Die Suche nach der eigenen Farbe - Das widersprüchliche Leben der Malerin Stephanie Hollenstein - Brigitte Herrmann - E-Book

Die Suche nach der eigenen Farbe - Das widersprüchliche Leben der Malerin Stephanie Hollenstein E-Book

Brigitte Herrmann

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Beschreibung

Stephanie Hollenstein war eine talentierte Malerin, deren Rolle im NS-Regime ihr Werk überschattet. Die Romanbiografie zeichnet ein differenziertes Bild einer lesbischen Frau, die nach Anerkennung strebte - als Person und in ihrer Kunst. Dafür kämpfte sie, als Mann verkleidet, im Ersten Weltkrieg und für Gleichberechtigung in der Kunstszene, bevor sie schließlich im Nationalsozialismus Karriere machte. Brigitte Herrmann zeigt die Widersprüche eines Lebens auf - zwischen Erfolg, Liebe und Verantwortung, Kunst und Politik.

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Seitenzahl: 594

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Brigitte Herrmann

Die Suche nach der eigenen Farbe – Das widersprüchliche Leben der Malerin Stephanie Hollenstein

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Wo historische Persönlichkeiten auftreten, ist ihr Reden, Denken und Handeln so frei erfunden wie das der anderen Figuren.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Historisches Archiv Lustenau, Fotosammlung, StHo 13/14, Foto: unbekannt; Marktgemeinde Lustenau, Sammlung Hollenstein, Inv.Nr. 0063, Monte Cristallo, Reproduktion: Günter König

ISBN 978-3-7349-3194-9

Widmung

Für Lieblingstochter

Prolog: Franziska (18. Juli 1971)

»Ich bin jemand, und die Welt muss das begreifen.«

Dieser Satz von dir steht handgeschrieben, verblasst in dem speckigen ledernen Notizbuch, das seit 1944 bei mir im Regal seinen Platz hat. Ich habe es regelmäßig abgestaubt, dabei an dich gedacht, aber nie den Mut gefunden, es zu öffnen. Ich glaube, ich hatte Angst, dass dort Wahrheiten über dich und mich drinstehen, die ich so genau gar nicht wissen möchte.

Du hattest stets so eine Kladde bei dir, hast darin geschrieben, gezeichnet, Listen erstellt, mir manchmal einzelne Seiten gezeigt. Sie waren sich ähnlich. Dieses Buch ist anders.

Du hast es mir zusammen mit einem Bild nach dem ersten Luftangriff auf Wien gegeben. Du wolltest es in Sicherheit wissen. Ich habe nicht geahnt, dass wir uns nie mehr sehen würden, dass dieses lederne Notizbuch dein Vermächtnis ist. Das habe ich erst heute verstanden, an deinem 85. Geburtstag, 27 Jahre nach deinem Tod. Ich kam von Lustenau zurück und fühlte mich dir so nahe. Ich habe das Buch aus dem Regal gezogen und irgendwo aufgeschlagen. Als Erstes fiel mir dieser Satz ins Auge: »Ich bin jemand, und die Welt muss das begreifen.« Ich hatte das Gefühl, du stündest neben mir. Es war, als würde ich deine Stimme hören, deinen Tonfall, deine Intensität wahrnehmen.

»Ich bin jemand, und die Welt muss das begreifen«, – dieser Satz war für dich von grundlegender Bedeutung – und ich erinnere mich, dass du dich nicht mehr als »jemand« gefühlt hast, als wir uns 1928 kennenlernten. Du hattest die Kontrolle über dein Leben, wie du es führen wolltest, verloren. Ich war dabei, als du dich zurückgekämpft hast, habe jeden Schritt begleitet. Damals habe ich gedacht, es war unsere Liebe, die dafür gesorgt hat, dass du frei wurdest. Jetzt weiß ich, dass es komplizierter war. Die Politik griff immer stärker in unser Leben ein, bis wir es nicht mehr geschafft haben, gemeinsam der Realität die Stirn zu bieten.

Heute, an deinem Geburtstag, war ich dort, wo früher dein Haus gestanden hat. An dieser Stelle ist vor ein paar Tagen eine Galerie eröffnet worden, die deinen Namen trägt, »Stephanie Hollenstein«. Hier hängen deine Bilder, oder zumindest der Teil, den du deinen Schwestern hinterlassen hast. In Zukunft werden hier auch andere Künstlerinnen und Künstler ausgestellt. Ich glaube, du hättest Freude daran.

Ich blieb auf halber Treppe stehen, lauschte. Früher war dein Atem, dein ansteckendes Lachen überall, selbst wenn du in Wien warst und ich deine Mutter besucht habe, habe ich dich hier gespürt. Jetzt ist da Stille, Museumsstille. Keiner der alten Steine ruht mehr auf dem anderen, keine Schindel ächzt mehr bei jedem Windstoß, nur noch Beton, nur noch Erinnerung. Fast wäre ich umgekehrt. Doch die Neugier hat mich hinaufgetrieben in den ersten Stock. So viel Platz. So viel kaltes Licht. So viel Wärme, die von deinen Bildern ausgeht. Sie haben mich wie eine alte Bekannte begrüßt. Wir wissen voneinander. Sie reden, sie erzählen Geschichten aus deinem Leben, alle auf einmal und alle durcheinander.

Und da wusste ich, ich muss berichten, von uns, von dir, von den vielen Erlebnissen hinter den Bildern. Ich muss dein Notizbuch aus dem Regal nehmen und nachlesen, was du diesen Seiten anvertraut hast. Ich muss in die Vergangenheit eintauchen, um die Erinnerung an dich wachzuhalten. Die Menschen, die dir nahestanden, sind alle tot. Von deiner Familie ist niemand mehr da, deine Freunde sind längst begraben. Ich allein bin übrig, dieses Notizbuch – und deine Bilder. Nur sie werden bleiben.

I. Teil Das neue Jahrhundert (1905 – 1913)

1. Aufbruch (1905)

Die Zeichnung zeigt ein Kind, ein Mädchen, das Kühe nach Hause treibt. Es ist barfuß. Unten im Bild ist freie Fläche, ein Weg, unebener Grund. Die Kühe sind in der oberen Hälfte, eng gedrängt, eine bespringt eine andere, die sich davon nicht aus der Ruhe bringen lässt. Die Gruppe läuft auf ein Dorf zu, es könnte Lustenau sein, die Form des Kirchturms stimmt. Ein Bild voller Bewegung, Mensch und Tier stehen unter Spannung, alles wirkt zügig gemalt, entschlossen.

»Da, fahr, aber glaub nicht, dass ich dafür zahl«, knurrte der Vater beim Abendbrot und schob Stephanie das unterschriebene Formular der Münchner Kunstgewerbeschule über den Tisch zu. Sie sah die Blicke ihres Bruders und ihrer beiden Schwestern, die erst den Zettel, dann den Vater und schließlich sie anstarrten, den Suppenlöffel regungslos in der Luft, die Münder weit geöffnet. Sie, Stephanie Hollenstein, die jüngste Tochter, hatte dem Vater eine Berufsausbildung abgetrotzt. Sie würde mit ihren 18 Jahren das Elternhaus verlassen.

Stephanie griff nach dem Papier und nickte ihrem Vater zu. Zu gern wäre sie aufgesprungen, hätte das Fenster aufgerissen und ihren Triumph in den Lustenauer Abendhimmel geschrien. Aber derartige Gefühlsausbrüche waren im Hause Hollenstein nicht üblich. Die Kinder hatten gelernt, sich zurückzuhalten, sich selbst nicht wichtig zu nehmen, wie der Vater es ausdrückte. Stephanie faltete stattdessen das Blatt sorgfältig, legte es neben ihren Teller und schob ihren Ellbogen schützend darüber. Auf keinen Fall durfte ein Spritzer Suppe das kostbare Papier verunreinigen. Sie beobachtete, wie ihr Bruder mit sich kämpfte, etwas sagen wollte, sich anders entschied. Er brach ein Stück Brot ab, zerriss es in immer kleinere Teile, warf sie in seine Suppe. Es spritzte. Stephanie ahnte, dass es in Johann brodelte, dass er am liebsten mit der Faust auf den Küchentisch geschlagen hätte. Auch er, der Hoferbe, hatte nach der Pflichtschule weiterlernen wollen. Sie beobachtete den Vater, der tat, als merke er nicht, was in seinem Sohn vorging. Sie war sicher, dass Johann auch heute den Kampf verlieren würde, dass er sich fügen würde, wie er sich immer gefügt hatte. Die Familie schwieg und löffelte. Bis heute hatte niemand gewagt, sich gegen den Vater durchzusetzen.

Ich habe mich getraut.

Als sein Teller leer war, wischte sich Johann mit dem Handrücken über Mund und Bart. Er schob seinen Hocker geräuschvoll nach hinten und räusperte sich.

»Gute Reise, Steph«, sagte er versöhnlich und verließ die Küche mit raumgreifenden Schritten.

»Danke!«, rief Stephanie dem breiten Rücken hinterher.

Nach dem Abendbrot, der Vater hatte sich mit seinem Bier in die Stube gesetzt, räumten die Frauen mit geübten Griffen den Tisch ab. Als die Schwestern das Wasser in die Spüle schütten wollten, schob die Mutter sie zur Seite: »Geht schon mal hoch, das machen heute Stephanie und ich.«

Kaum waren sie allein, kramte die Mutter im Küchenkasten und zog eine Blechbüchse hervor. »Steck sie gut weg.«

Stephanie blickte sie ungläubig an. Sie wusste, dass in der Dose das Geld war, das die Mutter seit Jahren abzweigte, um sich irgendwann ihren Traum einer Südtirolreise erfüllen zu können.

»Bist du sicher?«

Stephanie sah den Ausdruck in den Augen der Mutter und begriff, dass sie es wirklich wollte, dass sie ihren Traum aufgab, damit sie, Stephanie, sich ihren erfüllen konnte.

»Danke.« Sie nahm die Dose behutsam entgegen. Sie war schwerer, als sie gedacht hatte. Gemeinsam spülten Mutter und Tochter die Suppenteller, räumten sie in den Kasten. Stephanie genoss die ungewohnte Zweisamkeit. Sie bemerkte, dass ihre Mutter sie stolz von der Seite anblickte. Sie würde ihre Mutter nicht enttäuschen. Sie würde es schaffen, sie würde in München Zeichenlehrerin werden.

Die Schwestern waren inzwischen in das Zimmer gegangen, das sie seit jeher zu dritt bewohnten. Maria und Frieda tuschelten und verstummten, als Stephanie den Raum betrat. Stephanie tat, als spürte sie die Blicke der Schwestern nicht. Sie packte ihre Sachen gemeinsam mit der Blechdose in ihren Rucksack, wobei sie darauf achtete, dass ihre Schwestern die Dose nicht bemerkten. Sonst hatte sie nicht viel einzupacken, wichtig war vor allem ihre Mappe mit den Zeichnungen.

»Die Eltern lassen dich nur was lernen, weil du eh keinen Mann abkriegst«, meinte Maria auf einmal, und Stephanie fuhr herum.

»Ich lerne etwas, weil ich das so will!«

»Ich hätte den Mut nicht«, versuchte Frieda zu beschwichtigen, »stell dir vor, Maria, ganz alleine in eine fremde Stadt, puh, da bleibe ich lieber hier und gehe morgen wieder in die Fabrik.« Frieda begann sich auszukleiden.

Maria überlegte. »Du hast recht, Frieda, ich würde mich auch nicht trauen, nach München zu gehen. Aber ich hätte gerne einen Beruf gelernt, Schneiderin vielleicht, dann müsste ich nicht den ganzen Tag in der Fabrik am heißen Bügeltisch stehen.« Sie massierte ihre Füße, die sie von ihren langen Wollstrümpfen befreit hatte.

»Ich halte das nicht aus in der Fabrik«, sagte Stephanie, die nach der Schule, genauso wie ihre Schwestern, in der Textilindustrie angefangen hatte. »Ich fühle mich dort wie eingesperrt.« Auch Stephanie legte ihr Kleid ab und packte es in ihren Rucksack. Für die Fahrt morgen würde sie ihr Sonntagskleid tragen.

»Meinst du, Zeichenlehrerin ist besser?«, fragte Frieda.

»Ja, ich werde später vielleicht in einer Schule arbeiten. Das wird schön. Und außerdem werde ich selbst malen können. Und ich werde so viel Geld verdienen, dass ich davon leben kann.«

»In der Fabrik ist das als Frau nicht möglich.« Marias Stimme klang resigniert.

»Nein«, bestätigte Frieda, »immer heißt es, dass unsere Arbeit nicht so schwer ist wie die von den Männern und dass wir deshalb weniger verdienen.«

Sie schwiegen

»Du weißt noch nicht, ob du aufgenommen wirst, oder?«, fragte Maria und klang ein bisschen neidisch.

»Nein, aber Alois Hämmerle hat gesagt, dass ich begabt bin, und die Frau Landeshauptmann Rhomberg hat mir sogar das Fahrgeld gegeben. Ich weiß, dass ich das kann.« Ihre Stimme klang sicherer, als sie sich fühlte.

»Ich wünsch dir viel Glück und jetzt gute Nacht, ich bin müde. Schlaft gut.« Frieda blies die Kerze aus, die den Raum erleuchtet hatte.

Stephanie drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Durch das kleine Fenster blinzelte eine schmale Mondsichel. Sie lauschte auf das Gemurmel ihrer Schwestern, die ihr Abendgebet sprachen. Jede für sich. Alles war vertraut, alles war eng. Sie freute sich, dass etwas passierte in ihrem Leben, dass sie nicht werden würde wie Maria, sechs Jahre älter als sie, die noch immer darauf hoffte, ohne Mitgift einen Ehemann zu finden. Bis dahin arbeitete sie eben tagein, tagaus in der Fabrik und ging sonntags in die Kirche. Sonst geschah nichts. Was für ein trauriges Leben. Stephanie wollte mehr. Aber sie hatte auch Angst vor dem, was sie erwartete. Würde sie es schaffen? Ganz allein?

Sie dachte an ihre Kindheit hier auf dem Hof. Wie oft hatte sie vom Vater eine Backpfeife kassiert, weil sie wieder und wieder mit einem Bleistift und einem Stückchen Papier in einer Ecke gesessen hatte. Sie hatte alles gezeichnet, was sie gesehen hatte, ihre Geschwister und die Tiere, die Berge und die Häuser von Lustenau. Jetzt würde ihre Liebe zum Zeichnen sie wegbringen von hier, jetzt würde ihr der Bleistift eine neue Welt eröffnen. Sie lächelte beim Gedanken an den Zettel, den der Vater ihr heute gegeben hatte. Sie hätte sich die Chance auch nicht nehmen lassen, wenn er nicht unterschrieben hätte. Seine Unterschrift hatte sie in den letzten Tagen heimlich geübt. Aber so, mit Vaters Erlaubnis, war es besser. Sie drehte sich auf die Seite, lauschte auf das gleichmäßige Atmen der Schwestern. Sie war aufgeregt, doch das vertraute Geräusch ließ sie ruhiger werden und einschlafen.

Maria und Frieda gingen am nächsten Morgen früh zur Arbeit. Stephanie umarmte ihre Schwestern und blickte ihnen nach. Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen, schluckte sie hinunter.

»Der Vater ist schon auf dem Feld«, sagte die Mutter, als Stephanie die Küche betrat, und stellte ihr den Kaffee auf den Tisch. »Johann ist im Stall«, fügte sie hinzu. Stephanie trank einen Schluck Kaffee, aß ein paar Löffel von ihrem Riebelbrei, über den die Mutter einen der letzten Äpfel gerieben hatte, und stapfte durch die kalte Morgenluft rüber zu den Kühen. Im Stall war es warm, es roch vertraut nach Kühen und Heu. Die Sonne, die schräg durch das milchige Fenster schien, ließ den Staub tanzen. Sie nahm alles bewusst auf, nickte Johann zu, band sich den zweiten Melkschemel um und trat zu Line, ihrer Lieblingskuh. Sie klopfte ihr auf die Flanke, setzte sich, rieb die Hände warm und arbeitete geübt. Sie hörte nur das Malmen der Kühe und die Milch, die gleichmäßig in die Eimer schoss. Die Geschwister schwiegen. Aber es war ein anderes Schweigen als das beim gestrigen Abendbrot. Nachdem Stephanie mit Line fertig war, erhob sie sich, schüttete die Milch in die Kanne am Eingang, schnallte den Schemel ab und sah ihren Bruder an. Johann blickte auf. »Passt«, brummte er, und seine Augen lächelten. Sie kehrte in die Küche zurück, wo ihre Mutter ein Käsebrot bereitgelegt hatte. Stephanie klappte es zusammen, wickelte es in Zeitungspapier und packte es in ihren Rucksack.

»Gott behüte dich«, sprach die Mutter, trat zu ihrer Tochter und zeichnete mit dem Daumen ein unsichtbares Kreuz auf Stephanies Stirn.

»Dich auch«, antwortete Stephanie mit heiserer Stimme. Die Mutter griff den Eimer mit dem Hühnerfutter und lief in den Hof. Stephanie sah ihr hinterher, wollte die stolze Gestalt im Gedächtnis behalten. Ihre Mutter war 55 Jahre alt und kam der Tochter in diesem Moment vor wie eine alte Frau. Stephanie zog ihre Sonntagsschuhe an, die lehmverkrusteten Stiefel ließ sie stehen. Ihre Schwestern würden sie weiter nutzen können. Sie setzte sich den Rucksack auf, nahm ihre Mappe in die Hand und verließ das enge Bauernhaus in Lustenau, in dem sie bisher gelebt hatte. Auf ihrem Weg zur Tram drehte sie sich kein einziges Mal um. Nur so war sie sicher, dass die Tränen unten blieben, tief unten, dort wo sie außer ihr keiner bemerkte.

Das Procedere an der Grenze verunsicherte Stephanie nicht, routiniert nestelte sie ihren Ausweis aus der Laschentasche des Rucksacks. Schon ein paarmal war sie mit den Schwestern in Lindau gewesen. Doch zum ersten Mal würde sie vom Inselbahnhof aus weiterfahren, fort von allem, was sie kannte. Der Zug Richtung München stand bereits auf Gleis drei parat. Sie stieg ein, suchte sich einen Platz, öffnete das Fenster und blinzelte in die Frühlingssonne, die in der Zwischenzeit Kraft gesammelt hatte.

Der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, die Dampflokomotive holte tief Luft und zog Stephanie für einen Augenblick den Boden unter den Füßen weg. Sie hielt sich am Zugfenster fest und schaute zurück auf den Bahnhof von Lindau, der sich zu entfernen schien, dabei war sie es, die wegfuhr. Sie spürte den Fahrtwind und wie die Übelkeit langsam nach oben stieg, der Tränenkloß im Hals größer wurde, die Luft direkt vor ihrer Nase dick und schwer. Am liebsten hätte sie aufgehört zu atmen. Sie zog die Lippen ein, biss darauf, der sanfte Schmerz half, sich abzulenken, das Morgenessen bei sich zu behalten. Sie sah den See, der heute im Sonnenschein türkis wirkte und den die Eisenbahnbrücke in zwei Hälften teilte. Der Zug ruckelte über die Gleise, und sie wusste, sie durfte nicht zurückschauen, wenn sie wollte, dass die Übelkeit verging. Doch sie konnte nicht anders, lenkte ihren Blick über den See weiter zum Alpstein, dessen Gipfel weiß waren. Sie stellte sich die Kälte dort oben auf dem Säntis vor und atmete gegen die Enge und Beklemmung in Hals und Brust.

Will ich wirklich gehen?

Als der Zug Richtung Osten abbog, und Stephanie die Berge nicht mehr sehen konnte, schluckte sie kräftig, versuchte, den Übelkeitskloß nach unten zu drücken, dorthin, wo sie ihn nicht spüren konnte, dorthin, wo auch die Tränen saßen. Es gelang ihr nicht. Stephanie schloss die Augen und dachte kurz an ihre Familie, die sie lange Zeit nicht sehen würde. Sie freute sich auf die Stadt, wollte nicht darüber nachdenken, was sie tun würde, wenn es heute nicht klappte, wenn sie nicht aufgenommen werden würde. Sie schnaufte tief ein und aus. Die Lokomotive schnaufte ebenfalls, immer Richtung München, immer Richtung Zukunft. Stephanie öffnete erst ihre Augen und dann den Rucksack, kontrollierte, ob die Blechdose der Mutter sicher verstaut war. Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass ihre Mutter ihr ihren Traum anvertraut hatte. Was für eine Verantwortung, aber auch was für eine Freiheit. Dann öffnete Stephanie die Mappe, in der obenauf das unterschriebene Formular lag, mit dem ihr Vater über ihre Zukunft bestimmt hatte. Alles war an seinem Platz. Sie setzte sich aufrecht hin, blickte nach draußen. Der Zug ratterte gleichmäßig dahin. Mit jeder Umdrehung entfernte sie sich weiter von ihrer Vorarlberger Heimat. Mit jeder Umdrehung näherte sie sich ihrem Traum von einem eigenständigen Leben.

Die Übelkeit verschwand.

2. Ankunft, München, Frühjahr 1905

Erzählt wird in Lustenau, dass eine Ziehtochter des Landeshauptmanns, selbst Malerin, dein Talent erkannte und den Kontakt zur Kunstgewerbeschule herstellte. Diese Ziehtochter wohnt auch jetzt, 1971, noch im Rhomberghaus – und war damals keine zehn Jahre alt. Sie weiß nicht, wie diese Geschichte in Umlauf kam, aber sie besitzt eine frühe Zeichnung von dir, die ihr Haus zeigt, sehr detailreich, sorgfältig gezeichnet. Irgendeine Verbindung muss es gegeben haben. Doch von der Kunstgewerbeschule musst du anders erfahren haben. Ich erinnere mich an eine Begegnung in den 30er-Jahren auf dem Markt in Dornbirn. Du hast Alois Hämmerle, der damals ein uralter Mann war, herzlich begrüßt, ihr habt euch unterhalten. Ich habe nur Gesprächsfetzen in Erinnerung. Es ging um München und um den Leiter der Kunstgewerbeschule. An diesem Tag war ich ungeduldig, ging schon einmal weiter, um Käse zu besorgen. Heute wünschte ich, ich hätte euch länger zugehört. Dann wäre ich sicher, dass es so gewesen ist, wie ich es hier aufschreibe.

Der Zug hielt in München, Männer und Frauen drängten an Stephanie vorbei, hatten es eilig, jeder schien zu wissen, wo er hinwollte. Sie blieb verloren mitten auf dem Bahnsteig stehen. Ein Junge mit einer Sackkarre kam auf sie zu, fragte, ob er ihr mit dem Gepäck helfen könne. Sie schüttelte den Kopf, ließ den Lärm und den Gestank der Dampflokomotiven auf sich wirken. Um sich zu orientieren, fehlten ihr die Berge, wie sollte sie ohne sie wissen, wo Norden war, wo Süden und wo der Ausgang Ost, an dem ihre Tram abfahren sollte? Der Zug hatte in einer Halle gestoppt, Eisenstreben auf hohen Säulen hielten das gewölbte Dach, das vom Dampf eingehüllt war. Lokomotiven pfiffen, Zeitungsjungen riefen Schlagzeilen aus, mit einem Megafon wurde eine Gleisänderung bekannt gegeben. Stephanie beschloss, sich von all dem Lärm nicht beeindrucken zu lassen, schulterte ihren Rucksack und folgte den anderen Fahrgästen das Gleis hinunter. Ein Wald an Schildern erwartete sie in der vorderen Halle, der Ausgang Ost war markiert.

Na also, ich schaffe das.

Eine elektrische Tram kannte sie, vor zwei Jahren war die Strecke von Lustenau nach Dornbirn eröffnet worden. Im Brief der Schule stand, dass die Nummer 6 sie vom Bahnhof direkt zur Kunstgewerbeschule bringen würde. Die Haltestelle fand sie schnell. Doch zuerst musste sie in eine Bank, um ihre Kronen und Heller in Mark und Pfennig einzutauschen. Sie schaute sich um, entdeckte, was sie suchte. Sollte sie gleich alles wechseln, auch das Geld aus Mutters Blechdose? Sie zögerte, hatte das Gefühl, damit ihr Glück vielleicht zu sehr herauszufordern, und wechselte nur die Münzen, die sie selbst verdient hatte. Davon würde sie ein paar Tage leben können. Wenn es mit der Schule geklappt hatte und sie sicher war, dass sie in München bleiben konnte, würde sie den Rest wechseln. Als sie die Straße überquerte, übersah sie beinahe eine Droschke. So viel Verkehr war sie nicht gewohnt; die Schimpftirade des Kutschers ließ sie stumm über sich ergehen. Sie verstand kein einziges Wort. Wie sollte sie in diesem fremden Land zurechtkommen? Sie sprang auf die andere Straßenseite. In ihrem Rucksack schepperten die Münzen in der Blechdose.

Stephanie stieg in die Tram, hatte während der Fahrt Zeit, das Treiben zu beobachten. Die Häuser links und rechts kamen ihr riesig vor. So hohe Gebäude gab es nicht in Lustenau, aber auch nicht in Dornbirn, Bregenz oder Lindau. Auf der Straße fuhren unablässig Droschken, Handwagen wurden vorbeigezogen; Männer, Frauen und Kinder waren unterwegs. Ein Schürzenkleid, so wie sie, trugen nur wenige Frauen, geflochtene Zöpfe gab es kaum. Die Frauen in München trugen Kleider, die kurz über dem Knöchel endeten. Sie waren eng geschnitten. Stephanie konnte sich nicht vorstellen, wie man darin bequem laufen konnte. Schick sah es allerdings aus, damenhaft. Als ihre Haltestelle ausgerufen wurde, sprang Stephanie auf, ergriff Rucksack und Mappe und kämpfte sich zum Ausgang durch.

Die Tram hielt direkt vor dem Gebäude der Kunstgewerbeschule. Stephanie blickte nach oben. Um das Dach zu sehen, musste sie den Kopf weit in den Nacken legen. Fast wurde ihr dabei ein bisschen schwindelig. Sie holte tief Luft und drückte entschlossen die schwere Eingangstür auf. Sie fragte sich zum Büro des Direktors durch, Emil von Lange. Es lag im ersten Stock, abseits der Unterrichtssäle. Hier herrschte am Nachmittag Stille. Sie war zu früh, setzte sich vor von Langes Tür im Gang auf den Boden und aß ihr Käsebrot. Die Mappe mit ihren Zeichnungen lag neben ihr. Stephanie ging in Gedanken die Bilder durch, die sie gemeinsam mit Alois Hämmerle ausgewählt hatte: das Bild ihres Bruders, wie er mit Jo, dem Ochsen, das Feld pflügte; die Zeichnung vom Haus des Landeshauptmanns. Eine Kirchturmuhr schlug dreimal. Sie steckte den letzten Bissen ihres Brots in den Mund und schleckte die Finger ab, wischte sie an ihrem Kleid trocken. Dann rappelte sie sich auf. Gerade rechtzeitig, um dem Mann aufrecht entgegenzuschauen, der um die Ecke bog. Er war Ende 50, sein Bart grau, die Stirn hoch. Zwischen den Lippen hatte er eine Pfeife. Er watschelte auf sie zu: »Sie sind vermutlich mein 3-Uhr-Termin«, meinte er leutselig, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, und stellte sich als Herr von Lange vor. Stephanie nickte und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin die Hollenstein Stephanie aus Lustenau«, sagte sie und war selbst überrascht, wie heiser ihre Stimme klang. Das mochte an dem Kloß liegen, der sich in ihrem Hals wieder breitgemacht hatte.

»Dann kommen Sie mal mit mir rein und zeigen mir, was Sie mitgebracht haben.«

Stephanie war noch nie in einem so großen Raum gewesen. Wände und Decke ihres Elternhauses waren aus Holz und so niedrig, dass ihre Mutter mit dem Handfeger die Spinnweben aus den Ecken wischen konnte, ohne auf einen Stuhl steigen zu müssen. Die Fenster daheim waren winzig, elektrisches Licht gab es nicht. Hier war die Decke hoch und hatte Stuckverzierungen, die Wände waren in einem zarten Grün gestrichen, die Fenster Richtung Luisenstraße mannsgroß. Obwohl es ein sonniger Tag war, betätigte von Lange den Lichtschalter. Stephanie blinzelte nervös Richtung Leuchter.

»Wie haben Sie von unserer Schule erfahren?« Von Lange hatte sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt und ihre Mappe geöffnet.

Stephanie, die vor seinem ausladenden Schreibtisch stand, versuchte, nicht allzu nervös zu wirken.

»Der Hämmerle Alois hat mir erzählt, dass hier auch Frauen aufgenommen werden. Ich hab ihn getroffen, als ich gerade das Rhomberghaus zeichnen wollte, das dort, in der Mappe«, antwortete Stephanie in ihrem schönsten Hochdeutsch.

Herr von Lange nahm das Bild, auf das sie gezeigt hatte, und schaute es sich genau an. »Der Alois Hämmerle, ich erinnere mich gut an ihn. Was macht er heute?«

»Er ist Dekorationsmaler und hat das Ornament unterm Dach gemalt, man kann es auf meiner Zeichnung erkennen. Er hat gerade gearbeitet, als ich das Haus abzeichnen wollte, und hat mir von der Kunstgewerbeschule erzählt, und die Frau Landeshauptmann Rhomberg, die dort wohnt, hat mir fünf Kronen gegeben für die Fahrt.« Stephanie konnte noch immer kaum fassen , dass da zwei wildfremde Menschen an sie geglaubt hatten.

»Bei wem hatten Sie Unterricht, Fräulein Hollenstein?«

»Bei niemandem, das Zeichnen, das kann ich einfach, das habe ich mir selbst beigebracht.«

»Selbst beigebracht, soso.«

Von Lange blätterte zu dem Bild zurück, auf dem ein Mädchen die Kühe nach Hause trieb. Er betrachtete es. »Das ist gut«, murmelte er vor sich hin, »Sie sind begabt, Fräulein Hollenstein. Erstaunlich, dass Sie das ohne Unterricht …«

Der Kloß im Hals war verschwunden, Stephanies Stimme klar: »Ich mal das einfach so, wie ich es sehe«, purzelten die Worte auf einmal aus ihr heraus, »das heißt, dass ich bleiben darf, oder?«

Von Lange blickte auf. »Wir sind mitten im Semester, die Aufnahmeprüfungen sind vorbei, alle Plätze besetzt, ich muss das mit den Kollegen besprechen, kommen Sie um …«, er zog seine Taschenuhr aus der Weste, ließ sie aufklappen, »4 Uhr zurück. Bis später.«

Stephanie verließ den Raum, sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter auf die Luisenstraße und setzte sich auf den Mauervorsprung neben dem Eingang.

Er mag meine Bilder. Er wird mich nicht zurückschicken.

Ihr rechter Fuß wippte auf und ab; irgendwie musste die Anspannung ihren Körper verlassen. Sie stand auf, ging ein paar Schritte, setzte sich wieder. Fasziniert beobachtete sie das Treiben auf der Straße. Droschke reihte sich an Droschke, zwischendrin fuhr ein Automobil vorbei. Auch in Lustenau tauchte hin und wieder eines auf, jedes Motorengeräusch war dort eine Sensation, die Kinder liefen der Staubwolke aufgeregt hinterher. In München blickten selbst die Pferde kaum auf, wenn sie überholt wurden.

Hier werde ich leben.

Die Kirchturmuhr schlug die volle Stunde. Stephanie stieg erneut hinauf, das großzügige Treppenhaus beeindruckte sie diesmal schon weniger. Selbstbewusst betrat sie zum zweiten Mal an diesem Tag das weitläufige Büro. Sie waren zu dritt, Herr von Lange, ein Mann mit vollem tiefschwarzem Haar und ein Herr Mitte 40 im weißen Kittel, der sie nicht ansah, sondern kritisch auf den Schreibtisch blickte. Dort lagen Stephanies Bilder kreuz und quer verteilt. Der Anblick machte sie jetzt doch wieder nervös. Sie hatte nach von Langes positiver Reaktion gedacht, ihre Aufnahme sei nur noch eine Formsache. Aber die beiden Männer schienen nicht so überzeugt zu sein wie von Lange.

»Warum malen Sie?«, fragte der Jüngere, ohne sich vorzustellen. Er ging ein paar Schritte auf sie zu, betrachtete sie prüfend und zog ein großes Taschentuch aus der Hosentasche, das er sich vor Nase und Mund hielt.

»Ich muss einfach, es geht nicht anders, wenn ich etwas sehe, möchte ich es festhalten, schon damit ich es im Kopf behalten kann.«

»Damit Sie es im Kopf behalten können, aha.« Er nickte, blickte auf die Zeichnungen, schaute Direktor von Lange an. »Ein echtes Naturkind«, resümierte er, wedelte mit dem Taschentuch herum und rümpfte die Nase, »aber sie hat Potenzial.«

Der Herr im weißen Kittel wollte sich vergewissern, dass sie die Bilder tatsächlich selbst gemalt hatte, und bat sie, von Langes Büro kurz zu skizzieren.

»So, wie Sie es sehen, Fräulein Hollenstein.«

Er zwinkerte und reichte ihr einen Block und einen weichen Bleistift.

Stephanie blickte die drei Herren an, registrierte das Fenster, den Schreibtisch, den Stuhl davor. Auch jetzt hatte niemand sie aufgefordert, sich darauf zu setzen, also blieb sie stehen, hielt den Block mit dem linken Unterarm, damit sie eine Unterlage hatte, der Kloß im Hals war wieder da, sie fühlte sich beobachtet. Ihre ersten Striche waren fester als gewöhnlich, raumgreifender. Mit wenigen Strichen hatte sie die Szenerie eingefangen, wollte ins Detail gehen, der Stift flog jetzt regelrecht über das Papier. Da sagte der Mann im weißen Kittel: »Danke, das reicht. Sie wird mithalten können. Ich plädiere für die Aufnahme.«

»Also gut«, verkündete von Lange. »Sie sind aufgenommen, Fräulein Hollenstein. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg an unserer Schule. Allerdings können wir Ihnen jetzt in der Mitte des Jahres kein Stipendium mehr anbieten. Dafür können Sie sich erst nächstes Jahr wieder bewerben. Werden Sie das schaffen?«

Stephanie nickte und dachte dankbar an Mutters Blechbüchse in ihrem Rucksack. Ohne dieses Geld wäre trotz der Aufnahme ihr Traum zu diesem Zeitpunkt geplatzt. Hämmerle hatte ihr erzählt, dass es Stipendien für mittellose Schüler gab, und sie war selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie eines erhalten würde. Aber mit Mutters Geld würde es auch so gehen – irgendwie.

Stephanie fühlte sich benommen, während sie ihre Sachen zusammenpackte und sich verabschiedete. Sie stieg diesmal die Treppen langsam herab, mit jedem Absatz sickerte die Erkenntnis, dass sie ihr Ziel erreicht hatte, mehr in ihr Bewusstsein, und als sie unten in die Münchner Frühlingssonne blinzelte, wusste sie nicht, wohin mit ihrem Glück. Sie rannte ein paar Meter, als wäre sie ein Pennäler, der zu lange still gesessen hatte, musste die angestaute Energie loswerden und lachte laut, als ein Mann sie empört anschaute. Sie war Schülerin der Königlichen Kunstgewerbeschule, das konnte ihr irgend so ein Miesepeter nicht schlechtmachen. Als Nächstes suchte sie nach einer Poststelle und telegrafierte von dort nur ein Wort nach Hause: »Geschafft!« Mehr war nicht nötig und würde nur Geld kosten.

Stephanie wollte ihren Erfolg feiern. Sie ging die Straße entlang und entdeckte das Wiener Café Stefanie. Es kam ihr wie ein Zeichen vor. Ab morgen würde sie sparen, aber jetzt würde sie sich mit einer Tasse echtem Kaffee belohnen. Sie betrat das Kaffeehaus, nahm den hohen Raum wahr, die helle Kassettendecke, die gemusterte Tapete und die gedrechselten Absperrungen. Sie sah Bänke, die mit grünem Samt bezogen waren, und ebensolche schweren Vorhänge vor den Fenstern. An einem Tisch saßen zwei Schachspieler, Zuschauer standen im Gang, alles Männer. Durfte sie hier sein? Sie sah sich weiter um und entdeckte zwei Damen, die in hellen Kleidern und aufwendigen Hüten an einem Tisch saßen. Sie atmete durch, setzte sich und bestellte bei einem Kellner eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Sie hatte Hunger. Außer dem Käsebrot hatte sie seit dem Morgen nichts gegessen. Sie saß da und genoss ihren Erfolg. Alles in München erschien ihr prachtvoll, sogar der Kaffee schmeckte hier kräftiger als der Eichelkaffee, den sie zu Hause tranken. Genießerisch atmete sie den Duft ein. Sie hätte Talent, hatte der Direktor gesagt. Sie lächelte, zufrieden mit sich. Wieder hörte sie die Kirchturmuhr schlagen und erinnerte sie, dass sie noch eine Unterkunft brauchte, eine Staffelei und Farben. Das Zimmer war am wichtigsten, alles andere würde sie notfalls auch morgen früh besorgen können.

Stephanie hatte von der Kunstgewerbeschule eine Adressliste möglicher Zimmervermieter bekommen sowie einen Plan der Umgebung. Ein paar Zimmer lagen in der Nähe, dort würde sie ihr Glück zuerst versuchen. Sie aß die letzten Krümel des Sandkuchens, trank den letzten Schluck Kaffee, zahlte und machte sich auf den Weg. An der ersten Adresse auf der Liste klingelte sie, eine Frau mittleren Alters öffnete die Tür, hörte, dass sie ein Zimmer suchte, und antwortete: »Na, an Weiberleid vamiet i ned. Do braucht’s koa Hurn.« Und knallte die Tür zu.

Bei der zweiten Adresse wurde wortlos die Tür geschlossen, bei der dritten fiel zwar nicht mehr das Wort »Hure«, dafür erhielt sie den dringenden Ratschlag, sich lieber einen Ehemann als einen Studienplatz zu suchen. Studieren, das sei »nix für Weiberleid«.

Wenn Stephanie nicht bald ein Zimmer fand, würde sie heute in einer Pension übernachten müssen. Das konnte sie sich nicht leisten. Sie schulterte erneut ihren Rucksack und lief zur vierten Adresse auf der Liste. Dort hatte sie Glück. Witwe Schneider vermietete ausschließlich an junge Frauen, und in einem der Zimmer war ein Bett frei. Stephanie würde sich den Raum mit Laura Steinberger teilen, einer angehenden Lehrerin, die im Moment nicht zu Hause war.

Stephanie sah sich in dem Zimmer um. Je eine schmale Liege stand an der Wand, die dünnen Decken waren weiß bezogen. Durch eine Häkelleiste schimmerte das rote Kopfkissen. Am Fenster trennte ein Tisch die Betten voneinander, davor stand ein Stuhl. Am Fußende des rechten Bettes war eine Kommode untergebracht, darauf standen eine Waschschüssel und ein gefüllter Krug Wasser, die obere Schublade war voll. Stephanie räumte ihre Habseligkeiten unten ein und hängte den Rucksack an den Haken neben der Tür. Gegenüber der Kommode sorgte ein schmaler Kohlenofen, auf dem ein Teekessel stand, im Winter für Wärme. Jetzt im Frühling war er nicht angeheizt. Unter jedem Bett entdeckte Stephanie einen Nachttopf; der Abort, eine halbe Stiege tiefer, wurde mit der Wohnung darunter geteilt. Sie würde im Winter nicht mehr auf das kalte Häusl im Hof gehen müssen. Welch ein Luxus.

Sie setzte sich auf ihr Bett und zählte das Geld aus der Blechdose. Es war mehr, als sie gehofft hatte, ihre Mutter musste lange gespart haben. Die erste Zeit würde es für die Miete des Zimmers reichen. Den Rest würde sie verdienen können. Sie sah sich den Stundenplan an. Am Mittwoch und Samstag hatte sie nachmittags frei. Sie würde sich eine Arbeit suchen. Gleich morgen, nach dem Unterricht. Sie versteckte die Dose ganz hinten in ihrer Schublade. Und mit einem Mal fiel alle Anspannung von ihr ab. Sie fühlte sich nur noch müde. Der Tag war lang gewesen. Und er hatte ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt.

Ihre Mitbewohnerin war noch nicht nach Hause gekommen, als Stephanie ins Bett ging. Ihr fehlten die vertrauten Geräusche, sie schlief unruhig in dieser ersten Nacht in München, träumte davon, dass sie zeichnen wollte, aber immer, wenn sie ansetzte, brach ihr der Bleistift ab. Sie lief durch Straßen, die enger und enger wurden, zwischen Häusern hindurch, die immer höher in den Himmel wuchsen. Für sie war kein Platz mehr. Als sie aufwachte, dämmerte es. Sie stand auf, merkte, dass sie nicht allein im Zimmer war. Im anderen Bett schlief eine dunkelblonde Frau. Stephanie wusch sich möglichst lautlos, spürte bald, dass sie beobachtet wurde. Sie drehte sich um. Die Frau im anderen Bett betrachtete Stephanie mit warmen braunen Augen. Stephanie sah, dass sich ihre Nase kräuselte, als sie lächelte. »Hallo, Mitbewohnerin«, sagte die Frau verschlafen, »ich bin Laura.«

3. Laura

Ist das Mädchen auf der Kohlezeichnung Laura? Die Zeichnung zeigt eine sorgfältig frisierte junge Frau, die sittsam die Augen niederschlägt. Sie trägt einen großen Ohrring und ein Kropfband um den Hals. Es steht kein Name auf dem Blatt, und ich bringe die Zeichnung nicht mit der Laura zusammen, die mich nach dem Zweiten Weltkrieg in Bludenz besucht hat. Sie hat damals nach dir gesucht und in Lustenau nur noch deine Schwestern angetroffen. Frieda hat ihr von mir erzählt. Laura wurde neugierig auf die Frau, die du Jahre nach eurer gemeinsamen Zeit geliebt hast. Die Laura, die ich damals kennenlernte, war resolut; wir sind auch äußerlich der gleiche Typ, wahrscheinlich ist das nicht überraschend. Abgesehen von unserer Liebe zu dir hat uns nichts verbunden.

Vielleicht ist das Mädchen auf der Zeichnung aber auch eine deiner vielen Geliebten. Es gibt genügend Auswahl. Das war damals hart für Laura – und später für mich. Du hast dir Freiheiten genommen, die du uns nicht zugestanden hättest. Du hast dich nie gerechtfertigt.

Laura zeigte Stephanie die Küche, in der sie sich während der Sommermonate, wenn sie ihr Zimmer nicht heizten, heißes Wasser holen durften. Im Herd brannte immer ein Feuer. Sie frühstückten gemeinsam an dem kleinen Tisch am Fenster. »Heute Nachmittag zeige ich dir, wo du einkaufen kannst.« Laura verabschiedete sich, um zum Seminar für angehende Lehrerinnen zu gehen.

Laura ist nett!

Stephanie besorgte sich eine Staffelei, einen Zeichenblock und Bleistifte. Dann betrat sie aufgeregt den Lehrsaal, in dem ihre erste Stunde stattfinden sollte. Der Raum war erfüllt vom Getuschel und Gelächter der Schülerinnen, keine bemerkte Stephanies Eintreten. Die Frauen zeichneten offensichtlich bereits seit ein paar Unterrichtseinheiten einen weiblichen Torso aus Gips ab, der auf einem Sockel in der Mitte des Raumes stand. Die Stühle und Staffeleien waren in einem Halbkreis aufgestellt. Nur ganz hinten entdeckte Stephanie einen freien Platz. Von dort aus würde sie den Torso kaum erkennen können. Sie war unschlüssig, traute sich nicht, die anderen Mädchen anzusprechen. Alle sahen so selbstbewusst aus, trugen kunstvolle Steckfrisuren, elegante Kleider und praktische Malkittel darüber. Alle kannten sich untereinander, nur sie kannte niemand. Stephanie warf einen Blick auf die Skizzen, die auf den Staffeleien standen, und verlor jeden Mut. Die Zeichnungen waren gut. Sie konnte das nicht. Nicht so exakt. Sie würde nicht mithalten können. Der Professor gestern hatte nicht recht gehabt. In diesem Moment wäre sie am liebsten umgedreht, um den ersten Zug zurück nach Lustenau zu nehmen. Diese Großstadt war doch zu viel für sie. Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihren Eltern und Geschwistern. Sogar die Arbeit in der Fabrik erschien ihr auf einmal verlockend. Morgens und abends würde sie mit Johann schweigend im Kuhstall sitzen. Dann fiel ihr der Blick der Mutter ein, in dem sich ihr ganzer Stolz widergespiegelt hatte, und sie riss sich zusammen. Ihre Mutter hatte ihr all ihre Ersparnisse gegeben, sie hatte Vertrauen in das Talent der Tochter. Da konnte sie nicht bei der ersten Schwierigkeit aufgeben. Stephanie gab sich einen Ruck, nahm den leeren Stuhl aus der hinteren Ecke und trug ihn auf die andere Seite der Büste. Dort baute sie ihre Staffelei auf und sah den anderen Studentinnen direkt ins Gesicht.

Der Lehrer, der bei Stephanies Aufnahme den weißen Kittel getragen hatte, betrat in diesem Moment die Klasse. Er nickte ihr zu, ihr Sitzplatz auf der falschen Seite des Raums war ihm keine Bemerkung wert. Er hielt es auch nicht für nötig, sie ihren Mitschülerinnen vorzustellen. Die Mädchen setzten sich auf ihre Plätze, das Getuschel wurde leiser, nur der Professor war zu vernehmen und die Striche auf dem Papier.

»Eigentlich war es richtig witzig«, erzählte Stephanie am Abend Laura, als sie beide in ihrem Zimmer saßen, jede auf ihrem Bett und jede mit einer Tasse Kräutertee in der Hand, »ich saß da und habe die ganze Zeit auf zwei Rücken gestarrt, einen im weißen Kittel und einen aus Gips. Den aus Gips habe ich dann gezeichnet, während der Kittel ständig etwas von Brüsten gefaselt hat.«

Stephanie lachte. Es gluckste regelrecht aus ihr heraus und war so ansteckend, dass Laura nach kurzer Zeit mitlachen musste. Die beiden Frauen prusteten so laut, dass die Witwe Schneider warnend gegen die Tür klopfte und Stephanie vor Schreck fast ihren Tee verschüttet hätte.

»Es ist einfach blöd, wenn man erst später in eine Gruppe kommt, alle haben schon Freundinnen gefunden.«

»Ich weiß und ich bin Konkurrenz für sie.« Stephanie blies in den heißen Tee. Laura schien zu spüren, dass sie am Vormittag die Situation keinesfalls lustig gefunden hatte.

»Du musst etwas tun, damit sie dich mögen.«

»Wie soll das gehen? Ich kann ja schlecht jeder etwas schenken.«

»Nein – oder doch, du kannst jeder etwas schenken. Weißt du was, wir pflücken morgen ganz früh einen Strauß Gänseblümchen im Englischen Garten, und du legst jeder ein Blümchen auf den Tisch.«

»Und du meinst, dann machen sie mir Platz?«

»Nein, aber wenn du so früh kommst, dass noch niemand da ist, kannst du selbst die Stühle verrücken und Platz für dich schaffen. Und damit sie nicht böse werden, hat jede das Blümchen auf dem Tisch. Was meinst du?«

»Das ist eine wunderbare Idee, das mache ich. Danke, Laura.« Stephanie lächelte ihre neue Freundin an. »Für uns pflücke ich dann auch gleich welche, dann haben wir es schöner hier.«

Ich bin nicht allein.

Am nächsten Morgen standen Stephanie und Laura auf, als es noch dunkel war. Im ersten Dämmerlicht pflückten sie gemeinsam die Gänseblümchen. Dann eilte Stephanie zu ihrem Unterrichtsraum, der gerade erst aufgeschlossen worden war. Sie war allein, holte ihren Stuhl, suchte sich einen Platz aus, von dem sie einen guten Blick hatte, und verrückte alle anderen Stühle und Staffeleien ein Stück nach hinten. Sie verteilte die Blümchen und begutachtete ihr Werk. So würden alle sehen können. Als ihre Mitschülerinnen kamen, saß Stephanie bei der Arbeit, setzte neben die etwas ungeschickte Rückenzeichnung vom Tag zuvor ein weiteres Bild, auf dem sie die Brüste des Torsos andeutete, die sie vorwitzig ein wenig nach oben zeigen ließ. So sahen sie aus, diese Gipsbrüste, wenn man vor ihnen auf einem Stuhl saß. Alles nur eine Frage der Perspektive, dachte Stephanie vergnügt und grinste, als die Mädchen aus ihrer Klasse sie ansprachen und ihr ein Kränzchen aus den Blumen banden. Das Eis war gebrochen. Jetzt war sie Mitglied des 1. Jahrgangs der Königlichen Kunstgewerbeschule.

Stephanie hatte erwartet, in gemischten Klassen unterrichtet zu werden. Doch die Männer lernten separat und hatten zusätzlichen Unterricht, in dem sie sich auf die Aufnahmeprüfung an der Akademie vorbereiteten, die für Frauen verschlossen war. Stephanie nahm das kaum wahr, hatte im Moment genug damit zu tun, den Stoff, den sie versäumt hatte, nachzuholen, die aktuellen Aufgaben zu lösen, Geld zu verdienen und das Leben in der Großstadt kennenzulernen.

Zwei Nachmittage in der Woche arbeitete sie im Café Stefanie, in dem sie ihre Aufnahme an der Kunstgewerbeschule gefeiert hatte. Das Wiener Kaffeehaus lag günstig, und als sie dem Küchenchef erzählte, sie käme aus Österreich, war es nicht schwer gewesen, eine Stelle als Spülkraft zu bekommen. In der Küche bekam sie von den illustren Gästen des Cafés kaum etwas mit. Selbst als Gast in das Café zu gehen, war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Vielleicht später einmal; jetzt brauchte sie das Geld, um ihre Materialien zu finanzieren. Miete und Lebensmittel bestritt sie mit dem Ersparten ihrer Mutter aus der Blechdose. Immer wieder zählte sie nach, wie schnell das Geld weniger wurde, das Leben in der Stadt war teurer, als sie gedacht hatte. Zeit, das Schwabinger Bohèmeleben kennenzulernen, hatte sie kaum. Sie eilte morgens in die Schule, beschäftigte sich an den Abenden mit ihren Hausaufgaben, lernte den Stoff nach, den sie versäumt hatte, und spülte im Café das Geschirr. Wann immer ihre knappe Zeit es erlaubte, ging sie in die Glyptothek, in die Pinakothek und in den Glaspalast.

Wenn Stephanie nach Hause kam, saß meist Laura am gemeinsamen Tisch und lernte. Laura schien sich immer zu freuen, wenn Stephanie heimkam, räumte ihre Sachen zusammen und setzte Wasser für ihre tägliche Teestunde auf. Für Stephanie war es neu, dass zu Hause jemand war, der sich dafür interessierte, was sie am Tag gemacht hatte. Das kannte sie von ihrem Elternhaus nicht. Dort hatte es nur Arbeit gegeben, von klein auf. Aber jetzt fing sie an, Laura von ihren Besuchen in der Pinakothek zu erzählen, beschrieb ihr die Bilder und besprach mit ihr die Aufgaben in der Schule, sie lachten miteinander. Laura erzählte Stephanie von Frankfurt, wo sie aufgewachsen war und ihr Vater als Rechtsanwalt arbeitete. Ihr Bruder wollte in seine Fußstapfen treten und studierte Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

»Ich bin nur ein Jahr älter als Erich, wir hatten gemeinsam einen Hauslehrer«, sagte Laura, »das war mein großes Glück. Der Lehrer hat mir den gleichen Stoff gegeben wie Erich, ich habe also Mathematik gehabt und Latein gelernt.«

»Ich war nur acht Jahre auf der Dorfschule in Lustenau, Latein hatten wir da nicht. Aber im Rechnen war ich gut. Ich hätte gerne weitergelernt.«

»Ich auch, aber als ich meinen Eltern gesagt habe, dass ich studieren möchte, haben sie ›nein‹ gesagt.«

»Warum wollten sie das nicht? Sie brauchten dich doch nicht als Arbeitskraft, oder?«

»Nein, aber sie sagen, dass ich sowieso heiraten werde, da lohne sich das nicht. Sie wollten mich lieber in ein Mädchenpensionat schicken, damit ich lerne, wie man einen Haushalt führt.«

»Und, willst du das? Heiraten?«

»Ich glaube nicht. Als Lehrerin darf ich das sowieso nicht. Es gibt doch das Lehrerinnenzölibat.«

Stephanie hatte nicht gewusst, dass eine Lehrerin ihren Beruf aufgeben musste, sobald sie heiratete.

»Das gilt natürlich nur für Frauen«, schimpfte Laura, »weißt du, die Männer, die diese Gesetze machen, gehen davon aus, dass die Frauen dann genug mit dem Haushalt zu tun haben. Das heißt eigentlich nur, dass sie nicht auf ihre Bequemlichkeit verzichten wollen.«

»Das ist ungerecht.«

»Ja, das ist es. Eigentlich hätte ich noch lieber Jura studiert, so wie Erich, aber das ist für Frauen verboten.«

»Genauso wie ein Studium an der Kunstakademie.«

»Ja, aber wenn wir Frauen zusammenhalten, wird es langsam besser. Ich wäre ohne meine Patentante nicht hier. Sie war es, die meinen Vater davon überzeugte, dass auch für mich eine Berufsausbildung wichtig sein könnte. Für den Fall nämlich, dass mein Mann stirbt. Der Mann meiner Tante ist früh gestorben, und deshalb sitzt sie jetzt bei meinem Vater, also ihrem Bruder, im Salon, stickt und fühlt sich überflüssig.«

»Meine Mutter stickt auch – aber gegen Geld. In Vorarlberg sticken und weben fast alle und liefern die Sachen an die Textilindustrie. Ohne die Stickereien ginge es meiner Familie viel schlechter. Und ich könnte nicht hier sein. Ohne das Nadelgeld meiner Mutter könnte ich mir die Miete nicht leisten.«

»Na dann, ein Hoch auf die Frauen, ein Hoch auf die Stickerei!«, rief Laura und hob ihre Teetasse in die Luft.

4. Blutenburg

Das Bild kenne ich nur aus Erzählungen. Es zeigt eine Burg in der Nähe von München, mit einem schönen Park, Lindenbäume blühen, darunter stehen Tische und warten auf Gäste. Die Farben sind frühsommerlich frisch, die Szenerie ist noch ganz in der Tradition gemalt, die du an der Kunstgewerbeschule gelernt hast. Später hätte die gleiche Landschaft bei dir ganz anders ausgesehen. Mit dem Bild hast du viele Erinnerungen verbunden, und doch hast du es verkauft. Ist dir das schwergefallen? Ich glaube nicht. Ich glaube, du warst stolz darauf. Für dich war das Malen bei aller Passion immer auch ein Beruf, der dich – und oft genug auch andere – ernähren musste. Da warst du unsentimental.

»Eins, zwei, drei – eins, zwei«,

»au, das Bett«,

»Donau so blau, so -«,

»au, das andere Bett.«

Stephanie und Laura lachten mehr, als sie sich drehten beim Bemühen, in ihrem Zimmer den Walzerschritt zu üben. Nach kurzer Zeit hielt sich Stephanie die schmerzende Wade, mit der sie rückwärts gegen den Bettpfosten gestoßen war. Es hatte wehgetan, aber das war ihr egal. Ihr glucksendes Lachen übertönte fast Lauras Vorschlag rauszugehen. »Wir sind eindeutig zu laut für diese Wohnung«, sagte sie, und erst jetzt hörte Stephanie, dass Frau Schneider wieder einmal an die Wand pochte. Dann würde Stephanie das Walzertanzen eben im Englischen Garten lernen.

Die beiden Frauen waren aufgeregt, Lauras Bruder Erich hatte seine Schwester und ihre Freundin zum Stiftungsball seiner Studentenverbindung eingeladen. Laura würde Stephanie ein Kleid leihen, das sie an den Abenden gemeinsam gekürzt hatten, bis es der kleiner gewachsenen Stephanie passte.

Und jetzt würde Stephanie auch noch das Tanzen lernen. Die beiden Frauen liefen im Englischen Garten nach Norden, vorbei am Kleinhesseloher See, Richtung Aumeister und fanden eine Wiese, ein bisschen verborgen vor Blicken, hinter einem Holderbusch. Dort fingen sie erneut an, sich zu drehen. Laura tanzte den Herrenschritt und zählte ein: »Eins, zwei, drei – eins, zwei, drei«, – weiter und weiter, links herum und bald auch rechts herum und Donau, so blau, so blau, so blau. Hier konnte Stephanie so laut lachen, wie sie wollte. Und sie wollte, ihr machte das Walzertanzen mehr Vergnügen, als sie das vorher erwartet hatte. Als Laura zufrieden mit Stephanies Walzerfähigkeiten war, legten sie sich erschöpft ins Gras. Stephanie bettete ihren Kopf auf Lauras Bauch und lauschte dem Gezwitscher der Vögel. Sie fühlte sich rundherum zufrieden, angekommen in der fremden Stadt. Mit Laura hatte sie einen Menschen gefunden, der sie so annahm, wie sie war. In der Kunstgewerbeschule hatte sie den Stoff der ersten Wochen aufgeholt und realisierte, dass sie zu den begabteren Studentinnen zählte. Ihre Arbeiten wurden von den Lehrern als positives Beispiel hervorgehoben. Und jetzt würde sie das wahre Studentenleben kennenlernen. Sie freute sich auf das Stiftungsfest, gleichzeitig war ihr ein wenig mulmig zumute. Gehörte sie dorthin, zwischen die Studenten, die Latein und Griechisch sprachen und so viel von Dingen wussten, von denen sie keine Ahnung hatte? Es war egal. Laura wünschte sich, dass sie mitging, und sie wollte, dass Laura glücklich war. Schaden würde es sicher nicht, so ein Fest einmal mitzumachen.

Als Erich und sein Freund Ferdinand von Lüninck sie am Samstag mit der Kutsche abholten, fand Stephanie es albern, als Freiherr Ferdinand von Lüninck ihr die Hand küsste und meinte: »Darf ich Ihnen helfen, Fräulein Hollenstein?« Wie oft war sie auf den Ochsenkarren zu Hause aufgestiegen, ohne dass irgendjemand nur eine Sekunde daran gedacht hätte, ihr eine Hand zu reichen. Stephanie warf Laura einen Blick zu, verdrehte die Augen und kletterte geschickt und ohne die gereichte Hand zu nutzen in die Kutsche. Sie achtete darauf, in Fahrtrichtung zu sitzen, damit ihr nicht übel wurde. Sie kannte ihren schwachen Magen. Laura folgte ihr, beugte sich kurz zu ihr herüber. »Du wirst sehen, das macht Spaß«, flüsterte sie ihr zu. Stephanie schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie wollte Laura den Abend nicht verderben. Daher wandte sie sich höflich dem Herrn zu, der neben ihr Platz genommen hatte.

»Ihr Name, Hollenstein, erinnert mich an meine Schulzeit. Ich war in Feldkirch in Vorarlberg im Jesuitenkolleg«, sagte von Lüninck. Der junge Mann trug die blonden Haare an den Seiten raspelkurz, sodass seine abstehenden Ohren deutlich zu sehen waren.

»Sie waren in Feldkirch?«

Seit Stephanie in München lebte, hatte sie niemanden kennengelernt, der überhaupt wusste, wo Vorarlberg lag, geschweige denn eine Stadt dort kannte.

»Ja, ich lebte dort vier Jahre im Internat, in der Stella Matutina, gleich neben der Ill gelegen. War eine schöne Zeit damals.«

Von Lüninck erzählte Stephanie von einer Rodeltour, bei der er gemeinsam mit einem Freund mitten in einen Schneehaufen gefahren war. Er kam ihr nicht länger steif vor. »Wir sind nicht mehr herausgekommen, immer wenn einer von uns es fast geschafft hatte und dem anderen helfen wollte, lagen wir wieder beide im Schnee«, erzählte er.

Stephanie lachte laut und herzlich, wie es ihre Art war.

»So etwas Ähnliches ist mir auch passiert«, sagte sie, »es hat ewig gedauert, bis ich wieder aufstehen konnte. Klatschnass war ich hinterher. Und ein paar Tage später hatte ich einen Riesenschnupfen.«

Jetzt lachten beide, und Stephanie sah, dass Laura ihr einen erstaunten Blick zuwarf. Stephanie grinste sie an, beugte sich vor und flüsterte ihr zu: »Du hast recht gehabt, ich amüsiere mich!« Auf einmal freute sie sich, später mit Ferdinand von Lüninck, seinem schicken Monokel und seiner Studentenmütze ihre Walzerkünste auszuprobieren.

Der Himmel war wolkenlos, im Schlosspark waren die Tische mit weißen Damastdecken, Porzellan mit Goldrand, schweren Kristallgläsern und Silberbesteck eingedeckt. Sie setzten sich unter die duftenden Lindenbäume. Stephanie beobachtete, wie die Sonne immer neue, immer längere Licht-Schatten-Gemälde auf dem Kiesboden und den Tischen formte.

Nach dem ersten Gang trank Stephanie mit Ferdinand von Lüninck und Erich Steinmann Bruderschaft. Wie schön die Gläser beim Anstoßen klangen. Jetzt war Freiherr von Lüninck für sie Ferdinand. Insgeheim hatte sie ihn bereits »Baron« getauft. Das passte besser zu seiner affektierten Art. Stephanie regis­trierte seine Gewohnheiten, gluckste innerlich vor Freude, als sie sich vorstellte, wie sie ihn morgen für Laura nachäffen würde. Das würde ihr mühelos gelingen. Immer wieder griff er mit der rechten Hand zum Monokel, drehte es unnötigerweise ein Stück, um es kurz darauf zurückzudrehen. Mit dem Glas auf dem Tisch verfuhr er ähnlich, und das grün-goldene Band, das er als Fux der katholischen Studentenverbindung Aenania schräg über der Brust trug, strich er ein ums andere Mal unnötig glatt.

Nach dem Hauptgang bat der Höchstchargierte der Verbindung die Gäste in den Rittersaal, wo eine Gruppe Musiker zum Tanz aufspielte. Stephanie hatte beim Essen Wein getrunken, sie fühlte sich beschwingt und übermütig. Als der Baron sie zum Walzer aufforderte, zögerte sie daher nicht und tanzte Runde um Runde mit ihm. Heute schien ihr alles möglich. Sie walzte in Ferdinands Armen durch den Saal, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan. Sie wollte nur noch tanzen, tanzen – und malen natürlich, sie wollte nicht denken. Ferdinand war wunderbar, der Weißwein war wunderbar, das Tanzen war wunderbar, nur Laura war aus irgendeinem Grund mit ihr unzufrieden. Stephanie verstand nicht, warum sie grimmig schaute. Alles lief doch genau so, wie Laura ihr das vorher ausgemalt hatte, sogar der Walzer stimmte: Donau so blau, so blau, so blau.

Lange nach Mitternacht begleiteten die Männer die Mädchen nach Hause. Der Baron legte Stephanie seinen Mantel über die Schultern. Sie kuschelte sich ein, summte und kicherte. Beim Aussteigen bekam Stephanie einen Handkuss und einen Schluckauf. Sie gab Ferdinand den Mantel zurück und verschwand gemeinsam mit Laura im Haus. Sie war noch immer aufgedreht, summte die Melodie vor sich hin: Donau, so blau, so blau, hick, so blau. Sie musste wieder kichern. Als sie oben vor der Zimmertür standen, umarmte sie Laura, und Laura nahm sie in ihre Arme und küsste Stephanie zärtlich auf den Mund. Stephanie erwiderte den Kuss, öffnete ihre Lippen für Lauras fordernde Zunge, schmiegte sich an sie, plötzlich ganz nüchtern.

»Du Schöne«, flüsterte Laura und zog Stephanie in ihr Zimmer.

Gegenseitig zogen sie sich die Kleider aus, betrachteten sich. Der Körper von Laura leuchtete im Licht, das der Mond durchs Fenster schickte. Stephanie wollte ihre Brüste anfassen, über den weichen Bauch streichen. Sie ging näher auf sie zu, sie küssten sich, und Laura zog Stephanie auf ihr Bett und hielt inne; hörte auf, Stephanie zu streicheln, aber hielt sie mit beiden Armen fest. Stephanie fühlte sich so sicher in diesen Armen, kuschelte sich an Lauras Schulter – und schlief ein.

5. Glück

Eine weitere Kohlezeichnung, ein weiblicher Akt. Das Mädchen auf dem Bild sitzt auf einer Bank, etwas erhöht, ihre Fußspitzen berühren nur knapp den Boden. Die Beine hält sie eng beisammen, man ahnt das Dreieck ihrer Scham eher, als dass man es sieht. Das Mädchen hält ihre Hände so vors Gesicht, dass die Ellbogen gleichzeitig die Brüste bedecken. Sie zeigt mir nicht, ob sie Lauras kleine Nase hat. Ich habe bei diesem Bild das Gefühl, dass du die Frau gut kanntest, dass du wusstest, dass du nicht mehr zeigen durftest, dass sie dir vertraut hat, als sie für dich Modell saß, darauf vertraut hat, dass sie nicht zu erkennen sein würde. Einen schönen Körper hat dieses Mädchen; er ist schlank, nicht mager, man sieht ihre Weiblichkeit, und gleichzeitig ahnt man, dass er biegsam ist, dass diese Frau sich hingeben kann, dass ihre Scham zu verführen weiß.

Stephanie wachte auf, als Laura sich umdrehte und ihr dabei die Decke wegzog. Draußen zwitscherte ein Rotkehlchen seinen perlenden Gesang, und Stephanie betrachtete im ersten Licht des Tages ihre Freundin. Sie versuchte, mit ihrem schweren Kopf zu verstehen, was genau da vor wenigen Stunden geschehen war. Mit dem Zeigefinger strich sie sanft über den zarten Flaum unter Lauras Ohrläppchen. Ganz weich fühlte sich das an. Stephanie spürte ein Ziehen im unteren Bauch gleich über den Schamhaaren, das sie so nicht kannte, das ihr aber sagte, dass sie Laura weiter streicheln wollte. Ihr Zeigefinger berührte sanft Lauras Lippen, die sie gestern Abend geküsst hatten. Laura wachte auf, lächelte Stephanie an und küsste sie erneut. »Hast du auch so Durst?« Stephanie nickte. Leise standen die beiden Frauen auf, stillten gemeinsam ihren Nachdurst aus dem Wassertrog der Waschschüssel, konnten dabei die Finger nicht voneinander lassen. Stephanie fand Laura wunderschön mit dem schweren Busen, den weiblichen Formen. Sie selbst war schmaler gebaut, knabenhafter mit kleinen festen Brüsten und einem drahtigen Körper. Laura schien genau das zu mögen. Kichernd benutzten sie hintereinander Lauras Nachttopf. Noch immer wirbelten der Champagner und der Wein in Stephanies Kopf alles durcheinander. Laura streichelte sie, ihre Finger und Lippen fanden ihren Weg Stück für Stück weiter nach unten, dorthin, wo Stephanie noch nie von einem anderen Menschen angefasst worden war, sie liebten sich. Es fühlte sich richtig an. Stephanie konnte und wollte nicht klar denken, nicht daran, dass es sicher verboten war, wenn Frauen sich gegenseitig auf diese Weise berührten. Es war so schön, sie wollte sich nicht fragen, was der Pfarrer in Lustenau zu ihr sagen würde, wenn sie das beichten würde. Sie war nicht mehr in Lustenau, sie würde nicht zur Beichte gehen. Sie war hier in München, und neben ihr lag Laura, und das fühlte sich großartig an. Das konnte nicht falsch sein. Lauras Atem wärmte ihren Nacken, und ihre Brüste schmiegten sich an ihren Rücken, und Stephanie wollte nie wieder anders einschlafen.

Sie wachten davon auf, dass ein Besen immer wieder gegen die Zimmertür donnerte. Offenbar waren sie nachts nicht so leise gewesen, wie sie gedacht hatten, und das Donnern war die Rache ihrer Zimmerwirtin. Stephanie dröhnte bei jedem weiteren Stoß der Kopf; sie konnte sehen, dass es Laura ähnlich ging.

»Komm, wir gehen spazieren«, flüsterte Laura. Sie mussten hier raus, mussten über das reden, was passiert war, und darüber, was künftig geschehen sollte.

Sie liefen zum Englischen Garten, schritten weit aus. Die frische Luft und die Bewegung taten ihnen gut. Das Kopfweh schwächte sich ab, und Stephanie hatte das Gefühl, wieder klar zu denken. Sie versuchte, Lauras Hand festzuhalten, doch Laura löste sich von ihr.

»Warte noch, bis wir auf unserer Wiese sind.«

Stephanie konnte es kaum aushalten. Was war da gestern passiert? Was empfand sie für Laura und vor allem: Was empfand Laura für sie? Ihre Freundin blickte so streng, dass Stephanie sie kaum wiedererkannte. Wohin war die zärtliche Laura von letzter Nacht verschwunden? Laura schritt schneller aus, Stephanie konnte kaum mithalten. Als sie auf ihrer Wiese hinter dem Holderbusch standen, waren sie beide außer Atem, standen sich gegenüber.

»Ich liebe dich«, keuchte Laura und küsste Stephanies geschlossenen Mund, wild und fordernd. Sie löste sich, um weiterzusprechen. »Aber das muss unter uns bleiben.«

Stephanie starrte sie an, wusste nicht, was sie sagen sollte.

Laura nahm ihre Hand. »Wenn mein Bruder das mitbekommt, wissen es meine Eltern, und das darf nie passieren.«

Stephanie verstand. Sie sah Laura an. Auch ihre Eltern durften nichts erfahren. Aber wollte sie das? Eine geheime Liebe? Eine Strähne hatte sich aus Lauras hochgebundenem Haar gelöst und hing ihr ins Gesicht. Stephanie nahm sie in die Hand und schob sie Laura zärtlich hinter das Ohr. Und von diesem Moment an war es ihr egal, ob das jemand wissen durfte, es war ihr gleichgültig, was der Pfarrer sagen würde oder ihre Eltern. Sie trat ein Stück näher an Laura heran, küsste sie, ihre Zunge forderte Zugang zu Lauras Mund, wollte zu ihr, in sie, sie umfassen, von außen und von innen.

»Ich liebe dich auch, Lou.« Stephanie und Laura hörten Stimmen anderer Spaziergänger, die langsam näher kamen, und automatisch lösten sich ihre Körper voneinander. Sie blieben stehen, nur ihre Fingerspitzen berührten sich, Stephanie meinte, Lauras Wärme, ihre Energie, ihre Liebe durch diese minimale Berührung wahrzunehmen, mit ihr verbunden zu sein. Sie sahen sich an, und ohne ein Wort zu wechseln, gingen sie weiter Richtung Norden, dorthin, wo weniger Menschen unterwegs waren und sie sich zwischendurch immer wieder kurz spüren konnten.

Laura erklärte ihr, dass sie mit ihrer Neigung nicht allein waren: »Es heißt lesbische Liebe, wenn eine Frau eine Frau liebt. Das kommt aus der griechischen Antike von der Insel Lesbos.« Jetzt war Laura wieder ganz Lehrerin, Stephanie liebte sie dafür, dass sie Dinge, die sie selbst nur diffus fühlte, benennen konnte, dass sie ihrer Liebe einen Namen geben konnte, dass sie eine Geschichte hatte.

»Dort gab es eine Dichterin, die hieß Sappho, und die hat Gedichte über die Liebe zwischen Frauen geschrieben. Das gab es also schon immer und ist ganz normal.«

Stephanie atmete auf, »ganz normal«, nur sie hatte bisher nicht gewusst, dass es das überhaupt gab.

Laura streichelte zärtlich über Stephanies Kinn. »Und es fühlt sich so schön an.«

Stephanie öffnete ihre Lippen und biss sanft in Lauras Finger.

»Ja, das tut es.« Stephanie schloss die Augen.

»Aber es ist verboten, also nicht wirklich, im Gesetz ist nur die Liebe zwischen zwei Männern verboten, zu Frauen steht da nichts, aber es darf trotzdem niemand wissen.«

»Warum?«, fragte Stephanie, obwohl sie die Antwort wusste. Sie kannte – außer Laura – keine Frau, ob in Lustenau oder in München, die eine andere Frau liebte; sie kannte auch keinen Mann, der einen anderen Mann liebte. So etwas gab es nicht in ihrer Heimat. So etwas hatte bis zum gestrigen Abend keinen Platz gehabt in ihren Gedanken. Doch jetzt war die Idee dieser Liebe da, und Stephanie wusste, dass sie nicht mehr verschwinden würde. Sie wollte Lauras Haut spüren und Lauras Hände auf ihrem Körper. Noch nie hatte sie sich das bei einem Mann gewünscht. Jetzt wollte sie es.