Die sehende Sintiza - Monika Littau - E-Book

Die sehende Sintiza E-Book

Monika Littau

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Beschreibung

Oktober 1899. Mitten in der Natur wird ein Mädchen geboren. Die Eltern nennen es laut Taufurkunde Margarethe. Ihr Rufname aber ist Buchela, denn geboren wurde sie unter einer Buche. Die Buchela war eine Sintiza, war Fahrende und Sesshafte, war Hausiererin, Wahrsagerin, psychologische Beraterin. Im Nationalsozialismus wurde ihre Familie verfolgt, inhaftiert, deportiert und ermordet. Aber in der Nachkriegszeit machte ihre Vorhersage des Wahlsiegs von Konrad Adenauer Margarethe Goussanthier zur berühmten Persönlichkeit. Madame Buchela wurde zur Pythia von Bonn. Dieser Roman wurde erstmals 2012 unter dem Titel »Vom Sehen und Sagen« veröffentlicht.

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© 2020 – e-book-AusgabeÜberarbeitete Neuausgabe Originalausgabe 2012 (Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer)RHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-889-0Ausstattung: Stefanie ThurTitel: ullstein bild

Monika Littau

Die sehende Sintiza

Buchela – Pythia von Bonn

Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Für B.

Kai-pe-sina, Kai-pe-nana(Es war, es war nicht)Einleitungsformel südeuropäischer Roma zu Beginn einer Geschichte

Dein Ort ist / wo Augen dich ansehen …(Hilde Domin)

Prolog

Sie sitzt im goldenen Plüschsessel und starrt auf ihre Füße.

Was hat sie denn für Schuhe an?

Die Lippen fest aufeinander gepresst, bückt sie sich, streift die plumpen Dinger, die gar nicht aus Leder sind, sondern aus irgendeinem Stoff oder Filz, von den Füßen und schleudert sie unter den Wohnzimmertisch. Sie starrt den Schuhen hinterher, entspannt sich, als sie feststellt, dass sie außer Sichtweite sind. Die Falten rund um den Mund werden flacher. Sie lächelt.

Auf Strümpfen geht sie ins Schlafzimmer, öffnet den Schrank und überblickt die vielen Paar Schuhe, die auf dem Boden stehen. Offene und geschlossene Schuhe, viele schwarze Paare dabei, weiße auch, und sogar schwarzweiße.

Sie kauert sich auf den Boden und nimmt ein Paar nach dem anderen heraus, bis sie Damenpumps mit einer großen runden, strassbesetzten Schnalle in Händen hält. Genau die hat sie gesucht. Die Schuhe hat sie mit Romi gekauft. Und getragen hat sie die auf dem Presseball. Romi hat auch ein Paar bekommen. Wollte rote. Rote Schuhe! Und dann noch flache Treter. Aber so ist sie eben, die Tochter, die Bocka. Gar nicht weiblich. Immer muss es bequem sein. Und am besten ein kleines bisschen auffällig.

Rund um Buchela ist der Boden bedeckt mit ihren Schuhen. Einen Moment lang sitzt sie bewegungslos und betrachtet das Durcheinander, weiß nicht, wie sie aufstehen soll. Energisch schiebt sie mit beiden Händen die Schuhe einfach zur Seite, eine Bewegung als wolle sie Schwimmübungen machen. Sie gewinnt soviel Platz, dass sie sich mit den Händen abstützen kann, auf die Knie kommt, erst den rechten, dann den linken Fuß aufsetzt und wackelig auf den Beinen steht.

Sie bückt sich erneut, greift nach den Schnallenschuhen, gerät beim Hochkommen ins Wanken und lässt sich nach hinten auf das Bett fallen. Kurz betrachtet sie die Zimmerdecke. Dann rappelt sie sich auf, beugt sich nach vorn und schlüpft in die Schuhe. Sie betrachtet ihre Füße mit Wohlwollen. So sieht es gut aus. So ist sie Madame Buchela. Wenn sie an diese unförmigen Dinger denkt, die sie eben anhatte, wird sie jetzt noch wütend. Sie stößt die Atemluft laut aus. So kann man sie doch nicht herumlaufen lassen!

Immer muss sie aufpassen, damit sie ihr nicht irgendetwas andrehen, das gar nicht zu ihr passt. Sie schüttelt den Kopf, stützt sich mit den Händen auf der Bettkante ab, schiebt sich weiter nach vorn, so dass sie leichter aufstehen kann.

Auf ihren hochhackigen Pumps läuft sie aufgerichtet ins Wohnzimmer, genießt es, wenige Zentimeter größer zu sein. Dann lässt sie sich wieder in ihren Sessel fallen. Sie schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Unterschenkel des einen Beins, als ob sie ein junges, ungeduldiges Mädchen wäre. Sie lächelt. Sie kann sich nicht erinnern, jemals mit dem Bein gewippt zu haben. Vielleicht als Mädchen, aber das weiß sie nicht mehr. Das Wippen macht ein gutes Gefühl.

Sie hört auf damit, stellt die Füße wieder nebeneinander, so dass ihre Knie sich berühren, weiß einen Moment lang nicht, was jetzt kommen soll und schlägt dann das andere Bein über, wippt erneut und beobachtet belustigt ihren Fuß, der sich im Schnallenschuh auf und ab bewegt, als ob er schaukelt.

Schließlich hat sie genug davon, setzt beide Füße wieder auf die Erde, die Beine fallen ein wenig auseinander. »Wie albern du bist«, schimpft sie mit sich.

Sie lauscht.

»Lita!«, ruft sie. »Lita, wo bist du?«

Aber im Haus bleibt es still.

Vor dem Fenster bewegen sich die Zweige der Tannen heftig hin und her.

»Lita!«

Das Mädchen kann doch bei diesem Wetter nicht weg sein?

Sie steht auf und öffnet das Fenster ein kleines Stück. Wind mit ein paar Regentropfen schlägt ihr ins Gesicht. Unten hat ein Wagen angehalten. Sie hat deutlich gehört, dass der Motor zunächst brummte und es dann still war.

Kommt da einer? Sie schließt das Fenster wieder. Was soll sie tun, wenn es jetzt an der Tür klingelt? Soll sie aufmachen?

Besser sie tut so, als wenn keiner da wäre. Das ist das Klügste. Sie darf auch nicht nach Lita rufen, sonst verrät sie sich und der vor der Tür weiß sofort Bescheid, dass sie allein ist. Sie sitzt still in ihrem Sessel und lauscht. Waren da Schritte auf der Treppe? Sie hält den Atem an. Aber es ist nichts. Nichts.

Am meisten fürchtet sie sich davor, dass einer sie mitnehmen will.

Sie geht ihren Leuten auf die Nerven, wenn sie sagt: »Die wollen mich holen.«

»Hör schon auf, Tante«, lacht Lita dann. »Wer soll dich denn schon holen wollen.«

»Gar nichts weißt du«, sagt Buchela ungeduldig. »Gar nichts.«

Dass dieser Dr. Sardo alles daran gesetzt hat, sie in sein Auto zu bekommen, hat sie ihr erzählt. Trotzdem scheint sie nicht zu verstehen. »Der Sardo hat noch eine Rechnung offen mit mir«, sagt sie zu Lita.

»Aber der ist im Gefängnis, Tante.«

»Wer weiß«, sagt Buchela. »Vielleicht ist der schlaue Kerl schon wieder raus. Der dritte Mann ist längst draußen.«

Sie sitzt starr im Sessel, atmet schnell und flach. Die Füße in den Schnallenschuhen sind eiskalt geworden, gefühllos. Was sie weiß, das weiß sie. Einer wird sie am Ende holen. Die Fingerkuppen drücken sich tief in den Plüsch der Armlehnen. Warum glaubt Lita der Tante nicht? Muss ja nicht mal der Sardo sein. Kann sie auch sonst wer holen. Als Kind hat sie die Staatsgewalt mitgenommen, die Obrigkeit.

Zwei Schutzmänner, gegen die sie nichts ausrichten konnte.

1.

Am Tag, als ihr Bruder Anton stirbt, bringen zwei Schutzmänner Buchela in das Waisenhaus der Borromäerinnen.

»Du bist also die Margaretha.«

Das Mädchen sieht die Oberin nicht an. Es spielt mit Fäden, die sich aus dem abgestoßenen Bündchen der roten Männerjacke gelöst haben, die es trägt.

Buchela schweigt. Dann aber schüttelt sie vorsichtig den Kopf.

»Was heißt das?«, forscht die Oberin nach.

»Margaretha ist ein guter Christenname. Hier bist du Margaretha, wie es in deiner Taufurkunde steht. Hast du gehört?«

Buchela reißt mit einem Ruck die Fäden von ihrer Jacke ab und beginnt zwischen den Fingern eine kleine Kugel daraus zu rollen.

»Gib her.« Die Oberin hält ihre Hand vor Buchela auf.

Das Mädchen reagiert nicht. Da ergreift die Schwester ihre Hand, öffnet die Finger gewaltsam und nimmt das Fadenknäuel heraus.

»Hast du gehört?«, fragt die Oberin eindringlicher.

Das Mädchen blickt weiter auf die Holzdielen, bewegt aber den Kopf ein wenig, so dass die Oberin es als Nicken nimmt.

»Dann kannst du jetzt mit Schwester Benedicta gehen. Ich hoffe, dass du dich bei uns bald einlebst und aufhörst so verstockt zu sein.«

Sie kommt also nicht zurück zu Mama und Tatta1? Buchela blickt auf und wendet der Oberin ihr Tränen verschmiertes Gesicht zu.

Sie sieht unter den großen weißen Flügeln der Haube ein kleines, verhungertes Exengesicht. Große Augen, eine mächtige Nase, aber einen kleinen Mund, der in einem Netz von Falten, die auf die schmalen Lippen zulaufen, gefangen ist. Ledern spannt sich die Haut über den Wangenknochen.

Ich bin nicht Margaretha, will das Mädchen sagen. Ich bin Buchela. Schließlich ist sie unter einer Buche geboren. Aber das kann sie der Oberin nicht erzählen, denn sie hat beschlossen, keinen Mucks zu sagen.

Jedes Mal, wenn sie in Honzrath das Lager aufschlugen, führte der Vater ihren Wohnwagen unter diese Buche. »Da siehst du«, sagte er, »die hat es gut mit dir gemeint, als du geboren bist.« Sie blickte auf zum Gewölbe der Baumkronen, das sich schützend über den Rastplatz spannte. Abends, wenn sie noch nicht eingeschlafen war, hörte sie im Frühling, wie die Buche ihre Blüten auf den Wagen warf. Im Herbst klackerten Bucheckern leise. Morgens sammelte sie die Ölfrüchte. Dann wieder klatschten Regen und Wind die Zweige des Baumes auf das Dach, übersäten die Wiese mit Brennholz für die nächsten Mahlzeiten.

Allerdings hat die Matthis ihr die Geschichte etwas anders erzählt und behauptet, sie hätte ihren ersten Schrei auf dem Heu in ihrer Scheune getan. Denn ihr Geburtstag sei ein feuchter kalter Oktobertag gewesen. Aber auch diese Auskunft ändert nichts an der Tatsache, dass sie Buchela ist und bleibt.

»Dann komm. Ich zeig dir den Schlafsaal.« Schwester Benedicta führt sie quer durch die große Eingangshalle zu einer ausgetretenen steinernen Wendeltreppe. Sie steigen ins Obergeschoss.

Sie kommen zu einem Raum, in dem zwei Waschschüsseln auf einem Tisch stehen. »Wasch dir erst mal das Gesicht«, sagt die Schwester. »Ich hol dir ein Handtuch.« Sonst wäscht sich Buchela am Brunnen oder am Bach oder am Fluss. Am Brunnen nur die Hände und das Gesicht ein bisschen, wegen der Leute. Am Brunnen hat sie Angst, weil sie Gesichter drin sieht. Das schimmert so dunkel da unten. Obengt, der Teufel, kann sich einfach auf ihren Eimer setzen. Kaum hat sie ihn hochgezogen, fällt er vielleicht über sie her mit seinen langen Krallen und zerkratzt ihr das Gesicht. Er kann seine Nägel in ihre Kehle bohren, ihr den Hals brechen und sie rösten und auffressen. Deshalb ist sie schon mit leerem Eimer zurückgekommen, hat sich einfach nicht getraut, ihn ins dunkle Wasser zu tauchen. Aber dann setzt es was. Manchmal hilft ihr Anton. Anton hat sie beschützt. Auch wenn sie träumt und vor sich hinmurmelt am hellen Tag und ihr die Mutter deshalb eine Ohrfeige gibt: »Dass du nur aufwachst.«

»Lass sie«, sagt Anton dann. »Lass sie, sie tut doch nichts.«

Jetzt gießt Buchela vorsichtig Wasser aus einem Krug in die abgestoßene‚ weiße Emailleschüssel. Es ist klar. Sie füllt ihre Hände damit, betrachtet es. Dann klatscht sie sich das Wasser ins Gesicht. Wieder und wieder taucht sie ihre Hände in die Schüssel und füllt sie. Sie kann gar nicht aufhören damit, bis Schwester Benedicta sie an der Schulter berührt und ihr ein dünnes Tuch in die Hand drückt.

»Das ist dein Haken, direkt neben der Tür. Wecken ist um fünf. Du gehst in den Waschraum und stellst dich an, damit du nicht ungewaschen zum Gottesdienst kommst. Der beginnt um halb sechs. Danach ist Frühstück und dann gehst du in den Unterricht. Du musst den Zeitplan genau einhalten.«

Buchela sieht in das volle rote Gesicht von Schwester Benedicta. Ihr Blick bleibt an den Augen hängen, über die sich rosige Säckchen wie kleine, weiche Kissen auf die Lider herunterwölben. Buchela nickt, obwohl sie nicht weiß, was sie tun soll. Die Augen der Schwester sind freundlich, die Kissen darüber ganz weich.

Buchela kennt die Uhr nicht. Sie kennt aber Jungen, die ihr hinterher gerannt sind und Steine nach ihr warfen. Die Jungen mit Ledertaschen auf dem Rücken kamen aus der Schule. Buchela mit dem Holzbündel unterm Arm kam aus dem Wald. Die Steine haben sie nicht getroffen, weil sie laufen kann wie ein Hase und Haken schlagen. Jetzt soll auch sie in die Schule, soviel hat sie verstanden.

»Kopf nach vorn.« Schwester Benedicta zieht einen Scheitel auf der Mitte ihres Kopfes, dann noch einen links und rechts. »Hab ich’s mir doch gedacht!« Sie bürstet das verfilzte Haar. Sie tut es mit Hingabe. Buchela zuckt, als der Kamm ziepend durchs Haar fährt.

»Stillhalten«, sagt die Schwester, »die Nissen müssen raus. Da sind ja richtige Nester!« Sie holt aus dem Flurschrank eine Dose und streut Pulver auf den Kopf des Kindes. Dann zieht sie noch einmal einen Strich mit dem Kamm über die Mitte, teilt das Haar in Strähnen und flicht zwei feste Zöpfe, die sie am Ende mit Spangen befestigt. Die Haut spannt auf Buchelas Kopf, als wolle man ihr das Fell abziehen.

»Das sieht doch gleich ganz anders aus!«, nickt Schwester Benedicta.

Im Schlafsaal bekommt Buchela eines der Eisenbetten, die links und rechts an den Wänden aufgereiht sind. Ihr Bett liegt ganz am Ende des Raumes. Darunter steht eine kleine Kiste, in die sie ihre Habseligkeiten räumen soll. Aber es gibt nichts, was sie in die Kiste legen kann. Deshalb führt sie die Schwester direkt in die Kleiderkammer.

Da muss sie sich ausziehen, steht nackt neben dem Bündel Kleider, die sie am Leibe getragen hat, schlüpft in ein langes Hemd zum Überziehen, in Unterhosen, bekommt noch eine zweite Garnitur zum Wechseln. Die Schwester nimmt aus den Regalen Kleidungsstücke, legt die Hellen und Farbigen gleich wieder zurück. Die Dunklen faltet sie auseinander und überprüft nach Augenmaß die Größe.

Buchela greift nach einer roten Bluse. »Nein«, sagt Schwester Benedicta und schüttelt den Kopf. »Das passt jetzt nicht, wo doch dein Bruder gestorben ist. Gib es mir zurück.« Sie nimmt ihr das Kleidungsstück aus der Hand. Buchelas Kopf sinkt auf die Brust.

Anton. Rot war Antons Lieblingsfarbe. Immer hatte er ein rotes Tuch um den Hals gebunden.

Stattdessen erhält Buchela ein schwarzes und ein dunkelblaues Kleid, zwei dunkle Überziehschürzen, zwei Paar Strümpfe, zwei Paar Socken. »Kannst du in den Schuhen überhaupt laufen?«, will Benedicta wissen und runzelt skeptisch die Stirn. Die klobigen alten Schuhe, die von einem schmutzighellen und einem schwarzen Schnürband gehalten werden, sehen viel zu groß aus. Aber Buchela nickt heftig. »Dann behalt sie.«

Beim Herausgehen bückt sich das Mädchen nach dem ausgefransten Ärmel ihrer Männerjacke und zieht sie unter dem Haufen heraus. »Lass liegen«, sagt die Schwester. »Das muss alles verbrannt werden.«

Als Buchela kurze Zeit später das erste Mal den Esssaal betritt, sieht sie aus wie eine traurige Krähe. Die Luft im Saal riecht abgestanden und nach Kohlsuppe.

Neugierig wird die Neue beäugt, die steif neben der Nonne steht.

»Das ist Margaretha«, wendet sich Schwester Benedicta an die Kinder.

»Du holst dir den Stuhl«, sagt sie zu Margaretha, »und setzt dich an den Mädchentisch!«

Während Buchela sich aus der Starre löst und den Stuhl herbeischafft, hört sie Flüstern und Kichern.

»Getuschelt wird nicht!«

Schwester Benedictas Stimme klingt scharf wie ein Küchenmesser.

Zögerlich schieben die Mädchen ihre Stühle näher zusammen. Scharren, Schieben, bis der Stuhl endlich am Tisch steht und Buchela sich setzen kann. Dann wird es still.

»Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.« Buchela presst die Handflächen gegeneinander wie die anderen, hält den Mund aber fest geschlossen.

»Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen.«

Das größte Mädchen erhebt sich, beginnt das Essen aus dem Topf in die Teller zu schöpfen. Dampfende Suppe. Daneben die Hände bewegungslos auf der Tischplatte. Scheppern vom Jungentisch, wo noch Teller angereicht werden. Schließlich wieder vollkommene Stille. Buchela blickt in Gesichter mit gesenkten Augen.

»Guten Appetit!« Die feste Stimme von Schwester Benedicta hinter Buchelas Rücken.

»Guten Appetit!« Ein Stimmenchor, dann Löffelgeklapper.

Keines der Mädchen hat so schwarze Haare wie Buchela. Und die Haut der anderen ist hell, nicht so braun gebacken, wie die schöne Farbe der Sinti. Begierig blickt Buchela beim Löffeln ihrer Kohlsuppe auf die hellen Schürzen der anderen.

Sie hört das Klacken und Schrappen der Löffel, sonst nichts. Dass sie nicht sprechen will, kann keiner bemerken, da alle beim Essen schweigen.

Ein heftiger Tritt trifft sie am Bein. Die Suppe platscht vom Löffel auf den Teller und spritzt auf ihre Schürze. Sie wischt mit der Hand über den Stoff. Dann tritt sie kräftig zurück.

2.

Nachts liegt sie wach in ihrem Bett. Sie hat Angst, dass die Decke auf ihren Kopf fallen kann. Unter Steinen wird man begraben, wenn man gestorben ist, damit man nicht wiederkommt und die Lebenden in Ruhe lässt. Noch nie hat sie in einem solchen Raum geschlafen. Vielleicht ist sie bald tot. So tot wie Anton. Aber auf ihrem Körper werden anders als beim Bruder dicke Gesteinsbrocken liegen.

Das Stroh knistert, wenn sie sich von der einen auf die andere Seite dreht. Sie hört das Atmen der anderen Mädchen, während sie wach da liegt. Sie sehnt sich nach der Enge des Wohnwagens, in dem sie mit den Eltern und den Geschwistern schläft. Das laute Weinen ihrer Mama verfolgt sie und die Augen von Tatta, aus denen Tränen tropfen. Er wischt sich mit dem Handrücken die Nase. Und dann sind da diese Männer in Uniform. Sie klettern in den Wohnwagen. Eilig kommen sie wieder heraus und stürzen sich auf den Vater. Aber der weiß sich zu entwinden und rennt in den Wald. Die Männer setzen hinterher.

Die Uniformierten kommen zurück ohne Tatta. Sie zerren nun die Mutter zum Wagen und schieben sie neben den Kutscher auf den Bock. Die heulenden Kinder müssen hinten aufsitzen. Der Wagen rumpelt über die Landstraße zum nächsten Ort. Da hält er, und die Männer bedeuten der Mutter vom Bock zu steigen. Sie weint und flucht abwechselnd. Aber der eine Mann mit Uniform hält der Frau einen Karabiner vor die Brust, dass sie keine Wahl hat und sich unter lautem Klagen dann doch in das Haus begibt. Der andere Polizist hält die Kinder, die der Mutter nachdrängen wollen, mit einem quer gehaltenen Gewehr zurück. Je Mama, was machen wir jetzt? Buchela beißt dem Mann in die Hand, so dass er aufschreit. Er schlägt ihr ins Gesicht. Sie taumelt zurück und landet auf dem Boden des Wagens.

Der Kutscher treibt die Pferde an.

Zuerst reißen sie ihr Engelsüßchen aus den Armen. Engelsüßchen, die Kleine, die nur Buchela beruhigen kann. Wie oft hat sie ihr nachts den Finger in den Mund gesteckt und sie nuckeln lassen und ein Lied gesummt, damit sie sich beruhigt. Und tags ist sie mit Engelsüßchen auf dem Arm zu den Häusern der Gadsche gegangen und hat ihnen ihre leere Hand hingestreckt.

Dann ziehen sie Dotla von ihr weg. Die klammert sich mit aller Macht an Buchelas Rock, so dass er einreißt. Aber genutzt hat es nichts. Dotla verschwindet hinter einer großen Holztür. Rafflo kommt als nächstes dran. Der versucht, es dem Vater nachzumachen und wegzurennen. Aber seine Beine sind noch nicht lang genug, er kann den Männern nicht entkommen. Sie sind schneller und fangen ihn ein.

Zum Schluss bringen die Uniformierten Buchela an die Pforte der Borromäerinnen.

Frühmorgens wird sie an den Armen geschüttelt und hört den Namen »Margaretha«. Wer sollte das sein? Noch fester zerrt jemand an ihr und reißt sie aus dem Schlaf. Um sie herum lauter Gesichter.

»Sie hat geschrien.«

»Als ob sie abgestochen würde.«

»Ihr geht sofort wieder ins Bett und schlaft weiter. Ich will nichts mehr hören.«

Die Gesichter verschwinden. Buchela spürt eine kühlende Hand auf ihrer Stirn. Sie wird auf den Arm genommen. Sie fühlt sich leicht wie ein Vögelchen. Sie ist ein Vögelchen, das nach Hause fliegen will.

3.

Pochen. Hämmern. Dröhnen. Sie sitzt in einer Blechkiste, auf die von außen geschlagen wird. Immer lauter. Dass die Wandung vibriert. Dass ihr Körper zittert und es in den Ohren schmerzt. Dass der Mund austrocknet. Dass die Zunge am Gaumen klebt. Ein dumpfes Schlagen von bloßen Händen. Dann hört sie den harten, hellen Klang, wie Metall auf Metall schlägt. Eine Wand aus Lärm erdrückt sie.

Ihr Atem geht schnell. Sie ist schweißnass. Sie friert.

Jemand berührt ihren Kopf, legt etwas Kaltes auf die Stirn. Sie schlägt um sich.

Es legt sich so schwer auf ihren Körper, dass sie ihn nicht mehr rühren kann. Alles verschwimmt. Die Sinne schwinden.

Jemand macht sich an den Waden zu schaffen, umwickelt sie. Auf der Stirn liegt ein Tuch, das heiß brennt. Dann wieder ist es kühl. Sie hört das Summen einer Zimmerfliege so laut, dass ihre Ohren schmerzen. Sie hört nichts. Eine unheimliche Stille, die bleiern wie ein schweres Grau im Raum steht. Dann laute Kinderstimmen. Hinter den Augenlidern Helligkeit, rot lodernd.

Eine Hand streichelt über ihren Kopf.

Sie springt über Holzstämme und über einen Bach. Sie rutscht an der feuchten Böschung aus, verliert das Gleichgewicht und fällt. Sie verliert das gesammelte Holz. Sie erreicht die Wiese, wo der Wagen steht. »Mama!« ruft sie. »Mama! Wo ist Anton?«

Jetzt spürt sie, dass das Hämmern innen ist.

Das Hämmern sitzt ihr in der Brust, als sie zu Anton kriecht und seinen Kopf in die Hände nimmt. Sie streichelt sein schwarzes widerspenstiges Haar, das er mit Zuckerwasser zu einer Schmalzlocke geformt hat. Auf der Brust ist ein Fleck, rot wie sein Halstuch.

Man flößt ihr Flüssigkeit ein. Sie schluckt. Sie verschluckt sich und hustet.

Der Vater flucht. Die Mutter schreit. Der Junge war an der Blechkiste. Die mit dem Schloss drauf. Jetzt ist die Blechkiste leer. Die Pistole ist auf den Boden gefallen und noch ein Stück bis zur Wand gerutscht.

Ihre rissigen Lippen schmerzen. Sie werden befeuchtet und gekühlt. Sie leckt mit der Zunge über den Mund. Das tut gut.

Als Buchela die Augen aufschlägt, blickt sie an die Decke eines kleinen Raumes. Die weiße Farbe ist rissig, so dass sich verworfene Linien von einer Wand zur anderen ziehen. Buchela schließt die Augen sofort wieder. Dann aber hört sie ein Geräusch neben sich und schlägt die Augen wieder auf.

Sie dreht den Kopf ein bisschen und sieht auf dem Stuhl am Fenster ein Mädchen sitzen. Es hält ein Buch in der Hand und kratzt sich ausgiebig am rechten Ohr.

Sie hört, wie die Tür geöffnet wird. »Du kannst jetzt gehen«, sagt eine Frauenstimme. Das Schieben der Stuhlbeine auf den Fliesen ist zu hören, dann die Schritte des Mädchens, seltsam schleppend und ungleichmäßig.

»Nach dem Essen kommst du wieder her.«

Am Luftzug spürt sie, dass die Tür kurz geöffnet ist. Dann wird sie wieder ins Schloss gezogen.

Schwester Benedicta greift unter die Achseln und zieht Buchelas Körper hoch. Sie schiebt ein dickes Kissen hinter den Rücken und lässt das Mädchen dann nach hinten sinken.

»Jetzt gibt es Suppe. Die hat Änne für dich gekocht.« Die Schwester steckt ein Tuch an Buchelas Hals fest.

Ein gefüllter Löffel kommt auf sie zu. Sie öffnet den Mund, dass die Flüssigkeit in ihren Rachen fließen kann. Es schmeckt salzig. Sie schluckt.

Nach wenigen Löffeln schüttelt sie den Kopf.

»Nicht schlapp machen. Einen schaffst du noch!«

Dann wird das Kissen irgendwann wieder weggezogen. Buchela schläft ein.

Am nächsten Tag, als sie aufwacht, sitzt wieder das Mädchen am Fenster und reibt sich ihr Ohr. Aber diesmal hat es sie beobachtet und weiß, dass Buchela wach geworden ist. Sie rückt näher mit ihrem Stuhl.

»Ich bin Änne. Und du bist die Margaretha, stimmt’s?« Buchela schaut weg und wieder an die Decke.

»Schau mal, die hat Schwester Benedicta für dich hier gelassen.« Buchela sieht die rote Bluse.

»Sie sagt, du darfst sie haben. Damit du wieder gesund werden willst. Aber du darfst sie noch nicht anziehen.«

Sie hebt die Bluse vom Tisch, fasst sie bei den Schultern und zeigt sie Buchela in ihrer ganzen Schönheit. Dann legt sie sie auf das Bett. Buchela greift nach der Bluse und zieht sie hastig unter die Decke.

»Die nimmt dir doch keiner mehr weg.«

Änne sieht sie lachend an. Änne hat blonde Haare, blaue Augen und Sommersprossen und vom ständigen Reiben ist ihr rechtes Ohr rot angelaufen.

»Danke.«

Erschrocken presst Buchela die Lippen aufeinander. Ihr ist ein Wort herausgerutscht.

»Kannst ja doch sprechen«, grinst Änne.

»Auch von Schwester Benedicta«, sagt sie und zeigt auf ihre hellblaue Schürze.

»Meine Lieblingsfarbe ist nämlich hellblau. Obwohl das eine Jungenfarbe ist.«

Dass es Mädchen- oder Jungenfarben geben könnte, darüber hat sich Buchela noch nie Gedanken gemacht. Hauptsache, man hat überhaupt etwas zum Anziehen.

»Hellblau wie die Mosel. Mein Vater ist da Schiffer und hat keine Zeit für mich. Und meine Mutter ist tot.«

Draußen antwortet eine Amsel mit ihrem Gesang einer anderen. Ein Hin und Her der Vogelstimmen. Triller dazwischen. Buchela kann sich vorstellen, wie sie in den Spitzen zweier Bäume sitzen und sich ansingen. Es muss Abend sein. Amseln singen am frühen Morgen oder abends.

»Ich bin schon vier Jahre hier«, Änne reibt sich das Ohrläppchen.

»Wenn du wieder gesund bist und Lust hast, dann zeige ich dir hier alles.«

Buchela nickt.

»Morgen komm ich wieder.«

Als Änne aufsteht, sieht Buchela, was sie tags zuvor nur gehört hat. Änne hat ein steifes Bein. Deshalb geht sie so schlurfend. Deshalb klingt ihr Schritt so ungleichmäßig.

4.

»Achte auf die Fingernägel. Danach guckt der Sauerwein als erstes.«

Änne steht hinter Buchela in der Reihe der Mädchen, die sich zum Waschen angestellt haben. Auf dem Waschtisch liegt eine Bürste und Buchela schrubbt sich damit die Hände, bis sie krebsrot sind. Sie klatscht sich ein paar Mal das kalte Wasser ins Gesicht, dann rückt sie zur Seite, damit Änne ans Becken kann und beginnt ihr Haar zu bürsten. Sie schielt herüber zu den anderen.

Was muss sie jetzt tun? Die Kinder helfen sich gegenseitig, ziehen sich Scheitel, flechten die Zöpfe. »Helf dir gleich«, sagt Änne, als sie Buchela ratlos da stehen sieht. Änne flicht ihr das Haar, hilft beim Zuknöpfen des Kleides und der Schürze am Rücken. »Jetzt du«, sagt sie und kehrt Buchela den Rücken zu.

Zusammen gehen sie zur Kapelle. Buchela ist getauft, aber im Gottesdienst war sie nie. Zuhause hat die Mutter in einer Ecke des Wagens die schwarze Sara und die Muttergottes hängen. Darunter eine Kerze. Manchmal stellt sie in diesen Winkel Wiesenblumen, die sie gepflückt hatte. Dort hebt Tatta in einem Fach, das er sich gemacht hat, ein Säckchen auf, in dem manchmal Münzen sind. Nur einmal ist Buchela mit Mama in einer Kirche gewesen. Sie haben der Muttergottes eine Kerze angezündet und ein Halstuch geschenkt. Mama hat das leere Säckchen immer wieder über den Rand des Altars gerieben. Da musste ihr Buchela sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss, dass sie Geld bekommt. Statt sich zu freuen, hat die Mutter sie wütend angesehen. Als sie aber tatsächlich, am nächsten Tag eine Münze erhielt, war sie aufgeregt zu Tatta gelaufen und hatte behauptet, Buchela hätte die Gabe. Wie die Mami, wie die Großmutter.

Die Sprache, die im Gottesdienst gesprochen wird, kennt Buchela nicht. Sie staunt, dass die anderen immer genau zu wissen scheinen, was sie auf den Gesang des Priesters antworten müssen. Mit scharrenden Geräuschen stehen die Mädchen auf und knien sich hin. Buchela beobachtet in ihrer Reihe, ob sich eine bewegt. Sie will so schnell sein wie die anderen und nicht auffallen.

Der Gesang der Mädchenstimmen ist leicht und fliegt ganz hoch. Kein bisschen rau, wie die Lieder ihrer Mama oder der Tanten. Das Brummen, das aus den Jungenbänken kommt, versucht sie zu überhören.

Der Priester trägt ein Spitzenkleid mit einem Überwurf, der mit Gold bestickt ist: Reben und Blätter ranken sich um ein Kreuz auf der Vorder- und Rückseite. Manchmal klettert er in eine Tonne, die so hoch angebracht ist, dass er allen Kindern auf den Scheitel sehen kann. So weiß er sofort, wer von ihnen ordentlich ist und wer nicht, denkt Buchela. Sie beneidet die Ministranten in ihren Chorhemden und weil sie goldene Gefäße tragen dürfen. So was hat sie noch nie in Händen gehabt.

Am schönsten aber ist ein Engel, der links an die Wand gemalt ist, weiß und mit großen goldenen Flügeln, die hinter seinem Rücken aufragen. Er hebt seine rechte Hand, als wolle er sie grüßen. Buchela muss immerzu dorthin schauen. Und dabei bemerkt sie zu spät, dass sich alle hinknien. Änne stößt sie vorsichtig in die Seite. Buchela wendet ihren Kopf wieder nach vorn. Nur wenn sie mit äußerster Anstrengung die Augäpfel ganz nach links dreht, kann sie von dem Bild noch etwas sehen. Das verschwimmt und strahlt ein milchiges Licht aus. Nach kurzer Zeit schmerzen ihre Augen so sehr, dass sie es aufgibt. Die Ministranten klingeln zweimal.

Der Priester hebt ein Goldgefäß über seinen Kopf. Er knickst. Dann zeigt er allen ein rundes Plättchen. Wieder knickst er. Er bricht das Plättchen, steckt es sich in den Mund und kaut. Dann dreht er sich um und kommt mit einem goldenen Gefäß die Altarstufen herunter. Die Kinder stehen auf und gehen in einer langen Reihe nach vorn. Schwester Benedicta zieht Buchela am Ärmel. »Du nicht! Setz dich wieder in die Bank.« Buchela sieht sie verständnislos an, fügt sich aber. Sie sieht, wie Änne sich am Altar hinkniet und ihre Zunge herausstreckt und etwas darauf gelegt bekommt. Änne rutscht in die Bank zurück, schließt die Augen und ist ganz weit weg. So weit weg will Buchela auch sein und schließt ebenfalls ihre Augen.

Nach dem Gottesdienst gehen sie in Zweierreihen in den Speisesaal. Es gibt trockenes Brot und Pfefferminztee, der in den großen Blechkannen bereits lauwarm geworden ist. Buchela wundert sich, wie das Wasser erhitzt wird, nirgends sieht sie ein offenes Feuer. Und wer hat überhaupt die Pfefferminze gesammelt?

Schweigend nehmen sie das Frühstück ein.

Erst auf dem Weg zur Schule rennen, hüpfen, lärmen die Mädchen und Jungen. Sie entschlüpfen dem Kloster wie junge Hunde dem Zwinger, kaum, dass die Tür einen Spalt breit geöffnet ist. Buchela geht in ihren großen Schuhen neben Änne, die nur mühsam vorankommt.

»Warum durfte ich kein Plättchen?«, fragt Buchela ernst.

»Welches Plättchen?«

»Das in der Kirche.«

Änne lacht. »Plättchen! Wenn das der Pastor hört. Das darf man nur, wenn man schon die Heilige Kommunion hatte!«

Buchela runzelt die Stirn.

»Die Heilige Kommunion ist, wenn man zum ersten Mal am Tisch des Herrn sitzen darf und ihn empfängt. Normalerweise geht man mit zehn. Wie alt bist du eigentlich?«

Buchela zuckt die Schultern.

»Aber du hast noch nie so was bekommen?«

Wieder zuckt Buchela die Schultern.

»Das musst du doch wissen!«

Buchela blickt zu Boden. Sie weiß gar nichts. Nein, sie kann sich an nichts dieser Art erinnern. Sie hat auch niemals gesehen, dass ihre Geschwister so was bekommen haben.

Änne legt ihr die Hand auf den Rücken. »Bestimmt bist du Ostern bei der Erstkommunion.«

Was immer diese Erstkommunion auch ist, Buchela will es auch dürfen.

5.

Das Rennen und Rufen, das Lachen und Schubsen dauert nur kurze Zeit, dann befindet sich Buchela gemeinsam mit fünfzig anderen Mädchen in einem dunklen Klassenraum. Es riecht nach Kreide und Muff. Der Lehrer sitzt an seinem erhöhten Katheder. Buchela bleibt unschlüssig an der Tür stehen und wartet, dass Sauerwein sie sieht.

Sauerwein ist ein älterer Mann mit lichten grauen Haaren. Ein Vollbart füllt das hagere Gesicht aus, so dass der schmale Mund, der als schräge Linie darin steht, fast verschwindet. Auf der leicht gebogenen großen Nase trägt er eine dunkle Schläfenbrille und liest in einem Buch, das vor ihm liegt. Der Kopf sitzt in leichter Schräge auf dem muskulösen Hals und hat nur wenig mehr Umfang als dieser. Ein Bussard, denkt Buchela. Wie ein Bussard sieht er aus.

Entweder er hat sie nicht bemerkt oder er lässt sie absichtlich warten. Endlich klappt er den Buchdeckel zu, putzt sich die Nase und rückt die Brille zurecht. Er blickt über die Klasse, wendet den Kopf Buchela zu und mustert sie eingehend vom Kopf bis zu den unförmigen Schuhen.

»Komm mal her.«

Das Mädchen nähert sich dem Podest. Es sieht in die hellbraunen Augen des Mannes, die mit seltsam gelben Sprenkeln durchsetzt sind und weiß, sie muss sich vor dem Mann in Acht nehmen.

»Wen haben wir denn da?« Buchela nimmt eine Mischung aus Bier- und säuerlichem Mundgeruch wahr. »Du bist wohl Zigeunerin, was?«

Buchela nickt.

»Was man uns so alles in die Schule schickt! Eins sag ich dir: Wenn hier irgendetwas wegkommt, dann setzt es was! Wie alt bist du denn?«

Buchela zuckt mit den Schultern und sieht im gleichen Moment, wie die Mädchen in der Reihe vorn breit grinsen.

»Wahrscheinlich hast du noch nie eine Schule von innen gesehen, was? Du setzt dich ganz nach hinten. Wahrscheinlich lernst du ja doch nichts.«

Buchela geht zu der ihr zugewiesenen Bank, rutscht hinein. Sauerwein beobachtet sie und schüttelt ausgiebig den Kopf.

»Dann zeigen wir dir erst mal, wie man ordentlich sitzt.« Der Lehrer erhebt sich, kommt langsam auf sie zu und spricht dazu umso schneller.

»Füße mit ganzer Sohle auf die Erde. Oberschenkel müssen auf der Bank sein. Kantensitzen ist verboten! Rücken gerade, Brust raus! Aber nicht an die Tischkante anlehnen. Kopf gerade, Schultern parallel zur Tischkante, der linke Vorderarm ganz, der rechte wenigstens mit der vorderen Hälfte auf der Tischplatte.«

Buchela ist verwirrt. Was soll sie zuerst tun? Sie weiß es nicht und bleibt unbewegt sitzen. Schallend lacht der Lehrer und als er nicht aufhört damit, nimmt die Klasse es als Signal, ausgelassen mitzulachen. Dann aber hält der Lehrer plötzlich inne und es wird still. Er stellt sich neben Buchela, beginnt mit seinen Anweisungen noch einmal von vorn und schiebt ihre Schultern in die richtige Position.

»Und jetzt die Tafel auf das Pult und den Griffel. Du malst die Tafel voll mit lauter Unterrockspitze und dann kommst du zu mir.«

Buchela schwitzt. Sie ahnt, dass der Lehrer zuhacken kann. Was für Unterrockspitze? Ihre Mama hat mehrere Röcke, die sie übereinander zieht. Aber Spitze? Spitzen gibt es nur an den Deckchen, die sie manchmal an den Türen verkauft.

Buchela gibt sich Mühe, wunderbare Muster auf die Tafel zu malen. In jede Reihe ein neues, mit großen und kleinen Schlaufen und Kreuzchen und Kringeln. Das Mädchen spürt, wie sich der Lehrer über sie beugt. Sein warmer, säuerlicher Atem berührt ihren Hals.

»Was ist das denn für ein Unsinn? Die ganze Tafel gleich! Schwungübungen sollst du machen!«

Buchela spuckt auf die Tafel und wischt schnell mit dem Ärmel alles weg, damit sie von Neuem beginnen kann.

Da bekommt sie einen kräftigen Schlag in den Nacken.

»Wir sind hier keine Zigeuner! Nimm dir dein Läppchen und befeuchte es am Wassertopf. Und dann putzt du die Tafel richtig sauber. Ohne Streifen.«

Seit diesem Vorfall heißt Buchela bei allen in der Schule die Sääwer2. Sobald der Name gerufen wird, grinsen die Kinder. Selbst der Lehrer nennt sie nicht beim Vornamen wie die anderen oder zumindest beim Nachnamen, wie er dies bei den Waisenhäuslern tut. Auch er spricht von der Sääwer. Und dafür hätte ihm das Mädchen am liebsten ins Gesicht gespuckt.

»Sääwer!«, rufen die Kinder auf dem Schulhof.

»Brich deinen Hals«, murmelt Buchela in Romanes. Aber das melden die anderen Sauerwein.

»Rotwelsch ist in der Schule verboten!«, sagt der. »Merk dir das. Erwische ich dich noch mal, dann setzt es was.«

Die einzige, die Margaretha zu ihr sagt, ist Änne.

Manchmal denkt Buchela, dass Kinder nur gut werden können, wenn sie etwas ziemlich Schreckliches erlebt haben, wie die humpelnde Freundin. Hätte sie Änne nicht, die ihr in der Pause in einer Ecke Märchen erzählt, sie würde weglaufen. Irgendwohin, wo es keine muffigen Klassenräume mit ungerechten Lehrern gibt.

Änne besitzt ein Märchenbuch, das sie ständig bei sich trägt. Aus dem hat ihr die Mutter vorgelesen. Das Buch ist eingeschlagen in ein grobes braunes Papier. Darunter befindet sich ein heller, feiner Leineneinband. Vorn ist ein Vogel in brauner Farbe aufgedruckt, der auf einem Ahornzweig sitzt und den Schnabel geöffnet hat, weil er singt. Auf dem lockeren Buchrücken hält ein seltsamer Mann einen sehr langen Bambusstab, an dessen Ende sich ein Lampion befindet. Und in den Lampion hinein sind Buchstaben gesetzt.

»Der sieht aber komisch aus mit dem langen Zopf, dem Kleid und den Goldpampuschen!«

»Ein Chinese«, erklärt Änne. »Und Chinesen sind ganz gelb im Gesicht.« Buchela staunt. Da gibt es also nicht nur diese hellen Gesichter und die braunen der Sinti, sondern auch gelbe. Davon hat sie noch nie etwas gehört.

Änne ist schon in der dritten Klasse und kann lesen. Aber eigentlich kennt sie alle Märchen auswendig, so dass Buchela nicht weiß, was sie abliest oder auswendig daher sagt.

Den Anfang einer Geschichte kennt auch Buchela bald wie Änne auswendig: »Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen.« Und dann stellt sie sich Anton mit seiner Schmalzlocke und dem roten Halstuch vor. Er wird von einem Engel mit einem Strauß Kornblumen und Margariten und Klatschmohn zum Himmel getragen. Genauso muss es gewesen sein.

Und Buchela hofft fest, dass der Lehrer und die anderen Kinder von niemandem abgeholt werden, wenn sie mal ins Gras beißen.

6.

Aufstrich, Ei, Häkchen, Abstrich, Häkchen.

Buchela füllt die Tafel mit Kurrentbuchstaben. Zwei Reihen mit kleinen As, dann zwei Reihen mit großen, die sich zwischen der dicken Ober- und Unterlinie spannen. Sie hält den Griffel verkrampft in der Hand. Die Finger schmerzen. Die Buchstaben müssen alle eine leichte Schrägstellung haben und zwar alle gleich, hat Sauerwein gesagt.

Sie ist die Letzte. Alle anderen sind mit den Hausaufgaben schon fertig. Schwester Christophera geht unruhig auf und ab. Buchela versucht, sich zu beeilen. Aber das große B ist wirklich schlimm. Sie wischt alles wieder weg und beginnt von vorn.

»Es gibt noch anderes zu tun. Sieh zu, dass du fertig wirst!«, sagt die Nonne ärgerlich.

Hastig füllt das Mädchen die Vorderseite des Schiefers. Die Buchstaben stehen kreuz und quer auf den Linien, als tanze jeder einzelne aus der Reihe. Sie torkeln über die Fläche, wie ihre Onkels und der Vater, wenn sie betrunken sind. Aber besser kann sie es nicht. Schließlich schlägt sie die Tafel in ein Stück Zeitung ein, damit nichts verwischt.

Buchela ist eingeteilt zum Putzen. Sie fegt den ausgetretenen Steinboden der Eingangshalle Strich für Strich, holt sich einen Eimer Wasser, schrubbt die Platten, arbeitet sich im Fliesenmuster von einem roten Quadrat im grauen Grund zum nächsten vor.

In der vergangenen Woche hat sie Kartoffeln gelesen, ist auf den Knien mit ihrem Korb über den schmierigen Ackerboden gerutscht. Endlose Reihen bis zum Himmel. Feuchte Erde an den Händen. Die dicke Schicht trocknete irgendwann, riss auf, sprang flächig ab von der Haut. Am Kartoffelkrautfeuer fühlte sie sich fast wie zu Hause.

Am liebsten hat sie Ziegendienst. Dann geht sie allein mit den Tieren aus der Umzäunung der kleinen Weide heraus, zerrt die braunweiße Schecke und die Weiße mit dem gelben Rücken vom Wegrand weg, wo sie sofort anfangen, die herunterhängenden Äste der Bäume zu benagen. Sie zieht sie hinter sich her bis zum Waldrand, hämmert den Pflock mit einem Stein in den Boden und setzt sich an den Stamm eines Baumes.

Die Borromäerinnen haben sich auf die Herstellung von Pantoffeln spezialisiert. Buchela hasst es, im Akkord Pantoffeln auszustopfen. Wollpantoffeln werden immer gebraucht, sagen die Nonnen. Sie verkaufen sich gut auf dem Markt, besonders zur Wallfahrtszeit.

Dann lieber Schrubben.

Sie arbeitet sich nun langsam von der Wand auf die Eingangstür zu, spürt, wie der Boden in der Mitte des Raumes rauer wird, abgetreten und schmutzig. Hier mischt sich alles: der Schmutz aus der Schule, vom Markt, von der Marienstraße, vom Keller und sogar vom Schweinestall, so fein, dass sie es mit den Augen nicht sehen kann, aber trotzdem spürt. Wenn sie den Lappen im Eimer auswäscht, den Aufnehmer auswringt, fließt graue Brühe heraus.

Ein Windstoß fährt in den Flur. Am Eingang schiebt sich ein Uniformierter durch die aufgerissene Tür und betritt die Halle. Er hält die Tür für einen zweiten auf, der ein wimmerndes Bündel auf dem Arm trägt. Derbe geschnürte Schuhe mit grobem Profil auf dem feuchten Boden. Die Männer klopfen an die Tür der Mutter Oberin und gehen hinein. Buchela nimmt ihren Lappen, steht auf, wischt die Spur der Schuhe weg. Als sie vor Schwester Lucindas Zimmer angekommen ist, hört sie Stimmen, kann einzelne Worte unterscheiden. »Der Magistratsrat hat das so beschlossen«, sagt eine Männerstimme bestimmt. »Auch der Waisenpfleger«, hört sie den anderen Mann und dann die laute Stimme von Schwester Lucinda: »Was denken Sie denn. Wir sind ein Waisenhaus, kein Säuglingsheim! Geben Sie den Säugling in Pflege! Wer soll sich bei uns denn um dieses Bündel kümmern?« Bewegungen hinter der Tür. Eilig nimmt Buchela ihren Lappen und kehrt zurück zum Eimer. Kaum taucht sie den Aufnehmer in das Wasser, als die Männer das Zimmer verlassen und erneut über den feuchten Boden laufen. Die Tür haben sie offen gelassen und so entdeckt die Nonne Buchela und kommt eilig auf sie zu. Das Mädchen sieht, wie die Falten des Rockes der Oberin beim Gehen knicken und wieder aufspringen. Buchela blickt vom Eimer auf und sieht unter die große weiße Flügelhaube, die das lederne Gesicht der Oberin umrahmt. »Hol Schwester Fidelis. Sie soll sich beeilen!«

Auf Schwester Lucindas Arm kräht das Kind.

Buchela findet Schwester Fidelis im Webraum.

»Was machst du hier?«, fährt sie die Nonne an.

»Die Oberin.«

»Kommt sie her?«

Buchela schüttelt den Kopf.

»Also soll ich zu ihr?« Das Mädchen nickt.

Die Spur von Schwester Fidelis Schuhen sieht im Flur wie die Fährte eines Feldhasen aus: schmale, lange Zeichen. Die Nonne betritt das Zimmer der Äbtissin. Das Schreien des Kindes dringt nach draußen, hallt im kahlen Raum wider. Buchela fühlt das Weinen im eigenen Bauch. Am liebsten würde sie sofort zu Mutter Lucinda laufen. Ich trag sie, würde sie sagen. Ich trag sie gern. Dann beugt sich Buchela jedoch wieder über ihre Arbeit, um schnell fertig zu werden. Noch eine Plattenreihe. Sie fasst schließlich den Zinkeimer, tritt vor die Tür, kippt das Wasser eilig in die Straßengosse, wringt das Tuch kräftig aus und kehrt in die Halle zurück. Sie bleibt stehen, lauscht, nähert sich der geschlossenen Tür des Oberinnenzimmers, lauscht wieder. Nichts. Kein Kinderschreien, keine Stimmen. Sie kommt zu spät.

7.

Jetzt, im Herbst, gehen die Mädchen schon um halb sieben nach oben, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit ausgekleidet sind. Kerzen, Karbid- oder Petroleumlampen gibt es nicht genug, Brennmaterial ist teuer.

Buchela liegt wach in ihrem Bett. Wie eine Litanei sagt sie sich ihren Namen vor: »Buchela. Buchela. Buchela.« Dann betet sie die Namen ihrer Geschwister herunter: »Engelsüßchen, Dotla, Rafflo.« Sie stockt, weil sie an Anton denken muss. Sie zählt erneut die Namen herunter, damit sie einschlafen kann, damit sie nicht vergisst, wohin sie gehört. »Engelsüßchen!«

Sie hört das Atmen der anderen Mädchen. In dieser Nacht ist da noch ein anderes, fremdes Geräusch, das sie wach hält. Sie schiebt die Decke zur Seite, steht vorsichtig aus dem Bett auf, tastet sich im Dunkeln quer durch den Raum. Sie erfühlt den Türrahmen, wandert mit der Hand zur Klinke, zieht die Tür vorsichtig auf und schlüpft in den Flur. Sie tastet sich im Dunkeln an der Flurwand entlang, horcht, bleibt stehen. Deutlich hört sie nun das Schreien des Säuglings. Ja, hier muss das Kind sein. Sie drückt sich in das Zimmer, stößt gegen ein Möbelstück. Das Kind schreit noch lauter. Sie lauscht, ob sich im Haus etwas rührt. Es bleibt still. Da beugt sie sich herunter und fährt mit der Hand über die Decke. Sie fühlt ein kleines Ärmchen und dann auch das andere. Sie spürt, wie das Kind alle Muskeln verkrampft. Kurz entschlossen hebt sie es an ihre Brust. »Sch, schsch«, versucht sie es zu beruhigen. »Wo ist denn deine Mama? Sch, schsch.« Unter ständigem Murmeln legt sie das Kind in ihren Arm, schaukelt es. Buchela ertastet mit der freien Hand das Mündchen und steckt ihren Zeigefinger hinein. Das Baby saugt. Hoffentlich ist es nicht zu hungrig, sonst wird es gleich um so lauter schreien. Sie wiegt das Kind und summt ganz leise. Buchela kann spüren, wie sich die Muskeln langsam entspannen und sich der Säugling auf ihrem Arm zu strecken scheint. Das Kind wird ruhiger. Es greift mit seiner kleinen Faust um ihren Finger und hält ihn ganz fest.

Irgendwann lockert sich der Griff und als der Arm des Säuglings nach unten rutscht, weiß Buchela, dass das Kind erschöpft eingeschlafen ist.

Ihre Augen haben sich an das Dunkel gewöhnt. Sie entdeckt einen Stuhl im schwachen Licht, das von draußen dringt, und setzt sich, um den schmerzenden Arm abstützen zu können.

Sie stellt sich vor, sie säße auf den Stufen ihres Wagens mit Engelsüßchen auf dem Arm. Zwischen den Wohnwagen knistert das Feuer. Tatta hat die Geige aus dem Wagen geholt und spielt. Eine Gitarre setzt ein. Der Körper des schlafenden Säuglings liegt warm auf Buchelas Bauch.

Als die Tür geöffnet wird, schreckt Buchela auf. Sie muss eingeschlafen sein. Im Rahmen steht Schwester Fidelis. »Was hast du hier zu suchen? Das hat ein Nachspiel!« Sie nimmt dem Mädchen heftig das Kind vom Arm. Sofort fängt der Säugling an zu schreien. Buchela springt von ihrem Stuhl auf, rennt in den Flur und zum Waschraum. Da stehen die anderen schon Schlange.

8.

Als der Morgen hinter ihr liegt und sie mit Änne zurück zum Waisenhaus geht, ist Buchela erleichtert. Sauerwein hat ihre Buchstaben auf der Tafel als liederliches Gekrakel bezeichnet. Was wolle man auch von Zigeunern erwarten. Die Sääwer würde nie lernen zu schreiben. Aber eine Strafe hat sie nicht bekommen. Sie fühlt sich müde und hungrig. In der Nacht hat sie kaum geschlafen, abgesehen von dem kurzen Einnicken gegen Morgen.

Während sie nun gemeinsam mit Änne die Pforte des Klosters passiert und in den dunklen Flur tritt, sieht Buchela, dass die Tür zum Zimmer der Oberin offen steht. Buchela macht sich neben Änne klein und blickt nicht auf. Schließlich rennt sie die steinerne Wendeltreppe wie vom Teufel gejagt nach oben.

Auf einfache Verstöße gegen die Hausordnung steht Essensentzug. Davor hat Buchela keine Angst. Es ist vorgekommen, dass ihnen Mama nichts gab. Wenn der Vater mit seiner Geige nicht aufspielen konnte, bekam er kein Geld und die Mutter kein Brot. Manchmal aßen sie Pilze, wenn die Jahreszeit danach war, oder Anton hat ein Kaninchen gefangen oder sogar einen Igel. Sonst gab es eben nichts.

Viel schlimmer ist im Waisenhaus das Stehen auf dem Schandfleck im Esssaal oder im Gottesdienst in der Nähe des Altars für alle sichtbar. Das Einsperren im dunklen Raum. In schwierigen Fällen rufen die Schwestern den Pfarrer dazu, der Schläge verabreicht.

Vorgestern musste ein Mädchen mit seinem nassen Betttuch auf dem Hof stehen, bis das Leinen getrocknet war. »Du hast nicht genug gebetet!«, hat Schwester Fidelis gesagt. »Sonst wäre das nicht wieder passiert.«

Gebetet wird viel: Am Morgen im Gottesdienst, zu jeder Mahlzeit, am Abend eine halbe Stunde. Vor dem Zubettgehen. Früher hat Buchela Obengt, den Teufel, nur im Brunnen gesehen, jetzt lauert er in allen Ecken. Er versucht sich der Kinderseelen zu bemächtigen, die nicht gottesfürchtig genug sind, sagt Schwester Fidelis.

Bei ihren Leuten gibt es auch Strafen. Mama und Tatta sprachen manchmal von der allerschlimmsten Strafe, die es gibt, die die Alten beschließen können: Nicht mehr dazuzugehören zu ihren Leuten. Ausgestoßen zu sein. Dann ist man ein Nichts. Ein Garnichts. Die Gadsche können zwar die Familien trennen, aber im Herzen bleiben sie zusammen, haben die Eltern ihr eingeschärft. Es sei denn, die Alten durchtrennen das Band.

Als ihr das einfällt, wird Buchela ruhiger. Die schlimmste Strafe können die Nonnen nicht anwenden. Dazu sind sie nicht in der Lage. Alles andere wird sie aushalten.

Es gibt Graupensuppe zu Mittag. Buchela wünscht sich, sie hätte schon die Strafe des Essensentzugs bekommen. Jeder Löffel ist eine Qual. Die Ochsenhufe rutschen nur schwer die Kehle herunter. Der Teller wird nicht leer. Aber das muss er. Ihr Hals ist eng und tut weh bei jedem Schlucken.

Unkonzentriert macht sie die Hausaufgaben, wartet darauf, dass gleich ihr Name gerufen wird. »Margaretha, du sollst zur Oberin kommen!«

Dann die Arbeit. Heute keine Pantoffeln, die ausgestopft werden sollen. Die Mädchen formen Tierfiguren aus Kerzenwachs. Was wie Kinderspiel aussieht, muss ordentlich und nach den ausgegebenen Vorbildern einer Kuh, eines Schafs, einer Ziege, eines Hundes ausgeführt werden. Und während die Kinder ihre Figuren modellieren, liest Schwester Benedicta aus den Legenden des Heiligen Wendelin vor, der ein guter Hirte gewesen ist und viele Menschen zum Glauben gebracht hat. Und weil er die Tiere besonders schützt, sagen die Bauern: »Sankt Wendelin, verlass’uns nie/schirm unsern Stall, schütz unser Vieh.«

In der kommenden Woche begeht man den Todestag des Heiligen. Dann kommen viele Menschen in die Stadt. Sie kaufen auf dem Markt, ehe sie zur Quelle wallfahrten, kleine Wachs­tiere, die sie später in den Wendelsbrunnen tauchen und zu Hause im Stall zu den Tieren stellen, damit ihr Vieh gesund bleibt.

Buchela formt ein Pferd. Sie denkt an den Braunen, den ihr Vater zuletzt vor den Wagen gespannt hat, ein ruhiges gutmütiges Tier. Nur wenn sie in größeren Orten mit viel Verkehr gewesen sind, hat er vor Aufregung öfter als gewöhnlich den Schwanz angehoben und seine Äpfel auf das Pflaster platschen lassen. Der Vater hat gelacht und Buchela auch. Geschieht ihnen recht, dass er ihnen auf die Straße scheißt, hat sie gedacht. Sie fährt mit dem Fingernagel über den Schwanz des Wachstieres und versucht die Haarsträhnen anzudeuten. Sie ist so vertieft, dass sie aufschreckt, als Schwester Benedicta sie ruft. Also doch. Buchela stellt ihr Pferd vorsichtig auf den Tisch und geht mit hängendem Kopf nach vorn.

»Margaretha. Du wirst in Zukunft nachmittags nicht mehr hier bei den Mädchen im Arbeitssaal sein können«, sagt die Schwester.

»Du bekommst neue Aufgaben.« Muss sie jetzt täglich den Kuhstall ausmisten? Muss sie nur noch schrubben? Was soll sie tun?

»Du weißt, dass wir einen Säugling bekommen haben«, sagt Schwester Benedicta. »Wir werden noch einen zweiten kriegen. Irgendjemand muss sich darum kümmern.«

Buchela nickt. Sie wartet darauf, dass nun die Strafe kommt.

»Schwester Fidelis hat mir berichtet, dass du in der Nacht das Baby beruhigt hast. Deshalb habe ich entschieden, dass wir es mit dir in der Kinderpflege versuchen werden. Ganz einfach wird das nicht sein.«

»Welche Strafe?«

»Was meinst du?«, fragt Benedicta.

»Schwester Fidelis …«

»Schwester Fidelis ist ganz meiner Meinung, dass die Kleinkindversorgung uns überfordert. Liefere deine Tiere ab und geh dann an deine neue Arbeit.«

Buchela läuft eilig zu ihrem Platz. Sie holt ihre zwei Pferde und stellt sie auf den Tisch neben Schwester Benedicta.

Als sie an der Tür ist, wendet sie sich noch einmal um und sieht die Schwester an. Gern möchte sie sich bedanken. Aber die Schwester kommt ihr zuvor. »Beeil dich«, fährt sie das Mädchen an.

Buchela findet den Säugling in einem mit Tüchern zugehängten Bettchen. Er wimmert, sein wütendes Geschrei vom Vortag ist in eine matte Klage übergegangen. Das Mädchen beugt sich über den Rand des Bettes: »Sch, sch«, murmelt es. Auf dem Tisch am Fenster findet sie ein paar Baumwolltücher, die offensichtlich als Windeln gedacht sind. Was soll sie dem Kind zu trinken geben?

Da öffnet Schwester Fidelis die Tür.

»Hier hast du verdünnte Milch.« Sie drückt Buchela eine Flasche in die Hand. »Du wirst dir in Zukunft die Milch selbst aus der Küche holen. Man muss sie mit Wasser versetzen, sonst verträgt ein Säugling sie nicht. Sie darf nur mäßig warm sein. Du bist auch für das Reinigen der Flaschen zuständig. Die Windeln leerst du am Abort und spülst sie danach aus. Du sammelst sie in einem Eimer und dann kochst du sie alle paar Tage aus, hängst sie auf im Garten.« Beim Herausgehen wendet sie sich noch einmal um.

»Lass die Tücher über dem Bett hängen. Das Kind weint, weil es zu viele Außenreize hat. Das muss aufhören. Dann ist es irgendwann still.«

Kaum hat Schwester Fidelis den Raum verlassen, beugt sich Buchela über das Bettchen und nimmt den Säugling auf. Sie schaukelt ihn auf ihrem Arm, hält sein Köpfchen gestützt und spricht leise auf das Baby ein, als könne es sie verstehen. Sie setzt sich auf den Stuhl, legt das Kind in die Armbeuge und führt die Flasche an den Mund. Das Kind saugt. Ein gutes Zeichen.

Es trinkt hastig, als hätte es schon lange nichts mehr bekommen. Dabei sieht es Buchela unentwegt mit seinen blauen Augen an. Der Blick hält Buchela fest.

Das Sauggeräusch wird lauter, weil das Kind nun den Rest der Milch mit der Luft einsaugt. Ein schnorchelnder Ton, der sich verstärkt. Der Säugling legt seine Stirn in Falten und verzieht den Mund. Seine Beine sind angewinkelt wie bei einem Frosch. »Bist noch nicht satt.« Buchela hebt den Säugling hoch. Sie klopft dem Kind auf den Rücken und schaukelt es auf der Hüfte.

Dann legt sie den Säugling auf den Tisch. Als sie die Windel löst, beginnt das Kind wieder zu schreien. Buchelas Blick fällt auf den verschorften Bauchnabel. Die Windel ist grün von dünnen Exkrementen. Ein süßlicher Geruch steigt ihr in die Nase. Rot entzündet die Haut. Das Kind schreit und zieht die Beine und Arme zusammen. »Mein Fröschchen. Mein Froschla.« Als sie das Kind an den Beinen anhebt, sieht sie weitere rote Stellen. Das Kind schreit. Dann übergibt es sich mit einem großen Schwall der gerade getrunkenen Milch. Sie säubert das Kind, wickelt es, trägt das wimmernde Wesen leise summend und wippend durch den Raum.

»Du sollst Ursula nicht so viel auf dem Arm tragen!«

Zu spät hat Buchela die schnellen Schritte auf dem Flur gehört. Sie beeilt sich, Froschla ins Bett zu legen und nimmt Schwester Fidelis das neue Bündel ab, das sie auf dem Arm trägt. »Ich hoffe, wir bekommen nicht noch mehr Schreihälse!«, sagt die Nonne, obwohl das Neue sich völlig still verhält. Schon an der Tür, dreht sie sich noch einmal um. »Das Kind heißt übrigens Hildegard. Merk dir das.«

Buchela nickt. Sie betrachtet das Gesicht des Kindes. Es hat große Augen und sieht sie erstaunt an. Auf seinem Kopf kräuseln sich braune Locken. Die Glocke vom Kirchturm schlägt dreimal an. Noch zweimal erklingt die große Glocke der Kirche mit drei Schlägen. Buchela fasst das Kind unter die Achseln und hebt es vor sich in die Höhe. Es kann den Kopf schon gut halten. Der Körper hängt wie ein kleiner Sack herunter. Als nun das helle Angelusläuten einsetzt, beginnt sie das Kind beim Klang der Glocken hin und her zu bewegen. Der Säugling staunt Buchela an, dann verzieht sich sein Mund zu einem kleinen Lächeln. Da nennt Buchela das Kind Bimbam.

9.

Am nächsten Morgen schleicht sich Buchela schon um vier aus dem Schlafsaal, bereitet die Milch in der Küche, tritt im Säuglingszimmer zunächst an das Bett von Bimbam und hält die Petroleum-Lampe, die sie für ihre Arbeit bekommen hat, darüber. Sie betrachtet das Kind im schwachen Licht. Es schläft und lächelt unbewusst im Traum. Mit den Engeln, denkt Buchela. Sie reibt sich ihre eiskalten Hände, damit sie etwas warm werden. Trotzdem zuckt Bimbam bei der ersten Berührung zusammen.

Als die Kinder getrunken haben und gewickelt sind, hört Buchela die Schritte der Mädchen, die zum Waschraum gehen. Trotzdem setzt sie sich noch eine Minute. Diese Sekunden gehören ihr. Gamli Daj3 sei Dank.

In der Schule folgt Buchela mit Mühe dem Unterricht. Ihre größte Angst ist, dass sie einschlafen könnte. Als der Morgen überstanden ist, freut sie sich, zurück ins Waisenhaus zu kommen. Es wartet jemand auf sie nach dem Mittagessen.