Die Schwarzen Perlen - Folge 14 - O. S. Winterfield - E-Book

Die Schwarzen Perlen - Folge 14 E-Book

O. S. Winterfield

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Beschreibung

In den Dolomiten hat Stella erfahren, dass Pater Giovanni schon vor langer Zeit in die Abruzzen zurückgekehrt ist. Dort soll er nun in einer Klause in der Nähe des Nonnenklosters auf dem Monte Santurio leben. Der Pater ist Stellas einzige Spur zu ihrer Mutter. Und so setzt sie ihre Reise fort. Doch als Stella den Monte Santurio besteigt, verirrt sie sich und gerät in die Fänge eines Wahnsinnigen, der in der Einsamkeit der Berge haust ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Zuflucht im Kloster

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock / Maryna Stenko

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-0984-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Zuflucht im Kloster

Von O. S. Winterfield

In den Dolomiten hat Stella erfahren, dass Pater Giovanni schon vor langer Zeit in die Abruzzen zurückgekehrt ist. Dort soll er nun in einer Klause in der Nähe des Nonnenklosters auf dem Monte Santurio leben.

Der Pater ist Stellas einzige Spur zu ihrer Mutter. Und so setzt sie ihre Reise fort. Doch als Stella den Monte Santurio besteigt, verirrt sie sich und gerät in die Fänge eines Wahnsinnigen, der in der Einsamkeit der Berge haust …

Stella saß neben dem Fahrer, der sein Taxi elegant durch die engen Kurven den steilen Berg hinauflenkte. Felspartien wechselten sich ab mit üppigen Pinienhainen.

Der Mann lachte Stella fröhlich an. »Haben Sie Angst, Signorina?«

»Ein wenig schon«, gab sie zu.

»Ich bin es gewohnt. Die Abruzzen sind meine Heimat«, gab er gleichmütig zurück.

Ab und zu wagte Stella einen Blick in die Tiefe. Eine weite grüne Ebene tat sich dort vor ihr auf. Auf der anderen Seite der Bergstraße ragten kalkweiße Felsen in bizarren Formen in die Höhe.

»Warum wollen Sie in dieses Kloster, Signorina?«, fragte der Fahrer und bog mit quietschenden Rädern in eine Steilkurve.

»Ich suche meine Mutter, Signore.«

»Im Kloster? Da werden Sie wenig Glück haben. Es ist ein sehr strenger Orden. Fremde sind ungern gesehen.«

»Ich suche einen Pater Giovanni, der als Eremit in der Nähe des Klosters wohnen soll.«

»Nie von ihm gehört!« Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und lenkte den Wagen mit nur einer Hand.

Stella hätte am liebsten vor Angst in das Steuerrad gegriffen. Sie war allein mit dem Mann hier oben in dieser bedrückenden Einöde. Wenn etwas passierte, war niemand da, der ihnen helfen konnte.

»Wer hat Ihnen gesagt, dass dieser Pater Giovanni hier oben hausen soll?«

»Ein Mönch, der in einer Klause in den Dolomiten wohnt. Pater Giovanni soll damals hierher gezogen sein, weil er Sehnsucht nach seiner Heimat hatte. Vermutlich war er in Begleitung einer Dame.«

Der junge Mann mit dem tiefschwarzen Haar lachte darüber. »Das ist mir eine erfreuliche Begleitung für einen Klausner!«

»Bei der Dame handelte es sich um meine Mutter«, antwortete Stella.

»Entschuldigung«, sagte der Fahrer. »Das habe ich natürlich nicht gewusst.«

Dann schwiegen sie, bis sie das Ende der Straße erreicht hatten. Der Fahrer stieg aus, umrundete den Kühler und half Stella beim Aussteigen. »Leider kann ich Sie nicht zum Kloster hinaufbegleiten. Ich habe heute noch eine Fahrt. Alles Gute!«

Er zögerte und beschrieb ihr dann noch einmal den Weg. »Sie müssen mit gut zwei Stunden Marsch rechnen. Wenn Sie sich unterwegs nicht aufhalten, kommen Sie vor Einbruch der Dunkelheit im Kloster an, Signorina.«

Stella bedankte sich und schulterte den Rucksack.

Sie begann mit dem mühseligen Aufstieg. Ab und zu blieb sie stehen und holte tief Luft. Der vorher wolkenlose Himmel hatte sich zugezogen. Ein scharfer Wind wehte. Je höher sie stieg, desto mehr ließ er nach. Allerdings zog stattdessen Nebel auf. Er umhüllte die Kuppen der Berge und legte sich über die Täler.

Es wurde feucht. Stella fröstelte und zog den Mantel enger um die Schultern. Der Rucksack begann sie zu drücken. Sie sah den Weg nicht mehr, den der Chauffeur ihr beschrieben hatte, sondern tappte auf Verdacht in das Grau hinein. Sie hatte das Gefühl, in ein Nichts zu wandern.

Allmählich ergriff sie Angst. Um sich abzulenken, dachte sie an Ferrymoore Castle, an Lady Laura Haggart, die ihr das Erbe streitig machte, seit Stellas Vater, Sir Henry, bei der Jagd auf seltsame Weise ums Leben gekommenen war.

Stella blieb stehen. Plötzlich hörte sie tappende, schleichende Schritte. Dann Atem, rasselnden Atem. Ein Wolf? Sie hatte gehört, dass es in den Abruzzen noch Wölfe geben sollte.

Sie schob den grauenvollen Gedanken von sich. Weiter. Sie musste das Kloster erreichen. Die Schritte verfolgten sie. Aber Stella nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging weiter.

Nach einer Weile sah sie schattenhaft eine Mauer vor sich aufragen, und sie wäre beinahe dagegen gelaufen. Erleichtert strich sie daran entlang, fühlte Holz, und erkannte, dass es eine Tür sein musste. Hier wohnten bestimmt Menschen.

Sie rief. Die Schritte hinter ihr wurden lauter. Eine Hand packte ihren Arm. Ein Mensch sprach zu ihr, und sie hätte vor Erleichterung am liebsten geweint. Aber sie nahm sich zusammen.

»Wo bin ich? Wer sind Sie?«

»Kommen Sie erst mit in mein Haus. Dort können Sie sich aufwärmen. Wo wollen Sie hin?«

»Zum Kloster!«

Der Mann nahm ihre Hand und zog Stella mit sich. Er schien sich trotz des dichten Nebels auszukennen.

Stella sehnte sich nach schützenden Mauern, einem wärmenden Feuer. Als sie in das Haus trat, roch sie brennendes Holz. Sie fühlte wohlige Wärme. Der Mann schob Stella in einen Raum. Als eine Petroleumlampe angezündet wurde, bemerkte sie, dass das Zimmer nur spärlich möbliert war.

Die Flammen des Kaminfeuers warfen geisterhafte Schatten an die grauen Wände. Vor dem Kamin stand ein Sessel mit einem grauen Leinenbezug. Grau waren auch die Vorhänge an den Fenstern. So grau wie der Nebel draußen. Stella begann wieder zu frösteln.

Sie sah den Fremden ängstlich an, dessen Alter schwer zu schätzen war. Zwischen vierzig und fünfzig vermutlich. Und auch er war grau wie Zement: der Bart, die Augen, die Gesichtsfarbe, die Hose, der Kittel. Sein graues Haar stand wirr über seiner Stirn.

Ob er Pater Giovanni ist?, ging es Stella durch den Kopf. Sie bekämpfte die Angst in sich, erschrak aber vor ihrer eigenen Stimme, als sie die Frage stellte.

Der Mann gab ihr keine Antwort. Er starrte sie nur stumm an mit seinen Augen, die grauen Glaskugeln glichen. Dann ging er zwei Schritte auf sie zu und blieb schließlich stehen. Stella sah, wie seine Schläfenadern zuckten. Es war das einzige Anzeichen seiner Erregung.

Und dann blickte Stella auf seine Hände und sah, dass er sie zu Fäusten geballt hatte. Sie wich vor ihm zurück, an die graue Wand. Panik ergriff sie.

Endlich tat er den Mund auf. »Sie müssen vor mir keine Angst haben.«

Stella schluckte ein paar Mal und wiederholte dann ihre Frage: »Sind Sie Pater Giovanni?«

»Nein!«

»Wer sind Sie?«, wagte sie zu fragen. »Wohnen Sie an diesem Ort? Vielleicht könnte ich irgendwo ein Zimmer für die Nacht bekommen.«

»Hier wohnt niemand außer mir. Die Stadt ist verlassen. Nur ich bin hier.«

Der Mann war offenbar geisteskrank, ein Irrer. Und sie war allein mit ihm hier oben in dieser schrecklichen Einöde.

Stella sah sich nach einem Fluchtweg um.

Er folgte ihrem Blick zum Fenster. Ruhig ging er hin, schlug den Vorhang zurück und deutete auf die Läden. »Sie sind verriegelt. Sie können das Haus nicht verlassen.«

Stella sah zur Tür. Der Mann schloss sie ab und steckte den Schlüssel in seinen Kittel.

»Warum wollen Sie mich nicht gehen lassen? Ich bin doch nur eine Last für Sie. Im Kloster leben Nonnen, sie werden für mich sorgen, sie werden …« Stella verstummte vor seinem fürchterlichen Blick.

Er trat vor sie hin, packte sie am Arm, und zog ihr den Rucksack von den Schultern. Dann schob er Stella in einen angrenzenden kleinen Raum.

Der Mann hatte die Petroleumlampe mitgenommen und leuchtete den Raum aus. Es gab kein Fenster. Nur ein Bett, einen Stuhl und eine an der Wand befestigte Stange. Es war eine spartanische Zelle.

Der Fremde hob den Rucksack auf den Tisch. »Haben Sie etwas zu essen da drin?«

»Ja! Salami und Brot.«

»Essen Sie! Morgen bringe ich Ihnen noch etwas. Sie können ein Glas Ziegenmilch haben.«

Er stellte die Petroleumlampe neben den Rucksack. Dann ging er hinaus und schloss hinter sich ab.

Stella wusste, dass sie die Gefangene eines Wahnsinnigen war.

***

Luigi Cometta saß in einer Trattoria, vor sich einen Teller mit einem Stück Ziegenkäse. Er bestreute ihn mit Pfeffer, goss Öl darüber und aß genüsslich.

»Salute!«, prostete ihm sein Freund zu, ebenfalls Taxifahrer wie er. »Hast du heute ordentlich etwas eingenommen?«

»Es geht so, Alberto. Ich hatte eine junge Signorina zu fahren, die zum Nonnenkloster auf dem Monte Santurio wollte.«

»War sie hübsch?«

»Sehr hübsch! Sie hat rotblondes Haar, ein Gesicht wie eine Madonna, Augen wie schwarze Oliven, eine Figur, so …« Und er küsste genießerisch die Fingerspitzen seiner rechten Hand.

»Warum hast du sie nicht davon überzeugt, dass es in der Welt vergnüglicher ist als in einem Kloster?«

Luigi seufzte, ehe er seine Mahlzeit fortsetzte. Alberto wartete geduldig.

»Sie gehörte nicht zu der Sorte Mädchen, denen man so etwas handgreiflich beibringen kann, Alberto. Sie sagte mir, sie suche dort ihre Mutter. Wer darf eine Tochter davon abhalten, ihre Mama zu suchen?«

»Niemand!«, stimmte ihm Alberto bei. »Ist ihre Mutter eine Nonne?«

»Ich habe mich nicht getraut, zu fragen. Und von sich aus hat sie es mir nicht gesagt. Ich hoffe nur, sie hat den Weg gefunden, Alberto. Kurz darauf kam der Nebel auf. Wir wissen ja, wie es dann da oben auf dem Monte Santurio aussieht.«

»Schlimm! Nicht die Hand vor den Augen ist zu sehen.«

»Hoffentlich ist sie nicht in die verlassene Stadt geraten. Ihr würde grausen vor den Ratten, die sich dort in den verbrannten Häusern eingenistet haben.«

***

Stella graute nicht vor den Ratten, sondern vor dem Wahnsinnigen. Sie saß auf dem Bett, die Hände verkrampft, in starrer Haltung. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, weil sie fürchtete, der Graue könnte hereinkommen. Aufgrund seines Aussehens hatte sie ihm diesen Namen gegeben.

Endlich schlich sie lautlos zum Tisch. Sie öffnete den Rucksack und entnahm ihm eine Strickjacke. Sie fror erbärmlich.

Dann saß sie wieder auf dem breiten Bett, ratlos und verzweifelt. Nach geraumer Zeit nestelte sie an ihrer Bluse und entnahm dem Büstenhalter ein winziges Tüchlein. Der Faden riss, als sie es löste. Sie hatte es dort eingenäht. Es enthielt eine schwarze Perle ihrer Mutter. Eine der Perlen, die sie bis jetzt gefunden hatte. Die andere bewahrte sie in der alten Geldbörse im Rucksack auf.

Nachdenklich betrachtete Stella die Perle in ihrer Hand. Wann würde sie endlich ihre Mutter finden? Warum war der Weg zu ihr so qualvoll?

Stella zuckte zusammen, als sich die Tür öffnete. Der Graue kam herein. Er trug ein Glas in der Hand, gefüllt mit noch schäumender Milch.

»Ich musste meine Ziege erst melken. Haben Sie schon gegessen?«

»Nein!«

»Ich werde Ihnen einen Teller und Besteck bringen.«

Er verschwand und schloss hinter sich ab. Wenige Zeit später kam er mit einem Porzellanteller und Besteck zurück.

Er ist kein Irrsinniger, dachte Stella verwirrt. Er spricht normal, wenn es um alltägliche Dinge geht. Ich bin zu ängstlich. Morgen wird er mich meines Weges gehen lassen.

Sie holte die Salami und das Brot aus dem Rucksack und schnitt sich Scheiben davon auf den Teller. Und sie fühlte seine Blicke in ihrem Rücken. Als sie sich umwandte, starrte er sie wieder so seltsam mit seinen grauen Augen an. Eine Gänsehaut jagte ihr über den Rücken.

»Wenn Sie etwas wünschen, klopfen Sie an die Tür. Ich bin immer daheim. Schlafen Sie gut!«

Der Graue ging und nahm die Petroleumlampe mit. Nun saß Stella in völliger Dunkelheit. Sie schob eine Scheibe Wurst nach der anderen in den Mund, biss von dem Brot ab, trank von der Milch.

Als sie fertig war, tastete sie sich zu dem Stuhl. Sie zog ihn an das Lager heran und stellte das Geschirr darauf. Dann legte sie sich angezogen zurück und schloss die Augen.

***

Stella erwachte in tiefer Dunkelheit. Ihre Uhr war stehen geblieben. Die Leuchtziffern zeigten Mitternacht an, aber sie fühlte, dass draußen heller Tag sein musste.

Dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte, wurde ihr wenige Minuten später bestätigt. Sie hatte an die Türe gehämmert, und diese war sofort aufgeschlossen worden.

Nun stand der Graue vor Stella. Und wieder starrte er sie an, wieder zuckten seine Schläfenadern, wieder hatte er seine Hände zu Fäusten geballt. Als er Stellas Blick bemerkte, versteckte er sie hinter dem Rücken.

»Sie sind bereits angekleidet?«

»Ich habe mich nicht ausgezogen. Kann ich jetzt zum Kloster gehen?« Sie blinzelte, denn die Helligkeit, die in das Zimmer flutete, blendete ihre Augen.

»Sie können sich erfrischen. Folgen Sie mir bitte!« Er führte sie in ein Badezimmer.

Die vorher gewiss weiße Wanne war grau angestrichen, ebenso das Waschbecken, der Boden, die Wände und die Decke.

»Ich bringe Ihnen warmes Wasser. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!«

Er schloss sie ein. Stella hatte es erwartet. Stumm nahm sie die Schüssel mit dem heißen Wasser entgegen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber, dass diese grau war. Sie wäre erstaunt gewesen, wenn sie eine andere Farbe gehabt hätte.

Sie wusch sich, richtete ihr Haar, klopfte, und er ließ sie hinaus. Auf dem großen Tisch stand das Frühstück bereit.

Die Nerven versagten Stella, sie begann zu lachen. Ein Krampf schüttelte sie, ihre Schultern zuckten, sie hielt die Hände vors Gesicht, und das Lachen ging in ein Schluchzen über.

Der Graue stand scheinbar unberührt neben ihr. Wie angewurzelt. Allmählich beruhigte sich Stella. Ich muss mich zusammennehmen, dachte sie. Einem Irren kann man nur durch Überlegenheit imponieren. Aber ist er wirklich wahnsinnig? Wieder überfielen sie Zweifel.

»Essen Sie, bitte«, forderte er sie auf. »Der Kaffee wird Ihnen guttun.«

Sie löffelte das Ei, trank langsam den Kaffee aus der grauen Tasse und brach einige Stücke vom frischen Weißbrot ab. Woher mochte er diese Köstlichkeiten haben?

Der Graue riss sie aus ihren Gedanken und forderte sie auf, ihn zu begleiten. »Sie müssen sich Bewegung verschaffen. Das fördert den Blutkreislauf.«

Sprach so ein Wahnsinniger? Stella zog die Jacke über. Während des Spaziergangs wartete sie auf eine Gelegenheit, davonzulaufen. Aber der Graue hielt sie am Oberarm mit eisernem Griff fest.

Er hatte nicht gelogen. Die Stadt war tot, ausgestorben. Ein erschreckender Anblick. Es war eine verwüstete, geschändete, verbrannte Stadt: verkohlt, verstaubt, überall Trümmer, zersprungene, blinde Fenster, Reste von zerstörten Möbeln. Der Wind heulte in den Ruinen.

Stella drängten sich Schillers Worte, die sie im Internat in der Schweiz auswendig hatte lernen müssen, auf die Lippen: »Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. Und was er bildet, was er schafft, das dankt er dieser Himmelskraft. Doch furchtbar wird die Himmelskraft, wenn sie der Fessel sich entrafft …«

Der Graue umschloss ihren Arm noch stärker. »Aufhören!«, herrschte er sie an.

Stella schwieg bestürzt.

Aber wie unter einem Zwang reihte er nun Strophe an Strophe, mit einer Stimme, die Stella fast den Atem nahm.

Sie blickte in sein Gesicht, sah die Qual, die seine Miene verzerrte. Nein, dieser Mann war nicht wahnsinnig, er war ein gepeinigter, fluchbeladener Mensch. Stella wollte es nicht, sie wollte ihn schonen, aber die Worte drängten sich aus ihrem Mund, und der Wind riss sie mit sich fort: »Leergebrannt ist die Stätte, wilder Stürme raues Bette. In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, und des Himmels Wolken schauen hoch hinein …«

Der Griff um ihren Arm lockerte sich, als sei der Graue erschöpft.

Und Stella blickte tief hinein in diese grauen Glaskugeln, die sie ansahen: flehend, um Verzeihung bittend. Was mochte auf seiner Seele lasten? Er war kein ungebildeter Mann. Als Italiener kannte er das Lied von der Glocke.

»Ich wundere mich, dass Sie dieses deutsche Gedicht kennen.«

Der Graue wich ihrem Blick aus, senkte die Lider. »Ich habe eine Dame gekannt, die es liebte.«

Stella musste an ihre Mutter denken. Sie wusste, dass sie Gedichte über alles liebte. Als Stella ihn nach der Dame fragen wollte, hatte aber sein Gesicht den gequälten Ausdruck verloren.

Mit stahlgrauen Augen musterte er sie. »Frauen haben einen seltsamen Geschmack. Folgen Sie mir!«

Da Stella sich weigerte, schob er sie vor sich her. Hinein in das Haus, hinter die verriegelte Tür. Und dann saß der Graue bei ihr am Tisch und sah sie an, unverwandt, stumm. Aus dem gequälten Menschen war wieder der Graue geworden, der Irre, den Stella fürchtete.

»Sie haben Angst vor mir?«, sagte er plötzlich. »Warum?«

Stella schwieg.

»Ich will es wissen!« Sein Ton war gebieterisch. Sie hielt es für klüger, ihm zu antworten.

»Ich habe eine Feindin, eine Frau, die nur schwarze Gewänder trägt, so wie Sie in Grau gekleidet sind. Sie verfolgt mich, sie lässt mich belauern und will mich töten. Gehören Sie zu ihren Vasallen?«

»Ich kenne keine Frau in Schwarz. Nur eine in Grau!«