Die Spur des Bösen - Fabian Maysenhölder - E-Book

Die Spur des Bösen E-Book

Fabian Maysenhölder

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Beschreibung

Eingeschworene Gemeinschaften, deren Mitglieder mithilfe von Gehirnwäsche gefügig gemacht werden und die gefährlichen Machenschaften ihrer Anführer*innen decken – Sekten faszinieren und gruseln gleichermaßen. Ihr Bild in der Öffentlichkeit ist oft von düsteren Klischees geprägt, aber in vielen Fällen bieten ihre Strukturen den optimalen Nährboden für Verbrechen.

Mit seinem Buch „Im Bann des Bösen“ taucht der Theologe und Sekten-Experte Fabian Maysenhölder tief in die verborgenen Welten religiöser Kulte ein. Er erzählt zehn wahre Kriminalfälle, die sich im Umfeld einer Sekte ereigneten, und beleuchtet zudem deren psychologische und soziologische Hintergründe.

Dabei begegnen ihm Phänomene wie Massensuizide, Teufelsaustreibungen und Folter, aber auch drängende, uns alle betreffende Fragen: Wann wird Religion problematisch? Was können wichtige Warnzeichen dafür sein, dass sich eine Eskalation anbahnt? Und wie können wir als Gesellschaft vorbeugen, damit es gar nicht erst zu einer Katastrophe kommt?

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Seitenzahl: 326

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Fabian Maysenhölder

Die Spur des Bösen

Wenn Fanatismus tödlich endet

Wahre Sektenverbrechen

Impressum

Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Für die Inhalte der in dieser Publikation enthaltenen Links auf die Webseiten Dritter übernehmen wir keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage leider nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen wie hier wiedergegeben. Für den dramatischen Effekt und aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2024 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Michaela Zander, unter Verwendung eines Motivs von ©Jozef Micic via Shutterstock.com

Redaktion: Anna Sulik

Layout: Carolin Mayer

Satz: Michaela Zander

Herstellung: Anne-Katrin Brode

ISBN 978-3-7459-2248-6

www.emf-verlag.de

Über den Autor

Fabian Maysenhölder (*1985) ist evangelischer Theologe und hat nach seinem Studium mehrere Jahre bei einem großen Onlinemedium gearbeitet. Inzwischen ist er Pfarrer und nebenberuflich freier Journalist. Schon immer faszinierte ihn die Frage, warum Menschen bestimmte Dinge glauben – oder auch nicht glauben. Seit 2017 beschäftigt er sich in seinem Podcast „secta.fm“ mit sogenannten Sekten und neureligiösen Bewegungen. Dabei interessieren ihn vor allem die Fragen nach den Extremen: Wann wird Glaube gefährlich – und was kann man dagegen tun

Für Reinhold Maysenhölder

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Die Spur des Bösen?

Jenseits der Klischees: Was ist eine „Sekte“?

Zwischen Mythen und Realität: Fünf Dimensionen problematischer Gruppen

Warum treten Menschen einer „Sekte“ bei?

Teil 2:Die Verbrechen

Belcher Island Murders: Wenn „Jesus“ das Töten befiehlt

Die Manson Family: „Helter Skelter“ bringt den Tod

Peoples Temple: Die Hölle im Paradies?

Der Fall Jan H.: Die Wiedergeburt Hitlers?

Adolfo Constanzo: Der Kessel des Blutes

Die Branch Davidians: Feuertaufe in Waco

Aum: Tödliches Gift in der U-Bahn

Heaven’s Gate: Das tödliche Tor zum Next Level

MRTC: Marienkult in Flammen

Der Allmächtige Gott: Tod im Burger-Restaurant

Teil 3: Wenn Fanatismus tödlich endet

Die Natur des Fanatismus

Was können wir tun?

Zum Weiterlesen

Vorwort

Als junger Kerl von elf Jahren stand ich bei klarem Wetter Abend für Abend mit meinem Vater im Garten, und wir bewunderten gemeinsam durch unser kleines Teleskop den blauen Schweif des Kometen Hale-Bopp. Welch beeindruckender Anblick! Es war zu jener Zeit, als eine Nachricht weltweit Schlagzeilen machte: Am 26. März 1997 wurden 39 Mitglieder des Ufo-Kultes „Heaven’s Gate“ tot in einer Villa im kalifornischen San Diego gefunden. Sie hatten sich das Leben genommen. Sie glaubten, dass sie durch ihren „Exit“ in eine höhere Dimension aufsteigen würden und dass im Schatten von Hale-Bopp ein riesiges Ufo auf dem Weg zur Erde sei, das sie mitnehmen würde. Der elfjährige Fabian verstand das nicht. Warum um alles in der Welt nimmt man sich wegen eines Kometen das Leben? Was soll das denn bitte? Warum glauben Menschen so gefährliches Zeug?

Die Spur des Bösen. Das klingt irgendwie gespenstisch, angsteinflößend. Und doch: Es trifft nicht nur den Punkt, um den es in diesem Buch gehen soll. Es beschreibt auch – zumindest ansatzweise – meine Motivation, mich mit dem vielschichtigen, komplexen und faszinierenden Thema „Sekten“ auseinanderzusetzen. Es wäre übertrieben zu sagen, dass mich schon damals, zu Hale-Bopps Zeiten, die Faszination gepackt hat, auf Spuren­suche zu gehen. Aber es war sicherlich ein kleiner Mosaikstein, der mit dazu geführt hat, dass ich mich in den folgenden Jahrzehnten auf die Suche nach Antworten gemacht habe. Antworten auf die Frage danach, warum Menschen das glauben, was sie glauben. Und natürlich stößt man dann schnell auf die Frage danach, wie es dazu kommt, dass manche Menschen überhaupt so extreme Dinge glauben, dass sie sich schließlich aufgrund ihres Glaubens das Leben nehmen oder tödliche Verbrechen begehen. Woher kommt ein todeswütiger Fanatismus gegenüber anderen oder sich selbst?

Jetzt, mehr als 25 Jahre später, bin ich schlauer als der kleine elfjährige Bub. Ich habe evangelische Theologie studiert und mich immer wieder eingehend mit Fragen der Religionswissenschaft, -psychologie und -soziologie beschäftigt. Heute arbeite ich im Hauptberuf als Pfarrer und nebenberuflich als freier Journalist. Seit 2017 befasse ich mich in meinem Podcast „secta.fm“ intensiv mit sogenannten Sekten und neureligiösen Bewegungen und versuche, genau diese genannten Fragen zu beantworten. Um ein Fazit gleich vorwegzunehmen: Ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich inzwischen alles verstehe, was mein kindliches Ego nicht verstand. Aber die fachliche Auseinandersetzung hat mir doch geholfen, so manche Dinge nachvollziehen zu können.

Ein wenig möchte ich euch, liebe Leser*innen, auf diesen Weg mitnehmen. Natürlich ist die Welt der Verbrechen faszinierend – True Crime ist seit einigen Jahren in aller Munde, unzählige Podcasts, TV-Serien, Bücher und Magazine tun ihr Übriges dazu. Auch ich bin nicht davor gefeit und gebe zu, dass ich gerne schaurige Geschichten über die menschlichen Abgründe höre. Doch immer mehr bin ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die Grenze zwischen Faszination und Voyeurismus fließend ist. True-Crime-Fälle sind eben nicht nur schaurige Krimigeschichten, die sich ein*e Autor*in ausgedacht hat. Mir fällt es inzwischen schwer, mich von diesen wahren Schreckens-Erzählungen unterhalten zu lassen. Ich glaube, damit die Auseinandersetzung mit True Crime nicht zum Voyeurismus wird, müssen die Ereignisse auf ihre Relevanz hin abgeklopft werden: auf die Frage hin nämlich, was wir von diesen Erzählungen lernen können, für uns persönlich und für uns als Gesellschaft. Dieses Buch ist ein Versuch, genau dies zu tun.

Damit dies gelingt, habe ich mich dazu entschlossen, in drei Teilen vorzugehen, die sich auch im Titel dieses Buches widerspiegeln. Ich glaube, es braucht ein paar grundlegende Gedanken vorab, bevor wir uns den Verbrechen widmen. Im ersten Teil möchte ich deshalb die Frage stellen: Was verbirgt sich eigentlich hinter dem vermeintlich Bösen? Was sind sogenannte „Sekten“? Im zweiten Teil geht es dann um die Konkretisierung anhand von wahren Sektenverbrechen. Wir schauen uns zehn Fälle an, so spannend wie tragisch – und doch ganz unterschiedlich. Im letzten Teil soll es auf dieser Grundlage um den tödlichen Fanatismus gehen. Was lässt sich aus diesen Fällen lernen? Was können wir als Einzelne und als Gesellschaft tun, um Fanatismus so weit wie möglich den Nährboden zu entziehen?

Eine intensive Reise mit vielen Geschichten – ich habe durch die Beschäftigung mit sogenannten „Sekten“ viel gelernt. Und ich hoffe, euch geht es genauso. Ich freue mich, dass ihr mit mir in dieser zwar düsteren, aber lehrreichen und spannenden Welt auf Spurensuche geht. Für weitere gemeinsame Expeditionen schaut gerne bei meinem Podcast vorbei oder besucht mich bei Instagram unter @sectapodcast. Jetzt lasse ich euch aber erst einmal in Ruhe lesen.

Euer Fabian

Teil 1:Die Spur des Bösen?

Der Blutmond naht. Für den keltischen Kult der „Druiden des Lebens“ ist das eine ganz besondere Nacht: Sie werden zu diesem Zeitpunkt ein Menschenopfer darbringen. Dafür haben sie zuvor zwei Frauen entführt, eine soll das Licht, die andere den Schatten symbolisieren. Mitten in Deutschland. Doch für die Opfer naht Rettung, denn die Polizei ist der fanatischen Sekte auf der Spur. Eine Polizei-Drohne durchfliegt den dichten Nebelschleier in einem alten Steinbruch nahe München, als sie plötzlich eine Gruppe von Gestalten mit ihrer Kamera einfängt: weiße Kutten von Kopf bis Fuß, furchterregende, schwarze Pestmasken auf dem Gesicht. Die Gestalten stehen im Kreis um ein keltisches Symbol herum, das mit Steinen auf den Boden gelegt wurde. In ihrer Mitte sitzen zwei gefesselte Frauen. Es ist an der Zeit. Der Opferritus beginnt. Im letzten Moment, als eine der Gestalten mit gezücktem Messer auf die beiden Gefangenen losgehen will, greifen die lauernden Kommissare ein. Gerade noch rechtzeitig retten sie die beiden Opfer.

Stopp – bevor nun Gerüchte über einen düsteren Kelten-Kult in Deutschland die Runde machen, der junge Frauen opfert: Den gibt es nicht. Was ich gerade beschrieben habe, ist die finale Szene der Folge „Blutmond“ (2021) aus der fiktiven Pseudo-Doku-Serie „K11“ – Kommissare im Einsatz. Die Serie ist kein Meisterwerk der TV-Geschichte, wohl eher das Gegenteil. Gerade deshalb zeigt diese kurze Sequenz aber besonders gut zwei Dinge. Zum einen, dass das Thema Sekten eines ist, das in der Popkultur in verschiedensten Kontexten gerne aufgegriffen wird. Immer wieder spielen in Filmen, Serien oder Romanen düstere Kulte eine Rolle, meist in Verbindung mit Verbrechen. Zum anderen zeigt diese Szene in extremer Weise, dass das Thema Sekten nicht nur populär, sondern auch mit sehr vielen Klischees behaftet und überfrachtet ist. Weiße Kutten, fanatische Gurus, geheimnisvolle Zirkel, Gehirnwäsche, Menschenopfer – das sind nur einige wenige Schlagworte, die exemplarisch für die düsteren Bilder stehen, die beim Wort „Sekte“ vor dem inneren Auge flackern.

Und genau hier liegt ein Problem, denn die Wirklichkeit ist viel komplexer. Mit der Realität hat das kaum bis gar nichts zu tun. Der Begriff „Sekte“ wird heute fast inflationär gebraucht. Für Querdenker, Reichsbürger, die AfD, für (christliche) Fundamentalisten und/oder Freikirchen, manchmal für die evangelische oder katholische Kirche, hin und wieder auch für Gruppen, deren Weltbild uns einfach fremd ist oder das wir nicht verstehen. Und dann gibt es sie natürlich: die Gruppen, die dem Klischee des Begriffs entsprechen, deren Mitglieder so stark in ihrer Ideologie verhaften, dass sie dafür Verbrechen begehen oder sogar ihr eigenes Leben beenden. Einige Beispiele davon werden wir in diesem Buch kennenlernen. Dabei ist mir wichtig zu sagen: Es geht hier um die Extreme. Denn während der Begriff „Sekte“ in gewisser Weise dazu taugt, eine Gruppe als gefährlich zu brandmarken, so bildet er doch in keiner Weise die Vielfalt ab, in der sich problematische Gruppierungen zeigen. Und genau das ist ja das Spannende. Was macht bestimmte Gruppen eigentlich zu „Sekten“? Damit wir nicht in die ewig gleiche Klischee-Kerbe schlagen, die die Popkultur ohnehin schon zur Genüge ausgehöhlt hat, widmen wir uns also erst einmal der Frage, was eigentlich eine Gruppe zu einer sogenannten Sekte macht – was sie gefährlich macht, für ein Individuum und unter Umständen sogar für eine Gesellschaft.

Jenseits der Klischees: Was ist eine „Sekte“?

Ursprünglich war der Begriff „Sekte“ in der Religionswissenschaft und Theologie eine neutrale Bezeichnung für Abspaltungen vom Christentum. Doch schon bald war das negativ behaftet. Spätestens seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als vor allem auch in Deutschland Gruppen mit hinduistischem Hintergrund Fuß fassten (z. B. Transzendentale Meditation, Osho, Hare Krishna), wurde der Sektenbegriff auf andere Religionen ausgedehnt und dezidiert in einem Kontext verwendet, in dem stets Gefahren für Individuen mitschwangen. Der auf diese Weise popularisierte Begriff „Sekte“ war für eine differenzierte Betrachtung unbrauchbar geworden, weil er jegliche so beschriebene Gruppe sofort in eine ganz bestimmte Schublade steckte. So empfahl zum Beispiel auch die 1996 eingesetzte Arbeitsgruppedes Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ in ihrem Abschlussbericht von 1998, auf den Begriff „Sekten“ zu verzichten – alleine schon aus dem Grund, weil der Staat zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist.

Auch in der Religionswissenschaft und Theologie meidet man vor diesem Hintergrund schon lange den Begriff „Sekte“, wenn es um die Analyse potenziell problematischer Gruppierungen geht. Während vor allem Medien den Begriff lieben, weil er schön griffig ist und eine Gruppe sehr klar einordnet, ist der Ansatz bei seriösen Fachleuten, die sich mit dem Thema beschäftigen, ein anderer. Hier geht es darum, eine bestimmte Gruppe in einem ersten Schritt genau anzuschauen und zu beschreiben und anschließend herauszuarbeiten, welche Aspekte dieser Gruppe problematische Tendenzen haben. Diese können nämlich sehr unterschiedlich sein: Während in der einen Gruppierung strenge Hierarchien und ein strikter Gehorsam gegenüber der Obrigkeit problematisch sind, könnte es in einer anderen Gruppe mit „flachen Hierarchien“ eher die Abschottung gegenüber der Außenwelt sein, die zu Kontaktabbrüchen mit Familienange­hörigen führt.

Um dem auch sprachlich gerecht zu werden, scheut man die Bezeichnung einer Gruppe als „Sekte“ – es gibt eben keine eine Schublade des Bösen, in die sich alle problematischen Gruppierungen stecken lassen. Stattdessen werden Alternativbegriffe benutzt, die jeweils unterschiedliche Aspekte betonen. Schauen wir einmal kurz auf die, die am häufigsten begegnen – zusammen mit der Frage, worauf sie sich jeweils fokussieren.

Neureligiöse Bewegungen/Gemeinschaften

Insbesondere außerhalb des christlichen Kontextes findet man häufig den Begriff „Neureligiöse Bewegung/Gemeinschaft“. Hier­unter fallen vor allem Gruppen, die (vor allem im Vergleich mit den klassischen Weltreligionen) eine kürzere Geschichte haben, also deutlich später entstanden sind. Oft sind sie wenige Jahrzehnte, manchmal 100–200 Jahre alt. Häufig entstehen sie vor dem Hintergrund einer Mutterreligion, zum Teil entstehen sie aber auch aus einer zuweilen recht schwer einzuordnenden Vermischung verschiedenster (philosophischer, religiöser, esoterischer) Lehren und Weltanschauungen. In der Religionswissenschaft bezeichnet man das als „Synkretismus“.

Fokus:Deutlich wird das Anliegen, eine Gruppe oder Bewegung mit diesem Begriff möglichst neutral zu beschreiben. Er enthält eine zeitlich-historische Komponente und eine Einordnung mit Blick auf die Ideologie der Gruppe, die als religiös gekennzeichnet wird. Ohne hier nun die Frage nach der Definition von Religion aufgreifen zu wollen, zeigen sich hier doch die Grenzen dieser Bezeichnung. Nicht jede Gruppe, die problematische Tendenzen welcher Art auch immer entwickelt, ist notwendigerweise religiös: Viele rechtsextreme Gemeinschaften, wie zum Beispiel die im September 2023 in Deutschland verbotene Neonazi-Gruppe „Hammerskins“, definieren sich nicht vorrangig über eine religiös geprägte Ideologie.

Religiöse Sondergemeinschaften

Der Begriff „(Religiöse) Sondergemeinschaft“ ist vor allem für Gruppen mit einem christlichen Hintergrund geläufig. In der Regel werden damit Gruppen bezeichnet, die sich aus einer Reaktion auf Missstände in der Mutterreligion heraus gründen, die aus Sicht der jeweiligen Gruppe existieren. Meist geht es dabei um theologische Fragen. Ein Beispiel wären die Zeugen Jehovas – sie werden heute oft mit dem Begriff „christliche Sondergemeinschaft“ beschrieben. Sie entstanden unter Charles Taze Russell (damals unter dem Namen „Ernste Bibelforscher“) aus dem Christentum heraus. Einer der Hauptbeweggründe für die Abspaltung von der damaligen Kirche war Russells Ablehnung der Lehre von einer Hölle.

Fokus:Die Bezeichnung „Sondergemeinschaft“ versucht, die entsprechende Gruppe nicht abzuwerten, sondern ihr jeweils eigenes (theologisches) Profil zu kennzeichnen. Allerdings muss man so ehrlich sein und sagen: Das geschieht dann irgendwie doch in Abgrenzung zu einer – wie auch immer gesetzten – Norm.

High-Control-Groups

Vor allem im englischsprachigen Bereich begegnet häufig die Bezeichnung „High-Control-Groups“: Gruppen, die ein hohes Maß an Kontrolle über ihre Mitglieder ausüben. Oft wird er synonym zum englischen Begriff „Cult“ verwendet. Der Begriff hat mehrere Vorteile. Zunächst ist er offen für die Frage danach, welchen Ursprung die Kontrolle über die Mitglieder hat: Sind es die gruppeninternen Regeln? Ist es der autoritäre Guru? Ist es der Elite-Gedanke, der zur Abschottung gegenüber der Außenwelt führt? All das wird bewusst offengelassen und kann somit je nach konkretem Fall gefüllt werden. Zudem – und das ist wohl der größte Vorteil – werden hier explizit auch Gruppen aufgenommen, die nicht unbedingt religiös sind. Eine „High-Control-Group“ kann in vielen denkbaren Kontexten verortet werden.

Fokus: Ob politische Partei, Neonazi-Bruderschaft oder eine kleine esoterische Gruppe, die an die gechannelten Jenseits-­Botschaften eines Mediums glaubt: Die Bezeichnung „High-­Control-Group“ lässt Raum für die Vielfalt, die man finden kann. Der besondere Fokus liegt hier weniger auf den ideologischen/weltanschaulichen als vielmehr auf den soziologischen und psychologischen Gemeinsamkeiten. Kurz gesagt: auf den entsprechenden Mechanismen, die in den Gemeinschaften wirken und zur Kontrolle der Mitglieder führen bzw. ihnen dienen. Gerade dieser Fokus, so wichtig und gut er ist, kann aber auch zur Grenze werden. Insbesondere im englischsprachigen Bereich fällt mir auf, dass die Gruppenmechanismen häufig sehr stark im Vordergrund stehen und das einzelne Individuum/Mitglied kaum noch als solches wahrgenommen wird. Anders ausgedrückt: In entsprechenden Podcasts oder einschlägiger Literatur entsteht häufig der Eindruck, die einzelne Person habe überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeit mehr und sei diesen Mechanismen schutzlos ausgeliefert – ein häufig damit verbundenes Stichwort ist „Mind Control“ oder „Gehirnwäsche“. Dabei begegnet mir auch immer wieder der Begriff „Mind-Control-Group“. Inzwischen zeigen viele Studien, dass dies jedoch nicht zutrifft: „Gehirnwäsche“ in dieser Form gibt es nicht. Es handelt sich immer um eine Mischung aus Gruppendynamik und Eigenverantwortung. Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte.

Es kommt auf die Details an

Jede sprachliche Bezeichnung hat ihren Fokus und ihre Tücken; sie schließen sich gegenseitig weder aus noch sind sie erschöpfend. Wichtig ist das Mindset, das im Hintergrund steht und mit dem man auf Gruppierungen aller Art schaut. Nur wenn man im Kopf hat, dass nicht alles, was irgendwie fremd, anders oder komisch wirkt, gleich böse ist, kann man sinnvoll auf Gemeinschaften schauen und, falls es sie gibt, ihre Gefahren und Probleme analysieren. Aus diesem Grund wird der Begriff „Sekte“ oft abgelehnt, weil er eine Gruppe sofort brandmarkt und entsprechende Bilder hervorruft. Wenn man zunächst möglichst neutral über eine Gruppe spricht und schließlich genauer hinsieht, erst dann kann man detailliert herausarbeiten, unter welchen Gesichtspunkten eine Gemeinschaft vielleicht problematische Züge hat.

Ein Problem, das mir in zahlreichen Gesprächen immer wieder begegnet ist, ist die Frage danach, ob man durch die neutralen Bezeichnungen nicht Gefahr läuft, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen: Wenn alles nur noch „Sondergemeinschaft“ oder „Neureligiöse Bewegung“ ist – wie ordne ich dann Gefahren richtig ein? Die Antwort lautet auch hier: Es gibt keine einfachen Schubladen. Es braucht immer (!) mehr als ein oder zwei Worte, um eine Gruppe so zu beschreiben, dass es ihr auch gerecht wird. Und ich glaube, genau diese Komplexität der Realität ist der Grund dafür, dass der Begriff „Sekte“ bis heute verbreitet ist. Es ist nun einmal eine griffige Bezeichnung, die klar einordnet. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Man kann in der öffentlichen Berichterstattung nicht immer alles bis ins kleinste Detail ausdifferenzieren. Und in der Tat hat sich in diesem Bereich auch der Begriff „Sekte“ noch einmal in die seriöse fachliche Auseinandersetzung eingeschlichen. Immer wieder ist die Rede von Gruppen mit „sektenhaften“ Zügen – das ist der Versuch, Gruppen kurz und prägnant einzuordnen, ohne sie pauschal als „Sekte“ abzustempeln.

Ich werde trotz aller Relativierungen, die ich gerade angeführt habe, in diesem Buch an einigen Stellen den Begriff „Sekte“ verwenden. Denn, wie schon gesagt: Hier geht es um die Extreme. Die Gruppen, die wir hier anschauen, vereinen sehr oft viele der problematischen Tendenzen, auf die ich gleich noch näher eingehen möchte. Und bei allen eskaliert es zu einem solchen Maß, dass Menschen dafür ihr Leben lassen müssen. Wenn ich auch sonst zurückhaltend bei der Verwendung bin, so glaube ich doch, die Gemeinschaften und Gruppen, die wir in diesem Buch genauer betrachten, entsprechen (auf unterschiedliche Arten und Weisen) so vielen Vorstellungen und tatsächlichen Eigenschaften problematischer Gruppen, sodass man hier bei aller nötigen Differenzierung dennoch verantwortbar von „Sekten“ sprechen kann.

Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und die Fragen stellen: Was verbirgt sich denn dahinter, wenn man von einer „sektenhaften“ oder „problematischen“ Gruppe spricht? Wie kann eine detaillierte Betrachtung einer Gemeinschaft aussehen? Was kann kritikwürdig an Gemeinschaften, Gruppen und Religionen sein, um sie differenziert einzuordnen und einzuschätzen, wie „problematisch“ sie für ein Individuum oder die Gesellschaft sein könnte?

Religiöse Intensivgruppen

Im deutschsprachigen Bereich ist immer mal wieder die Rede von (religiösen) Intensivgruppen. Damit sind – etwas vereinfacht gesagt – Gemeinschaften gemeint, die in mehrfacher Hinsicht eine Intensität bezwecken oder erfordern: Sie zielen auf ein intensives religiöses/spirituelles Erleben ab – häufig verbunden mit einem intensiven Einsatz der Mitglieder, der sich beispielsweise durch feste Regeln oder ein hohes Engagement äußert.

Fokus: Das Ziel ist hier, erst einmal sachlich zu beschreiben – und in der Tat wird in der einschlägigen Literatur auch immer gleich betont, dass eine Mitgliedschaft in einer Intensivgruppe auch nicht unbedingt negativ für das Individuum sein muss. Es gibt Menschen, denen klare Regeln und eine klare Struktur helfen, ihren Alltag zu meistern. Diese Bezeichnung umfasst explizit auch Gemeinschaften wie Mönchs- oder Nonnenorden, die gemeinhin nicht als „problematisch“ für ihre Mitglieder angesehen werden. Aber auch sie fordern ein hohes Maß an Einsatz, Regelkonformität und innerer Verbundenheit ihrer Mitglieder.

Zwischen Mythen und Realität: Fünf Dimensionen problematischer Gruppen

In einer pluralistischen Welt kann keine Religion von sich behaupten, die einzige, absolut gültige Wahrheit zu besitzen. Und dennoch gibt es in fast jeder Weltanschauung Menschen und Gruppen, die genau dies tun. Wer hat nun also recht? Das werden wir niemals herausfinden; wir müssen mit der Pluralität leben und die Mehrdeutigkeit aushalten.

Für mich ist deshalb klar, dass Glaubenssätze zunächst einmal nicht Gegenstand der Kritik sind, wenn es um die Frage nach problematischen Zügen einer Gemeinschaft geht. Ob eine Gruppe an einen menschgewordenen und auferstandenen Gott glaubt, an Engelwesen, an eine außerirdische Instanz auf einem anderen Planeten – das spielt für die Problematisierung einer Gemeinschaft keine Rolle. Das heißt: Nicht in einem ersten Schritt. Doch dazu gleich mehr. Zunächst geht es um soziale und psychologische Aspekte. Welche Auswirkungen hat eine bestimmte Gruppe auf ihre Mitglieder, auf die Gemeinschaft in der Gruppe und schließlich auf die Gesellschaft? Hier entstehen die relevanten Konfliktsituationen, die genauer angeschaut werden müssen. Ich glaube, es ist problematisch, wenn die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft dazu führt, …

… dass sich Familien und Freundschaften entzweien.

… dass jemand psychische oder physische Gewalterfahrungen macht.

… dass eine Person sich nicht frei entfalten kann, ihre Persönlichkeit unterdrückt wird und diese Person darunter leidet.

… dass Menschen in ständiger Angst – wovor auch immer – leben.

Dies sind einige wenige Beispiele dafür, was ich mit „problematischen Aspekten“ meine. Und hier kommt nun doch wieder der Glaube ins Spiel: Denn natürlich kann es Glaubenssätze geben, die, wenn sie stark betont werden, auch ebensolche sozio-psychologische Auswirkungen haben können. Insofern werden sie dann auch wieder Teil einer kritischen Betrachtung. Das heißt: Der Glaube an einen Teufel muss nicht per se problematische Auswirkungen haben. Er kann im Hintergrund wabern, aber letztlich im Alltag der Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft keine besonders große Rolle spielen (wie es zum Beispiel in vielen evangelikal geprägten Kreisen der Fall ist). Der Glaube an den Teufel kann aber durchaus, wenn er stark betont wird, dazu führen, dass Menschen immer und überall Angst vor dieser bösen satanischen Macht haben. Sie leben dann in einer ständigen Furcht. Das Problem, das sich hier ergibt, ist also ein Symptom eines Glaubenssatzes.

Problematische Tendenzen können in jeder Art von Gemeinschaft auftauchen. Ob es sich um eine Sondergemeinschaft mit islamischem Hintergrund, eine esoterische neureligiöse Gruppe oder auch eine lokale Ortsgemeinde der evangelischen oder katholischen Kirche handelt: Überall können unter bestimmten Umständen Konflikte entstehen. Das gilt auch außerhalb des religiösen Kontextes. Zum Beispiel können Vereine, Öko-Kommunen, Parteien oder sogar Unternehmensformen, wie sie im Multi-­Level-Marketing vorkommen, durchaus „sektenhaft“ werden.

Um nun herauszuarbeiten, welche Kriterien für eine problematische Gemeinschaft kennzeichnend sind, findet man bereits nach kurzem Googeln viele sogenannte „Sekten-Checklisten“, die sich alle ähneln. Sie basieren auf vergleichbaren Überlegungen. Sinnvoller als eine „Checkliste“ finde ich bei der Analyse von Gruppen die Betrachtung anhand eines Spektrums, das verschiedene Perspektiven auf eine Gruppe eröffnet. Darauf möchte ich gleich etwas detaillierter eingehen. Dabei gilt – natürlich –, dass eine Gruppe nicht sämtliche Aspekte erfüllen muss, um „problematisch“ zu sein. Andersherum gilt auch nicht: Wenn eine Gruppe nur einen oder zwei Aspekte erfüllt, ist sie unbedingt problematisch. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, in welchen Bereichen Probleme entstehen können. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, niemals zu pauschalisieren und jede Gruppierung immer wieder aufs Neue zu betrachten. Ebenso wie sich Gruppen versekten können (= über einen längeren Zeitraum hinweg mehr und mehr problematische Tendenzen entwickeln), können sie sich auch wieder entsekten (= nach und nachproblematische Tendenzen abbauen). Eine Gruppierung ist schließlich kein statisches Gebilde, sondern sie verändert sich mit ihren wechselnden Mitgliedern. Ein Beispiel für eine positive Entwicklung ist die Neuapostolische Kirche, die Anfang des neuen Jahrtausends noch weitgehend aufgrund ihrer elitär-exklusivistischen Weltsicht und ihrer Ablehnung ökumenischer Zusammenarbeit kritisiert wurde. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen: Seitdem hat sich viel getan. Die Lehre der Kirche ist weltoffener geworden, vielerorts gibt es ökumenische Zusammenarbeit auf lokaler Ebene mit anderen Gemeinden. Heute wird die Neuapostolische Kirche – immerhin die größte Weltanschauungsgemeinschaft in Deutschland nach der römisch-katholischen, der evangelischen und den orthodoxen Kirchen – weithin als positives Beispiel für eine sogenannte „Entsektung“ herangezogen.

Die Bereiche, die nun im Folgenden genauer betrachtet werden sollen, basieren grob auf einer Ausführung des Psychologen Werner Gross, der für den Arbeitskreis „Psychomarkt und Religion“ des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen sechs „Psychologische Kriterien zur Beurteilung von destruktiven Gruppierungen“ herausgearbeitet hat (Gross, 1996). In einer veränderten Form und mit zusätzlichen Definitionen bildet dies die Grundlage für das hier präsentierte Raster. Die fünf Perspektiven, die bei der Betrachtung und Analyse von (potenziell problematischen) Gruppen herangezogen werden können, können aufgegliedert werden in: Ideologie, Leitung, Lebenskontrolle, Gruppenstruktur, Kritik & Selbstreflexion.

Ich führe bei den einzelnen Punkten im Folgenden bewusst mögliche Extrempositionen auf, um zu verdeutlichen, welcher Gedanke dahintersteht. Sie sind jedoch als Spektrum zu verstehen: Natürlich gibt es unendlich viele Abstufungen. Wie jedes Modell kann auch ein solches Raster nur als grobe Orientierung dienen. Und selbstverständlich ist nicht immer alles so klar zu trennen, wie es im Folgenden gleich aufgelistet wird. Die Bereiche verschwimmen, eines hat oft mit dem anderen zu tun. In der Praxis lässt sich also nicht klar auflösen, was ich versuche, hier aufzuschlüsseln.

Perspektive 1: Ideologie

Bei der Frage nach der Ideologie geht es in erster Linie um die Frage, was eine Gruppe glaubt und welches Weltbild sie vertritt. Dies hängt eng mit der Frage zusammen, wie intensiv eine Gemeinschaft bestimmte Glaubenssätze vertritt. In vielen christlichen Religionsgemeinschaften findet sich zum Beispiel die Erwartung der Wiederkehr Jesu, die von Gläubigen geteilt wird. Allerdings rückt diese Vorstellung oft in den Hintergrund und wird nicht sonderlich stark betont.

Es gibt mehrere Stichpunkte, die bei der Ideologie einer Gruppe problematisch sein können. Ein Beispiel ist ein exklusi­v­istisches Weltbild, bei dem die Gruppe davon überzeugt ist, den einzig wahren Glauben zu besitzen. Alle Erklärungen der Welt, die nicht dem eigenen Bild entsprechen, werden rigoros abgelehnt und verteufelt. Dies geht oft einher mit einem Schwarz-Weiß-Denken, bei dem keine Grautöne existieren: Eine Person steht entweder auf der richtigen Seite oder auf der falschen, es gibt keinen Mittelweg und keine Grautöne – und deshalb auch keine Notwendigkeit, von Andersdenkenden zu lernen. Schließlich ist man aus der Sicht der Gruppe bereits im Besitz der alleinigen und absoluten Wahrheit. Daraus folgt (unter Umständen, aber nicht immer) ein Missionsanspruch, dem die Motivation zugrunde liegt, andere zum Beispiel vor der ewigen Verdammnis oder der Hölle zu retten. Der Austausch mit Anders- oder Nichtgläubigen dient – wenn er stattfindet – nur dem Zweck der Missionierung hin zur eigenen Gruppe. Optimalerweise, aus Sicht der Gruppe, geht damit ein Machtanspruch einher, um die Welt zu „retten“.

Häufig findet man in den Ideologien problematischer Gruppierungen auch Ankündigungen einer nahenden Endzeit, des Weltendes oder einer bevorstehenden Transformation. Kurz: Die Welt, wie wir sie kennen, wird bald aufhören zu existieren. Unmittelbar damit verbunden ist der Heilsplan, den die jeweilige Gruppierung ihren Gläubigen anbietet. Dieser Plan verspricht die Rettung entweder in der bevorstehenden Endzeit oder nach dem eigenen Tod, falls die Endzeit doch nicht zu Lebzeiten eintritt. Ein weiteres Motiv in diesem Kontext ist die Idee, dass man durch die Methoden einer Gruppe entweder ein Paradies auf Erden erreichen oder sich persönlich verbessern kann, vorausgesetzt, man folgt ihren Lehren und Wegen. Damit verbunden sind oft manipulative Methoden der Anwerbung, die potenziellen Interessenten unrealistische Versprechungen machen. Nicht selten werden detaillierte Erkenntnisse, die die Gruppe angeblich besitzt, erst nach und nach preisgegeben. Ein neues Gruppenmitglied wird also erst in die „wahre Lehre“ eingewiesen, wenn es entsprechende „Erkenntnisstufen“ in der Gruppe erreicht hat.

Perspektive 3: Lebenskontrolle

Eine Perspektive, die für Außenstehende sicherlich besonders deutlich sichtbar ist, ist die Frage danach, wie stark eine Gemeinschaft das Leben ihrer Mitglieder reguliert und kontrolliert. Zugleich ist es einer der Bereiche, in dem die Einflussnahme sehr vielschichtig und unterschiedlich sein kann. Lebenskontrolle ist dabei ein Schlagwort, das sehr breit gefächert ist. Zunächst ist damit das gemeint, was am offensichtlichsten ist: der Einfluss der Gruppe auf die alltägliche Lebensgestaltung. Gibt es strenge Regeln für Kleidung oder Essen? Wird Mitgliedern vorgeschrieben, mit wem sie reden dürfen und mit wem nicht? Häufig gibt es auch strenge Vorschriften im (sexual-)ethischen Bereich, möglicherweise sogar Vorgaben oder Zuweisungen für partnerschaftliche Beziehungen. Auch die Frage, wie stark der Alltag schlicht durch Aktivitäten in der Gruppe geprägt ist, fällt hierunter.

An dieser Schnittstelle zeigt sich jedoch ein spannender Aspekt. Natürlich kann die Mitgliedschaft in Vereinen den Alltag erheblich prägen, und der freiwillige Eintritt in einen Mönchsorden geht mit sehr streng regulierten Bedingungen einher. Wann etwas problematisch wird und wo Grenzen zu ziehen sind, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Dabei spielt wiederum eine Rolle, unter welchen Umständen diese Regeln aufgestellt, eingeführt, durchgesetzt und wie Regelverstöße geahndet werden.

Die Lebenskontrolle umfasst jedoch weitaus mehr. Es geht auch um die Frage der Abhängigkeit. So kann es beispielsweise sein, dass Mitglieder einer Gruppe ihr komplettes Vermögen überschreiben und ihren ganzen Besitz aufgeben. Im Falle eines Bruchs mit einer Gemeinschaft stehen die (Ex-)Mitglieder dann mit nichts da. Es gibt auch Fälle von schlecht oder völlig unbezahlter Arbeit für eine Gruppe, die weit über das „normale“ Maß ehrenamtlichen Engagements hinausgehen. Unter Umständen kann auch deshalb nicht von ehrenamtlichem Engagement gesprochen werden, weil ein hoher Erwartungsdruck existiert, sich intensiv einzubringen, dem sich die Mitglieder kaum entziehen können, ohne in Konfliktsituationen zu geraten. Auch der Kontaktabbruch fällt unter die Kategorie der Abhängigkeit: Beziehungen und Kontakte zu Menschen, die einst wichtig waren, werden nicht mehr gepflegt oder gar aktiv beendet. Die Mitgliedschaft in anderen Gruppen wird beendet, Ausbildung oder Studium hingeschmissen – zugunsten des Engagements in der Gemeinschaft.

Nicht selten begegnet man auch einer Entindividualisierung, die Konsequenzen nach sich zieht. Zum einen wird eine totale Hingabe an die Gruppe gefordert, wobei die Bedürfnisse und Wünsche des einzelnen Mitglieds immer hinter den Zielen der Gruppe zurückstehen müssen. Zum anderen entsteht hier eine psychische Abhängigkeit, da das Individuum nach einer gewissen Zeit in einer problematischen Gruppe oft kaum mehr in der Lage ist, außerhalb der Gemeinschaft zu leben. Dies liegt daran, dass es sich von der Außenwelt entfremdet hat und in einer Gruppe wie in einer Parallelwelt lebt, deren Wertvorstellungen und Alltag nur wenig mit der „Welt da draußen“ gemeinsam haben.

Perspektive 2: Leitung

Die Perspektive der Leitung schaut auf Aspekte, die mit der Führung einer Gruppe zu tun haben. Natürlich gibt es hier unzählige Möglichkeiten, wie das konkret gestaltet sein kann. Dennoch lassen sich bestimmte Punkte als potenziell problematisch kennzeichnen. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob es in einer Gemeinschaft eine Art Führungskult gibt, in der die Gründungs- oder Leitungspersönlichkeit wie ein Heiliger verehrt wird, als Sprachrohr Gottes (oder „Channel“ eines höheren Wesens) oder vielleicht sogar als Gott selbst. Welche Fähigkeiten werden mit dieser Person verbunden, welche Adjektive für sie verwendet? Wird dieser Person zum Beispiel auch die Fähigkeit zugeschrieben, Wunder zu vollbringen oder Dinge zu wissen, die sonst niemand weiß?

Damit einher geht auch die Beobachtung, dass gerade im Rahmen einer solchen extremen Verehrung der Leitungspersönlichkeit auch eine Legendenbildung stattfindet. Die Biografie wird idealisiert, es ranken sich Mythen um die Geburt oder die Vergangenheit der Anführer*in. Häufig finden sich in solchen Biografien auch Visionen oder Erweckungserlebnisse, die eine Art Initialzündung darstellen und letztlich der Grund dafür sind, dass die Person eine Gemeinschaft gegründet hat. Diese Aussagen sind jedoch nicht durch externe und unabhängige Quellen überprüfbar.

Die Frage nach dem Führungsstil schließt sich unmittelbar daran an. Aus dieser Überhöhung der Leitungsebene einer Gemeinschaft (natürlich kann es sich dabei statt um Einzelpersonen auch um ein Leitungsgremium handeln) führt dies häufig dazu, dass Kritik an der „Obrigkeit“ in der Gruppe kaum möglich ist. Die Leitung beansprucht für sich ein absolutes Wahrheitsmonopol, das sich aus ihrer besonderen Stellung als Sprachrohr Gottes, als Medium oder Gott ergibt. Was von der Leitung kommt, muss loyal befolgt werden – schließlich handelt es sich im Verständnis der Gruppe um eine Anweisung mit höchster denkbarer Autorität. Hinterfragt ist nicht gestattet.

Perspektive 4: Gruppenstruktur

Eine weitere Perspektive, die bei der Betrachtung von Gemeinschaften berücksichtigt werden sollte, ist die Frage nach der Struktur der jeweiligen Gruppe. Was denkt eine Gruppe über sich selbst und welche Konsequenzen zieht sie daraus? Insbesondere im Hinblick auf die ideologische Perspektive – Stichwort Exklusivismus – stößt man hier auf ein erstes Merkmal von Gruppen, das Konfliktpotenzial birgt: Wenn sich eine Gemeinschaft nämlich als eine exklusive Elitegemeinschaft versteht. Man selbst versteht sich dann als Teil einer kleinen Menge von Erleuchteten. Damit wird jegliche Kritik von außerhalb unmöglich gemacht. Oft wird behauptet, Kritik erfolge nur deshalb, weil Menschen außerhalb der Gruppe noch nicht so erleuchtet seien wie die Mitglieder der Gruppe. Das kann zu einer Abschottung beitragen. Klar ist dabei immer, dass es ein „Drinnen“ und ein „Draußen“ gibt, diejenigen, die auf der richtigen Seite stehen, und die, die auf der falschen Seite stehen.

Diese eingeschworene und klar abgegrenzte Elitegemeinschaft zeigt zudem einen starken inneren Zusammenhalt (der Fachbegriff hierfür lautet Kohäsion). Auch hier gilt wieder, dass sich das auf unterschiedlichste Arten und Weisen darlegen kann: von gegenseitiger Unterstützung in allen möglichen Belangen über Hilfeleistungen (wie sie auch in vielen völlig unverdächtigen Gemeinschaften zu finden sind) bis hin zur gegenseitigen sozialen Kontrolle, ob die Regeln der Gruppe eingehalten werden – beobachtete Verfehlungen werden dann an die Gruppenleitung gemeldet. Solch ein Verhalten wird von der Leitung oft gefördert. Konkret kann sich das zum Beispiel darin äußern, dass man häufig ein anderes Gruppenmitglied an die Seite gestellt bekommt oder dazu angehalten wird, regelmäßig anderen gegenüber zu beichten oder Bericht zu erstatten.

Perspektive 5: Kritik & Selbstreflexion

Eine letzte Perspektive betrifft den Umgang mit Kritik, unabhängig davon, ob sie von innerhalb oder von außerhalb der Gemeinschaft kommt. Was passiert, wenn ein Mitglied Zweifel an der Gruppe oder an ihrer Lehre hegt? Inwiefern ermöglicht die Gruppe in solchen Fällen Selbstreflexion auf allen Ebenen? Nicht selten herrscht in problematischen Gemeinschaften eine Atmosphäre, die keine Zweifel zulässt. Eine Stimmung, in der sich die Individuen nicht trauen, ehrliche Fragen zu stellen, insbesondere in Bezug auf den Glauben der Gruppe. Eine gute Atmosphäre zeichnet sich dadurch aus, dass sie alle Fragen und Zweifel einer Person konstruktiv aufnimmt und sie nicht von vorneherein als destruktiv, schlecht, verführerisch oder gar „teuflisch“ abwertet – das sind Adjektive, die man in problematischen Gruppen oft im Zusammenhang mit eigenen Glaubenszweifeln hört.

Es geht aber noch weiter – denn natürlich ist die Frage nach der Atmosphäre nicht alles. Was passiert, wenn eine Person Kritik äußert? Der Extremfall wäre sicherlich ein Ausschluss aus der Gemeinschaft in Verbindung mit einem Kontaktabbruch. Dieser kann auch erfolgen, wenn eine Person von sich aus die Gruppe verlässt – legitime Gründe dafür gibt es in destruktiven Gemeinschaften nicht, schließlich befindet man sich selbst auf dem einzig richtigen Weg. Dahinter steht häufig der Gedanke der Reinheit: Die eigene Gruppe soll nicht durch die schlechten Gedanken oder das schlechte Verhalten der ausgeschlossenen Person kontaminiert werden. Im Extremfall kann es auch zu Erpressungen von Personen kommen, die sie daran hindern, aus einer Gruppe auszusteigen und eventuell öffentlich Kritik an ihr zu üben. Als Mittel der Erpressung können zum Beispiel Informationen dienen, die die Person im Rahmen einer Beichte anderen Gruppenmitgliedern oder der Gruppenleitung anvertraut hat.

Auch die Frage nach dem Umgang mit Kritik von außen spielt bei der Beurteilung einer Gruppe eine wichtige Rolle. Wie reagiert man nach außen auf solche Kritik? Und wie reagiert die Gruppe bzw. die Leitung? In problematischen Gruppierungen wird häufig nicht auf einer Sachebene entgegnet, sondern Kritikern werden sofort persönliche Motive unterstellt. Das gilt auch für Ex-Mitglieder, die nun angeblich einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Gruppe führen. Mit sachlicher Kritik setzt man sich in der Regel nicht konstruktiv auseinander, indem man etwa nachfragt, was davon zutreffen könnte oder wo Entwicklungspotenzial besteht. Deshalb werden Kritiker der Gruppe nicht argumentativ entkräftet, sondern sie werden vielmehr öffentlich diffamiert und diskreditiert. Dieser Punkt lässt sich häufig öffentlich nachvollziehen: Kommt auf sachliche Kritik ein sachliches Argument zurück, oder begibt man sich sofort auf die Ebene der (persönlichen) Diffamation, die sich nicht angemessen mit der Sachebene auseinandersetzt?

Diese Perspektiven zeigen zwei Dinge sehr deutlich: Zum einen ist es völlig unabhängig von der konkreten Frage nach der Religion, ob es sich um eine problematische Gruppe handelt oder nicht. Destruktive Tendenzen können in allen möglichen Gruppen auftauchen – sei es in christlichen Kirchen, islamischen Gemeinschaften, buddhistischen Yoga-Gruppen, esoterischen Reiki-Gruppen oder auch atheistischen politischen Parteien oder Hardcore-Fußballfan-Vereinigungen. Zum anderen kann man auch große Religionsgemeinschaften auf diese Weise differenziert betrachten. Um zu konkretisieren, was ich meine, ziehen wir als Beispiel die am weitesten verbreitete Religion in Deutschland heran: das Christentum. Es macht insbesondere angesichts der Größe und Verbreitung wenig Sinn, diese Dimensionen auf die kompletten Institutionen (z. B. die Großkirchen) anzuwenden oder gar auf etwas wie „das Christentum“ insgesamt (das es in einer homogenen Form genauso wenig gibt wie „den Islam“, „den Buddhismus“, „den Hinduismus“ oder „das Judentum“). Das Zauberwort ist schon gefallen, und es heißt: Differenzierung. Denn natürlich gibt es im Christentum zahllose Gruppierungen, die bei der Betrachtung einer oder mehrerer Dimensionen problematisch sind. Und diese finden sich in evangelischen, katholischen und freikirchlichen Gemeinden. Man muss also immer genau hinschauen: Eine Ortsgemeinde kann durchaus problematische Züge aufweisen, wenn beispielsweise eine sehr starke ethische Ausrichtung für eine hohe Lebenskontrolle sorgt oder der örtliche Geistliche als eine Art unhinterfragbarer Guru auftritt. Die Frage nach sektenhaften Zügen ist deshalb eine, die keine Grenzen kennt. Das dargelegte Raster kann auf jegliche Art von Gemeinschaft angewendet werden.

Wer wissen will, was es mit einer Gemeinschaft oder Gemeinde auf sich hat, muss sich die Mühe machen und genau hinschauen. Das ist mühsam, aber nötig. Ein Patentrezept bieten dabei auch die genannten Perspektiven nicht. Ob eine Gruppe problematisch ist oder nicht, hängt nicht nur mit der Gruppe zusammen, sondern auch mit dem jeweiligen Individuum.

Warum treten Menschen einer „Sekte“ bei?

Während meines Studiums in Berlin habe ich für unsere damalige Studierendenzeitschrift der theologischen Fakultät an einer Ausgabe zum Thema „Sekten“ mitgearbeitet. Einer meiner Beiträge sollte ein Erfahrungsbericht werden: Ich wollte zur Scientology-Zentrale in Berlin und mal schauen, wie lange ich bei Scientology „mitmachen“ kann, ohne Geld zu bezahlen. Es war also ein kleines Langzeit-Projekt, das jedoch schnell endete. Nach zwei Besuchen, bei denen ich zunächst einen Persönlichkeitstest machte und dann an einer kostenlosen Probe-Auditing-Sitzung teilnahm, versuchte man mir einen kostenpflichtigen Kurs anzudrehen. Als ich ablehnte, wurde mir ein weiteres kostenloses Probe-Auditing angeboten. Mir haben allerdings die Erfahrungen beim ersten Mal gereicht, und ich habe das Langzeit- zu einem Kurzzeit-Projekt gemacht und die Sache nach drei Wochen abgebrochen (ungefähr so lange lagen Kontaktaufnahme und der letzte Termin auseinander). Während dieser drei Wochen habe ich in unterschiedlichen Kontexten mit Mitstudierenden und Freunden darüber gesprochen, dass ich gerade bei Scientology unterwegs bin. Die Reaktion war immer die gleiche – und sie war mir auch nicht fremd, weil ich selbst ein ähnliches Bild hatte, bevor ich zum ersten Mal in Kontakt mit der Gruppe gekommen bin. Scientology gilt in den Köpfen vieler Menschen gewissermaßen als Prototyp einer Psycho-Sekte in Deutschland. Aussteiger erzählen schaurige Geschichten von Stalking und Gewaltandrohungen, nachdem sie die Gruppe verlassen haben. Immer wieder hört man von Ex-Scientolog*innen und Anti-Scientology-Aktivist*innen von Manipulationsmethoden in der Gruppe, die einer Gehirnwäsche gleichkommen sollen. Entsprechend geprägt ist das Bild, das man von der Gruppe und ihren Mitgliedern hat. Und das prägte nun auch die Reaktionen, die mir entgegenschlugen: Gefahr! Wenn du auch nur in die Nähe eines Scientologen oder einer Scientologin kommst, kommst du so schnell nicht mehr weg! Gib ihnen ja nicht deine richtigen Daten! Pass auf dich auf, sag uns immer, wo du bist und wenn du hingehst!