrische und kalter Schock
Kapitel 2: Ein Albtraum im Paradies
Kapitel 3: Das leere Kinderzimmer und erste Spuren
Kapitel 4: Schatten der Vergangenheit
Kapitel 5: Die schweigende Insel
Kapitel 6: Brisante Wahrheiten und neue Verdächtige
Kapitel 7: Die Falle schnappt zu – oder nicht?
Kapitel 8: Der blinde Fleck
Kapitel 9: Verzweiflung und Verrat
Kapitel 10: Der doppelte Boden
Kapitel 11: Der Wettlauf gegen die Zeit
Epilog
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Über den Autor
1. Der Tote auf der Seebrücke
Prolog
Der Wind peitschte unaufhörlich über die Nordsee, trug das Salz auf die Lippen und formte die Dünen zu vergänglichen Skulpturen. Seit Jahrhunderten prägte er das Leben an der Küste, ebenso wie die Gezeiten, die unerbittlich kamen und gingen. Hier, wo der Horizont endlos schien und die Möwen ihre klagenden Rufe in den Himmel sandten, lebten die Menschen im Einklang mit den Elementen. Fischerfamilien, deren Geschichten so alt waren wie die See selbst, hatten gelernt, die Natur zu respektieren und ihr karges, aber ehrliches Dasein zu führen. Doch die Zeit war nicht stehen geblieben. Der Ruf des Fortschritts, verlockend und gnadenlos zugleich, erreichte auch diese abgelegenen Küstenstriche. Investoren sahen nicht die Schönheit der Wildnis, sondern das Potenzial für Profit. Sie versprachen Luxus, Arbeitsplätze und eine neue Ära, doch brachten sie auch Konflikte mit sich, die so tief gingen wie der Ozean selbst. Als ein Frühlingstag in Norddeich in eine regnerische, stürmische Nacht umschlug, ahnte niemand, dass die gewaltigen Wellen nicht nur die Seebrücke peitschen, sondern auch ein dunkles Geheimnis an Land spülen würden. Ein Geheimnis, das die alte Welt der Fischer mit der neuen Welt des Reichtums verband. Und es würde das Leben einer Hauptkommissarin für immer verändern.
Die Erfahrene und die Junge Wilde:
Hauptkommissarin Sabine Petersen: Anfang 50, seit über 25 Jahren bei der Kripo an der Nordseeküste. Sie hat schon alles gesehen und strahlt eine gewisse Gelassenheit und abgeklärte Erfahrung aus. Sie ist eine Meisterin des Verhörs, kann gut zwischen den Zeilen lesen und hat ein feines Gespür für Lügen. Sabine ist bodenständig, direkt und unerschütterlich. Ihre Vergangenheit könnte auch die eine oder andere persönliche Tragödie bereithalten, die sie geprägt hat.
Polizeikommissarin Lena Hansen: Mitte 20, frisch von der Polizeischule, ehrgeizig und voller Tatendrang. Sie ist technikaffin, hat ein schnelles Auffassungsvermögen und sprüht vor neuen Ideen. Manchmal ist sie noch etwas ungestüm und muss lernen, ihre Impulse zu kontrollieren. Lena ist engagiert, idealistisch und bringt frischen Wind in die Ermittlungen. Sie bewundert Sabines Erfahrung, traut sich aber auch, etablierte Vorgehensweisen zu hinterfragen.
Kapitel 1: Der Fund
Der Wind war ein unsichtbarer Schläger, der die Nordsee gegen die Küste peitschte und die wenigen mutigen Seevögel wie zerfetzte Fetzen Papier durch den grauen Himmel jagte. Er riss an allem, was nicht niet- und nagelfest war, zerrte an den gelben Friesennerzen der wenigen Menschen, die sich an diesem Morgen vor die Tür wagten, und pfiff durch jede Ritze des alten Polizeipräsidiums in Norddeich. In Sabine Petersens Büro tanzten die Blätter auf ihrem Schreibtisch einen wirren Tanz, doch die Hauptkommissarin schien es nicht zu bemerken. Sie saß kerzengerade, die Hände um eine dampfende Tasse Tee geklammert, und starrte auf den Bildschirm ihres Dienstlaptops, auf dem sich die Wetterprognose in einem Meer aus Gelb und Rot präsentierte.
„Sturmflutwarnung für heute Nacht“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Lena Hansen, die am Fenster stand und die tanzenden Möwen beobachtete. „So ein Mistwetter.“
Lena Hansen, frisch von der Polizeischule, warf einen Blick über die Schulter. Ihr jugendliches Gesicht, das von einer gesunden Bräune des Sommers zeugte, war noch nicht von den Sorgenfalten gezeichnet, die Sabine Petersens kantiges Gesicht prägten. „Sollen wir vorsichtshalber die Aktenordner höher stellen, Frau Petersen?“ Sie versuchte, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, aber ein Anflug von Nervosität war nicht zu überhören. Es war ihr erster Herbst an der Küste, und die raue Schönheit der Nordsee offenbarte ihr gerade ihre ungemütlichste Seite.
Sabine Petersen, Anfang Fünfzig und seit über 25 Jahren bei der Kripo an der Nordseeküste, schnaubte leise. „Die Aktenordner überleben mehr als wir, Lena. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir hatten schon ganz andere Stürme.“ Sie nahm einen tiefen Schluck Tee, die Wärme breitete sich in ihr aus. Sabine war eine Frau, die den Elementen trotzen konnte, eine, die wusste, dass die See gab und nahm, und die mit beidem ihren Frieden gemacht hatte. Ihre Augen, so blau wie das tiefste Meer an einem sonnigen Tag, waren heute wolkenverhangen, spiegelten die Trübheit des Himmels wider.
In diesem Moment kreischte Sabines Diensthandy auf dem Schreibtisch. Ein schriller, unangenehmer Ton, der in der Stille des Büros wie ein Alarm schallte. Sabine zögerte keinen Moment. Sie griff danach, drückte auf Lautsprecher und legte es vor sich hin.
„Petersen.“ Ihre Stimme war tief und fest.
„Sabine, wir haben hier was ganz Übles“, krächzte eine raue Männerstimme durch den Lautsprecher. Es war Polizeimeister Gerben Janssen, ein alter Hase der örtlichen Wache, dessen Stimme durch den Wind wie ein verzerrtes Radiosignal klang. „Seebrücke. Toter Mann. Sieht nicht gut aus.“
Sabine Petersens Miene wurde noch ernster. Ein Toter auf der Seebrücke. Das war neu. Die Seebrücke war das Wahrzeichen von Norddeich, der Stolz des Ortes, der Ankerpunkt für Touristen und Einheimische gleichermaßen. Ein Todesfall dort war immer eine Sensation, aber "sieht nicht gut aus" von Gerben bedeutete in der Regel, dass es kein einfacher Badeunfall war.
„Sind Sie schon vor Ort, Gerben?“, fragte Sabine, während ihre Hand nach ihrem Notizblock griff.
„Jep. Kaum zu übersehen. Liegt da wie ein Stück Treibholz, direkt am Ende des Stegs, wo die Bänke sind. Wurde wohl von einem Spaziergänger gefunden, der eigentlich nur den Sturm bestaunen wollte. Der ist jetzt kreidebleich und steht unter Schock.“
„Opfer identifiziert? Irgendwelche Umstände, die auf ein Verbrechen hindeuten?“, bohrte Sabine nach, während Lena bereits ihre Jacke schnappte und zu Sabines Blick hinüber die Tasche mit dem Erste-Hilfe-Kit prüfte, die für solche Einsätze immer bereitstand.
„Noch nicht. Aber das ist kein Unfall, Sabine. Da ist Blut. Und der Kopf… der sieht ziemlich ramponiert aus. Könnte aber auch vom Aufprall gegen die Pfeiler kommen, bei dem Seegang. Könnte. Aber ich sag dir, das ist was anderes. Hab das Gefühl im Bauch.“ Gerben Janssens Bauchgefühl war legendär. Es täuschte sich selten.
„Okay, Gerben. Wir sind auf dem Weg. Sichern Sie den Bereich weiträumig ab, lassen Sie niemanden ran. Und versuchen Sie, den Finder zu beruhigen, aber halten Sie ihn da. Wir brauchen seine Aussage.“ Sabine legte auf.
Sie schaute zu Lena, die sie bereits mit erwartungsvollem Blick ansah. „Ein Toter auf der Seebrücke, Lena. Kein schöner Anfang für den Tag.“
Lena nickte. Die Nervosität wich einer gespannten Konzentration. Das war es, wofür sie trainiert hatte. Das war das echte Leben, nicht die Theorie im Hörsaal. „Ich bin bereit, Frau Petersen.“
Sabine stand auf. Ihre Bewegungen waren ökonomisch, jeder Handgriff saß. Sie zog eine dunkelblaue, wetterfeste Jacke über, die Wind und Wasser abweisen konnte, und setzte sich eine unauffällige Wollmütze auf. Lena folgte ihrem Beispiel, ihre eigene, etwas modernere Jacke und ein Stirnband für die Ohren.
„Gut. Dann mal los. Ziehen Sie die Stiefel an, Lena. Das wird nass und rutschig.“
Auf dem Weg zum Einsatzwagen spürte Lena, wie der Wind sie fast von den Beinen riss. Salziges Wasser spritzte ihr ins Gesicht, und der Geruch von Meer, Seetang und Regen erfüllte die Luft. Das Auto, ein robuster Kombi, bot kaum Schutz vor den Böen, die es immer wieder durchschüttelten. Sabine saß am Steuer, ihre Hände fest am Lenkrad, die Augen auf die Straße gerichtet. Sie fuhr ruhig, routiniert, selbst bei diesem Wetter.
„Die Seebrücke ist bei dem Wetter immer ein neuralgischer Punkt“, sagte Sabine, während sie versuchte, die Scheibenwischer gegen die Flut von Regen anzukämpfen. „Gerade im Herbst. Da kommen oft die Einsamen, die Melancholischen. Oder die Touristen, die sich beweisen wollen, dass sie dem Sturm trotzen können.“
„Was für eine Art Mensch würde sich bei diesem Wetter überhaupt auf die Seebrücke wagen, Frau Petersen?“, fragte Lena, die versuchte, über das Heulen des Windes hinweg zu sprechen.
Sabine zuckte die Achseln. „Manche lieben die Naturgewalt. Manche suchen Trost. Und manche… manche suchen vielleicht auch nur ein Opfer.“ Ihre Stimme war bei den letzten Worten eine Spur härter geworden.
Als sie die Strandpromenade erreichten, sahen sie schon die blinkenden Blaulichter in der Ferne. Mehrere Polizeiwagen waren bereits vor Ort, und ein kleiner Menschenauflauf hatte sich trotz des miserablen Wetters gebildet, angezogen von der morbidem Neugierde. Absperrbänder flatterten im Wind, und Uniformierte versuchten, die Schaulustigen auf Abstand zu halten.
Gerben Janssen kam ihnen entgegen, sein Gesicht unter der Mütze vom Regen glänzend. „Sabine, Lena. Gut, dass ihr da seid. Der Arme liegt da wie ein Häufchen Elend.“ Er zeigte auf das Ende der Seebrücke, die sich wie ein dunkler Finger in die aufgewühlte See streckte.
„Wer hat ihn gefunden?“, fragte Sabine, während sie bereits über die Absperrung stieg und Kurs auf die Seebrücke nahm, Lena dicht hinter sich.
„Ein Herr Jansen, Walter Jansen. Rentner, wohnt hier um die Ecke. Geht jeden Morgen die Promenade lang, egal, wie das Wetter ist. Der ist fix und fertig. Hat noch nicht mal seinen Namen richtig sagen können.“
„Wo ist er?“, fragte Lena.
„In unserem Streifenwagen. Hab ihm eine Wärmedecke gegeben. Er zittert am ganzen Körper. Nicht nur vor Kälte.“
Sabine nickte anerkennend. „Gut gemacht, Gerben.“ Sie gingen schweigend über die knarrenden Holzplanken der Seebrücke. Der Wind heulte jetzt direkt über ihnen, und die Gischt der Wellen, die gegen die Pfeiler schlugen, spritzte bis auf den Steg. Der Geruch von Salz und Verwesung mischte sich mit dem frischen Regen. Es war ein Geruch, den Sabine gut kannte. Der Geruch des Todes an der Küste.
Dann sahen sie ihn. Am äußersten Ende der Seebrücke, direkt vor der kleinen Sitzgruppe, die im Sommer so beliebt war, lag ein Mann. Er lag auf dem Bauch, der Kopf seltsam verdreht, und die Wellen leckten gierig an seinen Füßen, die nur wenige Zentimeter vom Rand entfernt waren. Eine dunkle Lache breitete sich unter seinem Kopf aus, und auch auf seinem Rücken waren rote Flecken zu sehen, die der Regen vergeblich zu verdünnen suchte.
Lena Hansen stockte der Atem. Sie hatte Leichen in der Theorie gesehen, Fotos von Tatorten studiert. Aber das hier war anders. Das war real. Der Anblick war brutal und ungeschminkt. Der Mann trug einen teuren Anzug, der jetzt durchnässt und zerzaust war, und seine Schuhe waren feine Lederschuhe, die nicht für einen Spaziergang im Sturm gemacht waren.
„Also doch kein Fischer“, murmelte Sabine, ihre Stimme eine Spur leiser geworden, aber immer noch fest. Sie ging in die Hocke, ohne den Toten zu berühren, ihre Augen musterten jede Einzelheit. Ihr Blick war scharf, erfahren, erfasste die Details, die Lenas geschocktem Blick entgingen.
„Ein reicher Mann im falschen Outfit zur falschen Zeit am falschen Ort“, stellte Lena leise fest.
Sabine blickte auf. Ihre Augen trafen die Lenas. „Oder im richtigen Outfit am richtigen Ort, für jemanden, der ihn hier haben wollte.“ Sie bückte sich weiter, um einen besseren Blick auf das Gesicht des Toten zu bekommen, soweit es die Position zuließ. „Gerben hatte Recht. Das ist kein Unfall.“
Der Kopf des Mannes war tatsächlich schwer verletzt, die Knochen unter der Haut schienen zerschmettert. Auch am Oberkörper waren Verletzungen zu erkennen, die nicht von einem Sturz ins Wasser stammen konnten.
„Sieht aus wie stumpfe Gewalteinwirkung“, sagte Lena, die sich jetzt auch vorsichtig näherte und ihre professionelle Distanz wiederfand. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Und die Menge an Blut… das muss passiert sein, bevor er ins Wasser fiel, oder zumindest bevor die Wellen ihn hierher gespült haben.“
„Genau das. Er wurde hier oben getötet. Oder zumindest schwer verletzt und dann ins Wasser geworfen. Die Brandung hat ihn dann hier angeschwemmt oder er wurde direkt hier platziert“, stimmte Sabine zu. Sie legte eine Hand auf den windgepeitschten Holzpfosten der Seebrücke, als ob sie von dem Ort selbst eine Antwort erhalten wollte.
„Wissen wir schon, wer er ist?“, fragte Lena.
Sabine richtete sich auf, zog ein Handy aus ihrer Innentasche und machte erste Fotos vom Fundort, obwohl das Wetter die Qualität beeinträchtigen würde. „Noch nicht, aber der Anzug und die Schuhe deuten auf jemanden hin, der es sich leisten kann. Jemand Wichtiges in der Gemeinde.“
Sie blickte über die aufgewühlte See, dann zurück auf den Toten. Der Wind heulte seine traurige Melodie, und die Möwen kreischten. Es war ein Bild, das Sabine Petersen schon oft gesehen hatte, doch es hörte nie auf, sie zu berühren. Der Tod war an die Seebrücke gekommen, und er hatte ein Geheimnis mitgebracht, das gelüftet werden musste. Und sie, Hauptkommissarin Sabine Petersen, würde nicht ruhen, bis sie es gefunden hatte. Lena Hansen, ihre junge, ehrgeizige Kollegin, würde ihr dabei helfen. Und Sabine wusste, dass Lena bereit war.
Kapitel 2: Erste Spuren
Der Geruch des Todes hing schwer in der feuchten Nordseeluft, mischte sich mit dem salzigen Wind und dem bitteren Gestank von nassem Holz und aufgewühltem Seetang. Lena Hansen zwang sich, tief durch die Nase zu atmen, um den Eigengeruch des Opfers zu überdecken, der sich wie ein schlechter Traum festsetzte. Sabine Petersen schien davon unbeeindruckt, ihre Augen huschten über die Szenerie, suchten, maßen, registrierten jedes noch so kleine Detail. Gerben Janssen und ein weiterer uniformierter Kollege hatten eine breite Absperrung errichtet, die nicht nur den unmittelbaren Tatort am Ende der Seebrücke umfasste, sondern auch den gesamten Weg dorthin. Neugierige Gesichter, die sich an der Absperrung drängten, wurden resolut abgewiesen.
„Der Kriminaltechnische Dienst ist unterwegs“, meldete Gerben, als Sabine sich wieder aufrichtete. „Sollen in zwanzig Minuten hier sein, wenn der Verkehr mitspielt.“
Sabine nickte. „Gut. Gerben, wir müssen den Finder abschirmen. Herr Jansen, sagten Sie? Holen Sie ihn aus dem Streifenwagen, bringen Sie ihn in das Café am Hafen – das ‚Kleine Möwencafé‘. Ich schätze, Frau Möller ist schon da und kann ihm einen starken Kaffee oder Tee machen. Setzen Sie sich mit ihm dorthin, bleiben Sie bei ihm. Keiner darf ihn ansprechen, bis wir seine Aussage aufgenommen haben. Ich will, dass er sich beruhigt und alles klar erzählen kann.“
„Wird gemacht, Sabine“, Gerben nickte entschlossen und machte sich auf den Weg.
Sabine drehte sich zu Lena um, die mit konzentriertem Blick um die Leiche herumging, ohne sie zu berühren. „Lena, beschreiben Sie alles, was Sie sehen. Jedes Detail. Wo liegt er, wie liegt er, Zustand der Kleidung, offensichtliche Verletzungen, alles, was vom Normalen abweicht.“
Lena zückte ihr Notizbuch und ihren wasserfesten Stift. „Opfer liegt auf dem Bauch, Kopf verdreht nach links. Offene Wunde am Hinterkopf, massiver Blutaustritt. Blutspuren auch auf dem Rücken und der rechten Schulter des Anzugs. Der Anzug ist ein hochpreisiges Modell, würde sagen, Schurwolle, aber komplett durchnässt und zerzaust. Schuhe sind braune Lederschnürschuhe, ebenfalls durchnässt, abgenutzt an den Spitzen, was aber auch von den Wellen kommen könnte. Keine sichtbaren Anzeichen von Kampfspuren auf den Planken, keine Scherben oder andere Gegenstände direkt neben dem Opfer. Der Wind bläst stark aus nordwestlicher Richtung, Gischt erreicht diese Stelle.“ Sie bückte sich vorsichtig und zeigte auf die vom Wind zerzausten Haare des Opfers. „Die Haare sind mit feinem Sand und Muschelresten verklebt. Könnte bedeuten, dass er tatsächlich eine Zeit im Wasser war, bevor er hierher gespült wurde.“
„Oder jemand hat ihn hierher gezogen“, ergänzte Sabine trocken. „Was sagt Ihr Bauchgefühl, Lena? War das hier ein Sturz oder ein Wurf?“
Lena überlegte kurz, ihr Blick wanderte von der Leiche zur aufgewühlten See und wieder zurück. „Der Kopf ist sehr stark lädiert. Wenn er aus dem Wasser kam, könnte das auch durch Anschlagen an die Pfeiler geschehen sein. Aber die Blutmenge hier auf dem Holz… Das spricht dafür, dass er hier oben getötet wurde, oder zumindest seine entscheidende Verletzung hier erlitt. Die Position ist unnatürlich, als ob er hingelegt oder abgelegt wurde. Nicht wie jemand, der einfach hingefallen ist.“
Sabine nickte zustimmend. „Mein Gedanke. Und der Anzug. Wer läuft bei diesem Wetter in so einem Anzug auf der Seebrücke herum? Niemand, der sich einfach den Sturm ansehen will.“
Die beiden Frauen gingen die Seebrücke langsam ab, ihre Augen auf den Boden gerichtet. Der Holzsteg war nass und rutschig, aber sauber gefegt von Wind und Wellen.
„Keine offensichtlichen Spuren, Frau Petersen. Keine Fußabdrücke, die auffällig wären. Der Regen und der Wind haben hier gründliche Arbeit geleistet“, stellte Lena fest.
„Und das ist unser Problem“, erwiderte Sabine. „Ein Verbrechen im Sturm ist wie ein Verbrechen in der Badewanne. Die Spuren werden weggewaschen.“ Sie zückte ihr Funkgerät. „Zentrale, Petersen. Können Sie bitte eine Schleppnetzfischerei kontaktieren, die bereit wäre, den Bereich um die Seebrücke und die angrenzende Küstenlinie abzusuchen? Wir brauchen alles, was uns das Meer gegeben hat, und alles, was es vielleicht noch festhält. Auch Taucher, sobald es der Seegang zulässt.“
Die Antwort aus der Zentrale war kurz und bündig. „Wird veranlasst, Frau Petersen.“
Wenige Minuten später trafen die Kriminaltechniker ein, drei Männer in weißen Overalls, die trotz des Regens und Windes ihre Ausrüstung schützten. Einer von ihnen, der leitende Forensiker Dr. Meier, ein Mann mit einer Vorliebe für akkurate Scheitel und sterile Handschuhe, begrüßte Sabine mit einem knappen Nicken.
„Guten Morgen, Kommissarin Petersen. Sieht nach einem ungemütlichen Start in den Tag aus.“
„Das können Sie laut sagen, Herr Meier. Was haben wir?“, Sabine führte ihn zur Leiche.
Dr. Meier kniete sich vorsichtig nieder, seine Blicke glitten über das Opfer. „Wie Sie sehen, sind die äußeren Verletzungen am Kopf massiv. Stumpfe Gewalteinwirkung, da stimme ich Ihnen zu. Und die Blutlache deutet auf ein Ereignis hier vor Ort hin. Keine sichtbaren Kampfspuren auf dem Holz, das ist natürlich unglücklich bei diesem Wetter. Aber wir werden den Bereich akribisch absuchen. Ich brauche unbedingt die Obduktion, um die genaue Todesursache und den Todeszeitpunkt festzustellen. Und ob der Mann überhaupt im Wasser war, als er die Verletzungen erlitt.“
Während die Techniker ihre Arbeit begannen, den Bereich mit einem Messrad abmaßen und erste Fotos unter Speziallampen machten, zog Sabine Lena beiseite. „Lena, gehen Sie zum Streifenwagen, rufen Sie die Zentrale an. Wir brauchen einen Krankenwagen zur Leichenbergung und den Bestatter. Außerdem sollen sie sofort die Vermisstenmeldungen der letzten 24 Stunden prüfen. Vor allem nach hochrangigen Personen oder Geschäftsleuten aus der Region.“
Lena nickte und eilte davon. Sabine drehte sich um und sah, wie die ersten Schaulustigen versuchten, mit ihren Handys Fotos zu machen, bevor sie von den Uniformierten zurückgedrängt wurden. So etwas verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der kleinen Stadt. Bald würde jeder wissen, dass etwas Schlimmes auf der Seebrücke passiert war.
Nachdem Lena zurückgekehrt war, sagte sie: „Bislang keine Vermisstenmeldungen, die auf unser Opfer passen würden, Frau Petersen. Zumindest keine, die sofort ins Auge springen.“
„Das Opfer trägt ja keine Geldbörse bei sich, nehme ich an?“, fragte Sabine, die wusste, dass die erste Durchsuchung durch die Uniformierten das ergeben hätte.
„Nein, Frau Petersen. Keinerlei Papiere, Geld oder Handy“, bestätigte Lena. „Kein Portemonnaie, keine Uhr. Könnte auf Raubmord hindeuten, oder auf den Versuch, die Identifizierung zu erschweren.“
„Wahrscheinlich Letzteres“, murmelte Sabine. „Ein Mörder, der so geplant vorgeht, ist selten auch ein einfacher Räuber. Außerdem, wer trägt einen solchen Anzug für einen Raub? Das ist kein typischer Überfall.“
Dr. Meier richtete sich auf. „Kommissarin, ich glaube, wir haben eine Identifizierung. Nicht am Körper, aber hier.“ Er zeigte auf einen Bereich der Seebrückenplanken, nur wenige Meter vom Opfer entfernt. „Es ist kaum zu sehen, da das Holz so nass ist, aber hier ist ein Siegel. Sehr klein, in das Holz eingedrückt, wohl ein Firmenlogo. Und daneben…“ Er zeigte auf einen winzigen, glitzernden Punkt. „…ein kleiner Diamantsplitter. Aus einem Ring oder einer Brosche. Könnte sich gelöst haben.“
Sabine kniete sich vorsichtig hin. Das Siegel war kaum zu erkennen, aber sie zog ein kleines Fernglas aus ihrer Tasche und konzentrierte sich. Ein stilisiertes „H“ mit einer Welle darunter. Das kam ihr bekannt vor. „Das ist das Logo der ‚Hansen & Söhne Immobilien AG‘, die haben hier vor Kurzem das alte Hafenbecken umgebaut und neue Ferienwohnungen hingestellt. Und dieser Diamant… das ist die Farbe und Größe, die Hanna Hansen, die Chefin, immer an ihrem Verlobungsring trägt.“
Lena staunte. „Hanna Hansen? Die große Immobilienlady? Aber das ist doch ein Mann…“
Sabine nickte langsam. „Ja. Hanna Hansen ist die Tochter des Firmengründers. Aber der, der die Fäden zieht, der die Geschäfte macht, ist ihr Bruder. Der Vorstandsvorsitzende. Frederik Hansen.“ Sie blickte auf die Leiche. „Das könnte Frederik Hansen sein. Und wenn er es ist… dann haben wir ein ganzes Nest voller Wespennester angerührt.“
Frederik Hansen. Der Name klang in Sabines Ohren wie ein Echo der Gezeiten. Hansen & Söhne war in den letzten Jahren rasant expandiert, hatte alte Fischereihäuser aufgekauft, umgewandelt und zu horrenden Preisen als Luxus-Ferienwohnungen verkauft. Das hatte viele Einheimische verärgert, die sich verdrängt fühlten. Frederik Hansen war bekannt für seine rücksichtslose Geschäftstaktik, seine Arroganz und seine Fähigkeit, Menschen für seine Zwecke zu manipulieren. Er hatte viele Feinde gemacht, nicht nur im kleinen Norddeich.
„Das würde auch den teuren Anzug erklären“, stellte Lena fest, als sich die Schockwelle der möglichen Identifizierung langsam legte und ihr analytischer Verstand wieder die Oberhand gewann. „Ein Geschäftsmann, der hier etwas wichtiges vorhatte, vielleicht ein geheimes Treffen, bei dem schlechte Nachrichten überbracht wurden.“
„Oder ein Treffen mit jemandem, der ihn zutiefst hasste“, ergänzte Sabine. „Das H auf dem Holz muss von etwas stammen, was er bei sich trug. Vielleicht ein Schlüsselanhänger mit dem Firmenlogo. Und der Diamantsplitter… könnte von einem Schmuckstück, das er besaß, oder von jemandem, mit dem er hier war.“
Dr. Meier nickte. „Alles wird gesichert. Das Siegel auf dem Holz, der Diamantsplitter. Das schicken wir sofort ins Labor. Das Holzstück selbst werden wir so präparieren, dass wir es mitnehmen können.“
Gerade als sie diese Worte beendeten, kam ein Krankenwagen und ein Bestattungswagen angefahren. Die Sanitäter und der Bestatter machten sich bereit, ihre Arbeit zu tun.
Sabine blickte noch einmal auf das vom Regen glänzende Gesicht des Toten, das sich kaum noch erkennen ließ. Frederik Hansen. Oder jemand, der ihm verdammt ähnlich sah. Einflussreich, umstritten, und jetzt tot auf der Seebrücke.