Die Sonnenblume - Simon Wiesenthal - E-Book

Die Sonnenblume E-Book

Simon Wiesenthal

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Beschreibung

Sie sind ein KZ-Häftling. Ein sterbender SS-Soldat bittet Sie um Vergebung. Was tun Sie? Vor ebendieser Entscheidung stand der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal im Jahr 1942. In seiner Erzählung Die Sonnenblume schildert der große Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit seinen Gewissenskonflikt, der ihn noch Jahrzehnte später nicht losließ. Hatte er das Richtige getan? Darf das Unverzeihliche verziehen werden? Wenn ja, wie? Wenn nein, wie weiterleben? Simon Wiesenthals Fragen rühren an die Grundfesten des Menschseins. Über 60 herausragende Männer und Frauen stellen sich ihnen: Geistliche und Theologen, Psychologen und Philosophen, Holocaust-Überlebende und Menschenrechtsaktivisten. Ihre Antworten sind so unterschiedlich wie ihre Erfahrungen in der Welt und zeigen, dass Wiesenthals Frage heute genauso aktuell ist. Das Buch fordert uns heraus, unsere eigene Haltung zu Vergebung und Versöhnung, Gerechtigkeit und Mitgefühl infrage zu stellen.

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Seitenzahl: 498

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Einzelne Antworten sind in der Originalausgabe von 1998 unter dem Titel The Sunflower. On the Possibilities and Limits of Forgiveness bei Schocken Books Inc., New York, erschienen. Distribution über Pantheon Books, a division of Random House Inc., New York.

This translation published by arrangement with Schocken Books, an imprint of The Knopf Doubleday Group, a division of Penguin Random House, LLC.

Diesem Buch liegt die Originalfassung der ursprünglich auf Deutsch geschriebenen Erzählung zugrunde, die 1970 bei Hoffmann und Campe, Hamburg, unter dem Titel Die Sonnenblume. Schuld und Vergebung erschienen ist. Dieser Ausgabe entstammen ebenfalls einzelne Antworten.

Copyright © 1969, 1970 by Opera Mundi, ParisCopyright renewed © 1997 by Simon WiesenthalPreface and Symposion copyright © 1976, 1997, 1998by Schocken Books Inc.

1. eBook-Ausgabe 2015© der vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe:

2015 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichBildnachweis: S. 399 oben: © Some rights reserved/National Archivesof the Netherlands; S. 399 unten: © Maurice Weiss, Ostkreuz Agenturder Fotografen, BerlinSatz: BuchHaus Robert Gigler, München

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

eBook-ISBN 978-3-95890-022-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Notiz der Herausgeberin

1969 bat Simon Wiesenthal verschiedene Persönlichkeiten, eine Antwort auf Fragen zu geben, die er selbst in der vorliegenden Erzählung vergeblich versuchte hatte zu beantworten. Die gefundenen Antworten veröffentlichte er zusammen mit der Erzählung in einem Buch, das er Die Sonnenblume nannte. Es wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und liegt bis heute in zahlreichen Neuauflagen vor.

Simon Wiesenthals zehnter Todestag ist nun der Anlass für eine deutsche Neuausgabe, für die ich 44 renommierte Persönlichkeiten gebeten habe, jene Fragen für die Gegenwart zu überdenken. Diese Antworten finden sich samt einer Auswahl von 15 Repliken aus früheren Ausgaben im vorliegenden Buch gesammelt. Die Jahreszahl neben dem Namen des Autors weist jeweils auf das Jahr hin, in dem die Antwort zum ersten Mal in der Sonnenblume veröffentlicht wurde.

Inhalt

VORWORT

Nicola Jungsberger

ERZÄHLUNG

Simon Wiesenthal

ANTWORTEN

Olivier Abel

Mehnaz Afridi

Sven Alkalaj

Jean Améry

Andrej Angrick

Aleida Assmann

Tarek Badawia

Peter Banki

Esther Bejarano

Tovia Ben-Chorin

Heidemarie Bennent-Vahle

Josef Bierbichler

Michael Bongardt

Christine Büchner

Maria und Stephan Craemer

Dalai Lama

Hajo Funke

Klaus Gerst

Pumla Gobodo-Madikizela

Reza Hajatpour

Franziskus von Heereman

Bert Hellinger

José Hobday

Detlef Horster

Halima Krausen

Elad Lapidot

Primo Levi

Deborah Lipstadt

Eva Madelung

Brigitta Mahr

Herbert Marcuse

Gisela Mayer

Klaus Mertes

Hamideh Mohagheghi

Eva Mozes Kor

Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen

Susan Neiman

Marcel Ophüls

Éva Pusztai-Fahidi

Tomáš Radil

Uta Ranke-Heinemann

Jalda Rebling

Matthieu Ricard

Walter Rothschild

Karin Scheiber

Klaus Schulz-Ladegast

Kurt Schuschnigg

Sidney Shachnow

Dorothee Sölle

Klaus von Stosch

Eberhard Tiefensee

Desmond Tutu

Bertold Ulsamer

Simone Veil

Martin Walser

Thomas Walther

Wolfram Wette

Beate Winkler

Carl Zuckmayer

Die Autorinnen und Autoren im Überblick

Literatur

Über Simon Wiesenthal und die Herausgeberin

Vorwort

Als ich Die Sonnenblume im Jahr 2008 zum ersten Mal las, wurde mir klar, dass ich gerade eines der wichtigsten Bücher in den Händen hielt, die ich je zum Holocaust, zu den Ursachen von solch unvorstellbaren Gräueltaten und zu den Möglichkeiten und Bedingungen von Vergebung gelesen hatte.

Indem Wiesenthal die Fragen aus seiner sehr visuell, fast naiv geschriebenen Erzählung den unterschiedlichen sachlichen, persönlichen, theologischen, philosophischen und politischen Antworten darauf gegenüberstellt, gelingt es ihm, die komplexe Thematik zu verdichten, ohne dass der Leser in eine bestimmte Richtung gedrängt wird. Anhand der Erzählung und der Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen lässt sich ein Stück weit nachvollziehen, wie Menschen anderen Menschen derart unmenschlich Erscheinendes antun können und gleichsam erahnen, wie dennoch ein konstruktives Weiterleben möglich sein kann. Eine Problematik, die sowohl politisch als auch privat relevant werden kann. Wiesenthal beschreibt in seiner autobiografisch gefärbten Erzählung die verschiedenen Schichten des Menschseins im Angesicht extremer Grausamkeit und sucht auf beiden Seiten den Menschen.

Wir haben das Jahr 1942, Simon ist im Lager Lemberg interniert. Sein Alltag ist geprägt vom Sterben und von der Willkür der Wärter.

Auf dem Weg zu einem Arbeitseinsatz erblickt Simon voller Neid, wie auf den frischen Gräbern der Soldaten Sonnenblumen blühen. Im Lazarett fragt ihn eine Krankenschwester, ob er Jude sei, woraufhin er an das Bett des sterbenden SS-Soldaten Karl geführt wird. Karl ergreift Simons Hand und beichtet fürchterliche Grausamkeiten gegenüber jüdischen Familien und bittet ihn inständig um Vergebung. Simon empfindet Mitleid, möchte aber mit dem Sterbenden nichts zu tun haben, verlässt ihn ohne ein Wort, hadernd, ob er ihm hätte verzeihen dürfen … sollen. Wieder zurück im Lager, lachen die anderen über seine Skrupel.

Am nächsten Morgen wird er erneut ins Lazarett geschickt. Doch Karl ist tot. Simon erfährt, dass der SS-Soldat ihm seine Habseligkeiten vermacht hat. Doch er kann sie nicht anrühren und lässt sie Karls Mutter schicken.

Vier Jahre nach seiner Befreiung kehren die Erinnerungen an die Begegnung mit Karl beim Anblick eines Sonnenblumenfeldes zurück. Noch immer weiß er keine Antwort auf die Frage, ob er dem Sterbenden hätte verzeihen sollen.

Ende der 1960er-Jahre entstand aus dieser Frage Die Sonnenblume. Von Anfang an war es als ein Grenzen überschreitendes, sozusagen globales Buch geplant. Simon Wiesenthal bat Menschen auf der ganzen Welt, von denen er meinte, dass sie etwas zur Beantwortung dieser Fragen beitragen könnten, um ihre Gedanken. Sein Konzept hat sich als sehr effektiv erwiesen, und seine Fragen, die er wie Samen in die Welt streute, ließen viele neue Sonnenblumen wachsen.

Bis heute wurde Die Sonnenblume in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und wird immer wieder neu herausgegeben. Außer in Deutschland, wo dieses wunderbare, ursprünglich auf Deutsch geschriebene Buch fast unbekannt ist. Je nach Erscheinungsland variierte und variiert die Zusammenstellung der Autoren. Anfangs bezogen sich die Antworten vor allem auf den Holocaust, später wurden auch aktuellere Konflikte wie der Bosnienkrieg oder die Zeit der Apartheid Bestandteil des Ringens um Antwort.

Zum zehnten Todestag von Simon Wiesenthal am 20. September 2015 habe ich seinen Ansatz fortgeführt und für die erste deutsche Neuausgabe seit 34 Jahren um Antwort auf seine Fragen gebeten: Soll man, darf man einem Mörder, einem Täter vergeben? Wie soll man, kann man mit dem Geschehenen weiterleben?

44 Holocaust-Überlebende, Angehörige von Holocaust-Überlebenden, Friedensarbeiter, Täterforscher, Psychologen, Philosophen, buddhistische, christliche und muslimische Geistliche und Theologen, Richter, Dokumentarfilmer und Schriftsteller haben ihre oft sehr persönliche, manchmal eher wissenschaftliche oder philosophische Antwort darauf gegeben. Sie lassen uns, vor dem Hintergrund des eigenen beruflichen und persönlichen Erfahrungsschatzes, teilhaben an ihren Techniken, Ritualen und Gedanken, die Vergebung und Versöhnung ermöglichen sollen oder auch verhindern können. Sie thematisieren wie man mit Unverzeihlichem weiterleben, wie aus Nicht-vergessen-Wollen ein Erinnern werden kann, das vielleicht einen Neuanfang möglich macht, wie wichtig Zuhören und Mitgefühl sind, welche Mechanismen bei Tätern oft eine Rolle gespielt haben. Dabei lassen die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Analysen und Ansätze spüren, wie verschieden wir die Welt und Geschehenes wahrnehmen und darauf reagieren können.

Es sind wunderbare und kluge Texte entstanden, die zum Nachdenken, Diskutieren und Verstehen anregen.

Nicola Jungsberger, August 2015

Erzählung

Was hatte Arthur heute Nacht gesagt? Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Es war etwas sehr Wichtiges gewesen. Wenn ich nur nicht so müde wäre!

Ich stand auf dem Appellplatz, auf dem sich langsam die Häftlinge sammelten. Sie hatten eben »Frühstück« gefasst – eine dunkle, bittere Brühe, von den Lagermannschaften großartig Kaffee genannt. Noch im Gehen schlürften sie dieses Zeug hinunter, um nur ja rechtzeitig zum Appell zu kommen.

Ich hatte keinen Kaffee geholt, ich wollte mich nicht durch die Menge drängeln. Der Platz vor der Küche war ein beliebtes Jagdrevier für die vielen Sadisten in den Reihen der SS. Sie versteckten sich meist hinter den Baracken, um sich plötzlich wie Raubvögel auf die wehrlosen Häftlinge zu stürzen. Jeden Tag gab es dort Verletzte. Das gehörte zum »Programm«. Stumm und bedrückt standen wir herum und warteten auf den Befehl zum Antreten. Doch meine Gedanken beschäftigten sich heute nicht mit den Gefahren, die dabei fast immer auf uns lauerten, sie kreisten unablässig um das Gespräch von gestern Nacht.

Ja, jetzt erinnerte ich mich wieder.

Es war schon spät.Wir lagen im Dunkeln, man hörte unterdrücktes Stöhnen, leises Flüstern, dazwischen gespenstisches Knarren, wenn sich jemand auf seiner Holzpritsche bewegte. Gesichter waren nicht zu erkennen. Nur an der Stimme konnte man unterscheiden, wer sprach.

Den Tag über waren zwei aus unserer Baracke im Ghetto gewesen. Der Scharführer hatte es ihnen bewilligt. Eine Laune? Vielleicht gepaart mit einer kleinen Bestechung? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich bloß eine Laune – womit konnte schon ein Häftling einen Scharführer bestechen?

Jetzt berichteten sie.

Arthur hockte dabei und neigte den Kopf zu ihnen, um nur ja kein Wort zu verpassen. Sie berichteten Neuigkeiten von draußen, vom Kriegsgeschehen. Ich lag halb schlafend daneben.

Die Menschen im Ghetto waren über vieles informiert. Wir im Lager hatten nur wenig teil an ihrem Wissen. Wir mussten es uns aus den mageren Berichten derer zusammenstückeln, die tagsüber außerhalb arbeiteten und aufschnappten, was Polen und Ukrainer sich erzählten – Wahrheiten, Gerüchte. Manchmal flüsterten ihnen auch die Menschen auf der Straße heimlich eine Nachricht zu, aus Mitleid oder zum Trost.

Selten genug handelte es sich um gute Nachrichten, und wenn, dann fragte man sich sofort, ob sie wohl auch wahr oder nur fromme Lügen waren. Schlechten Nachrichten dagegen glaubten wir aufs Wort, an sie waren wir schon gewöhnt. Sie jagten und übertrafen sich gegenseitig an Schrecklichem. Die heutigen waren schlechter als die gestrigen, die morgigen würden noch schlimmer sein.

Irgendwie schien die stickige Luft in der Baracke das Denken zu beeinträchtigen. Wochenlang schlief man aneinandergepresst in denselben verschwitzten Kleidern, die man auch am Tag bei der Arbeit trug. Manche von uns waren so erschöpft, dass sie sich nicht einmal mehr die Schuhe auszogen.Von Zeit zu Zeit schrie einer im Schlaf auf – er träumte vielleicht einen Albtraum, oder sein Nachbar hatte ihn gestoßen. Das nur halb geöffnete Oberlicht der Baracke, die früher einmal ein Stall gewesen war, ließ nicht genug Luft herein, um den Sauerstoffverbrauch von hundertfünfzig Menschen, die zusammengepfercht auf mehrstöckigen Pritschen lagen, auszugleichen.

Bunt zusammengewürfelt lagen hier Angehörige der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten beieinander. Reiche und Arme, Gebildete und Analphabeten, Fromme und Ungläubige, Philanthropen und Hartherzige, Mutige und Abgestumpfte. Das gleiche Schicksal hatte sie gleich gemacht. Doch allmählich bildeten sich kleine Gruppen, enge Gemeinschaften aus Menschen, die sonst niemals zusammengefunden hätten. Es entstanden Freundeskreise, man tauschte Plätze, rückte zusammen, um einander näher zu sein.

In der Gruppe, der ich angehörte, standen mir mein alter Freund Arthur und ein vor Kurzem ins Lager gekommener Jude namens Josek am nächsten. Josek war ein tief religiöser Mensch. Sein Glaube konnte durch die Umstände, unter denen wir lebten, und durch die offenen oder versteckten Herausforderungen anderer höchstens verletzt, aber niemals erschüttert werden. Er war zu beneiden. Auf alles hatte er eine Antwort, während wir anderen vergeblich nach Antworten suchten und darüber verzweifelten. Seine unerschütterliche Ruhe brachte uns manches Mal aus der Fassung. Besonders Arthur, dessen Lebensauffassung von Ironie bestimmt war, reagierte nervös, mitunter auch spöttisch und zornig auf Joseks Worte.

Ich nannte Josek scherzhaft »Rabbi«. Er war keiner, er war Kaufmann, aber der Glaube füllte sein ganzes Leben aus. Er wusste, dass er uns überlegen war, dass unsere Glaubensarmut uns noch ärmer machte. Immer wieder versuchte er deshalb, uns etwas von seinem Reichtum abzugeben, um uns zu stärken.

Doch was half es uns zu wissen, dass wir nicht die ersten verfolgten Juden waren? Und worin lag Trost, wenn Josek in seinem unerschöpflichen Schatz von Anekdoten und Legenden kramte und uns nachwies, dass Leid einen jeden Menschen von Geburt an begleitet.

Sobald Josek sprach, vergaß oder ignorierte er seine Umgebung völlig. Wir hatten den Eindruck, dass er einfach nicht zur Kenntnis nahm, wo er sich befand. Einmal gab es deswegen fast Streit.

Das war an einem Sonntagabend. Wir hatten nur bis mittags gearbeitet und lagen abgespannt auf unseren Pritschen. Jemand erzählte Neuigkeiten, die natürlich wieder traurig waren. Josek schien gar nicht hinzuhören. Er stellte keinerlei Fragen, wie es die andern taten. Plötzlich richtete er sich auf, und sein Blick verklärte sich. Dann begann er zu reden. »Unsere Gelehrten erzählen, dass bei der Erschaffung des Menschen vier Engel Pate gestanden haben. Es waren die Engel der Gnade, der Wahrheit, des Friedens und der Gerechtigkeit. Sie stritten sich lange, ob Gott den Menschen überhaupt erschaffen solle. Am stärksten widersetzte sich der Engel der Wahrheit. Dies erzürnte Gott, und Er verbannte den Engel zur Strafe auf die Erde. Doch die anderen Engel baten Gott um Verzeihung, bis Er sie schließlich erhörte und den Engel der Wahrheit zurück zu sich in den Himmel rief. Der Engel brachte von der Erde einen Klumpen mit, der von seinen Tränen durchtränkt war, Tränen, die der Engel geweint hatte, weil er aus dem Himmel verbannt worden war. Und aus diesem Klumpen Erde schuf der Herrgott den Menschen.«

Arthur wurde unruhig und unterbrach ihn. »Josek, ich will dir ja glauben, dass Gott aus diesem Klumpen tränendurchtränkter Erde einen Juden geschaffen hat. Aber willst du mir weismachen, dass Er auch unseren Lagerkommandanten Wilhaus aus demselben Stoff geformt hat?«

»Du vergisst Kain«, warf Josek ein.

»Und du vergisst, wo du dich befindest. Kain hat Abel im Zorn erschlagen, aber er hat ihn nicht gequält. Kain hatte eine persönliche Beziehung zu seinem Bruder, wir aber sind unseren Mördern fremd.«

Ich sah, dass Josek zutiefst verletzt war. Um dem Gespräch die Schärfe zu nehmen, mischte ich mich ein.

»Arthur, du vergisst Jahrtausende der Entwicklung, den sogenannten Fortschritt.«

Aber da lachten beide nur bitter – wir lebten nicht in einer Zeit, in der solche Worte am Platze waren.

Arthurs Frage war eigentlich gar nicht so unberechtigt.Waren wir denn wirklich alle aus demselben Stoff geschaffen? Wenn das stimmte, warum wurden dann die einen zu Mördern und die andern zu Opfern? Es bestand doch tatsächlich zwischen uns, zwischen den Mördern und ihren Opfern, zwischen unserem Lagerkommandanten Wilhaus und einem gepeinigten Juden keinerlei persönliche Beziehung.

Gestern Nacht nun lag ich halb wach auf meiner Pritsche. Mein Rücken schmerzte. Benommen lauschte ich den Stimmen, die wie von fern an mein Ohr drangen. Ich hörte etwas über neue Nachrichten von BBC London – oder von Radio Moskau.

Plötzlich packte Arthur meine Schulter und rüttelte mich. »Simon, hörst du?«

»Ja«, murmelte ich, »ich höre.«

»Hoffentlich hörst du mit deinen Ohren, denn deine Augen sind halb geschlossen. Und du solltest wirklich hören, was diese alte Frau gesagt hat.«

»Welche alte Frau?«, fragte ich. »Ich denke, ihr habt von dem gesprochen, was ihr über BBC gehört habt?«

»BBC – ach, das war vorhin, du hast einiges verschlafen. Eine alte Frau sagte …«

»Was kann eine alte Frau schon sagen? Weiß sie vielleicht, wann wir hier herauskommen? Oder wann man uns umlegt?«

»Nein, diese Fragen kann dir niemand beantworten. Aber sie hat etwas anderes gesagt, etwas, woran wir in dieser Zeit vielleicht denken sollten. Sie meinte, dass Gott auf Urlaub sei.« Arthur machte eine kleine Pause, wie um seine Worte wirken zu lassen. »Was meinst du dazu, Simon?«, fragte er schließlich.

»Lass mich schlafen«, gab ich zur Antwort. »Erzähl weiter, wenn Er wieder zurück ist.«

Zum ersten Mal, seit wir in diesem Stall lebten, hörte ich meine Freunde lachen – oder hatte ich das nur geträumt?

Wir warteten immer noch auf den Befehl zum Antreten. Anscheinend gab es eine Verzögerung. Ich konnte also Arthur gleich fragen, was Traum gewesen war und was Wirklichkeit.

»Arthur, wovon haben wir heute Nacht gesprochen? Von Gott? Von ›Gott auf Urlaub‹?«

»Josek war gestern im Ghetto. Er fragte eine alte Frau nach Neuigkeiten. Sie sah aber nur zum Himmel hinauf und sagte ernst: ›O Gott, Allmächtiger, kehr doch aus deinem Urlaub zurück und schau wieder auf deine Erde.‹ Das hat sich Josek gemerkt, und er war nicht einmal böse.«

»Und das soll etwas Neues sein? Dass wir in einer Welt leben, die von Gott verlassen ist?«

Ich kannte Arthur seit vielen Jahren. Als ich noch als junger Architekt arbeitete, war er mir schon Berater und Freund zugleich gewesen. Wir gehörten wie Brüder zusammen, er, der Rechtsanwalt und Schriftsteller, mit dem leichten, ironischen Lächeln um die Mundwinkel, das er niemals zu verlieren schien, und ich, der sich langsam mit dem Gedanken vertraut machte, nie mehr Häuser zu bauen, in denen sich frei und glücklich leben ließ. Und doch bewegten sich unsere Gedanken oft in verschiedenen Bahnen. Arthur lebte bereits in einer anderen Welt und sah Dinge voraus, die vermutlich erst viele Jahre später geschehen würden. Zwar glaubte auch er nicht, dass wir das hier überleben könnten. Aber er war überzeugt, dass die Deutschen letzten Endes nicht ungestraft davonkämen. Es würde ihnen vielleicht gelingen, uns und Millionen anderer Unschuldiger umzubringen, aber auch sie selbst würden daran zugrunde gehen.

Ich lebte mehr in der Gegenwart: Hunger, Müdigkeit, die Sorgen um meine Nächsten, die Erniedrigungen … Vor allem die Erniedrigungen.

Einmal habe ich gelesen, man könne den festen Glauben eines Menschen nicht brechen. Wenn ich das jemals für wahr gehalten haben sollte – das Leben im Lager hat mich eines anderen belehrt. Man kann unmöglich gläubig sein in einer Welt, die aufgehört hat, den Menschen als Menschen zu sehen, die einem »beweist«, dass man kein Mensch mehr ist. Da beginnt man zu zweifeln, beginnt man aufzuhören, an eine Weltordnung zu glauben, in der Gott einen bestimmten Platz hat. Man beginnt zu glauben, dass Gott auf Urlaub ist. Sonst wäre dies hier doch einfach nicht möglich gewesen. Er musste abwesend sein. Und einen Stellvertreter hat Er nicht. Mich konnten die Worte der alten Frau nicht erschüttern. Sie hatte nur ausgesprochen, was ich längst fühlte.

Wir befanden uns schon seit acht Tagen wieder im Lager. Eines Abends waren wir vom Außenkommando bei den Ostbahnwerken zurückgeholt worden, wie es hieß, nur für einen Tag, für eine neue Registrierung. Jede solche Registrierung barg neue Gefahren, die man sich im normalen Leben nicht vorstellen kann. Je öfter man uns registrierte, desto weniger wurden wir. Registrieren hieß in der Sprache der SS nicht bloß Bestandsaufnahme machen, es bedeutete vielmehr: säubern, durchkämmen, neu einteilen, die nicht mehr unbedingt Notwendigen aussondern, abschieben – meist in den Tod. Wir misstrauten aus bitterer und unmittelbarer Erfahrung selbst solchen Wörtern, deren eigentliche Bedeutung harmlos war, denn niemals hatte man etwas Harmloses mit uns vor. Alles klang nach Täuschung und war auch Täuschung. Etwa zweihundert von uns waren bis vor Kurzem bei den Ostbahnwerken beschäftigt gewesen. Jeden Morgen beim Appell stellten wir uns zusammen, denn wir hofften, dass uns eines Tages wieder jemand vom Bahnschutz abholen würde. Die Arbeit bei den Ostbahnwerken war keineswegs leicht. Aber wir durften uns auf dem Werkgelände einigermaßen frei bewegen und brauchten nachts nicht ins Lager zurück. Nur das Essen kam von dort – und schmeckte dementsprechend. Doch die Bewachung bestand aus Bahnschutzpolizisten. So waren wir wenigstens nicht fortwährend den unberechenbaren Launen der SS-Wächter im Lager ausgesetzt. Manche Meister und Vorarbeiter sorgten schon dafür, dass die Arbeit bei der Ostbahn nicht langweilig wurde. Viele von ihnen wurden von den Deutschen als zweitklassig betrachtet. Nur den Volksdeutschen ging es besser. Die Polen und Ukrainer jedoch bildeten gewissermaßen eine besondere Schicht zwischen den Deutschen, Herrenmenschen aus eigener Machtvollkommenheit, und den zu Untermenschen gestempelten Juden. Sie zitterten schon vor dem Tag, an dem es keine Juden mehr geben würde. Sie hatten Angst vor der Zeit, in der sich die eingespielte Organisation der Vernichtungsmaschinerie ihnen zuwenden würde.

Auch den Volksdeutschen war nicht immer wohl in ihrer Haut. Manche reagierten ihre Furcht dadurch ab, dass sie sich »deutscher« aufführten als so mancher Deutsche. Einige gab es aber auch, die uns Mitleid entgegenbrachten. Hin und wieder steckten sie uns verstohlen ein Stück Brot zu und sorgten dafür, dass wir bei der Arbeit nicht zu sehr geschunden wurden.

Zu denen, die unaufgefordert ihr Soll an Grausamkeit übererfüllten, gehörte ein älterer Mann namens Delosch, ein Säufer, der sich, wenn er gerade nichts zu trinken hatte, seine Zeit mit dem Verprügeln von Häftlingen vertrieb. Oft bestach ihn die Gruppe, die er beaufsichtigte, mit Geld für Schnaps. Manchmal versuchte auch einer, seine leicht zu rührende Säuferseele mit der Schilderung jüdischen Schickals zu beeindrucken, was allerdings nur dann richtig gelang, wenn er genügend unter Alkohol stand. Seine Schikanen waren im Werk ebenso bekannt wie seine »Weisheiten«. Wenn jemand zu ihm sagte, er habe aus dem Ghetto die Nachricht erhalten, seine Familie sei umgebracht worden, dann pflegte Delosch zu antworten: »Zum Begräbnis des letzten Juden in Lemberg werden immer noch tausend Juden kommen.« Das hörten wir mehrere Male am Tag. Delosch war auf diese Weisheit mächtig stolz.

Und trotzdem sehnten wir uns nach dieser Außenstelle.

Als sich nach dem Befehl zum Antreten die einzelnen Gruppen formierten, hatten wir uns schon damit abgefunden, im Lager bleiben zu müssen. Das war das Ärgste. Im Lager wurde ununterbrochen gebaut, man konnte zu Garten- oder Werkstättenarbeiten eingeteilt werden oder auch zum Reinigungskommando – aber jede dieser Tätigkeiten war voller Gefahren und gefährlicher noch als das »normale« Leben eines Juden damals. Im Lager gab es jeden Tag Tote, Juden wurden aufgeknüpft, von Stiefeln zertrampelt, von abgerichteten Hunden zerfleischt, geprügelt und auf jede erdenkliche Weise erniedrigt. – Nicht wenige von uns konnten das alles nicht mehr ertragen und setzten ihrem Leben freiwillig ein Ende. Verlieren konnten sie dadurch allenfalls einige Tage, Wochen oder Monate an Leben, aber sie ersparten sich unzählige Misshandlungen und Qualen.

Im Lager zu bleiben bedeutete, dass man nicht nur von einem einzelnen SS-Mann, sondern von vielen bewacht wurde. Nicht selten vertrieben sich die Wächter die Zeit damit, dass sie von einer Arbeitsstelle zur anderen wanderten, um wahllos Häftlinge zu verprügeln oder wegen angeblicher Sabotage der Kommandantur zu melden, was unweigerlich zu strenger Bestrafung führte. Wenn ein SS-Mann behauptete, man habe nicht gearbeitet, so stimmte das – selbst wenn man vorzeigen konnte, was man geleistet hatte. Was ein SS-Mann sagte, stimmte immer.

Die Einteilung zu den Arbeitskommandos war schon fast beendet, und wir von den Ostbahnwerken standen mit hängenden Köpfen. Man brauchte uns anscheinend dort nicht mehr. Also würden wir wohl wieder im Lager bleiben müssen. Da kam plötzlich ein Rottenführer zu uns herüber und zählte etwa fünfzig Mann ab. Ich befand mich unter den Abgezählten, Arthur blieb zurück. Wir formierten uns in Dreierreihen und passierten das innere Tor. Dort gesellten sich uns sechs »Askaris« als Bewachung zu, übergelaufene oder gefangene Russen, die sich für den Dienst unter den Deutschen verpflichtet hatten. Die Bezeichnung »Askari« war während des Ersten Weltkriegs für die Negermannschaften der deutschen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika aufgekommen. Aus unerfindlichen Gründen nannte die SS auch die russischen Hilfskräfte so. Sie wurden von den Bewachungsmannschaften zu Hilfsdiensten in Konzentrationslagern eingesetzt und wussten nur zu gut, was die Deutschen von ihnen erwarteten. Die meisten enttäuschten diese Erwartungen auch nicht. Ihre Härte wurde nur durch ihre Bestechlichkeit gemildert. Die Lagerkapos und Vorarbeiter standen mit ihnen auf ziemlich gutem Fuß und besorgten ihnen, sooft es ging, Schnaps und Zigaretten. Dann konnte man sich auf den Außenkommandos, die unter ihrer Aufsicht standen, freier bewegen.

Hauptsächlich achteten die »Askaris« auf eines: dass gesungen wurde. Musik war überhaupt großgeschrieben im Lager. Es gab sogar eine Musikkapelle. Ihre Mitglieder – ausnahmslos Häftlinge – waren früher die besten Musiker in und um Lemberg gewesen. Der SS-Untersturmführer Richard Rokita, einst Geiger in einem schlesischen Kaffeehaus, war ganz versessen auf »seine« Kapelle. Er, der jeden Tag wahllos Häftlinge aus reiner Mordlust tötete, hatte nur einen Ehrgeiz: eine Kapelle! Er verschaffte den Musikern eine eigene Unterkunft und verhätschelte sie geradezu. Das Lager durften allerdings auch sie nicht verlassen. Abends spielten sie Werke von Bach, Grieg oder Wagner für die SS. Eines Tages brachte Rokita einen Chansonkomponisten namens Zygmunt Schlechter mit und befahl ihm, einen »Todestango« zu komponieren. Sooft dann das Orchester diesen Tango spielte, bekam der Sadist und Unmensch Rokita feuchte Augen.

Frühmorgens, wenn die Häftlinge das Lager zur Arbeit verließen, spielten die Musiker dazu auf. Peinlichst achtete die SS darauf, dass wir schön im Takt der Musik marschierten. Erst wenn wir das Tor passiert hatten, fingen wir an zu singen.

Es gab einen bestimmten Typ von Lagerliedern. Ihre Texte waren gemischt aus Wehmut, Galgenhumor und ordinären Worten, ein buntes Durcheinander von Russisch, Polnisch und Deutsch. Besonders die ordinären Texte entsprachen der Mentalität der »Askaris«. Immer wieder verlangten sie nach dem einen oder anderen Lied. Wenn wir es dann anstimmten, legte sich ein breites Grinsen über ihr Gesicht, und ihre Züge verloren ein wenig von der Strenge, die wir an ihnen gewohnt waren.

Als wir das äußere Tor verlassen hatten, atmeten wir etwas freier. Schon dass wir uns außerhalb des Stacheldrahts befanden, ließ uns die Luft frischer erscheinen – wir sahen die Menschen und Häuser nicht mehr nur durch die Maschen des Stacheldrahts, nicht mehr teilweise verdeckt durch die Wachtürme.

Hin und wieder blieben die Leute neugierig stehen, starrten zu uns herüber, aber manche Hand, die uns zuwinken wollte, fiel schlaff wieder herunter. Man fürchtete, dass ein SS-Mann diese Geste der Freundlichkeit sehen könnte. Das war gefährlich.

Das Treiben auf den Straßen schien vom Krieg nicht berührt. Die Front war über tausend Kilometer entfernt, und nur die wenigen Soldaten erinnerten daran, dass man nicht im Frieden lebte.

Ein »Askari« begann zu singen, und wir fielen in das Lied ein, obwohl uns nicht nach Singen zumute war. Die Frauen unter den Gaffenden am Straßenrand drehten verschämt die Köpfe weg, wenn sie die ordinären Stellen des Liedes hörten. Das belustigte natürlich die »Askaris« sehr. Einer von ihnen sonderte sich von der Kolonne ab und trottete zum Gehsteig, um ein Mädchen anzusprechen.Was er sagte, konnten wir nicht verstehen, aber wir konnten es uns vorstellen. Das junge Ding errötete und beschleunigte seine Schritte.

Unsere Blicke suchten in der Menge am Straßenrand nach Bekannten. Manche starrten aber auch nur auf den Boden vor sich, sie wollten in ihrer jetzigen Lage keine Bekannten sehen.

An den Mienen der Passanten konnte man ablesen, dass wir bereits abgeschrieben waren. Die Menschen in Lemberg hatten sich völlig an den Anblick misshandelter Juden gewöhnt. Sie sahen uns an, wie man sonst vielleicht einer Herde Rinder zusieht, die zur Weide – oder zum Schlachthof – getrieben wird. In solchen Augenblicken überkam mich manchmal das Gefühl, die ganze Welt habe sich gegen uns verschworen und akzeptiere ohne Widerspruch, ja sogar ohne Anteilnahme unser Schicksal.

Ich wandte meine Augen ab, ich wollte nicht mehr in die Gesichter um uns blicken, nicht mehr diesen Ausdruck heuchlerischen Mitleids sehen. Waren die Menschen denn überhaupt noch eines echten Gefühls fähig? Dachten nicht manche von ihnen: Gut, dass es die Juden noch gibt; solange die da sind, solange die Nazis sich mit ihnen beschäftigen, verschont man uns?

Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das ich einige Tage vorher, nicht weit von hier, gehabt hatte. Als man uns ins Lager führte, ging ein Mann vorbei, den ich von früher her kannte, ein Studienkollege, jetzt polnischer Ingenieur. Vielleicht hatte er Angst, mir auffällig zuzuwinken. Er zwinkerte nur mit den Augen, aber in ihnen stand deutlich zu lesen, dass er sich wunderte, mich noch lebend zu sehen. Für ihn waren wir so gut wie tot. Jeder von uns schien seinen Totenschein mit sich herumzutragen, auf dem nur noch das Datum fehlte.

An einer Kreuzung hielt unsere Kolonne plötzlich an.

Ich versuchte, an den Köpfen der anderen vorbei die Ursache dafür zu erkennen, konnte aber nichts entdecken. Vielleicht kreuzte irgendein Fuhrwerk unseren Weg. Es war schließlich auch gleichgültig. Da bemerkte ich links neben der Straße einen Soldatenfriedhof. Und auch hier gab es einen Stacheldraht, aber er war nicht hoch. Die Drähte waren durch schütteres Gebüsch und niedrige Sträucher gezogen, aber durch die Zweige hindurch sah man deutlich die schnurgerade ausgerichteten Gräber.

Und auf jedem Grab stand aufrecht, wie ein Soldat, eine Sonnenblume.

Ich starrte gebannt hinüber. Die Blütenköpfe schienen wie Spiegel die Strahlen der Sonne einzufangen und sie in das Dunkel der Gräber hinabzuleiten. Mein Blick wanderte von der Sonnenblume zum Grab hinab. Und dann weiter ins Erdreich hinein, in die Gruft, und auf einmal sah ich vor mir keine Sonnenblume, keinen Friedhof, sondern ein Periskop. Bunte Schmetterlinge flatterten von Blume zu Blume. Brachten sie nicht Botschaften von Grab zu Grab? Flüsterten sie nicht jeder Blüte etwas zu, das diese nach unten weitergab? Ja, das taten sie sicher; so empfingen die Toten Licht und Botschaften.

Und plötzlich beneidete ich die toten Soldaten. Jeder hatte eine Sonnenblume, die ihn irgendwie noch mit der Welt verband, hatte Schmetterlinge, die sein Grab besuchten. Mich erwartete keine Sonnenblume. Ich würde in ein dürftig zugeschaufeltes Grab kommen, auf Leichen liegen, und über mir würden sich andere Leichen türmen.

Keine Sonnenblume würde jemals Licht in dieses Dunkel bringen, und Schmetterlinge würden die Stelle meiden.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so standen. Einer hinter mir gab mir einen Stoß, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Noch im Gehen hielt ich den Kopf zu den Sonnenblumen gewendet. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende, nicht zu zählen, eine leuchtende Fülle.

Aber die unter ihnen Begrabenen hatten die Verbindung mit der Welt nicht verloren. Selbst im Tode waren sie uns noch überlegen …

Ich dachte eigentlich nur selten an den Tod. Ich wusste, dass er für mich unausweichlich war, er erwartete mich, früher oder später, und allmählich hatte ich mich an seine Nähe gewöhnt. Es interessierte mich nicht einmal, in welcher Form er eintreten würde. Es gab zu viele Möglichkeiten und zu viele Gelegenheiten. Ich hoffte nur, dass es rasch gehen würde. Wie, das überließ ich dem Schicksal.

Doch der Anblick der Sonnenblumen hatte neue Gedanken in mir geweckt. Ich fühlte, dass ich mich noch einmal mit ihnen beschäftigen würde, dass sie ein Symbol waren, das etwas zu bedeuten hatte.

Wir erreichten die Janowskastraße, den Friedhof hatten wir hinter uns gelassen. Ich wandte noch einmal den Kopf und sah einen Wald von Sonnenblumen.

Noch wussten wir nicht, wohin man uns führte. Mein Nebenmann flüsterte mir zu: »Vielleicht haben sie eine neue Arbeitsstelle im Ghetto errichtet.«

Möglich war das. Man erzählte sich, dass laufend neue Dienststellen entstünden. Immer wieder nisteten sich deutsche Unternehmen in Lemberg ein. Es ging ihnen nicht so sehr darum, viel Geld zu verdienen. Wichtiger war, dass sie auf diese Weise ihre Leute behalten und vom Kriegsdienst freistellen lassen konnten. Das ging im ruhigen Lemberg, weit von der Front, verhältnismäßig leicht. Die meisten dieser Unternehmen brachten aus dem Reich nur das Briefpapier, einen Stempel, einige Vorarbeiter und etwas Inventar mit. Noch vor Kurzem war Lemberg in der Hand der Russen gewesen, und diese hatten die meisten Bauunternehmen, von denen sich viele in jüdischem Besitz befanden, verstaatlicht. Als die Russen flüchteten, konnten sie natürlich Maschinen und Werkzeuge nicht mitnehmen. Was sie zurückließen, kam ins »Beutelager« und wurde nun an die neu etablierten deutschen Unternehmen verteilt.

Auch um Arbeiter brauchten sich die neuen Unternehmen keine Sorgen zu machen. Solange es noch Juden gab, waren sie billig, fast geschenkt, zu haben. Die Dienststelle musste nur als kriegswichtig anerkannt sein. Daher blühten natürlich Protektion und Bestechung. Wer Beziehungen hatte, bekam die Erlaubnis, eine Zweigniederlassung im besetzten Gebiet zu errichten, erhielt Hunderte von Juden als billige Arbeitskräfte und konnte außerdem über einen umfangreichen Maschinenpark verfügen. Die aus Deutschland mitgebrachten Leute wurden nicht eingezogen und blieben vom Dienst an der Front verschont.Wohnungen im deutschen Wohnbezirk Lembergs wurden ihnen zur Verfügung gestellt; sehr schöne Wohnungen, die von vermögenden Polen und Juden verlassen worden waren, damit die Herrenrasse Platz hatte.

Für die Juden war es von Vorteil, dass sich so viele deutsche Unternehmen im Hinterland drängten. Die Arbeit in den Außenkommandos des Konzentrationslagers war nicht besonders schwer, und meistens kämpften die Dienststellenleiter sogar um »ihre Juden«, da sie ohne diese billigen Arbeitskräfte weiter nach Osten, näher zur Front, gemusst hätten.

Rings um mich hörte ich es immer wieder flüstern: »Wohin gehen wir wohl?« Gingen wir überhaupt oder trugen uns nur die Füße? Gehen heißt, mit den Füßen einen Entschluss auszuführen, den das Hirn gefasst hat. Aber unser Hirn hatte keinen Entschluss gefasst. Unsere Füße führten nur aus, was der Vordermann machte, blieben stehen, wenn er stehen blieb, und bewegten sich, wenn er sich bewegte.

Bei der Grodezkastraße hielten wir abermals an. Bald musste es sich entscheiden, wohin man uns führte. Links ging es zum Ghetto, rechts – da gab es viele Möglichkeiten.

Wir schwenkten nach rechts, in die Grodezkastraße. Wie oft war ich sie entlanggeschlendert, als Student und später als Architekt. Vorübergehend hatte ich sogar mit einem Kollegen aus Przemysl hier gewohnt.

Es war zwar noch nicht einmal acht Uhr, aber es herrschte bereits ein lebhafter Betrieb. Eine veraltete Straßenbahn klapperte in den ausgefahrenen Schienen vorüber. Man sah Bauern, die in die Stadt kamen, um Tauschgeschäfte abzuschließen, denn zum Geld hatten die Bauern damals kein richtiges Vertrauen mehr. Das war in Kriegs- und Krisenzeiten schon immer so gewesen. Unsere Kolonne machte auf die Bauern keinerlei Eindruck.

Unser Zug bewegte sich stadtauswärts. Immer mehr Passanten blieben stehen und begafften uns. Die »Askaris« hatten sich schon heiser gesungen und legten eine Pause ein.Vom Bahnhof her eilten Soldaten mit Gepäck die Grodezka entlang. SS-Männer zogen vorbei und maßen uns abschätzend. Ein Offizier der Wehrmacht blieb stehen und betrachtete uns. Um seinen Hals hing ein Fotoapparat, aber er konnte sich nicht entschließen, Aufnahmen von uns zu machen. Man merkte es daran, wie er den Apparat zögernd von der Rechten in die Linke nahm und dann doch hängen ließ.Vielleicht fürchtete er Ärger mit der SS.

Schon tauchte am Ende der Grodezkastraße die hoch aufragende Kirche aus rotem Backstein und Steinquadern auf. In welche Richtung würde der »Askari« an der Spitze unserer Kolonne einschwenken? Nach rechts, zum Bahnhof hinunter, oder nach links, in die Sapiehystraße, an deren Ende sich das berüchtigte Loncki-Gefängnis befand?

Wir schwenkten links ein.

Diesen Weg kannte ich gut. In der Sapiehystraße stand die Technische Hochschule. Jahre hindurch war ich mehrmals am Tag hier entlanggegangen, als ich mich nach meiner Rückkehr aus Prag auf das polnische Diplom vorbereitete.

Für uns jüdische Studenten war die Sapiehystraße immer eine Schicksalsstraße gewesen. Nur wenige jüdische Familien hatten hier gewohnt, und in unruhigen Zeiten wurde die Gegend von Juden gemieden. Hier lebten Polen – Berufsoffiziere, Angehörige freier Berufe, Industrielle und Beamte. Ihre Söhne nannte man die »goldene Jugend« Lembergs. Für uns jüdische Studenten war diese Jugend allerdings nicht »golden«. Aus ihren Reihen kamen die meisten Studenten der Technischen Hochschule und der Hochschule für Bodenkultur. Unter ihnen waren viele Schläger, Rabauken, Antisemiten, und oft blieben Juden, die ihnen in die Hände fielen, verwundet am Boden zurück. Sie hatten Rasierklingen an die Spitzen ihrer Stöcke montiert und droschen damit auf ihre jüdischen Kommilitonen ein. Wenn man auch nur jüdisch aussah, war es gefährlich, abends hier durchzugehen, wenn die Jugend der Nationaldemokraten oder der ONR (Radikalnationales Lager) ihre antijüdischen Parolen in die Praxis umsetzte. Nur selten ließ sich jemand von der Polizei blicken, um die Bedrohten zu schützen.

Es war unbegreiflich, dass in einer Zeit, in der Hitler schon schwer bewaffnet an Polens Westgrenze stand und offensichtlich Appetit auf polnisches Territorium hatte, diese jungen und alten polnischen »Patrioten« nur an eins dachten: an die Juden und an ihren Hass gegen sie. In Deutschland errichtete man Tag für Tag neue Fabriken, um das Rüstungspotenzial ins Gigantische zu treiben, man baute strategisch wichtige Straßen in Richtung Polen und zog immer mehr junge Deutsche zum Wehrdienst ein. Aber damit beschäftigte sich das polnische Parlament nicht, es hatte »wichtigere« Aufgaben und diskutierte das Schächtverbot, um den Juden bei der Herstellung von koscherem Fleisch Schwierigkeiten zu machen.

Solchen parlamentarischen Diskussionen folgten meist Straßenschlachten, denn die jüdische Intelligenz war den Antisemiten ein Dorn im Auge.

Zwei Jahre vor Kriegsausbruch erfanden diese radikalen Elemente den »Tag ohne Juden«. Damit hofften sie, die Zahl der jüdischen Akademiker niedrig zu halten, die Studenten beim Studium zu behindern und ihnen die Examina unmöglich zu machen. An solchen »Feiertagen« lauerte vor den Toren der Hochschulen eine Meute aus den Reihen der Burschenschaften mit Spruchbändern, auf denen »Tag ohne Juden« zu lesen war. Das Datum dieses Tages legten die radikalen Studenten selbst fest. Es fiel immer mit den Prüfungstagen zusammen. Der »Tag ohne Juden« war eben ein »beweglicher Feiertag«. Da das Gelände der Technischen Hochschule exterritorial war, durfte die Polizei nur auf ausdrückliches Verlangen des Rektors hin eingreifen. Gewöhnlich war jedoch der Rektor nur ein Spielzeug in den Händen der Radikalen. Obwohl diese nur etwa zwanzig Prozent der Studenten ausmachten, herrschte hier wie fast überall eine Minderheit über die feige und träge Mehrheit. Die große Masse der Studenten dachte nicht im Entferntesten daran, für die Juden oder überhaupt für Ordnung und Gerechtigkeit einzutreten. Sie wollten sich nicht exponieren, blieben passiv mit eigenen Problemen beschäftigt und standen dem Schicksal der jüdischen Studenten gleichgültig gegenüber.

Unter den Professoren bestand ungefähr dieselbe Gruppierung. Einige waren echte Antisemiten, aber auch bei den anderen konnten die jüdischen Studenten kaum einen Ersatztermin für ihre Prüfungen bekommen, wenn sie das Unglück gehabt hatten, durch Hetze und Gewalt vom festgesetzten Termin abgehalten worden zu sein. Für diejenigen Juden, die aus ärmeren Verhältnissen stammten, bedeutete der Verlust eines Semesters unweigerlich das Ende ihres Studiums. Sie mussten sich deshalb auch an den antisemitischen »Festtagen« in die Hochschule wagen. Das führte dann zu grotesken Situationen. In den Nebenstraßen nahe der Hochschule warteten geduldig die Krankenwagen. Sie hatten an den Prüfungstagen Hochbetrieb. Auch die Polizei wartete dort, um zu verhindern, dass die Misshandlungen außerhalb des Hochschulgeländes fortgesetzt wurden.Von Zeit zu Zeit wurden Schläger verhaftet und vor Gericht gestellt. Sie verließen nach einigen Wochen oder Monaten die Gefängnisse als Helden. An ihrem Rockaufschlag prangte ein Abzeichen, ein Gefängnisgitter. Sie hatten für die nationale Sache gelitten. Hochgeehrt von den anderen, genossen sie auch bei manchen Professoren Vorrechte. Sie von der Hochschule zu entfernen kam natürlich nicht in Betracht.

Solche Erinnerungen überkamen mich, als ich nun unter Bewachung der »Askaris« an den wohlvertrauten Häusern vorbeiging. Ich musterte die Passanten.Vielleicht waren ehemalige Studienkollegen darunter. Ich würde sie sofort erkennen: Wenn sie jemanden sahen, den man für einen Juden halten konnte, dann trat Hass in ihr Gesicht, ihre Augen verengten sich, und ihre Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. Ich hatte das während meiner Studienzeit zu oft gesehen, um es jemals vergessen zu können.

Wo mochten sie jetzt nur sein, diese Superpatrioten, die immer von einem »Polen ohne Juden« geträumt hatten? Der Tag, an dem es keine Juden mehr geben würde, war nicht mehr fern, ihr Traum fast schon Wirklichkeit. Nur gab es auch kein Polen mehr.

Wir bleiben vor der Technischen Hochschule stehen. Dort ist alles so geblieben, wie es war. Das Hauptgebäude, ein neoklassizistischer Bau in Terrakotta und Gelb, steht ein wenig von der Straße abgesetzt, umgrenzt von einer niedrigen Steinmauer mit hohen Eisenstäben. Während der Prüfungszeit ging ich oft an diesem Zaun entlang und spähte durch die Stäbe hindurch nach den radikalen Studenten, die mit dicken Bambusstöcken bewaffnet auf Opfer warteten, während über dem breiten Eingangstor ein Spruchband »Tag ohne Juden« im Wind flatterte. Vom Tor bis zum Portal des Gebäudes bildeten bewaffnete Studenten Spalier und musterten jeden, der das Gebäude betreten wollte, mit prüfenden Augen.

Nun stehe ich wieder vor diesem Tor. Es gibt kein Spruchband mehr, keine Studenten, die jeden Juden Spießruten laufen lassen wollen, nur einige deutsche Wachsoldaten und über dem Eingang eine Tafel mit der Aufschrift »Reservelazarett«. Ein SS-Mann aus dem Lager spricht kurz mit einem Wachsoldaten, dann wird das Tor geöffnet. Wir gehen an den gepflegten Rasenbeeten entlang, schwenken vor dem Haupteingang links ab und werden um das Gebäude herum in den Hof geführt. Er liegt im tiefen Schatten. Sanitätswagen fahren ein und aus, zwei- oder dreimal müssen wir stehen bleiben, um einen vorbeifahren zu lassen. Dann übernimmt uns ein Sanitätsfeldwebel, um uns zur Arbeit einzuteilen.

Ich habe ein seltsames Gefühl, alles kommt mir irgendwie fremd vor, obwohl ich einige Jahre hier verbracht hatte. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich jemals auf diesem hinteren Hof gewesen bin. Was hätte ich hier auch zu suchen gehabt? Wir waren immer froh, wenn wir unbehelligt ins Gebäude und wieder hinaus gelangten.

Große Betonbehälter stehen auf dem Hof herum. Sie sind bis zum Rand mit blutigem Verbandszeug gefüllt. Leere Schachteln, Säcke und anderes Verpackungsmaterial liegen haufenweise auf dem Boden. Eine Gruppe von uns ist bereits dabei, zwei Lastwagen mit diesem Abfall zu beladen. Die Luft ist voller Gestank, einem Gemisch aus scharfen Medikamenten, Desinfektionsmitteln und Verwesungsgeruch.

Geschäftig eilen Rot-Kreuz-Schwestern und Sanitätssoldaten hin und her. Die »Askaris« haben den schattigen, stinkenden Hof verlassen und sich ein wenig abseits auf den Rasen in die Sonne gesetzt. Sie drehen sich Zigaretten aus Zeitungspapier, das sie mit Tabak vollstopfen, wie sie es von Russland her gewohnt sind.

Einige Leichtverwundete und Rekonvaleszenten, die sich auf Bänken sonnen, beobachten die »Askaris«. Sie merken trotz der deutschen Uniform sofort, dass es sich um Russen handelt, und fangen an zu spotten, weil sie sich Zigaretten, dick wie Balken, drehen. Wir hören, dass sie sich über uns erkundigen.

Einer steht von seiner Bank auf und kommt näher heran. Er betrachtet uns gefühllos, als wären wir Tiere im Zoo, nur dass wir nicht in einem Käfig sitzen und er uns nicht hinter Gittern sieht. Wahrscheinlich überlegt er, wie lange wir wohl noch zu leben haben. Dann deutet er auf seinen Arm, den er in einer Schlinge trägt, und ruft: »Ihr Judenschweine, das haben mir eure Brüder angetan, diese verdammten Kommunisten. Aber ihr werdet schon noch verrecken – alle miteinander.«

Die übrigen Soldaten scheinen seine Ansicht nicht zu teilen. Man sieht es ihnen an. Sie werfen mitleidige Blicke zu uns herüber, einer schüttelt nachdenklich den Kopf. Aber keiner von ihnen wagt etwas zu sagen. Der Soldat, der auf uns zugetreten war, murmelt noch einige Flüche und setzt sich dann wieder in die Sonne.

Dieser gemeine Schuft, der unschuldige, unglückliche Menschen, die sich nicht wehren können, beschimpft, wenn der krepiert, so denke ich, dann wird auf seinem Grab eine Sonnenblume stehen, die über ihn wacht. Ich blicke ihm sinnend nach und sehe mit einem Mal nicht mehr ihn, sondern die Sonnenblume. Mein Blick stört ihn offensichtlich. Er nimmt einen Kieselstein auf und schleudert ihn in meine Richtung. Der Stein verfehlt mich, und die Sonnenblume verschwindet.

Ich fühle mich verzweifelt allein und wünsche mir, Arthur wäre meiner Gruppe zugeteilt worden.

Der Sanitäter, dem wir unterstehen, führt uns schließlich weg. Wir müssen Kartons mit Abfällen aus dem Gebäude heraustragen. Ihr Inhalt kommt wahrscheinlich aus dem Operationssaal. Der Geruch schnürt einem die Kehle zu.

Als ich etwas abseits trete, um Luft zu schnappen, bemerke ich eine kleine, rundliche Krankenschwester, die zu einem graublauen Kleid mit weißen Aufschlägen das charakteristische weiße Häubchen trägt. Sie blickt sich neugierig um und kommt dann direkt auf mich zu.

»Sind Sie Jude?«, fragt sie mich.

Ich blicke sie verwundert an. Muss man das erst fragen, sieht man mir das nicht an, meiner Kleidung, meinem Blick? Merkt sie nicht, dass wir hier unter Bewachung arbeiten? Will sie mich verhöhnen? Oder was soll ihre Frage sonst?

»Ja.« Ich nicke.

Sie blinzelt mir zu und sagt halblaut: »Kommen Sie mit.« Also eine mitleidige Seele, denke ich.Vielleicht will sie mir ein Stück Brot geben. Sie wagt das wahrscheinlich nicht hier vor den Augen der anderen.

Vor zwei Monaten, als ich noch bei der Ostbahn arbeitete, verlud ich einmal Druckflaschen mit Sauerstoff. Ein Soldat kletterte aus einem auf dem Nebengeleise abgestellten Waggon und kam auf mich zu. Er sagte, er beobachte uns schon einige Zeit, er sehe uns an, dass wir nicht genügend zu essen hätten, unterernährt, wie wir seien, könnten wir diese Arbeit doch gar nicht leisten.

»Hier in meinem Tornister ist ein Stück Brot. Hol es dir.«

Ich fragte: »Warum geben Sie es mir denn nicht selbst?«

»Es ist verboten, einem Juden etwas zu geben.«

»Ich weiß«, sagte ich, »geben Sie es mir trotzdem.«

Er lächelte. »Nein, nimm es dir selbst. Dann kann ich mit gutem Gewissen beschwören, dass ich es dir nicht gegeben habe.«

Daran muss ich denken, als ich der Rot-Kreuz-Schwester in das Gebäude folge.

Die dicken Mauern sorgen für erfrischende Kühle. Die Schwester geht ziemlich schnell. Wohin führt sie mich denn? Wenn sie mich nur mitgenommen hat, um mir etwas zuzustecken, dann kann sie das doch auch hier tun, hier vor der Treppe. Weit und breit ist niemand zu sehen.

Doch die Schwester dreht sich nur einmal um, wie um festzustellen, ob ich ihr überhaupt noch folge.

Wir steigen eine Treppe hinauf. Sie kommt mir fremd vor, und ich kann mich auch nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein. Im nächsten Stock kommen uns Schwestern entgegen, die eine trägt einen Wäschekorb, die anderen Schachteln mit Medikamenten. Ein Arzt blickt mich scharf und prüfend an, als ob er sagen wolle: Was tut denn der hier? Wir haben jetzt die obere Halle erreicht. Es ist noch nicht lange her, dass mir hier mein Diplom überreicht worden ist. Die Schwester bleibt stehen und wechselt einige Worte mit einer anderen. Ich frage mich, ob ich mich nicht doch besser aus dem Staub machen sollte. Hier bin ich auf vertrautem Gelände, kenne jeden Meter, weiß, wohin die Korridore führen. Soll sie sich jemand anders suchen, was immer sie vorhat. Aber dann vergesse ich, warum ich hier bin, vergesse das Lager und die Schwester.

Dort rechts ging man doch hinüber zu Professor Bagienski und hier links zu Professor Derdacki. Beide waren berüchtigt bei uns, sie mochten jüdische Studenten nicht. Bei Derdacki habe ich meine Diplomarbeit gemacht, einen Entwurf für eine Lungenheilstätte. Und Bagienski hat viele meiner Arbeiten korrigiert. Wenn er sich mit einem jüdischen Studenten beschäftigen musste, dann verschlug es ihm den Atem, und er stotterte noch mehr als sonst. Noch heute sehe ich seine Hand vor mir, wie sie mit einem dicken Bleistift Striche durch meine Zeichnungen zieht, eine Hand mit einem großen Siegelring.

Die Schwester wendet sich wieder um, bedeutet mir zu warten. Ich beuge mich über die Balustrade und sehe auf das geschäftige Treiben in der unteren Halle hinab.Verwundete werden auf Bahren hereingetragen. Es herrscht ein lebhaftes Kommen und Gehen, Soldaten humpeln auf Krücken vorbei. Eine Tragbahre mit einem Verwundeten wird in der Halle abgestellt. Er blickt zu mir herauf. Seine Gesichtszüge sind von den Schmerzen entstellt.

Wieder durchzuckt mich die Erinnerung an ein Stück Vergangenheit. Es war während der Studentenunruhen im Jahr 1936. Die antisemitischen Schlägerbanden hatten damals einen jüdischen Studenten über diese Balustrade hinweg in die untere Halle geworfen. Er hatte dagelegen wie jetzt dieser Soldat, vielleicht sogar an derselben Stelle.

Hinter der Tür an der Balustrade befand sich früher das Dekanat für Architektur. Dort gaben wir unsere Studienbücher zum Testat ab.Verwaltet wurde das Dekanat von einem stillen Beamten, sehr höflich, sehr korrekt. Wir wussten nicht einmal, ob er gegen oder für Juden war. Unseren Gruß beantwortete er immer mit distanzierter Höflichkeit. Man konnte den Abstand, den er zu uns hielt, fast körperlich spüren. Oder war es nur Überempfindlichkeit, die uns zwang, die Menschen in zwei Gruppen einzuteilen: in solche, die die Juden mochten, und solche, die sie nicht mochten? Die ständige Hetze gegen uns brachte solches Denken mit sich. Wir hatten fast nie Menschen kennengelernt, denen Juden einfach nur gleichgültig waren.

Die Schwester tritt wieder zu mir und reißt mich aus der Vergangenheit. In ihren Augen scheint Zufriedenheit zu liegen, sie ist wohl froh darüber, dass ich nicht davongelaufen bin.

Mit schnellen Schritten geht sie an der Balustrade entlang um die Halle herum. Vor dem Eingang zum Dekanat bleibt sie stehen.

»Warten Sie hier, ich rufe Sie gleich.«

Ich nicke und schaue die Treppe hinauf. Sanitäter tragen eine bewegungslose Gestalt auf einer Bahre herunter. Es hat hier nie einen Lift gegeben, und auch die Deutschen haben keinen eingebaut.

Nach wenigen Augenblicken kommt die Schwester wieder aus dem Dekanatszimmer heraus. Sie fasst mich am Arm und schiebt mich durch die Tür.

Meine Augen suchen den Schreibtisch, den Wandschrank, in dem unsere Dokumente verwahrt waren, den stillen und korrekten Beamten, aber nichts von diesen Zeichen der Vergangenheit ist mehr hier. Nur ein weißes Bett, daneben ein Nachtkästchen. Etwas Weißes blickt mir aus den Decken entgegen. Mein Kopf kann das alles noch nicht richtig fassen.

Die Schwester beugt sich über das Bett und flüstert. Ich höre ein etwas tieferes Flüstern, das ihr zu antworten scheint. Das Bett steht in dem Teil des Raumes, der unter der Treppe liegt. Obwohl dort, unter der abgeschrägten Zimmerdecke, Halbdunkel herrscht, erkenne ich jetzt eine weiß eingehüllte Gestalt, die regungslos auf dem Bett liegt. Ich versuche die Umrisse des Körpers unter den Bettlaken zu erkennen, suche den Kopf.

Da richtet sich die Schwester auf und sagt leise: »Bleiben Sie hier.« Dann geht sie aus dem Zimmer.

Vom Bett her höre ich eine schwache, gebrochene Stimme: »Bitte, kommen Sie näher, ich kann nicht laut sprechen.«

Und jetzt sehe ich die Gestalt im Bett genauer. Weiße, blutleere Hände liegen auf der Decke, der Kopf ist völlig verbunden, nur der Mund, die Nase und die Ohren sind frei.

Das Gefühl der Unwirklichkeit hat mich noch immer nicht verlassen. Die Situation hat etwas Unheimliches. Diese leichenhaften Hände, die Binden, der Ort, an dem diese eigenartige Begegnung stattfindet.

Ich weiß nicht, wer dieser Verwundete ist, aber ich kann mir denken, dass es sich um einen Deutschen handelt.

Zögernd setze ich mich auf die Bettkante. Der Kranke muss das gemerkt haben, denn er sagt leise:

»Bitte, rücken Sie etwas näher, lautes Sprechen strengt mich an.«

Ich folge seiner Bitte. Seine fast blutleere Hand greift nach der meinen, und ich sehe, wie er sich im Bett ein wenig aufrichtet. Ein unheimliches Gefühl überkommt mich: Ich weiß nicht, ob dies alles hier, diese irreale Szene, Wirklichkeit oder Traum ist. Da sitze ich jetzt in der zerlumpten Kleidung eines KZ-Häftlings in einem Zimmer unseres früheren Dekanats der Lemberger Hochschule, die jetzt in ein Lazarett umgewandelt ist, in einer Krankenstube dieses Lazaretts – oder richtiger: in einem Sterbezimmer.

Meine Augen haben sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt. Ich sehe, dass das Weiß der Binden von gelben Flecken durchsetzt ist. Es muss Salbe sein oder Eiter. Der umhüllte Kopf bekommt dadurch ein gespenstisches Aussehen. Ich sitze wie gebannt auf dem Bett, ich kann meinen Blick nicht von dem Mann lösen. Die graugelben Flecken in dem Verband scheinen zu wandern und sich vor meinen Augen zu immer neuen, rätselhaften Gebilden zu formieren.

»Ich habe nicht mehr lange zu leben«, flüstert der Kranke kaum hörbar, »ich weiß, dass es zu Ende geht.«

Er stockt. Denkt er nur nach, wie er fortfahren soll, oder hat ihn, was er gesagt hat, zu sehr ergriffen? Ich betrachte ihn genauer. Er ist sehr mager, wie ausgeblutet, und unter seinem Hemd zeichnen sich deutlich die Knochen ab. Als wollten sie seine ausgetrocknete Haut durchbohren.

Seine Worte rühren mich nicht an. Die Umstände, unter denen ich zu leben gezwungen bin, haben jedes Gefühl für den Tod in mir getötet. Tod, Krankheit, Leid sind für uns Juden ständige Begleiter, sie erschüttern uns nicht mehr.

Keine zwei Wochen vor diesem Gespräch musste ich einmal während der Arbeit bei der Ostbahn in ein Magazin gehen, in dem Zementsäcke lagerten. Ich hörte ein gequältes Stöhnen und ging ihm nach. Ein Häftling lag zwischen den Zementsäcken. Ich fragte ihn, was denn los sei, warum er so stöhne.

»Ich bin am Ende«, presste er hervor, »ich werde sterben, kein Mensch auf der Welt kann mir noch helfen, und keiner wird meinen Tod bedauern.« Dann fügte er resigniert hinzu: »Ich bin zweiundzwanzig.«

Ich lief sofort aus dem Schuppen und suchte den Häftlingsarzt. Der zuckte die Schultern und wandte sich ab. »Zweihundert Menschen arbeiten heute hier. Sechs von ihnen liegen im Sterben.« Er fragte nicht einmal, wo der Sterbende zu finden war.

»Du solltest dich um ihn kümmern«, hielt ich ihm vor.

»Ich kann ihm ohnehin nicht helfen.«

»Aber du kannst dich doch als Arzt hier freier bewegen, du kannst deine Abwesenheit bei den Wächtern besser verantworten als ich. So einsam und verlassen zu sterben ist doch fürchterlich. Hilf ihm wenigstens in seiner letzten Stunde.«

»Gut, gut«, sagte er. Aber ich war sicher, dass er nicht hingehen würde. Auch er hatte jedes Gefühl für das Sterben verloren.

Am Abend beim Zählappell lagen neben der ersten Reihe sechs Leichen. Sie wurden kommentarlos mitgezählt. Die Rechnung stimmte.

»Ich weiß«, sagt der Kranke, »dass in jedem Augenblick Tausende von Menschen sterben. Der Tod ist jetzt überall gegenwärtig, er ist weder selten noch außergewöhnlich. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich bald sterben werde. Aber vorher möchte ich noch über ein Erlebnis sprechen, das mich quält. Ich kann sonst nicht ruhig sterben.«

Er atmet schwer. Ich habe das unheimliche Gefühl, dass er mich durch seinen Kopfverband hindurch anstarrt. Vielleicht sieht er durch die gelben Flecken. Sie sind zwar nicht in Augenhöhe, aber trotzdem fühle ich mich beobachtet. Ich kann nicht hinsehen.

»Ich wusste von einer der Schwestern, dass im Hof jüdische Häftlinge arbeiten. Vorhin brachte sie mir einen Brief von meiner Mutter … Sie las ihn mir vor … und dann ging sie wieder. Ich liege schon seit drei Monaten hier. Da fasste ich einen Entschluss … ich hatte lange darüber nachgedacht. ..Als die Schwester wiederkam, bat ich sie, mir zu helfen. Sie sollte doch, wenn sie irgendwie Gelegenheit dazu hätte, einen jüdischen Häftling bitten, zu mir zu kommen. Sie sollte aber aufpassen, damit es niemand merkt. Die Schwester hat keine Ahnung, warum ich sie um so etwas gebeten habe. Sie gab gar keine Antwort und ging.

Ich hatte schon die Hoffnung verloren, dass sie für mich ein solches Risiko auf sich nehmen würde. Aber als sie dann vorhin wiederkam, flüsterte sie mir zu, draußen stehe wirklich ein Jude. Sie sagte das so, als ob sie die letzte Bitte eines Sterbenden erfüllte. Sie weiß ja, wie es um mich steht. Ich liege in einem Sterbezimmer, das weiß ich. Die hoffnungslosen Fälle lassen sie gern allein sterben – vielleicht sollen die anderen nicht gestört werden.«

Wer ist dieser Mann, neben dem ich da sitze? Was hat er mir so Wichtiges zu sagen? Vielleicht ist er ein Jude, der sich als Deutscher tarnt, und jetzt möchte er vor dem Tod noch einen Juden sehen. Weil er nichts mehr zu befürchten hat. Man erzählte sich im Ghetto und später auch im Lager, dass es Juden in Deutschland gab, die »arisch« aussahen und sich mit falschen Papieren zur Wehrmacht einschlichen, ja, sogar bei der SS sollen sie untergetaucht sein. Sie wollten auf diese Weise überleben. Sollte das ein solcher Jude sein? Oder vielleicht ein Halbjude, ein Sohn aus einer Mischehe?

Als er sich ein wenig bewegt, merke ich, dass seine andere Hand auf einem Brief geruht hat, der jetzt vom Bett herabgleitet. Ich bücke mich und lege ihn wieder auf die Decke.

Ich habe seine Hand nicht berührt, und er kann meine Bewegung auch nicht gesehen haben – trotzdem reagiert er darauf.

»Danke, das ist der Brief meiner Mutter.« Leise kommen diese Worte über seine Lippen.

Ich habe wieder das Gefühl, dass er mich ansieht.

Seine Hand tastet nach dem Brief, zieht ihn näher, als wolle er durch die Berührung mit dem Papier wieder ein wenig Kraft und Mut finden.

Ich muss an meine Mutter denken. Sie wird mir nie mehr einen Brief schreiben.Vor fünf Wochen wurde sie bei einer Räumungsaktion aus dem Ghetto abgeholt. Das Einzige, was wir nach all den Plünderungen noch besaßen, war eine goldene Uhr. Ich hatte sie meiner Mutter zugesteckt, damit sie sich vielleicht damit loskaufen könnte, wenn man sie abholen würde. Eine Nachbarin, die einen gültigen Ausweis hatte, erzählte mir später, was mit der Uhr geschehen war. Meine Mutter gab die Uhr dem ukrainischen Polizisten, der sie abholen sollte. Er ging daraufhin auch fort, aber schon nach wenigen Minuten war er wieder da und nahm meine Mutter mit. Im Hof wartete sie mit anderen auf die Ankunft eines Lastwagens. Mit ihm wurde sie dorthin gebracht, von wo man keine Briefe mehr schreibt …

Die Zeit scheint stillzustehen.

»Ich heiße Karl. Ich bin als Freiwilliger in die SS eingetreten. Natürlich – wenn Sie das Wort SS hören …«

Er stockt. Seine Kehle scheint trocken, und er versucht krampfhaft, einen Klumpen herunterzuschlucken. Ich glaube nicht mehr, dass er Jude oder Halbjude ist, der sich mit einem deutschen Waffenrock getarnt hat. Wie konnte ich das überhaupt denken? Aber in dieser Zeit ist so vieles möglich.

»Ich muss Ihnen etwas Schreckliches … etwas Unmenschliches berichten. Es ist vor einem Jahr geschehen. Ist es schon ein Jahr her?«

Die letzten Worte hat er wohl mehr zu sich selbst gesprochen.

»Ja, es ist ein Jahr her«, fährt er fort. »Ein Jahr seit dem Verbrechen, das ich … begangen habe. Ich muss einfach mit jemand darüber reden, vielleicht hilft mir das.«

Seine Hand umklammert die meine. Seine Finger krallen sich fest, als ich bei dem Wort Verbrechen fast unbewusst meine Hand zurückziehen will. Von wo nimmt er die Kraft? Oder bin ich so schwach, dass ich die Hand nicht lösen kann?

»Ich muss Ihnen das Entsetzliche berichten – Ihnen, weil … Sie Jude sind.«

Gibt es denn noch irgendetwas Entsetzliches, das ich nicht kenne? Alle Scheußlichkeiten und Gräuel, die ein krankes Hirn erfinden kann, sind mir bekannt. Ich habe sie am eigenen Leib erfahren müssen, und ich habe sie im Lager gesehen. Die Geschichte dieses Kranken da wird kaum das überbieten können, was sich die Kameraden im Lager nachts schaudernd erzählen.

Ich bin nicht sehr gespannt auf seine Geschichte.

Hoffentlich denkt die Krankenschwester daran, einem »Askari« zu melden, wo ich bin. Vielleicht sucht man schon nach mir, glaubt, ich sei geflohen …

Das gibt mir keine Ruhe. Ich höre vor der Tür Stimmen, aber ich erkenne die Stimme der Krankenschwester, und das beruhigt mich.

»Es hat einige Zeit gedauert, bis mir bewusst geworden ist, wie viel Schuld ich auf mich geladen habe.«

Ich starre auf seinen verbundenen Kopf. Ich weiß noch nicht, welches Verbrechen er mir gestehen will, aber ich weiß, dass nach seinem Tod eine Sonnenblume auf seinem Grab wachsen wird. Ich sehe sie ganz deutlich, wie sich bereits jetzt die Blüte dem Fenster zuwendet, dem Fenster, durch das die Sonne ihr Licht in dieses Sterbezimmer sendet.

Warum zeigt sie sich schon jetzt? Sie wird ihn bis zum Friedhof begleiten, bei seinem Grabe stehen und die Verbindung zum Leben herstellen.

Ich beneide ihn darum.

Und ich beneide ihn, weil er in seinen letzten Minuten an eine lebendige Mutter denken kann, die sich in der Heimat um ihn sorgt.

»Ich bin nicht als Mörder geboren. Ich bin zum Mörder gemacht worden …«

Er atmet schwer.

»Ich stamme aus Stuttgart und bin jetzt einundzwanzig. Das ist zu früh zum Sterben – ich habe erst sehr wenig vom Leben gehabt …«

Natürlich ist es zu früh, denke ich. Aber wer fragt danach? Haben die Nazis denn gefragt, ob unsere Kinder schon etwas vom Leben gehabt haben? Haben sie gefragt, ob es nicht noch zu früh für sie ist? Hat mich schon jemand gefragt oder wird mich jemand fragen?

Als hätte er meine Gedanken erraten, sagt er: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, und ich verstehe Sie. Aber ich darf doch sagen, dass ich noch so jung bin …

Mein Vater arbeitet als Werkmeister in einer Fabrik. Er war überzeugter Sozialdemokrat. Nach dreiunddreißig bekam er Schwierigkeiten, aber das ging vielen so. Meine Mutter hat mich religiös erzogen, ich war sogar Ministrant und der erklärte Liebling unseres Pfarrers. Er hoffte, dass ich einmal Theologie studieren würde. Aber dann kam alles ganz anders. Ich trat in die HJ ein, und da war es mit der Kirche natürlich aus. Meine Kameraden hätten mich doch nur gehänselt. Meine Mutter war sehr traurig darüber, aber schließlich hörte sie auf, mich zu ermahnen. Ich war ja ihr einziges Kind. Mein Vater schwieg zu allem.

Er hatte Angst, ich würde in der HJ erzählen, was ich zu Hause hörte … Unser Bannführer verlangte von uns, wir sollten unsere Sache überall vertreten … auch zu Hause. Und wenn wir jemand schimpfen hörten, dann sollten wir es ihm melden. Es gab manche, die das taten. Ich tat es nicht. Aber meine Eltern hatten trotzdem Angst. Wenn ich in die Nähe kam, hörten sie auf zu reden. Ihr Misstrauen kränkte mich. Aber zum Nachdenken hatte ich damals keine Zeit. Leider.