Die vergessene Generation - Sabine Bode - E-Book
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Die vergessene Generation E-Book

Sabine Bode

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Beschreibung

Noch nie hat es in Deutschland eine Generation gegeben, der es so gut ging wie den heute 60- bis 75jährigen. Doch man weiß wenig über sie, man redet nicht über sie - eine unauffällige Generation. Jetzt beginnen sie zu reden, nach langen Jahren des Schweigens. Die Kriegskindergeneration ist im Ruhestand, die eigenen Kinder sind längst aus dem Haus. Bei vielen kommen jetzt die Erinnerungen allmählich hervor und mit ihnen auch Ängste, manchmal sogar die unverarbeiteten Kriegserlebnisse. Sie wollen nun über sich selbst nachdenken und sprechen. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von einer "verschwiegenen, unentdeckten Welt". Mit den Holocaust-Opfern habe man sich eingehend beschäftigt, mit der Kriegskindergeneration nie. Ihnen wurde gesagt: "Sei froh, daß du überhaupt überlebt hast. Vergiß alles und schau lieber nach vorne!" Sie haben den Bombenkrieg miterlebt oder die Vertreibung, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen. Diese Erinnerungen haben sie bislang in sich verschlossen gehalten, sie trösteten sich mit der Einstellung: "Andere haben es noch viel schlimmer gehabt als wir." So wurde eine ganze Generation geprägt: Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören - und man konnte kein Brot wegwerfen.

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Sabine Bode

Die vergessene Generation

Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Mit einem Nachwort von Luise Reddemann

Klett-Cotta

Impressum

Dieser Text beruht auf der erweiterten und aktualisierten Ausgabe aus dem Jahr 2011.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2004, 2011, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © ullstein bild

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96487-5

E-Book ISBN 978-3-608-10504-9

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung zur erweiterten und aktualisierten Ausgabe

Die Erinnerungsarbeit einer vergessenen Generation

Dank

Erstes Kapitel

Millionen Kriegskinder unter uns

Was der Kalte Krieg verhinderte

Ein erhellendes Seminar

Nazivergangenheit

und

Kriegsvergangenheit

Eine tüchtige Generation

Phantasiediagnose »vegetative Dystonie«

Wo sind die Erinnerungen?

»Wir haben jahrelang im Keller gesessen«

Als der Krieg aus war, kam die Lebensangst

Zweites Kapitel

Was Kinder gebraucht hätten …

Ein behutsamer alter Mann

Kinder ohne Väter

Die Not und die Wut der Heimkehrer

Diagnose »Dystrophie«

Früher Ratgeber »Flüchtlingskinder«

Drittes Kapitel

»Eine verschwiegene, unentdeckte Welt«

Als Deutschland hungerte

Forschen, Messen, Wiegen

»Heute dümmer als früher?«

Was Schelsky herausfand

Verspätete Kriegsfolgen in der Pubertät

Eine Generation, die nicht interessierte

Viertes Kapitel

Zwei Frauen ziehen Bilanz

Die Sehnsucht, es möge nie wieder Krieg geben

Großmutter und Enkeltochter

Vom Hunger geprägt

Ständig im Hilfseinsatz, wenig Schlaf

Und immer wieder Überleben

Panik bei Mückenstichen

Eine minimale Rente

Ein Traum, der heilte

Fünftes Kapitel

Das fröhliche Kind

Eine kleine Preußin erträgt alles

Der Hunger und das Vergessen

Die Rolle der Psychoanalyse

Wenn das Herz verrückt spielt

Sonnenschein und Spaßvogel

Bombenstimmung!

Sechstes Kapitel

Ein ganzes Volk in Bewegung

Die verlorene Heimat als Fixpunkt

Auf der Flucht geboren

Der Mutter immer dankbar sein …

Halb Deutschland unterwegs

Ahnungslose Dorfbevölkerung

Harte Verteilungskämpfe

Eine couragierte Zwölfjährige

»Schreckliches – aber auch viel Schönes«

Ins Bett, weil das Zimmer so eisig war

Zu Fuß von Thüringen ins Ruhrgebiet

Ein letzter Brief

Siebtes Kapitel

Kriegswaise: Die Suche nach der Erinnerung

Kinder, die verloren gingen

Ein Lager in Dänemark

Neuer Start in der Bundeswehr

Eine deutsch-deutsche Geschichte

Mutter und Großmutter verhungerten

Eine fürsorgliche Tochter

Mit kleinem Gepäck allein in den Westen

Achtes Kapitel

Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter

Die Schule der Johanna Haarer

»Wehret den Anfängen!«

»Das Kind nicht riechen können«

Streit mit der Nazimutter

Wie Wölfchen seine Lebensfreude verlor

Auch Mädchen weinen nicht!

Neuntes Kapitel

»Aber recht, recht lieb wollen wir sein …«

Wenn Kinder zu Freiwild werden

Ein Volk von Zerlumpten und Bettlern

Ein Gott, der alles rechtfertigt

Bußrituale für Heimkehrer

Sterben wollen und in den Himmel kommen

»Ich habe keine Eltern mehr«

Ausbruch und Neubeginn

Stress macht sie vergesslich

»Sucht euch Ersatzeltern!«

Zehntes Kapitel

Das Trauma, der Krieg und die Hirnforschung

Eine persönliche Katastrophe

Es begann mit der Eisenbahn

Gerichtsmediziner schlugen Alarm

Massentod in den Schützengräben

Traumaforschung weltweit

Was Kinder instinktiv wissen

Wissen Therapeuten genug?

Das Fehlen der Worte

Elftes Kapitel

Die große Betäubung

Nach einem Bombenangriff

Ein heikler Schritt

Werbung für die »Tablettchen«

Beim Angriff die Finger in den Ohren

Tabletten gegen die Todesangst

Mit einer Behinderung leben

Zwölftes Kapitel

»Als alter Mann werde ich glücklich sein«

Zwei Kindheiten: Hanno und Kaspar

Ein Sohn, der die Bühne liebt

Die Kriegsschrecken der Eltern geerbt

Vater und Sohn – wie zwei Veteranen

Eine schizoide Episode

Das Ende der Zärtlichkeit

Heilung ist möglich

Dreizehntes Kapitel

Trostlose Familien

Ein Abschiedslied ohne Trauer

Eltern und Kinder sind sich fremd geblieben

Das große Desinteresse

»Kollektive Geheimnisse«

Eltern, die vor allem Neuen zurückschrecken

Zwei Flüchtlingskinder

Ein Steinmetz wirft die Brocken hin

»Wir sind eine heile Familie!«

Verluste werden nicht betrauert

Vierzehntes Kapitel

Ein Plädoyer für Vernunft und Trauer

Wie der Kriegsschrecken gedenken?

Nicht jammern – trauern!

Die Auswirkungen einer großen Rede

Die Befreiung durch eine Trauerfeier

Ein Ritual entfaltet seine Wirkung

Die Störung eines Gottesdienstes

»Eine traumatische Kultur«

Wenn Überleben eine gemeinsame Identität stiftet

»Was haben wir mit unserer Wut gemacht?«

Mit dem Schicksal Frieden schließen

Fünfzehntes Kapitel

Vom Schweigen, Sprechen und Verstehen

Im Gespräch mit Kriegskindern

Jüngere und ältere Geschwister

Vaterlos, kinderlos

Reise zum Mittelpunkt der Angst

»Ich konnte meine Kinder nicht lieben«

Kriegsenkel

Die Kriegskinder und die mediale Öffentlichkeit

Der Deutschland-Reflex

»Kriegskinder für den Frieden«

Nachwort

von Luise Reddemann aus dem Jahr 2004

Für Georg

Einführung zur erweiterten und aktualisierten Ausgabe

Die Erinnerungsarbeit einer vergessenen Generation

Erst vor wenigen Jahren ging in Deutschland eine Zeit zu Ende, in der den Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge der Gedanke noch völlig fremd war, sie hätten als Generation ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel äußerst selten, und noch seltener sprach ihn jemand unbefangen aus.

Als dieses Buch 2004 erschien, waren die Spätfolgen des Krieges in der deutschen Bevölkerung noch nicht erforscht. Der Begriff »Trauma« wurde im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Opfern des Nationalsozialismus genannt. Ein öffentliches Interesse am Thema »deutsche Kriegskinder« existierte nicht. Es erwachte erst im April 2005, ausgelöst durch den ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt am Main. Hatten sich die öffentlichen Medien bis dahin überwiegend auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus konzentriert, wurden nun dem Themenkomplex »deutsche Vergangenheit« die Schrecken von Bombenkrieg und Vertreibung aus Kindersicht hinzugefügt.

An Zeitzeugen herrschte kein Mangel. Jahrzehntelang hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt oder auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was dabei sichtbar wurde: Natürlich hat die Begegnung mit Kriegsgewalt und Heimatverlust im späteren Leben Folgen, auch wenn die Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert werden.

Erst jetzt, im Alter, werden sich viele dessen bewusst und fangen an, sich Fragen zu stellen. Häufig setzen sie sich damit auseinander, indem sie ihre Kindheitserinnerungen aufschreiben. Unzählige ältere Menschen sind derzeit damit beschäftigt. Viele ihrer Generation haben das Gefühl, sie müssen es tun, denn im Alter fällt das Verdrängen immer schwerer. Es ist daher nicht übertrieben, von einem Erinnerungsboom zu reden.

Als »Die vergessene Generation« vor sieben Jahren erschien, gab es, wie gesagt noch kein öffentliches Bewusstsein für die Thematik »Kriegskinder« und keine nennenswerte Forschung. Das ist jetzt anders. Studien kommen zum Ergebniss: 8 bis 10 Prozent der Menschen, die als Kinder Krieg und Vertreibung erlebten, sind heute – im Alter – psychisch krank. Sie leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Gegensatz dazu Vergleichszahlen der Schweiz: Hier sind in den Jahrgängen der Rentner und Ruheständler nur 0,7 Prozent betroffen.

Nun sind die Kriegskindheitserfahrungen sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren und sind die Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. So gibt es noch weitere 25 Prozent ältere Deutsche, bei denen sich die Spätfolgen zwar weniger gravierend, aber immer noch deutlich zeigen. Sie sind, wie es der Arzt und Traumaforscher Michael Ermann von der Universität München formulierte, »in ihrer psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt«. Man kann es auch anders ausdrücken: Viele ältere Menschen sind tief verunsichert, und daher lassen sie sich nicht gern durch neue Erfahrungen, auch nicht durch neue Gedanken irritieren. Der Kontakt zur Welt der Jüngeren ist daher eingeschränkt und ihre Beziehungen sind wenig emotional. Veränderte Lebensumstände setzen sie enorm unter Stress. Weitere Auffälligkeiten sind Schwarz-Weiß-Denken und ein extrem hohes Bedürfnis nach materieller Sicherheit.

Die Forschung hat herausgefunden, dass bei Menschen, die sich nicht von ihren Traumata erholt haben, der Cortisolspiegel zu niedrig ist. Daher ihre Anfälligkeit für Stress. Luftangriffe, Tiefflieger, der Verlust von Angehörigen, Vertreibung und Hunger – dies alles hat körperliche und seelische Auswirkungen.

Man kann also sagen: Ein Drittel jener Menschen, die ihre Kindheit oder Jugend im Krieg verbrachten – in etwa die Jahrgänge von 1930 bis 1945 –, ist noch heute von den Spätfolgen belastet. Je kleiner die Kinder waren, als die Katastrophe über sie hereinbrach, umso gravierender die Spätfolgen. In der Altersgruppe derer, die in den Vierzigerjahren geboren wurden und sich daher kaum oder gar nicht an das Kriegsgeschehen erinnern können, werden heute die größten Beeinträchtigungen sichtbar. Viele Menschen klagen über psychosomatische Beschwerden, vor allem über immer wiederkehrende Depressionen, unerklärliche Schmerzen oder Panikattacken. Da ihre Ängste nicht von Bildern der Kriegsschrecken begleitet werden und es auch in ihren Träumen keinerlei Hinweise dazu gibt, kamen sie bis vor Kurzem nicht auf die Idee, sie könnten durch Kriegserlebnisse belastet sein, und ihre Symptome blieben für die Ärzte rätselhaft. Heute hat sich in der Medizin herumgesprochen, dass ein nicht unerheblicher Teil der älteren Patienten unter Kriegstraumata leidet. Noch sind die Hilfsangebote für diese Kranken nicht ausreichend, aber es wächst die Aufmerksamkeit für die Hintergründe ihrer Beschwerden, vor allem auch in der Altenpflege.

Seit Mitte der Neunzigerjahre beschäftigt mich die Problematik der Kriegskinder. Dass ich als Journalistin über so viele Jahre von einem Thema gefesselt war, hatte ich vorher noch nicht erlebt. Ausschlaggebend für das, was später mein Lebensthema werden sollte, war ein Krieg, der Deutschland geografisch sehr nahe rückte. Anfangs sprach man noch gar nicht von einem Krieg, sondern von einem Konflikt – dem Bosnienkonflikt. Weil im Fernsehen dem Leid der Kinder viel Sendezeit gewidmet wurde, wuchsen in mir Fragen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Wie haben sie ihre frühen Erfahrungen mit Gewalt, Bomben, Flucht, Hunger und Tod in der Familie verkraftet? In welchem Ausmaß blieb das spätere Leben davon geprägt?

Das Verblüffende war, dass sich außer mir kaum jemand dafür zu interessieren schien. Weder die Kriegskinder selbst noch Ärzte, Psychotherapeuten, Seelsorger, Redakteure. In Deutschland, so kam es mir vor, hatte man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die Kinder des Krieges gut davongekommen waren.

Im Archiv des WDR fand ich dazu keine Fakten, keine Zahlen, keine nennenswerten Untersuchungen. Also fragte ich die Betroffenen selbst. Tatsächlich nutzte ich dazu jede Gelegenheit, auch zufällige Begegnungen, in der Bahn zum Beispiel. Gelegentlich kam es zu heftigen Reaktionen wie: »Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!« Ich verstand, dass ich meinem Gegenüber manchmal zu nahe getreten war.

Die meisten Angesprochenen wollten nur über die NS-Vergangenheit und den Holocaust reden – darüber, wie sehr sie das heute noch belaste und wie sie als Pfarrer, als Lehrerin, als Eltern die Erinnerung daran wachgehalten und an die Jüngeren weitergegeben hätten. Wenn ich sie dann erneut auf mein Thema ansprach, wurden einige ärgerlich und unterstellten mir, ich wollte »die Deutschen« als Opfer stilisieren.

Fazit meiner Gespräche im ersten Jahr: An Kriegserinnerungen war noch heranzukommen, aber die Frage nach den Kriegsfolgen wurde so gut wie nie beantwortet. Am häufigsten hörte ich Sätze wie: »Andere haben es schlimmer gehabt« oder »Es hat uns nicht geschadet« oder »Das war für uns normal.« Finale Sätze. Ende des Gesprächs. Es ging mir nicht besonders gut in diesem Jahr. Mich haben die Begegnungen häufig verwirrt, ich geriet in einen inneren Zwiespalt. Einerseits sagte ich mir, dass die Deutschen ja wohl kaum so viel für Kinder in Kriegsgebieten spenden würden, wenn sie nicht um deren Traumatisierungen wüssten. Andererseits: Sie waren sich so einig, diese Kriegskinder, und ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas vorgemacht wurde.

Nur gelegentlich kam es zu längeren Gesprächen, und rückblickend kann ich meine Erfahrungen der ersten Jahre mit dem Satz zusammenfassen: Je mehr Menschen ich fragte, desto unklarer wurde das Bild. Nach meinen Interviews war ich oft ratlos, ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und war körperlich sehr erschöpft. Wenn ich mit Freunden darüber sprach, hörte ich: »Was beschäftigst du dich auch mit so einem dunklen Thema?«

Aber daran allein konnte es nicht liegen. Ich habe Erfahrung mit unbequemen Fragestellungen – Nazizeit, Holocaust, psychische Erkrankungen, Kindstod –, aber eine vergleichbar niederdrückende Stimmung und Konfusion hatte ich noch nie erlebt.

Die Verwirrung ging schon damit los, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich begriff, dass es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind, ob vor oder nach der Pubertät.

Natürlich hätte ich auch eine andere Zeitspanne wählen können, zum Beispiel von 1928 bis 1950, aber ich entschied mich, vor allem um die Arbeit überschaubar zu halten, für jene 15 Jahrgänge, von der Flakhelfergeneration bis zu jenen Kindern, die auf der Flucht geboren wurden. Gerade diese beiden Pole machen deutlich, dass es nicht um eine, sondern um mehrere Generationen geht.

Und dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten in den Aussagen über die Kriegszeit und die schweren Jahre danach. Zum Beispiel der Satz: »Es war nie langweilig«. Und: »Was wir damals erlebt haben, war für uns normal.« Soll heißen: »Wir haben das, was der Krieg mit sich brachte, als normal empfunden, zumal es ja allen Familien ringsum genauso ging, und wir haben uns in unserem Alltag so wenig wie möglich vom Krieg stören lassen.«

Nun ist ja bekannt, dass kleine Kinder auch extreme Lebensumstände so hinnehmen, wie sie sind. Romanautoren haben sich immer wieder davon inspirieren lassen, dass solche Prägungen ihre eigene Dynamik entwickeln. Ein Kind, das in einem Bordell aufwächst, wird das als völlig normal empfinden, bis es mit den Normen der Außenwelt in Kontakt kommt. Wenn dann aus dem Kind ein reflektierender Erwachsener geworden ist, wird er ein Bewusstsein davon entwickeln, welche Spuren eine solche Kindheit bei ihm hinterlassen hat.

Bei meinen Gesprächspartnern war das in der Regel anders. Sie wollten nur von ihren Kindheitserinnerungen erzählen, die sie gern mit dem Satz einleiteten: »Wir haben in dieser Zeit auch viel Schönes erlebt.« Selbst im Nachhinein fehlte der Mehrzahl der Betroffenen das angemessene Gefühl für das, was sie an Schrecken erfahren hatten. Dass das Haus der Lieblingstante, in dem man so viel Schönes erlebt hatte, von Bomben komplett zerstört worden war, das erwähnte ein Mann nur beiläufig; bei mir kam es so an wie: nichts Besonderes, so was hat man eben weggesteckt. Sprach ich meine Interviewpartner darauf an, dann stellte sich heraus, dass sie auch das Festhalten an eigentlich nicht adäquaten Gefühlen – bis hin zur Gefühllosigkeit – heute noch »ganz normal« finden.

Ein zähes Thema, nicht nur für die Befragten. Wenn ich es Zeitungs- oder Fernsehredakteuren anbot, die selbst der Kriegskindergeneration angehörten, stieß ich auf fast einhellige Ablehnung. Genauer gesagt, in den meisten Fällen kam überhaupt keine Reaktion. Meine Exposés wurden offenbar zur Seite gelegt und dann vergessen. Das kannte ich noch nicht, dass ein Themenvorschlag so viel Schweigen auszulösen vermochte.

Oberflächlich sah es so aus, als habe man die Frage »Wie hat sich die Kriegskindheit auf das weitere Leben ausgewirkt?« einfach für unwichtig gehalten. Doch schließlich wurde mir klar: Das zugrunde liegende Thema beunruhigt uns Deutsche weit mehr, als ich angenommen hatte. Die Antworten liegen unter der Last von Schuld und Scham begraben, als Folgen der Naziverbrechen, des Holocaust.

Warum mich das Thema nicht losgelassen hat? Ich glaube, dies hat nun wiederum mit meiner eigenen Generation zu tun, mit den kurz nach dem Krieg Geborenen. Ich habe als Kleinkind das zerstörte Köln gesehen. So, wie die Erwachsenen darauf reagierten, war es klar, dass das Wort »Krieg« etwas Schlimmes bedeutete. Ich glaube also, dass ich in einem Alter eine Ahnung von Vergangenheit bekam, in dem man üblicherweise nur in der Gegenwart lebt und das Vergangene noch gar keine Kategorie ist. Das Vergangene war allgegenwärtig und trotzdem ein geheimnisvolles Tabu. Als Jugendliche entwickelte ich dann eine konkrete Neugier. In der Schule erfuhren wir von den Naziverbrechen, von Auschwitz; die Eltern reagierten auf meine Fragen mit Ärger oder Schweigen.

Als ich dann dreißig Jahre später beim Thema Kriegskinder ähnliche Erfahrungen machte, wieder in verhärtete Gesichter blickte, wusste ich, dass ich auf etwas gestoßen war. Wieder wurden meine Fragen abgewehrt. Wieder wurde mir bedeutet, dass ich keine Ahnung hätte. Wahrscheinlich gibt es für meine Neugier nichts Stimulierenderes als kollektive Geheimnisse.

Während ich an diesem Buch schrieb, geschah etwas Unerwartetes: Günter Grass veröffentlichte 2002 seine Novelle »Im Krebsgang« und löste damit in deutschen wie in ausländischen Zeitungen einen Diskurs über die heikle Thematik »Die Deutschen als Opfer« aus. Befürchtet wurde eine Relativierung der deutschen Schuld. Gewarnt wurde vor einer Aufrechnung von Opfern der NS-Verbrechen, des Holocaust, mit den deutschen Opfern von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung.

Günter Grass befand in seinem Buch, er habe zu lange geschwiegen, und lenkte die Aufmerksamkeit auf die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung. Ein Zitat macht die Hintergründe seiner Sinneswandlung deutlich: Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos …

Anfang 2002 widmete »Der Spiegel« dem »Krebsgang« vor dem Hintergrund des Themas Flucht und Vertreibung eine Titelgeschichte. Darin stand, was dem Tenor in fast allen großen Zeitungen entsprach: dass über die Folgen der Nazizeit und des Krieges noch einmal gründlich nachgedacht werden müsse. Als ich den »Spiegel«-Titel las, wusste ich: Das ist der Wendepunkt. Jetzt ändert sich etwas. Jetzt kommt auch das Thema »deutsche Kriegskinder« endlich an die Öffentlichkeit, schon deshalb, weil sie die letzten lebenden Zeitzeugen sind.

Mit der Veröffentlichung der Grass-Novelle sowie des ebenfalls 2002 erschienenen Buches »Der Brand« von Jörg Friedrich wurden eine heftige Diskussion und vor allem eine gigantische Erinnerungswelle ausgelöst, die bis heute anhält. Dabei von einem Tabubruch zu reden wäre wohl übertrieben. Aber ganz sicher handelt es sich um einen Dammbruch, weshalb die Flut der Erinnerungen nun auch bei den Kriegskindern nicht mehr zurückzudrängen ist. Für sie ist es häufig das erste Mal, dass sie darüber reden – vorher hatte ja keiner danach gefragt.

In meinem Buch steht die Sicht der Betroffenen im Vordergrund. Ich habe sehr viele Stimmen gesammelt, aber meine Auswahl beschränkt sich auf Lebensläufe, die stark vom Krieg geprägt wurden (wobei alle Namen mit Sternchen geändert worden sind). So haben mich vor allem jene Frauen und Männer interessiert, die zwar wussten, aber bis vor Kurzem überhaupt nicht empfanden, dass in ihrer Kindheit etwas Besonderes oder gar etwas besonders Schreckliches vorgegangen war.

Dass die Katastrophe des Luftkriegs in Deutschland weit weniger öffentliches Thema war als das der Vertreibung, mag erklären, warum in diesem Buch mehr von den Überlebenden des Bombenkriegs die Rede ist als von Flüchtlings- und Vertriebenenschicksalen.

Beim Abfassen der veröffentlichten Lebensgeschichten aus der Kriegskindergeneration war mir klar, dass die Erinnerungen und die damalige Realität nicht immer deckungsgleich sind. Vieles konnte ich nicht überprüfen, weil mir andere Quellen fehlten. Unvermeidbar auch, dass es mir, der Nachgeborenen, hin und wieder an Zweifeln mangelte, dass ich also bestimmte Behauptungen hinnahm, weil ich nie etwas Abweichendes gehört hatte. Bei Unkorrektheiten bitte ich um die Nachsicht derer, die es als Zeitzeugen und Historiker besser wissen.

Bildung, beruflicher Erfolg und eine robuste Gesundheit erweisen sich als enorm hilfreich, wenn es darum geht, frühes Leid zu kompensieren. Daher begab ich mich auf die Suche nach den weniger begünstigten Zeitzeugen und erkundigte mich bei Ärzten und bei Krankenkassen. Ich hoffte, es gäbe vielleicht Statistiken über den Gesundheitszustand der Jahrgänge 1930 bis 1945. Fehlanzeige. Dann schaute ich noch einmal gezielt zwei Ordner mit Post durch: 600 Hörer hatten auf meine nicht gerade zahlreichen Sendungen zum Thema »Kriegskinder« geschrieben. Die meisten von ihnen beließen es bei einer Bitte um das Manuskript. Etwa 20 Prozent hatten hinzugefügt, warum diese Sendung sie persönlich so betroffen hatte. Das alles war aufschlussreich und unterstützend, führte mich aber auch nicht zu der Gruppe der Unsichtbaren, von deren Existenz ich nach wie vor überzeugt bin.

Sie kommen also wieder zu kurz, hier in diesem Buch – wie übrigens auch diejenigen, die in der DDR lebten. Der Hauptgrund ist, dass ich als Kölnerin am westlichen Rand der Republik wohne und meine Kontakte mit Ostdeutschland entsprechend dünn sind. Meine Beiträge über die Kriegskindergeneration wurden fast ausschließlich in Westdeutschland gesendet. In der Hörerpost waren folglich kaum Briefe aus Ostdeutschland, die mir bei meinen Recherchen hätten weiterhelfen können. Das bedauere ich, denn mir ist bewusst, dass es in der DDR vor allem die Vertriebenen besonders schwer hatten. Sie mussten sich »Umsiedler« nennen und über ihr Schicksal schweigen. In den meisten Vertriebenenfamilien ist das Tabu immer noch wirksam – auch zwanzig Jahre nach der Wende.

Doch auch dies wird sich noch ändern, dafür sorgen nicht zuletzt die neuen Medien.

Seit ich über das Thema »Kriegskinder« Beiträge im Internet veröffentliche, erreichen mich ständig E-Mails, auch aus Österreich, wo die Kinder des Krieges offenbar einem ähnlich großen Schweigen ausgesetzt waren wie hierzulande. Besonders überrascht haben mich aber die Briefe von Auslandsdeutschen. Ihr Tenor: Da lebe ich so viele Tausend Kilometer von Deutschland entfernt, aber der Krieg holt mich immer wieder in meinen Träumen ein.

Seit sechs Jahren treffe ich bei Lesungen auf Kriegskinder und werde regelmäßig Zeugin davon, wie emotionale Schranken plötzlich überwunden werden. Konflikte zwischen Kriegskindern und ihren Kindern, die oftmals bei den Lesungen dabei sind, brechen auf. Familien finden Worte für das, was bisher im Unterbewusstsein der Kriegskinder rumorte und ganze Generationen verstummen ließ. Solche Begegnungen waren ausschlaggebend dafür, die »Vergessene Generation« um ein Kapitel zu erweitern. Sie zeigen, wie aktuell das Thema nach wie vor ist.

Die Medien lassen das Thema nicht ruhen. Mit unzähligen Beiträgen halten sie das Interesse wach, Tendenz steigend. Das lässt hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch jene Regionen ausgeleuchtet sein werden, die heute noch im Dunkeln liegen. Noch nie waren Vertreibung und Luftkrieg im deutschen Bewusstsein so lebendig wie heute. Als »Die vergessene Generation« 2004 erschien, lautete der letzte Satz der Einführung: »Wir stehen erst am Anfang.«

Das hat sich gründlich geändert.

Wir stehen nicht mehr am Anfang.

Dank

Mein ganz besonderer Dank geht an die »Kriegskinder« und deren Kinder, die mir ihre Lebensgeschichten anvertrauten. Ohne ihre Offenheit hätte ich nie erfahren, wie es in ihrer so lange verschwiegenen Welt aussieht. Darüber hinaus möchte ich Luise Reddemann für ihr Nachwort danken und weil sie mir bei meinen Recherchen den Rücken stärkte. Dankbar bin ich auch Axel Becker, Heinz Beyer, Theo Dierkes, Peter Heinl, Curt Hondrich, Bernward Kalbhenn, Peter Liebermann, Ralph Ludwig, Christa Pfeiler-Iwohn, Fritz Roth, Dierk Schäfer, Joachim Schmidt von Schwind, Helga Spranger, Irene Wielpütz. Sie alle halfen mir durch Ermutigung und Austausch, durch Anregungen oder die Chancen der Veröffentlichung und ihre Bereitschaft, sich immer wieder mit einem schwierigen Thema zu beschäftigen.

Erstes Kapitel

Millionen Kriegskinder unter uns

Was der Kalte Krieg verhinderte

Je länger der Berliner Mauerfall zurückliegt, desto deutlicher wird, dass die Nachkriegszeit in Deutschland erst 1989 zu Ende gegangen ist. Durch die Wiedervereinigung wurden die letzten politischen Kriegsfolgen beseitigt und – wie sich dann einige Jahre später zeigte – Raum geschaffen für gesellschaftliche Themen, die durch das Klima des Kalten Krieges nicht an die Oberfläche gedrungen waren.

Das jeweilige Auftreten der Ideologie West gegen Ideologie Ost und umgekehrt war so selbstgerecht und laut und so sehr auf Einschüchterung programmiert, dass Nachdenklichkeit, feine Schattierungen und leise Töne davon regelrecht aufgesaugt wurden. In der deutschen Bevölkerung, im Westen wie im Osten, hatte die Hochrüstung über die Jahre neue Ängste ausgelöst – vermutlich wurden auch deshalb die kollektiven Bedrohungsgefühle, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, nicht wirklich wahrgenommen und verarbeitet. Man kann sagen: Über fünf Jahrzehnte wurde in beiden deutschen Staaten wenig über die seelische Hinterlassenschaft des Krieges nachgedacht. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Bundesrepublik von Lebensängsten geplagt wurde, der galt, je nach seiner sozialen Umgebung, als neurotisch oder als ein sensibler Zeitgenosse, der den Rüstungswahn der beiden Blöcke einfach nicht länger verdrängen konnte. In der DDR gab die SED die stramme Richtung vor, dass die Bürger gut daran täten, an die »unbesiegbare Sowjetmacht« zu glauben, denn dann gebe es auch keinen Grund, sich zu fürchten.

Auf dem Höhepunkt einer Diskussion in Köln um den sogenannten NATO-Doppelbeschluss rief eine Hausfrau ins Mikrofon: »Heutzutage kann doch schon eine Fluse im Computer den Dritten Weltkrieg auslösen!« Eine absurde Übertreibung? Die Informationen, über die wir heute verfügen, geben der Frau im Nachhinein recht. Hätte ein falscher Alarm den Befehl für einen Atombombeneinsatz ausgelöst, wären noch genau zwanzig Minuten Zeit geblieben, um die Lage einzuschätzen und den GAU zu verhindern.

Ich selbst gehöre jenem Teil der Nachkriegsgeneration an, der sich, je nachdem, welches politische Thema gerade Konjunktur hatte, zwischen »Nie wieder Krieg!« und »Nie wieder Auschwitz!« bewegte. Dass wir die Kinder des Kalten Krieges gewesen waren, wurde mir erst nach und nach bewusst, als diese Epoche endgültig vorbei war: die Einäugigkeit der Argumentation, die blinden Flecken, nicht mehr und nicht weniger als beim Rest der Gesellschaft. Zum Beispiel kann ich mich nicht erinnern, dass in der christlich geprägten Friedensgruppe, der ich einmal angehörte, jemals in Betracht gezogen wurde, ob vielleicht der Furcht »vor dem Russen« auch eine traumatische Erfahrung zugrunde lag.

Ein erhellendes Seminar

Anfang der Neunzigerjahre änderte sich meine Sichtweise. Damals besuchte ich ein sehr erhellendes Seminar, und plötzlich erinnerte ich mich an eine extrem aufgeregte Frauenstimme, die ich zehn Jahre zuvor im Radio hatte sagen hören: »Ich würde alles tun, um mich vor dem Russen zu schützen. Ich würde sogar eine Rakete in meinen Vorgarten stellen!«

In diesem Seminar ging es darum, aus Anlass der Wiedervereinigung die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte genauer zu betrachten. Ich war nicht die Einzige, die befürchtete, die Nähe der eigenen Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus wäre größer gewesen, als sie stets behauptet hatten. Was sich dann auch im Laufe der viertägigen Veranstaltung bestätigte.

Zur Vorbereitung hatten wir Familienforschung betrieben, das heißt alle Daten und Fakten zusammengetragen, die von 1930 bis 1950 innerhalb der engeren Verwandtschaft bestimmend gewesen waren: Geburt, Krankheit, Tod, Umzüge, Berufswechsel, Fronteinsätze, Verwundungen und so weiter. Alle Teilnehmer zeigten sich erstaunt über die Tatsache, wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen, dass wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern in der Nazizeit recht gut Bescheid wussten, aber emotional und faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien angerichtet hatte.

Einige Seminarteilnehmer hatten ihn noch als Kinder miterlebt. Aber auch für die später Geborenen wurde deutlich, dass der Krieg eine bestimmende Komponente in ihrer Biografie war, zum Beispiel dann, wenn die Eltern durch Flucht, Hunger, Bomben oder den Verlust von Angehörigen traumatisiert waren. Alle zwölf Teilnehmer wussten von mindestens einem Fall von Gewalt in der Familie. Die Stichworte hießen: ausgebombt, verschüttet, gefallen, vermisst, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Selbstmord. Die Zahl der Toten in der engeren Verwandtschaft, die auf das Konto Krieg ging, war jedenfalls größer als die Zahl der Teilnehmer. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie ganz durchschnittliche deutsche Familien repräsentierten und dass es sich nicht um eine extrem heimgesuchte Gruppe handelte.

Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit

Am dritten Tag hatte sich die Veranstaltung zu einem Trauerseminar entwickelt. Es wurde unendlich geweint. Zu erschütternd war das, was nach fünfzig Jahren ans Tageslicht kam. Seitdem ist mir klar, dass wir Deutschen eine Nazivergangenheit und eine Kriegsvergangenheit haben. Über die eine wird inzwischen offen gesprochen, bei der anderen fängt der Austausch gerade erst an. Noch sind die Kinder dieses Krieges zurückhaltend. Noch wollen sie, dass ihre Geschichte anonymisiert veröffentlicht wird.

Natürlich hat die Trennung zwischen Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit etwas Künstliches, aber ich glaube, wir können darauf nicht verzichten, weil das Schicksal der Kriegskinder fast sechzig Jahre lang von den Verbrechen der Nazis verschattet wurde. Die Kindergeneration litt – weit mehr als die ihrer Eltern – darunter, dass sie jenem Volk angehörte, das Hitler an die Macht gebracht hatte. Scham und Schweigen erschwerten den Zugang zu den eigenen seelischen Verletzungen durch Gewalt und Verluste. Den meisten ehemaligen Kriegskindern liegt es völlig fern, sich selbst als Opfer zu sehen, auch dann, wenn sie ein oder zwei Jahre lang im Luftschutzkeller gehockt haben.

Wir stehen gerade am Anfang eines gesellschaftlichen Prozesses, der darauf hinweist, dass die in den Sechzigerjahren von Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« bis heute nachwirkt und dass sie sich nicht nur auf die Nazizeit, sondern auch auf die Kriegsfolgen bezieht.

Wenn ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis nach langer Zeit wiedersehe, werde ich oft gefragt: »Woran arbeitest du gerade?« Um Missverständnissen vorzubeugen, was mir aber meistens nicht gelingt, beschreibe ich das heikle Thema immer bewusst ausführlich: »Es geht um die Frage, wie sich der Zweite Weltkrieg auf das Leben derjenigen Deutschen ausgewirkt hat, die damals Kinder waren.«

Typisch war die Reaktion eines Lehrers. Er sprudelte los, er habe gerade wieder einmal seine Schüler mit Anne Frank und den Geschwistern Scholl vertraut gemacht. Man müsse sich als Pädagoge für die Vermittlung der Nazivergangenheit viel Zeit nehmen.

Schließlich, als der Lehrer das eigentliche Thema erfasst hatte, ging er zum Angriff über: Wie ich darauf käme, Kriegszeit und Nazizeit zu trennen? Das sei doch unmöglich! Ob ich etwa die Seiten gewechselt hätte? Gehe es mir jetzt darum, die Deutschen als Opfer zu stilisieren?

»Du selbst wurdest doch 1940 in Berlin geboren«, sagte ich. »Was hat dich in deiner Kindheit mehr bestimmt: die Nazis oder Bomben und Hunger?«

Mein Gegenüber wurde heftig: »Begreifst du das immer noch nicht?! Ohne die Nazis hätte es für meine Familie die ganzen Kriegserlebnisse nicht gegeben!«

»Muss ich mir das so vorstellen«, fragte ich weiter, »dass du dich später mit den Schrecken des Nationalsozialismus beschäftigt hast – aber nicht mit deiner eigenen Kriegskindheit?«

»Genau«, bestätigte er. »Der Krieg war vorbei, als ich acht Jahre alt war. Ehrlich, du nervst mich mit den alten Geschichten …«

Aber genau diese verschwiegenen Geschichten, die eine ganze Generation und teilweise wohl auch noch deren Kinder prägten, müssen erzählt werden. Sie sind wichtig für die Einzelnen und für die Identität und die Zukunft der Deutschen als Europäer.

Eine tüchtige Generation

Warum träumt Gudrun Baumann* immer wieder, sie müsse eine Brille haben, obwohl sie längst eine besitzt? Wieso standen dem kernigen Kurt Schelling* plötzlich, mit 45 Jahren, ständig Tränen in den Augen? Wie kommt es, dass Wolfgang Kampen* in Israel, auf dem Höhepunkt der Gewalt, keine Angst vor Selbstmordanschlägen hatte? Sonderbare Fragen tauchen auf, wenn man sich heute mit Menschen beschäftigt, die im Zweiten Weltkrieg noch Kinder waren. Davon gibt es Millionen. Sie befinden sich im Ruhestand.

In der Tat ist nicht zu erkennen, dass ihnen das frühe Drama in besonderer Weise zugesetzt hätte. Offenbar ist es ihnen gut gelungen, ihre Erinnerungen an Tod, Bomben, Vertreibung und Hunger auf Distanz zu halten. Sie sind nicht kränker und auch nicht ärmer als frühere vergleichbare Altersgruppen. Im Gegenteil. Noch nie hat es in Deutschland Senioren gegeben, denen es finanziell so gut ging wie den heute Sechzig- bis Siebzigjährigen. Sie bauten das zerstörte Deutschland wieder auf, gründeten eigene Familien und stellten, sofern sie zu den rebellierenden Studenten gehörten, die deutsche Nachkriegskultur radikal infrage.

Eine viel beschäftigte, tüchtige Generation. Sie kann auf ihre Lebensleistung stolz sein. Und wer sich bei Männern der frühen Dreißigerjahrgänge auskennt, der weiß, dass sie auch auf ihre Zähigkeit stolz sind. In ihren Augen halten die später Geborenen längst nicht so viel aus wie sie selbst …

Eine fürsorgliche Generation. Man kümmert sich um die uralten Eltern, verwöhnt die Enkel, entlastet seine Kinder und tröstet mit Geld und guten Worten, wenn jemand in der Familie arbeitslos geworden ist. Damit ist eigentlich schon alles gesagt, was diese Generation an Gemeinsamkeiten erkennen lässt, außer: Es fällt den Älteren schwer, Brot wegzuwerfen.

Eine unauffällige Generation. Man weiß nichts über sie. Man redet so gut wie nie über sie. Und sie selbst, die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, haben gerade erst angefangen, darüber nachzudenken, wie ihre Kriegskindheit das weitere Leben geprägt haben mag. Aber genau das wäre doch interessant zu erfahren; es ginge also nicht um den Krieg an sich, denn dass der Krieg eine Zeit des Schreckens war, ist allgemein bekannt; damit erführe man im Prinzip nichts Neues.

Neu dagegen ist das nun langsam wachsende Bewusstsein davon, dass die ehemaligen Kriegskinder im eigenen Land fast sechzig Jahre lang schlichtweg übersehen wurden. Ihr Schicksal interessierte nicht. Es wurde nicht erforscht. Wer heute Angehörige der Dreißigerjahrgänge nach den möglichen Kriegsfolgen in ihrem weiteren Leben befragt, wird womöglich den Satz hören: Es hat uns nicht geschadet.

Kann das sein? Der gesunde Menschenverstand sträubt sich, es zu glauben. Können Kinder so viel Gewalt und Leid einfach wegstecken, nach dem Motto »Schwamm drüber«? Sind Kinderseelen in Wahrheit weit weniger verletzlich als allgemein angenommen? Stimmt es vielleicht doch, wovon frühere Generationen überzeugt waren: dass Kinder äußerst robust sind? Schwer vorstellbar. Um das zu glauben, müssten wir unser gesamtes Wissen über die seelische Verletzbarkeit im frühen Kindesalter über Bord werfen.

Aber was war geschehen? Wurden diese Kinder etwa zum Verstummen gebracht? »Genauso war es«, bestätigte eine Kriegswaise aus Ostpreußen. »Man hat uns schon in ganz jungen Jahren beigebracht: Darüber spricht man nicht. Das erzählt man nicht. Schau nach vorn! Sei froh, dass du noch lebst. Vergiss alles! Und das haben die meisten von uns getan. Um zu überleben und nicht am Rande stehen zu bleiben ein Leben lang, muss man sich anpassen. Wenn man sagt: Ich habe eine schlechte Kindheit gehabt, und mich verfolgt meine Kindheit – das stempelt einen doch nur ab.«

Die Erwachsenen dagegen klagten alle, wie in den Romanen und Aufzeichnungen über die ersten Nachkriegsjahre nachzulesen ist. Doch als es danach überraschend schnell wieder bergauf ging – zumindest in Westdeutschland –, wurde in den Familien kaum noch über den Krieg gesprochen, und noch weniger über die Verbrechen der Nazis.

Manchmal fielen lakonische Sätze, die nur für Außenstehende makaber klangen: »Unser Kurt wurde 43 in Düsseldorf geboren. Das hat gut geklappt. Zwischen zwei Bombenangriffen.« Schwarzer Humor galt schon immer als ein Ventil für Menschen, die knapp mit dem Leben davongekommen waren.

Phantasiediagnose »vegetative Dystonie«

Damit keine Missverständnisse entstehen: Dass es Menschen mit seelischen Kriegsverletzungen gab, wurde in Deutschland nie bestritten, aber es wurde eben auch nicht an die große Glocke gehängt. Der Freiburger Psychoanalytiker und Schriftsteller Tilmann Moser (»Dämonische Figuren«) vermutet in der Tatsache, dass in Westdeutschland das Kurwesen so weit verbreitet war wie in keinem anderen Land, stillschweigende Angebote der Linderung für die Menschen, die noch immer an Kriegsfolgen litten. Die im Ausland völlig unbekannte Phantasiediagnose »vegetative Dystonie« reichte in den Sechzigern und Siebzigern den Krankenkassen als Begründung aus, um eine Kur zu bewilligen.

Allerdings: die Kinder dieses Krieges waren heil davongekommen – darüber schien man sich, wiederum stillschweigend, sehr früh in der Bevölkerung geeinigt zu haben. Das Titelfoto eines Bildbandes über sogenannte »Ruinenkinder« aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt zerlumpte, aber lebensfrohe kleine Gestalten – ganz anders als die bedrückten Kindergesichter, deren Bilder uns aus den Kriegsgebieten des Balkans und aus Afghanistan erreichten.

Was ist in Deutschland atypisch gelaufen? Man würde es gern wissen, aber die Forschung kann dazu kaum etwas sagen. Mediziner, Psychologen und Historiker haben sich bislang sehr zurückgehalten, wenn es darum ging, diese Generation in den Blick zu nehmen.

Dennoch, die Zeiten haben sich geändert. Heute sind die Kriegskinder nicht mehr ganz so unauffällig, wie sie es jahrzehntelang waren. Seit der Kosovo-Erschütterung im Jahr 1998, als erstmals nach 1945 deutsche Soldaten wieder an einem Krieg beteiligt waren, und seit der Nobelpreisträger Günter Grass mit seinem Bestseller »Im Krebsgang« dafür plädierte, dass die Deutschen nun auch ihre eigenen unverarbeiteten Kriegsverletzungen in den Blick nehmen sollten, ist ein Tabu gelockert worden. Dafür spricht auch der überraschende Erfolg des Buchs »Der Brand«, in dem der Historiker Jörg Friedrich schonungslos den Bombenkrieg über Deutschland beschreibt.

Im Alter rückt die Kindheit wieder näher. Da hat man das Bedürfnis und endlich auch die Zeit, sich mit seinen Wurzeln und den frühesten Eindrücken zu beschäftigen. Das geschieht aber nicht immer freiwillig. In Deutschland wurden vor allem während des Kosovokonflikts, auch am 11. September 2001 und während der Bombardierungen in Afghanistan und im Irak viele ältere Menschen mit Kriegserinnerungen überschwemmt, oft in quälender Weise, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten.

Mehr denn je interessieren sich die Medien für die deutschen Opfer, für die großen Katastrophen wie den Untergang der »Wilhelm Gustloff«, die Zerstörung Dresdens, Flucht und Vertreibung. Dabei werden als Zeitzeugen auch die Kinder des Zweiten Weltkriegs sichtbar, wohl deshalb, weil kaum noch ältere am Leben sind. Im Zusammenhang mit den Kindern von einer Gruppe zu reden – oder gar von einer Gruppenidentität – ist noch zu früh. Es sind nur Einzelne, die sich vorwagen, die sich Fragen stellen und nach Antworten suchen. Die Hamburger Rentnerin Ruth Beate Nilsson ist schon einen Schritt weitergegangen, indem sie ihre Innenwelt veröffentlichte. Sie schreibt Gedichte, um sich selbst näherzukommen und um sich mit Menschen ihrer Generation zu verbinden, was ihr bislang nur selten gelang. Sie dichtet in dem Bewusstsein, dass sie ein Kriegskind ist.

Der freie Fall

Ich will nicht auffallen

Am besten gar nicht fallen

Im freien Fall weiß man nicht, wo man landet.

Mir ist so vieles abhanden gekommen – entfallen.

Das Suchen bringt gar nichts zurück

Ich brauche Gewißheit

Gewiß doch

Dass es über eine Welt, die sechzig Jahre lang verschwiegen wurde, überhaupt je so etwas wie Gewissheit geben kann, ist unwahrscheinlich. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nur im Nebel der Spekulationen bewegen müssen. Wir können Fragen stellen, und wir können Antworten hören, und zwar von den Kriegskindern selbst. Solange ihr Schicksal nicht umfassend erforscht ist, sind sie – mit Ausnahme einiger weniger Psychotherapeuten und Publizisten – die einzigen Kapazitäten, auf die wir zugehen können.

Eine unserer Expertinnen ist Gudrun Baumann*. Sie wurde 1937 geboren und arbeitete bis zu ihrem Ruhestand als Ballettlehrerin. Noch immer trägt sie ihr Haar streng und klassisch mit Nackenknoten. Mehrere Generationen hat sie von Kindesbeinen an unterrichtet, aus einigen Elevinnen sind richtig gute Berufstänzerinnen geworden. Noch heute kommen Ansichtskarten aus aller Welt, von ehemaligen Schülerinnen, die sich auf Tournee dankbar ihrer ersten Lehrerin erinnern.

Seit Gudrun Baumann – geschieden, zwei Kinder – nicht mehr arbeitet, hat sie ein paar Kilo zugenommen, besonders an Hüften und Gesäß, und es fällt ihr schwer, sich daran zu gewöhnen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, es ist weicher geworden. Aber das scheint eher ein Vorteil zu sein, denn die Menschen in ihrer Umgebung versichern ihr gelegentlich, es stehe ihr gut und überhaupt sei ihre ganze Persönlichkeit weicher und lebendiger geworden.

Schon möglich, sagt Gudrun Baumann, sie habe sich in den vergangenen Jahren innerlich verändert. Das sei nicht ausgeblieben, seit sie angefangen habe, ihre eigene Kindheit zu rekonstruieren. Eigentümlicherweise, fügt sie hinzu, seien ihr die Kriegserinnerungen so fern, als stammten sie aus einem völlig anderen Leben.

Wo sind die Erinnerungen?

Viele Gespräche hat sie auf der Suche nach ihrer Kindheit mit Freundinnen und Bekannten von früher geführt. Viele Tassen Tee mit Kandis sind dabei getrunken worden. Gemeinsam haben sie ihre Erinnerungen auf den Tisch gelegt, und jedesmal stellte sich heraus, dass Gudruns Beitrag ausgesprochen mager ausfiel.

»Mir ist aufgefallen, dass ich gerade die Kriegserlebnisse, die ich fast täglich hatte, weitgehend im Einzelnen vergessen habe«, erzählt sie. »Es geht dabei um gravierende Ereignisse, von denen andere immer wieder reden, und ich habe mich gefragt: Warum eigentlich weiß ich das nicht? Dazu kommt, dass ich mich schon sehr viel länger frage, warum ich ein so merkwürdig schlechtes Gedächtnis habe.«

An dieser Stelle des Interviews kommt sie meinem naheliegenden Einwand zuvor und versichert lebhaft: »Nein, nein, es hängt überhaupt nicht mit dem Alter zusammen, im Gegenteil, es ist jetzt eher besser geworden. Aber ich verliere bestimmte Dinge aus dem Gedächtnis, visuelle Dinge, andere Dinge, an denen ich interessiert und enthusiastisch gearbeitet habe – und eine Woche später können sie wieder weg sein. Auch schöne Dinge. Das hängt nicht davon ab, ob es angenehm oder unangenehm war …«

Da gab es die Situation, als sie zu ihrem erwachsenen Sohn nach einem Weihnachtsgottesdienst sagte: »Was mich wirklich verblüfft hat, ist, dass du alle Lieder mitsingen konntest. Jede, aber auch jede Strophe kanntest du. Ich hätte nicht gedacht, dass sie euch so was in der Schule beigebracht haben.« – »Aber Mutter! Die Lieder hast du doch selbst immer mit uns gesungen. Alle Jahre wieder.«

Irgendwann kam Gudrun Baumann ein Gedanke: Könnte ihr schlechtes Gedächtnis damit zusammenhängen, dass sie als Kind von ihrer Mutter so oft aufgefordert worden war, zu vergessen? Noch heute ist es ein Gedanke mit Fragezeichen, von Gewissheit kann keine Rede sein. Manchmal glaubt sie, die Wahrheit zu kennen, dann kommen wieder die Zweifel … Warum sollte ausgerechnet sie, die ein so miserables Gedächtnis hat, sich selbst in dieser Frage trauen? Gudrun Baumann weiß: Was sie als Kind erlebte, war aus heutiger Sicht das pure Grauen, aber viele Hunderttausend Kinder haben damals Ähnliches erlebt, ohne dass in Deutschland eine große Gruppe der Vergesslichen aufgefallen wäre.

Dann erzählt sie von einem zentralen Erlebnis, als sie vier Jahre alt war. »Da lag ich abends im Bett. Es war nach einem Angriff, die Stadt brannte lichterloh, und die gegenüberliegenden Häuser brannten auch und krachten mit viel Lärm zusammen. Ich sehe noch das Feuer, das loderte und sich veränderte, und ich erinnere mich an die entsetzliche Angst und dass ich in meiner Angst meine Mutter rief. Sie kam herein und setzte sich zu meiner ungeheuren Beruhigung einen Augenblick ans Bett und sagte mir: Dreh dich um zur Wand, dann siehst du nichts, und mach die Augen fest zu! Und ich hoffte, sie würde dableiben, aber sie ging wieder. Und als sie ging, sagte sie: Du hast nichts gesehen …«

Ihre Heimatstadt wurde, da sie Kriegshafen war, besonders heftig und anhaltend bombardiert. In ihrer Erinnerung gibt es dazu so gut wie keine Bilder. Sie weiß, dass andere Menschen ihres Alters sehr detailliert schildern können, was sie im Krieg gesehen haben, aber über ihre damaligen Empfindungen wissen sie oft wenig. Bei ihr selbst ist es umgekehrt. Bei ihr sind eher die Gefühle haften geblieben. »Ich weiß, da waren Dinge, die haben mich erstarren lassen und mir die Sprache genommen, aber ich weiß nicht mehr, was es war.«

»Wir haben jahrelang im Keller gesessen«

Klagen liegt Gudrun Baumann fern. Sie spricht nüchtern über das, was geschehen ist. »Man muss es eben so sehen, wie es war: Wir haben jahrelang im Keller gesessen. Dort durfte man nur sitzen, an Schlafen war nicht zu denken. Also waren wir morgens übernächtigt.«

Wenn auf dem Schulweg Alarm kam, wusste sie genau, was zu tun war. Aber man musste sich beeilen, sonst waren die Bunkertüren schon verschlossen, und man konnte nicht mehr hinein. Auch Gudrun war das passiert: »Da kamen schon die Flieger, und ich war allein auf der Straße. Da habe ich mich der Länge nach hingeworfen. Ringsherum gingen die Bomben runter. Erzählt habe ich das danach keinem. Und was auch zu diesen Jahren gehört – meine Mutter forderte mich ständig auf: ›Nun sei doch mal richtig fröhlich …‹«