Die Stille vor dem Schuss - Azad Cudi - E-Book

Die Stille vor dem Schuss E-Book

Azad Cudi

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Beschreibung

Der Traum von Freiheit treibt den jungen Kurden Azad Cudi in den Krieg. Er will seine Heimat gegen den Terror des IS verteidigen und für ein freies Kurdistan kämpfen. In diesem atemberaubenden autobiografischen Kriegsbericht schildert Azad, wie er erbitterten Widerstand gegen die Übermacht der Dschihadisten leistet – ein Zeitdokument von großer erzählerischer Wucht. Als sich der IS in Syrien ausbreitet, gibt Azad sein gesichertes Leben in Europa auf. Er will seinem Volk, den Kurden, beistehen – und wird Scharfschütze. Gegen die zahlenmäßig und materiell weit überlegenen islamistischen Terroristen gibt es für die Freiheitskämpfer nur eine Taktik: Mann für Mann ausschalten. 2014 eskaliert der Kampf um Kobane. Azad harrt auf seinem Posten aus, lockt den Feind aus seinem Versteck, nimmt ihn ins Visier, drückt ab. Er muss schießen, um zu überleben. Die Gefechte sind gnadenlos. Azad kämpft gegen Hunger, Übermüdung, wird verwundet, sieht Freunde sterben – bis der IS aus der Stadt vertrieben ist. Diese Autobiografie ist ein fesselnder Kriegsbericht, ein intensiver Blick in die Seele eines Snipers und ein Schrei nach Freiheit für das unterdrückte kurdische Volk. »Ein faszinierendes Buch, von dem man lernen kann und das einen nicht loslässt.« John le Carré

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Seitenzahl: 370

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Azad Cudi

Die Stille vor dem Schuss

Mein Leben als Sniper im Kampf gegen den IS

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der Traum von Freiheit treibt den jungen Kurden Azad Cudi in den Krieg. Er will seine Heimat gegen den Terror des IS verteidigen und für ein freies Kurdistan kämpfen. In diesem atemberaubenden autobiografischen Kriegsbericht schildert Azad, wie er erbitterten Widerstand gegen die Übermacht der Dschihadisten leistet – ein Zeitdokument von großer erzählerischer Wucht.

Als sich der IS in Syrien ausbreitet, gibt Azad sein gesichertes Leben in Europa auf. Er will seinem Volk, den Kurden, beistehen – und wird Scharfschütze. Gegen die zahlenmäßig und materiell weit überlegenen islamistischen Terroristen gibt es für die Freiheitskämpfer nur eine Taktik: Mann für Mann ausschalten. 2014 eskaliert der Kampf um Kobanê. Azad harrt auf seinem Posten aus, lockt den Feind aus seinem Versteck, nimmt ihn ins Visier, drückt ab. Er muss schießen, um zu überleben. Die Gefechte sind gnadenlos. Azad kämpft gegen Hunger, Übermüdung, wird verwundet, sieht Freunde sterben – bis der IS aus der Stadt vertrieben ist. Ein fesselnder Kriegsbericht, ein intensiver Blick in die Seele eines Snipers und ein Schrei nach Freiheit für das unterdrückte kurdische Volk.

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkung des AutorsKarten1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelBildteilDanksagung
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Für alle Märtyrer der Freiheit,

die vor uns kamen,

und für die Tausende,

die in Kobanê gefallen sind

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Vorbemerkung des Autors

Mein Bericht über den Krieg gegen den IS in den Jahren 2013 bis 2016, insbesondere die fünf Monate des Widerstandskampfes in Kobanê von Ende 2014 bis Anfang 2015, beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen. Nach den Kämpfen, an denen ich aktiv beteiligt war, lebte ich ein Jahr in Kobanê. Während dieser Zeit habe ich mir ausführliche Notizen gemacht. Außerdem habe ich Kameraden nach ihren Erinnerungen gefragt, habe Einblick in die Akten unserer Volksverteidigungseinheiten (YPG) einschließlich der Frauenkampfverbände (YPJ) genommen, offizielle Dokumente des amerikanischen Verteidigungsministeriums eingesehen, Historiker, Aktivisten und Journalisten interviewt. Die Informationen habe ich mit den Medienberichten dieser Zeit abgeglichen. Sollte der Text dennoch Fehler enthalten, so bin ich allein dafür verantwortlich.

 

Ich bin mir natürlich bewusst, dass im Wesentlichen bekannt ist, wann und wo der Vormarsch des IS im Nahen Osten zum Stehen gebracht und die Dschihadisten schließlich zurückgeschlagen wurden. Doch was genau vor Ort geschah, ist bislang kaum erzählt worden. Das liegt hauptsächlich daran, dass von den Beteiligten viele nicht überlebt haben. Und so sind es vor allem meine gefallenen Kameraden und Kameradinnen, von denen ich mich auf diesen Seiten leiten ließ.

 

Leeds, Februar 2019

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Karten

 

 

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1

Vor Sarrin im Süden RojavasApril 2015

Ich habe schon viele Namen getragen – Sora als Junge in Kurdistan, Darren in meinem britischen Pass –, aber als Sniper nannte ich mich Azad, was auf Kurdisch »frei« oder »Freiheit« bedeutet. Während des Krieges war mir dieser Name Mahnung an ein kurdisches Sprichwort: »Der Baum der Freiheit wird mit Blut getränkt.« Es sind echte Opfer nötig, will das besagen, die Freiheit ist nie einfach zu bekommen, sondern nur in einem langen und schmerzlichen Kampf. Vielleicht werden wir eines Tages, wenn genügend unserer Frauen und Männer im Krieg waren und gefallen sind, in einer Welt des Friedens, der Gleichheit und der Würde leben können, in der wir Wasser von der Bergquelle trinken und Maulbeeren von den Bäumen pflücken. Aber Kobanê war diese Welt noch nicht. In Kobanê verloren wir Tausende, und wir töteten Tausende – so tränkten wir die Erde unserer Heimat Tropfen um Tropfen, nährten die Freiheit und zogen sie groß.

Ich kämpfte bereits sechzehn Monate auf kurdischem Gebiet im Norden Syriens, als ich im April 2015 die Aufforderung erhielt, mich von meiner Stellung nahe der türkischen Grenze an die Front im Südwesten zu begeben, um dort einen Angriff zu unterstützen. Kobanê hatten wir bereits im Januar zurückerobert. Seither hatten wir die Dschihadisten so weit in alle Richtungen zurückgedrängt, dass unser Gebiet nicht mehr bloß ein paar Straßenzüge umfasste, sondern man fünf Stunden brauchte, um es mit dem Auto zu durchqueren. Als wir Richtung Norden über die türkische Grenze losfuhren, konnte ich den schneebedeckten Berggipfel ausmachen, auf dem Noah einst mit der Arche angelandet sein soll. Darunter erstreckten sich die weiten, grasbewachsenen Täler und Tannenwälder Mesopotamiens, des Landes zwischen Euphrat und Tigris, wo schon seit fünfzehntausend Jahren Menschen lebten. Als wir uns Richtung Süden wandten, gingen die Hügel in Felder über, unterbrochen von kahlen Erhebungen, die anstiegen und fielen wie die Wellen auf einem großen See. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, und ich beobachtete, wie das Licht des späten Nachmittags auf den letzten Aprikosenblüten und den roten und gelben Mohnblumen am Straßenrand tanzte.

Bald war es dunkel. Der alte Pick-up des Bauern, der mich fuhr, war völlig heruntergekommen – keine Federung, kein Licht, so gut wie kein Profil mehr auf den Reifen –, und das auf einer ziemlich heimtückischen, von tiefen Spurrillen durchzogenen Piste. Ich glaube kaum, dass wir irgendwann mehr als dreißig Kilometer in der Stunde vorankamen. Einmal trafen wir auf eine Gruppe von Kämpferinnen, die um ein Feuer saßen. Wir hielten an und tranken ein Glas schwarzen Tee. Schließlich erreichten wir um 23 Uhr, als meine Glieder vor lauter blauer Flecken schon taub waren, eine kleine, aus fünfzig Lehmhäusern bestehende Siedlung. Manche Häuser zeigten die üblichen Spuren eines Überfalls: Einschüsse, Granatlöcher und die schwarzen Graffiti der Dschihadisten. Dort sollte ich weitere Instruktionen von Generalin Medya, der zuständigen Kommandeurin, erhalten.

Medya war Mitte dreißig und hatte bereits mehr als ein Jahrzehnt Kampferfahrung. Sie band ihr langes schwarzes Haar beim Kampf zu einem Pferdeschwanz zusammen und trug ein grünes Kopftuch, das sie tief über das eine blaue Auge zog, mit dem sie noch sehen konnte. Außenstehende wundern sich immer, dass im kurdischen Widerstand Männer und Frauen in allem, auch im Kampf, gleichberechtigt sind. Um in unsere Volksverteidigungseinheiten einzutreten und ein Gewehr zu bekommen, muss man lediglich achtzehn Jahre alt sein. Ansonsten zählt nur, dass man einen klaren Kopf hat und sich nützlich machen kann, woher man kommt, ist ebenso unerheblich wie, welchem Geschlecht man angehört. Männer und Frauen kämpfen Seite an Seite, jedoch in getrennten Einheiten: die Frauen in den YPJ, Yekîneyên Parastina Jin, die Männer in den YPG, Yekîneyên Parastina Gel. Die Frauen kämpfen, töten und sterben genau wie die Männer, sie sind nicht weniger zäh. Der IS kann ein Lied davon singen. Wir sprachen oft davon, wie verblüfft sie sein mussten, in ihrem letzten Moment eine Frau über sich stehen zu sehen. Dass sie diese Erde unseretwegen voller Zweifel verließen, machte uns doppelt sicher, dass wir die ideale Armee waren, sie zu schlagen.

Medya leitete das Gespräch mit der Bemerkung ein, dass unsere Befreiung kurz bevorstehe. Wenn wir den letzten Meter unserer Heimat zurückerobert hätten, sei unser Volk gerettet. Das sei dann der Tag des Sieges von Zivilisation und Fortschritt über die Dschihadisten, die auf barbarische Weise das Rad der Geschichte zurückzudrehen versuchten. Wir würden erreichen, was den großen Nationen Europas und Amerikas nicht gelinge, auch wenn sie das nie zugeben würden. Wir würden sogar unsere Unterdrücker in der Türkei, Syrien, dem Irak und Iran befreien. Und mit unserem Sieg würden wir endlich die verdiente Aufmerksamkeit und Unterstützung für unsere Sache gewinnen, das autonome Kurdistan.

Damit dieser große Tag kommen könne, sagte Medya, müssten die letzten Vorstöße gelingen. Unser nächstes unmittelbares Ziel sei eine befestigte IS-Stellung auf einem Hügel vor der nordsyrischen Stadt Sarrin. Das Beste wäre, sie bei Nacht einzunehmen, und dazu brauche man einen Sniper mit einem Wärmebild-Zielfernrohr. »Der Hügel, den du einnehmen musst, befindet sich in etwa zwei Kilometer Entfernung in dieser Richtung«, sagte Medya und wies nach Süden. »Dazu musst du erst auf den anderen Hügel nebenan steigen, von dort aus kannst du sie dann unter Feuer nehmen. Möglich, dass fünfzig Kämpfer in der Stellung sind. Wir glauben aber, dass es nur eine Handvoll ist. Ankommen, Lage einschätzen, angreifen.«

Medya brachte mich zu der kleinen Einheit, die ich führen sollte. An die Wand gelehnt, seine Kalaschnikow im Arm, stand Xabat, wohl kaum älter als zwanzig, der klar und mit großer Begeisterung sprach. Er hatte erst vor wenigen Stunden die Hügel ausgekundschaftet, die wir an diesem Tag angreifen sollten. Ein zweiter Mann, ebenfalls mit einer Kalaschnikow, dunkelhäutig und schlank, sagte kein Wort. Die kleine, kräftige Frau mit dem runden Gesicht und einer Panzerfaust im Arm hieß Havin. Zu ihr gehörte ein neunzehnjähriger Ladeschütze, der ihre Raketen und ein Funkgerät trug. Zuletzt war da noch ein etwas älterer Kämpfer namens Shiro, vielleicht 28 oder 29, dünn und groß; er war unrasiert und trug langes, sich bereits lichtendes Haar. Seine Bewaffnung bestand aus einem BKC-Maschinengewehr, Kaliber 7,62 mm.

Das Team machte einen guten Eindruck auf mich. Alle schauten mir mit klarem, festem Blick in die Augen, als ich auf sie zuging. Wir stellten uns einander mit Handschlag vor. Ich überprüfte meine Ausrüstung – eine Ersatzbatterie für das Zielfernrohr, zwei Handgranaten in der Weste, fünf Magazine für mein M-16 mit jeweils dreißig Patronen –, und los ging’s.

* * *

Für einen Angriff bei Tage wählt man als Sniper einen erhöhten Standpunkt, beispielsweise ein Gebäude oder einen Hügel, und gibt von dort aus den vorrückenden Soldaten Deckung. Bei Dunkelheit jedoch muss der Scharfschütze mit seinem Nachtsichtgerät den Angriff dirigieren, weil nur er das Ziel sehen kann. In dieser Nacht war der Mond nur als dünne Sichel zu erkennen. Außer mir waren alle anderen praktisch blind.

Wir näherten uns dem ersten Hügel in bewährter Taktik. Ich ging zweihundert oder dreihundert Meter voran, überprüfte, ob die Luft rein war, nahm Deckung und gab über Funk »Jetzt!« durch, das Signal für die anderen, zu mir aufzuschließen. Dieses Manöver wiederholten wir sieben oder acht Mal. Wir waren noch rund fünfhundert Meter vom ersten Hügel entfernt, als wir unter Feuer gerieten. Ich hörte den scharfen, dumpfen Knall von Schüssen aus großer Entfernung, dann ein Fsss! Fsss! wie von Bienen. Das waren die Kugeln, die über unsere Köpfe hinwegflogen. Das gegnerische Feuer zwang uns zwar dazu, auf dem Boden voranzukriechen, gab uns aber wertvolle Hinweise. Wir hatten sehr darauf geachtet, leise zu sein, die Dschihadisten mussten also über Nachtsichtgeräte verfügen, andernfalls hätten sie uns nicht bemerken können. Und dass die Kugeln über unsere Köpfe hinwegpfiffen, sagte uns, dass es bloß Ferngläser waren, keine nachtsichtfähigen Zielfernrohre auf ihren Gewehren. Außerdem verriet die Stärke des Feuers, dass es wahrscheinlich nur eine Handvoll Leute waren, höchstens zehn. Mit denen konnten wir fertigwerden.

Um 1 Uhr 30 erreichten wir, immer noch unter Beschuss, den Gipfel des ersten Hügels. Ich machte einen Steinhaufen auf dem Gipfel aus, den Bauern dort aus aufgeklaubten Feldsteinen errichtet hatten. Fünfzig oder sechzig Meter vor dem Steinhaufen blieb ich stehen und winkte Xabat herbei. »Wahrscheinlich eine Sprengfalle«, sagte er, als er herangekrochen war. In diesem Moment hörte man wieder Geknatter von der IS-Stellung und über unseren Köpfen erneut das Fsss! Wir waren deutlich näher dran.

Ich ließ das Team hinter einem Felsen zurück, erhob mich gut sichtbar für die IS-Kämpfer und ging rasch auf den Steinhaufen zu. Als ich ihn erreicht hatte, hielt ich einen Augenblick an, um sicherzustellen, dass sie mich auch wirklich sahen. Dann ließ ich mich fallen, als würde ich Deckung suchen, und kroch den Weg, den ich gekommen war, zurück. Wieder hinter dem Felsen, wartete ich. Wenn die Dschihadisten den Steinhaufen mit einer Sprengfalle versehen hatten, würden sie sicher abwarten, bis wir alle sechs uns dort versammelt hatten, und ihn dann in die Luft jagen. Sie ließen sich geschlagene sieben Minuten Zeit.

Eine Explosion in nicht allzu weiter Entfernung fühlt sich im ersten Moment so an, als würde einem die Haut aus den Gehörgängen geschält. Gleich darauf erreicht die Druckwelle das Gehirn, und man verliert für einen Moment das Bewusstsein. Man darf nicht vergessen, den Mund aufzumachen, damit der Druck entweichen kann. Ist die Explosion sehr nahe, spürt man in dem Augenblick, in dem man wieder zu Bewusstsein kommt, wie man durch die Luft geschleudert wird. Nase, Augen und Mund füllen sich mit Erde. Ist man ein wenig weiter weg, hat man das Gefühl, die Erde bebt. Dann prasselt ein Hagel von Steinchen auf einen herab. Man kann nichts weiter tun, als die Augen zu schließen und auf sein Glück zu vertrauen. Falls man stirbt, geht es sehr schnell, weil einen entweder die Explosion zerreißt, man von einem Trümmerstück erschlagen oder gegen eine Wand oder einen Felsen geschleudert wird. Kommt man wieder zu Bewusstsein und findet sich auf dem Boden wieder, hat man überlebt – sofern nicht doch noch etwas Schweres auf einen herabstürzt. Ich weiß noch, wie die Felsbrocken an unseren Köpfen vorbeizischten und Steinchen auf uns herabregneten. Wir pressten Augen und Mund auf die Arme.

Als sich der Staub zu verziehen begann, quäkte mein Funkgerät. »Alles in Ordnung? Seid ihr okay?«

Das war Generalin Medya.

»Alles klar«, antwortete ich. »Fernzünder. Sie haben uns nicht erwischt.«

Durch den Staub konnte ich Xabat grinsen sehen. »Hab ich’s nicht gesagt? Eine Sprengfalle!«

»Jetzt«, sagte ich ins Funkgerät. Das Team sammelte sich hinter mir, und gemeinsam robbten wir vor bis zu den Resten des Steinhaufens.

An der neuen Position angelangt, ließ ich alle ein paar Steine zusammensuchen und dahinter Deckung nehmen. Ich selbst nahm drei Steine, platzierte sie unter meinem Gewehr und zog mir meinen Schal dicht über den Kopf, damit der Lichtschein des Nachtsichtgeräts nicht zu sehen war. Als ich mit meiner Tarnung zufrieden war, schaltete ich es ein.

Ich sah sie auf den ersten Blick. Durch das Thermo-Nachtsichtgerät konnte ich eine aus Felsbrocken errichtete Stellung in abschüssiger Lage nahe dem Gipfel des uns gegenüberliegenden Hügels ausmachen. Die Entfernung betrug etwa 550 Meter.

Ich suchte das Umfeld ab und entdeckte eine dürre Gestalt, die ein paar Meter unterhalb der Stellung stand. Ihr Wärmebild strahlte wie eine Mondsichel in der Dunkelheit. In einigen Metern Abstand standen drei Männer – ein großer, ein mittelgroßer und ein untersetzter, der eine Art Kaftan trug. Der Dünne sagte etwas, die drei anderen hörten zu. Alle vier waren außer Deckung.

Der Dünne ist der Kommandeur, dachte ich. Er gibt Anweisungen. Er hat das Sagen.

Für einen Sniper sind 550 Meter eine kurze Distanz. Ich brauchte keinen Windausgleich vorzunehmen. Das Projektil, das eine Geschwindigkeit von 762 Metern pro Sekunde hatte, würde den Dürren eine Dreiviertelsekunde nachdem es meinen Lauf verlassen hatte, treffen. Der Abzug eines M-16 reagiert ebenfalls sehr schnell. Eine leichte Fingerkrümmung, und der Schuss geht los. Ich zielte auf den Kopf des Dürren.

Der Kolben schlug gegen meine Schulter. Durch das Fernrohr sah ich, wie der Kopf des Dürren eine ruckartige Bewegung von mir weg machte. Er sank in die Knie und sackte dann schlaff wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist, gegen einen Felsen. Der Kopf fiel ihm auf die Brust.

Nun widmete ich mich den drei anderen. Der Große versuchte, rechts, hinter ein paar Felsen Deckung zu finden. Der Mittelgroße und der im Kaftan rannten den Hügel hinauf zur Stellung. Der Mittelgroße blieb kurz stehen. Ich zielte auf seine Brust und krümmte den Finger. Ein weiterer Schuss. Der war erledigt.

Der im Kaftan rannte immer noch den Hügel hinauf. Ich folgte seiner Bewegung mit dem Zielfernrohr. Als er stehen blieb, um ein großes Maschinengewehr aufzuheben, zielte ich auf seinen Körper. Peng. Peng. Das Echo meiner Schüsse hallte zwischen den Felsen, und er sank zu Boden.

Ich hielt nach dem Großen Ausschau. Er sprang auf der rechten Seite von Felsen zu Felsen. Er erwiderte das Feuer, ballerte aber nur ungezielt in die Gegend. Hinter den Felsen konnte ich seinen Kopf, seine Brust und ein Bein sehen. Ich entschied mich für das Bein. Peng. Der Große fiel hin und robbte in Deckung.

Da entdeckte ich in der Stellung einen fünften Mann, einen kleinen Dicken. Er spähte immer mal wieder über die Mauer, zeigte für eine Sekunde seinen runden Schädel, verschwand wieder. Ich feuerte zwei Schüsse auf ihn ab, doch er tauchte rechtzeitig ab. Er zeigte sich kurz, feuerte, verschwand, erschien an einer anderen Stelle und schoss wieder.

Ich wandte mich erneut dem Großen zu. Er kroch am Boden entlang. Möglicherweise versuchte er, uns von der Flanke anzugreifen. Ich sagte Havin, sie solle mit ihrer Panzerfaust ein Stück vorrücken, um ein klares Schussfeld zu haben, falls er versuchen sollte, zu uns heraufzukommen. Ich wartete einige Minuten, bis sein Kopf zwischen zwei Felsen auftauchte, dann gab ich einen Schuss ab. Der Kopf wurde nach hinten geschleudert und riss seinen Körper in einem Salto mit, der ihn auf dem Rücken landen ließ. Auch der Große war erledigt.

Links hatte sich der Kaftanträger wieder in Bewegung gesetzt und versuchte, sich hinter einem Felsen zu verstecken. Ich schaltete das M-16 auf Schnellfeuer, um ihm Angst einzujagen und so aus der Deckung zu locken. Ich gab erst einen, dann noch einen Feuerstoß ab, schließlich einen dritten. Als ich das vierte Mal schießen wollte, hatte ich Ladehemmung.

Ich löste das Magazin, nahm meinen Reinigungsstab aus dem Rucksack, stocherte damit im Lauf herum, stieß die Kugel hinaus, klippte das Magazin wieder ein und brachte das Gewehr in Feuerposition. Wieder Ladehemmung.

Nun schaltete ich das Fernrohr aus, erhob mich auf die Knie, nahm das Kopftuch ab und wischte mit der Hand über den Boden, um vor mir eine glatte Fläche zu schaffen. Dann schloss ich die Augen und atmete tief durch. Mit geschlossenen Augen, so wie wir es gelernt hatten, nahm ich das Gewehr, löste das Magazin, den Schaft, den Abzug und das Griffstück vom Lauf, dann trennte ich den Ladegriff und Verschlussrahmen. Ich legte alles in dieser Reihenfolge auf das Kopftuch. Anschließend nahm ich es in umgekehrter Reihenfolge wieder auf – Verschlussrahmen, Ladegriff, Schaft, Abzug und Lauf – und setzte das Gewehr wieder zusammen. Als ich damit fertig war, hatte mich der Dicke offensichtlich erspäht. Er begann zu feuern, Kugeln prasselten gegen die Felsen um mich herum, und ich spürte Steinsplitter wie heiße Nadeln in meinem linken Bein.

Das Zerlegen und der Zusammenbau hatten zwei Minuten gedauert. Ich öffnete die Augen und zog den Spannhebel zurück. Mit dem Gewehr war alles in Ordnung. Als ich das Magazin wieder einführte, hörte ich durch das Geballer des Langen hindurch das schwache Zing! einer losen Feder. Das war also das Problem. Wenn die Feder des Magazins lose war, konnte sie natürlich keine Patrone in das Lager befördern. Ich löste das defekte Magazin, legte es zur Seite, führte ein neues ein und zog den Spannhebel zurück. Tschak! Das befriedigende Geräusch einer Patrone, die sauber ins Lager befördert wird.

* * *

Die kurze Unterbrechung hatte dem Dicken und dem Typen im Kaftan eine Atempause verschafft. Sie feuerten nun regelmäßig. Eine Granate fauchte über unsere Köpfe hinweg und explodierte direkt hinter uns. Ein Schauer von Erde und Steinchen regnete auf uns herab. Xabat erhob sich und erwiderte das Feuer. Shiro feuerte aus seiner BKC. Ich hüllte mich wieder in mein Kopftuch und schaltete das Fernrohr an.

Der Kaftanträger hatte sich zwanzig oder dreißig Meter den Hügel hinab bewegt. Ich schoss, sobald ich ihn sah. Er ging zu Boden und griff sich an den Kopf. »Allahu Akbar! Allahu Akbar!«, rief er. Das war ihr Kampfruf. Aber seine Stimme klang schwach, vermutlich hatte er schon viel Blut verloren. »Ju-ju-ju-ju-ju-ju!«, erwiderte Havin ululierend und schlug sich dabei mit der Hand auf den Mund. »Ju-ju-ju-ju-ju! Biji Reper Apo! Lang lebe Apo!«, ließ sie Abdullah Öcalan hochleben, den wir Apo nennen.

Links sah ich, wie sich der Dürre ein wenig bewegte. Er lag auf dem Rücken. Ein Bein blieb flach auf der Erde, doch das andere bewegte sich auf und ab. Ich feuerte auf das unbewegliche Bein. Das andere bewegte sich noch eine Weile, dann sank es plötzlich zu Boden. Auch um den Dürren war es geschehen.

Das Feuergefecht dauerte nun schon fünfzig Minuten. Vier Feinde waren ausgeschaltet. Nur der Dicke war noch übrig. Ich sagte Havin, sie solle auf die Mauern schießen, hinter denen er sich verschanzte. Die erste Granate traf eine Ecke. Die zweite ging über die Mauer hinweg. Die dritte schlug knapp davor ein. Ich wies Shiro an, fünfzig Meter den Hügel hinab vorzurücken und von dort das Feuer zu eröffnen. Wenn der Dicke dann aus der Deckung kam, um es zu erwidern, hatte ich ihn.

Shiro tat wie geheißen, der Dicke erhob sich, und ich schoss – aber wieder war er zu schnell. Bevor er meinen Schuss abbekam, war er bereits in Deckung gegangen. Er verteidigte sich gut. In gewisser Weise empfand ich Respekt für ihn. Seine Kameraden waren alle tot, aber er gab nicht auf.

Xabat schlug vor, zusammen mit Shiro die Stellung zu umgehen und sie von hinten mit Handgranaten anzugreifen. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie den Fuß des Hügels erreichten. Ich schoss ununterbrochen, damit der Dicke den Kopf unten behielt und sie nicht bemerkte. Er ahnte wohl etwas. Als Xabat und Shiro hundert Meter von ihm entfernt waren, löste er eine weitere Sprengfalle aus. Von meiner Position aus wirkte es, als wäre sie direkt unter ihnen hochgegangen. Aber nachdem sich der Rauch verzogen hatte, sah ich, dass sie unbehelligt den Hügel hinaufkrochen.

»Wie geht’s voran?«, wollte Medya über Funk wissen.

»Fast geschafft«, antwortete ich.

Der Dicke hörte offenbar, dass jemand von hinten kam. Er bekam Panik, sprang mehrmals aus seiner Deckung heraus, versuchte, die Angreifer auszumachen, und rannte ebenso rasch wieder zurück. Ich behielt ihn im Auge und setzte ihn mit kurzen Feuerstößen unter Druck, um ihn daran zu hindern, auf sie zu schießen. Als Xabat und Shiro weniger als dreißig Meter hinter der Stellung waren, riefen sie zu mir hinüber.

»Mehr Feuer, bitte!«

Ich schickte kurz hintereinander mehrere Salven in seine Richtung, Xabat und Shiro rannten auf die Stellung zu und warfen zwei Handgranaten hinein. Zwei Explosionen. Wir warteten eine Minute. Stille.

* * *

Ich nahm mein Gewehr auf, lief den Hügel hinunter und auf der anderen Seite zur IS-Stellung hinauf. Der Dünne, den ich für den Kommandeur gehalten hatte, stellte sich als der Jüngste heraus. Ich hatte ihn in den Kopf und die Beine getroffen. Der Große, der Mittlere und der im Kaftan waren alle Ende dreißig. Den Großen hatte ich drei Mal in die Brust und einmal in den Kopf getroffen. Der Mittlere hatte Schusswunden in der Schulter, im Nierenbereich, im Bauch und im Knie. Das Langhemd hatte ich in den Kopf und Hals getroffen. Was die zwei Handgranaten von dem Dicken übrig gelassen hatten, ließ darauf schließen, dass er der Älteste gewesen war, vielleicht fünfzig, wahrscheinlich hatte er das Kommando gehabt. Er hatte den würdigen Tod eines Anführers gefunden, er war mit seinen Männern gefallen.

Medya entließ mich aus meinem Kommando, und ich ging allein über die Hügel und zwischen den Felsen und Dornbüschen in den Tälern zurück zu dem Dorf, wo mein Auto wartete. Ich packte meine Ausrüstung hinein, und wir fuhren die fünf Stunden an die östliche Front zurück. Als der Himmel hell wurde, konnte ich durch den Morgennebel in der Ferne Sarrin ausmachen. In der Stille der Dämmerung und mit der nachlassenden Anspannung des Kampfes hatte der Weg durch diese südlichen Ebenen, die sich sanft bis zum Euphrat erstreckten, etwas Friedliches. Die Häuser waren bescheiden und zweckmäßig: schlichtes Mauerwerk, ein Dach, Fenster und daneben kleine Geflügelställe aus Draht. Der Wagen wirbelte bei der Abfahrt in die Täler blassen Staub auf, weich wie Mehl. Ich sehe noch die Flecken rosafarbener und blauer Gänseblümchen zu beiden Seiten der Straße vor mir.

In unserer Bewegung vertrauen wir darauf, dass alle die richtige Entscheidung treffen. Ich wusste, dass es meine Pflicht war, weiterzukämpfen. Und ich wusste, dass meine Erfahrung gebraucht wurde. Im Verlauf des vergangenen Jahres war mir das Kämpfen sehr leicht geworden. Für mich hatte sich alles auf zwei Fragen reduziert: Wie werden wir sie angreifen? Und: Wie werden sie uns angreifen? Ich presste meine gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Beantwortung dieser beiden Fragen. Nacht für Nacht, Tag für Tag, Monat für Monat lag ich hinter meinem Gewehr. In sengender Sommerhitze, bibbernd im Herbst, im endlosen Winter und im feuchten, lähmenden Frühling hatte ich den Feind im Visier gehabt. Ich hatte mir die Augen ausgebrannt vom endlosen Ausspähen. Ich hatte andere Scharfschützen, Angriffe mit dem Sturmgewehr, Selbstmordattentäter, Panzer, Mörser, Granaten, Sprengfallen, Stolperfallen, fehlgeleitete Luftangriffe, Artilleriefeuer, schweres Maschinengewehrfeuer und ferngezündete Sprengfallen überlebt. Mit einer Verpflegung aus irgendwo aufgetriebenem Käse, Marmelade und ab und zu etwas Joghurt und Keksen war ich auf das Gewicht eines Dreizehnjährigen abgemagert. Ohne Schlaf hatte ich zwischen Adrenalinschüben und Erschöpfung in Abgründe geblickt. So viele meiner Freunde waren inzwischen tot, dass ich eine neue Verpflichtung hatte: überleben, um ihr Andenken zu bewahren. Beobachten, abwarten, schießen – ich packte mein ganzes Leben in diese eingeschränkte Daseinsform. Wenn Sie mich damals erlebt hätten, wie ich meinen Abzugsfinger wie ein Baby durch all die Gefahren des Krieges trug, würden Sie begreifen, dass ein Mensch fast alles überleben kann, wenn er ein Ziel hat.

Doch seit einiger Zeit dachte ich darüber nach, dass mir nichts geblieben war. Ich hatte das Gefühl, in diesen Monaten dreißig oder vierzig Jahre meines Lebens verbraucht zu haben. Ich verlor das Gespür dafür, wie die Tage verrinnen. Eine falsche Entscheidung, ein Schritt zu weit, und die einsame Kerze, die in meiner Seele brannte, würde verlöschen und die Dunkelheit mich verschlingen. Beim Aufstieg zur Dschihadisten-Stellung vor Sarrin hatte ich das Gefühl gehabt, im Stehen einzuschlafen. Der schwere Boden klebte an mir, zog mich hinab in die ewige Umarmung der Erde. Zwei Mal hatten meine Leute nach mir gerufen, weil ich vom Weg abgekommen war. Einmal hatte Xabat, beunruhigt von dieser Gestalt, die da zwischen dem Geröll herumstolperte, sein Gewehr auf mich gerichtet.

Ich war schon ein paar Tage wieder in meiner alten Position an der östlichen Front, als Generalin Tolin vorbeischaute. »Gut, dass du wieder hier bist«, sagte sie. »Wir brauchen dich hier. Wie geht es dir?«

»Ich schaff das schon«, sagte ich.

Tolin nickte und kniff den Mund zusammen. Sie schaute eine Weile schweigend in die Ferne. Dann sagte sie: »›Ich schaff das schon‹ ist zu wenig, Azad.«

Ich versuchte, sie zu beruhigen. »Ich kann es hier aushalten«, sagte ich. »Hier ist es okay für mich.«

Tolin schaute mir in die Augen. Sie hatte einen Entschluss gefasst.

»Du gehst nach Kobanê zurück«, sagte sie. »Wir sehen uns dort.«

Und damit war der Krieg für mich vorbei.

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2

KobanêDezember 2013 bis April 2015

Der IS marschierte im Dezember 2013 offenbar in der Annahme in Kurdistan ein, uns in wenigen Tagen überrennen zu können. Die Organisation war als eine Art Weiterentwicklung von al-Qaida sieben Jahre zuvor in den Brutstätten von Folter und Erniedrigung der amerikanischen Kriegsgefangenenlager entstanden, gegründet von einer Handvoll Gefangener, denen Bin Ladens Truppe zu lasch geworden war.

Natürlich reagierte die Welt nicht gerade mit Begeisterung auf diese neue Variante des Dschihadismus. Aber dass sie vor ihm zurückwich, verschaffte den Islamisten das Gefühl, eines richtig eingeschätzt zu haben: dass keine Macht der Welt es mit ihrem rachedurstigen, selbstmörderischen Irrsinn aufnehmen konnte.

Als der IS dann in Nordsyrien einfiel, war die Organisation bereits zu einer Armee angewachsen, die Zehntausende zählte. Und sie war im Irak, in Libyen und im Jemen unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Auch in Afghanistan und Pakistan gewann sie an Boden, und sie breitete sich rasant auf den Philippinen, in Algerien, Mali, Nigeria und Somalia aus. Selbst Länder, in denen die Gruppierung kaum präsent war, gaben Milliarden Dollar aus, um Anschläge zu verhindern – vergebens, auch sie hatten etliche Tote zu beklagen.

Der IS war nicht das Spielzeug eines Multimillionärs, geführt von einem Mann, der sich hinter den Mauern einer Villa versteckte und kaum in der Lage war, eine Kalaschnikow zu entsichern. Diese Organisation begnügte sich nicht damit, hier und da einen Sprengstoffanschlag zu verüben und anschließend auf Tauchstation zu gehen. Es war eine nach allen Regeln der Kunst aufgebaute, effektive und gut ausgerüstete Armee, die Erfahrung, Personal und Material aus den Resten von Saddam Husseins Regime zusammenklaubte und sich Milliarden Dollar über Steuereintreibungen, Spenden, die Konfiszierung von Unternehmen sowie den Verkauf von geplündertem Öl und Kunstschätzen verschaffte. Mit diesem Geld bauten die Dschihadisten ein Militär auf, das an Truppenstärke die Armeen etlicher Staaten übertraf und mit Artillerie, Mörsern, Panzern, schweren Maschinengewehren, mobilen Feldküchen und Lazaretten ausgerüstet war. Der IS verfügte nicht nur über Leute, die sich ausschließlich um Propaganda in den sozialen Medien kümmerten, sondern auch über eigene Investment-Experten. Und während al-Qaida nur einige Hundert Mitglieder gehabt hatte, füllten sich die Reihen des IS mit Tausenden ausländischer Freiwilliger, die von Marseille bis Melbourne von überallher herbeiströmten.

Von allen Hindernissen, die auf dem Weg der Dschihadisten lagen, war die kleine Enklave, die wir rund um Kobanê aus den Trümmern des syrischen Bürgerkrieges errichtet hatten, vielleicht das unbedeutendste. Kobanê war eine Kleinstadt mit 40 000 Einwohnern, die man zu Fuß in dreißig Minuten durchquert hatte. Das umliegende Gebiet, das wir Rojava nannten, war ein schmaler, fünfhundert Kilometer langer Streifen an der Grenze zur Türkei mit schmucklosen Ortschaften und aus Lehmziegeln errichteten Höfen. Dort lebten Ziegenhirten und Bauern, die Weizen anbauten. Als Syrien 2011 in den Bürgerkrieg taumelte, fanden die ersten kurdischen Aufstände hier in dieser Gegend statt. Nachdem Baschar al-Assad dann Ende 2013 die Kontrolle über den Norden Syriens endgültig aufgegeben hatte, riefen die Kurden auf dem Gebiet von Rojava die autonome Demokratische Föderation Nordsyrien aus. Damit verfügten wir nun über Grenzen und eine Zivilverwaltung, hatten aber nichts, um sie zu verteidigen – bis auf einige Tausend Freiwillige, Männer und Frauen. Geld war nicht vorhanden, es fehlte uns an der einfachsten Ausrüstung, nicht einmal Ferngläser und Funkgeräte gab es. Die paar Gewehre, die wir besaßen, waren meist älter als die, die sie in Händen hielten.

Dennoch gelang es unseren etwa zweitausend Männern und Frauen zwischen September 2014 und Januar 2015 in Kobanê, 12000 IS-Kämpfer aufzuhalten. Sechs Monate später vertrieben wir die letzten Dschihadisten aus Rojava. Unser Sieg über den IS leitete seinen Zusammenbruch ein. Anfang 2017 bestand der Traum der Dschihadisten von einem neuen Kalifat nur noch aus einigen Stecknadeln auf einer Karte, und die Freiwilligen aus dem Ausland, die den IS unterstützt hatten, waren entweder tot oder flohen zu Tausenden aus dem Nahen Osten.

Wie hatten wir das geschafft? Nasrin hat zweihundert Dschihadisten ausgeschaltet, ich zweihundertfünfzig, Hayri dreihundertfünfzig, Yildiz und Herdem jeder fünfhundert – das heißt, nur wir fünf haben ein Sechstel der IS-Armee erledigt. Doch das allein kann unseren Erfolg nicht erklären.

* * *

Kobanê, die Stadt, in der wir den Islamisten die Stirn boten, macht nicht viel her. Sie besteht aus einer Ansammlung schlichter Ziegelbauten, die sich um ein paar staubige Basare scharen. Sie liegt in einem flachen Tal, umgeben von grauen, trockenen Feldern und einer steinigen Halbwüste. Ende des 19. Jahrhunderts war Kobanê eine Station an der Eisenbahnlinie zwischen Berlin und Bagdad gewesen. Als die Alliierten 1919 die Karte des Nahen Ostens neu zeichneten, wurde die Eisenbahnlinie durch Wachstationen, Zäune und Minenfelder ersetzt – was einst Länder miteinander verbunden hatte, verwandelte sich in eine Trennlinie. Im 20. Jahrhundert schlug sich Kobanê als kleine Grenzstadt an der Handelsroute zwischen Arabien und Europa durch. Reich wurde hier kaum jemand, aber man verhungerte auch nicht, und so blieben die Menschen hier bis zu ihrem Lebensende, besuchten Schulen, kauften auf den Märkten und feierten auf den Plätzen das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest Nouruz.

Kobanês Größe liegt in seiner Geschichte. Im Zentrum haben Archäologen die Reste einer längst ausgetrockneten Oase gefunden, einen Stützpunkt für Hirten, die ihre Herden zwischen Euphrat und Tigris weideten. Zu ihnen gehörte der Überlieferung nach um 2000 vor Christus auch Abraham, der mit seiner Frau Sarah und seinem Sohn Isaak lange Jahre in Haran gelebt haben soll, einen Tagesmarsch entfernt Richtung Osten gelegen. Wie die Ausgrabungen zeigen, lag Kobanê auch schon lange vor dieser Zeit inmitten der weiten, fruchtbaren Ebene Mesopotamiens. Hier gehörten unsere Vorfahren vor dreizehntausend Jahren zu den ersten Menschen der Erde, die sesshaft wurden, Schafe und Ziegen domestizierten und mit der Aussaat von Weizen und Gerste die Landwirtschaft begründeten. Rund um das heutige Kobanê schufen sie sich eine Heimat aus Hüttendörfern. Ihre Mythologie, in deren Zentrum die Fruchtbarkeit stand, schöpften sie aus der Natur. Historiker sprechen vom Fruchtbaren Halbmond. Die Tora, die Bibel und der Koran nennen es den Garten Eden.

In dem Jahr, das ich in Kobanê verbrachte, nachdem mich Tolin von der Front entlassen hatte, wurde mir klar, dass diese Namen weniger Beschreibungen des Landes als eine Achtungsbezeugung vor den Menschen waren, die der Wüste ein blühendes Paradies abgerungen hatten. Es war erstaunlich zu beobachten, wie rasch in Kobanê nach dem Krieg wieder das Leben Einzug hielt. Jeden Morgen stellten die Obst- und Gemüsehändler in den Basaren eine so überbordende Fülle zur Schau, als wollten sie noch immer beweisen, dass diese neumodische Idee namens Urbarmachung überhaupt funktionierte. Die Stände wurden mit Bergen von Zitronen, Kaktusfeigen, Granatäpfeln, blauen Trauben und Orangen beladen, daneben türmten sich Wassermelonen. Im nächsten Gang lockte ein Mosaik aus Rüben, Kartoffeln, Roter Bete und weiß-purpurnen Radieschen. Bog man um die Ecke, fand man die wahren Giganten des Marktes: Tomaten von der Größe kleiner Kürbisse, Gurken, rote und grüne Paprika und schwarzglänzende Auberginen so lang wie mein Unterarm, gerahmt von Mauern aus Salat, Kohl und Blumenkohl sowie großen Mengen Koriander, Spinat, Minze, Dill, Rosmarin und Petersilie. Dahinter gab es Stände mit großen Bottichen voller grüner und schwarzer, mit Chili und Knoblauch gefüllter Oliven, mit Säcken voller Erdnüsse, Walnüsse, Pistazien und Haselnüsse sowie Gewürzstände mit kleinen Gebirgen aus getrocknetem Chili, scharlachrotem Paprikapulver und goldgelber Kurkuma.

Wenn ich über den Markt schlenderte, sog ich all die wunderbaren Düfte tief ein: süßer schwarzer Tee, Zigarettenrauch, Lamm mit Aprikosen. Mein Favorit war Fasan mit Honig und Zimt. Nach einer Weile kam mir Kobanê wie ein riesiges Dorf vor. Mein morgendlicher Wecker war ein Hahnenschrei. Beim Blick aus dem Fenster sah ich selbst gezimmerte Häuser aus groben Brettern und Wellblech. In praktisch jedem Hof gab es eine Kuh oder eine Ziege.

Wenn ich darüber nachdenke, wie es uns gelang, den Islamisten die Stirn zu bieten, dann fallen mir unweigerlich die unbeugsamen Bauern von Kobanê ein. Wir alle, Kämpfer wie Bauern, bezogen unsere Kraft aus der engen Verbundenheit mit unserem Land. Wir hatten dem mageren Erdboden ein reiches und buntes Leben abgetrotzt, indem wir sorgsam unsere Tiere hüteten und unermüdlich die Felder bestellten. Diese Vielfalt spiegelte sich auch in der Bevölkerung der Stadt wider, einer wilden Mischung aus Kurden, Armeniern, Assyrern, Arabern und zahlreichen Christen, die hier einträchtig zusammen mit Sunniten, Schiiten und Sufis lebte. Hinzu kamen noch kleine Gemeinden von Sepharden, arabischen Juden, sogenannten Musta’arabi, und sogar Zoroastrier.

Ein solches Mosaik von Menschen hat sich im Nahen Osten oft als Quelle von Spaltungen und Konflikten erwiesen. Wir orientieren uns an den Schriften unseres Führers Abdullah Öcalan und sehen das Positive darin. Wenn man der Vielfalt aufgeschlossen gegenübersteht und Toleranz zur Grundlage der Gemeinschaft macht, kann man den Teufelskreis der Gruppenkonflikte durchbrechen, wo stets nur ein Tyrann auf den nächsten folgt und ein Klima von Mord und Vergeltung herrscht, das in der Region viele Narben hinterlassen hat. Was wir anstrebten, war eine auf Gleichheit und Demokratie beruhende Gesellschaft, in der Menschen jeglicher Hautfarbe und Herkunft, Religionszugehörigkeit und Geschlecht gleichermaßen respektiert werden. Wir teilen nicht die im Westen weitverbreitete, herablassende Einschätzung, Demokratie und Frieden hätten in unserer Region keine Chance. Ebenso wenig akzeptieren wir die Auffassung, dass Freiheitskämpfer unweigerlich zu Unterdrückern ihres Volks werden. Und unser Ehrgeiz geht weit über Rojava oder Syrien hinaus. Unserer Meinung nach wird der Nahe Osten von Kriegen und Krisen heimgesucht, weil ihm ein Beispiel für eine friedliche, stabile, freie und gerechte Gesellschaft fehlt. Rojava soll dieses Vorbild sein. Wenn wir jedem Mann und jeder Frau das Samenkorn der Freiheit erst einmal eingepflanzt haben, so unsere Hoffnung, werden sie es in der Region und von da aus über die ganze Welt verbreiten, genauso wie ihre Vorfahren vor vielen Jahrtausenden die erste Saat auf den Feldern ausgebracht hatten.

Ausländischen Beobachtern, die Gruppierungen im Nahen Osten normalerweise mit Begriffen wie gläubig, ethnische Minderheit, sozialistisch oder nationalistisch beschreiben, geben wir sicherlich Rätsel auf. Wir sind dogmatisch tolerant. Beharrlich frei von religiösem Schubladendenken. Freiheitskämpfer, die keine Macht erringen wollen. Und was wohl am meisten verblüfft, wir leben im Nahen Osten und sind dennoch Feministen. Im Zentrum unserer Philosophie steht die Überzeugung, dass sich jede Art von Gruppendenken, Ungerechtigkeit und Ungleichheit ursprünglich aus dem Akt der Unterdrückung herleitet, dass Männer, Jäger und Sammler, ihre größere Körperkraft dazu missbrauchten, ihre gleichberechtigten Partner, die Frauen, zu unterjochen. In einer Region, in der Frauen durch den Staat, die Kultur und Religion seit Urzeiten versklavt werden, sind sie in Rojava gleichberechtigte Partner der Männer in der Ehe, im Glauben, in der Politik, vor dem Gesetz, in der Wirtschaft, der Kunst und beim Militär. Einige Beobachter sehen darin eine Parallele zur spanischen Revolution in den 1930er-Jahren, die in ähnlicher Weise Anarchisten, Kommunisten, Republikaner und eine Vorhut von mujeres libres gegen den Faschismus einte. Diesen Vergleich betrachten wir als Kompliment. Dennoch greift er zu kurz, denn was wir anstreben, ist nicht weniger als ein Ende aller Vorurteile, die Befreiung der Unterdrückten und ein Ausweg aus dem Gemetzel, unter dem diese Region schon so lange leidet.

* * *

Auch aus diesem Grund ist die Befreiung Kobanês eine viel größere Geschichte als bloß die einer kleinen Gruppe von Snipern. Zweitausend Männer und Frauen haben hier gekämpft, ihren Mut bewiesen und Opfer gebracht. Viele von ihnen habe ich nie kennengelernt. Sie alle haben ihre eigene Heldengeschichte. Die Geschichten von Herdem, Hayri, Yildiz, Nasrin und mir sind nur fünf aus einer ganzen Bibliothek. Im Grunde ist es schon ein Missverständnis, unseren Einsatz von Scharfschützen als eine Art genialer Taktik zu betrachten. Uns blieb kaum eine andere Wahl. Wenn man nur vierzig Jahre alte Kalaschnikows, ein paar Jagdgewehre und selbst gemachte Granaten hat, bleibt einem nichts anderes übrig, als den Feind Mann um Mann zu töten.

Aber wenn Sie mich damals gesehen hätten, wie ich allein und halb verhungert in den eiskalten Ruinen von Kobanê lag und tagelang darauf wartete, einen einzigen Schuss auf einen einzelnen Mann einer vorrückenden Armee abzugeben, dann hätten Sie verstanden. Hier ging es um Freiheit und darum, dass man nie aufgeben darf. Die Dschihadisten redeten zwar von der Hingabe an ihre Sache, aber ihre Entschlossenheit war die eines Mobs, der als große Masse alles hinwegfegt, was ihm in den Weg kommt. Wir dagegen klammerten uns an die Ruinen wie Muscheln an ihre Felsen, wir mussten so clever und geschickt sein wie David im Kampf gegen Goliath. Ein guter Scharfschütze weiß, was Können und Geduld bedeuten, doch die großen unter ihnen sind Herren des Schicksals, nicht nur ihres eigenen, sondern auch ihrer Mitkämpfer. Ein Sniper beobachtet, entscheidet und handelt nur auf sich gestellt. Ganz allein erledigt er den Gegner. Es gibt nicht viel auf dieser Welt, in dem der freie Wille so klar zum Ausdruck kommt.

Dieser unzerstörbare Bund mit der Freiheit zeugte von den Prinzipien, für die wir kämpften und für die wir zu sterben bereit waren. Er gab uns auch die geistige Beweglichkeit, die seelenlosen IS-Roboter auszuschalten. Nicht äußere Regeln bestimmten unser Verhalten, wir vertrauten ganz auf persönliche Verantwortung und Selbstdisziplin. Unser Militär kennt keine Ränge, nur eine operative Führung, und auch keine Befehle, sondern nur die Aufforderung zu handeln. Krieg, das war für uns nicht Heldentum, Ruhm oder Fegefeuer, nicht einmal Sieg oder Niederlage wie für den IS. Krieg offenbart die dunkle Seite der menschlichen Natur und unsere barbarische Fantasie. Krieg ist immer ein Verbrechen, immer verabscheuenswert. Nur wer grausam oder irre ist, kann Krieg wollen.

Und Grausamkeit und Irrsinn waren oft genug genau das, womit die Dschihadisten uns konfrontierten. In vielerlei Hinsicht stellten sie die dunkle Seite der Menschheit dar. Wo wir an das Gute im Menschen glaubten, sahen sie nur Verdorbenheit. Sie bestritten, dass sich der Mensch aus eigner Kraft weiterentwickeln kann. Und da sie dem Menschen nicht vertrauten, verlegten sich die Dschihadisten auf die einzige Sprache, die auch eingefleischte Sünder verstehen: Unterdrückung. Sie waren überzeugt, dass die im Jenseits begründete Heiligkeit ihrer Sache sie über jegliche irdische Moral erhob. Demokratie, Gleichheit, Rechte, Toleranz, Feminismus, Freiheit – das waren für Dschihadisten nur schillernde Worte, mit denen Satan uns ins Verderben stürzen wollte. Die Befreiung des Menschen sehen sie absurderweise darin, ihn zu Sklaven Allahs und des Islam zu machen. Und da sie die reine Lehre nur bei den frühen Muslimen verwirklicht sahen und die auf sie folgenden vierzehn Jahrhunderte als Verfall begreifen, ist ihre Antwort auf den in ihren Augen arroganten und sündhaften Fortschritt eine Rückkehr, die alles wieder ins rechte Lot bringen und eine Reinigung herbeiführen soll.

Das war es, worum es in unserem Kampf ging. Fortschritt oder Rückfall. Licht oder Finsternis. Leben oder Tod. Vielleicht wünschten die Dschihadisten uns auch deshalb so sehr zu vernichten, weil wir ihrem Irrsinn den Spiegel vorhielten. Zwar hätten wir uns mit dem Abzug der Dschihadisten zufriedengegeben, doch uns war auch klar, dass es nicht möglich war, mit Leuten zu verhandeln, die ihren schlechtesten Instinkten so freien Lauf ließen.

Und Kobanê war unsere vielleicht einzige Chance, sie aufzuhalten. Die Dschihadisten hatten Hunderte solcher Städte in ihre Gewalt gebracht, manche nur mit einer Handvoll Kämpfer. Dass sie zwölftausend aufboten, um diese Stadt anzugreifen, und dass wir Hunderte Männer und Frauen zu ihrer Verteidigung schickten, zeigt die strategische Bedeutung von Kobanê. Wäre es den Dschihadisten gelungen, Kobanê einzunehmen, so hätten sie damit Rojava in zwei Teile zerschnitten und einen neunzig Kilometer breiten Streifen an der türkischen Grenze unter ihre Kontrolle gebracht, womit der Weg für den Einfall Tausender weiterer Dschihadisten frei gewesen wäre. Das hätte das Ende unseres Traums bedeutet, im Nahen Osten eine neue demokratische und freie Gesellschaft aufzubauen.

Doch gerade indem sie so viele Männer nach Kobanê schickten, boten uns die Dschihadisten unbedacht die Chance, sie zu besiegen. Und wie Wassili Saizew Ende 1942 in Stalingrad gezeigt hatte, kann ein einzelner entschlossener Scharfschütze im Gelände einer Stadt eine ganze Armee in Schach halten und den Verlauf eines Krieges beeinflussen. In Kobanê waren wir zu fünft, die einen Feind auf eine Entfernung von zwei Kilometern treffen konnten. Das gab es danach nicht mehr. In den Monaten nach Kobanê wurde erst Hayri getötet, dann Herdem. Und jetzt, da ich an diesem Buch schreibe, ist es schon Jahre her, seit ich Yildiz und Nasrim zuletzt gesehen habe. Ich allein bin da und kann erzählen, wie wir die Stellung hielten, unsere Heimat Straße um Straße und Haus um Haus zurückeroberten und die Dschihadisten dezimierten, Mann um Mann.

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KobanêSeptember 2014

Kobanê sah ich zum ersten Mal an einem Septemberabend 2014. Die Sonne ging gerade unter, die erste Herbstkühle stahl sich in die Luft, und vor mir, etwa eineinhalb Kilometer entfernt, belagerte der IS mit ganzen Kolonnen von Kämpfern in Pick-ups die Stadt und rückte mit Unterstützung von schweren Maschinengewehren und Panzern vor.

In den Tagen davor hatte der IS 350 Dörfer im Umkreis der Stadt eingenommen und drang nun weit in das Straßennetz vor. Hunderte unserer Männer und Frauen waren bereits gefallen. Einige hatten außerordentliche Opfer gebracht. Ein Kommandeur namens Cudi, der sich einem massiven Angriff von Dschihadisten auf seine Stellung auf dem vor der Stadt gelegenen Berg Sûsan gegenübersah, verweigerte den Rückzug, zu dem sein General aufgefordert hatte. »Ich kann von hier aus die Häuser von Kobanê sehen«, teilte er über Funk mit. »Wie kann ich da abhauen? Ihre Panzer werden über meine Leiche fahren müssen.« Minuten später beobachteten seine Kommandeure, wie er verwundet wurde und die Dschihadisten genau das taten.

Auch Arin Mikan, eine Zugführerin der YPJ leistete auf außergewöhnliche Weise letzten Widerstand. Als der IS auf ihre Stellung auf dem Berg Mistenur, dem Tor nach Kobanê, vormarschierte, wies sie ihre Kämpferinnen an, sich zurückzuziehen. Dann befestigte sie so viele Granaten und Sprengsätze wie möglich an ihrem Körper, verband sie mit einem Auslöser und rannte den Hang hinunter auf die Dschihadisten zu. Die schossen auf sie, doch obwohl sie mehrmals getroffen wurde, lief sie weiter, brach in ihre Reihen ein und sprengte sich in die Luft. Arin riss zehn Dschihadisten mit sich in den Tod.