Kriegsenkel - Sabine Bode - E-Book
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Kriegsenkel E-Book

Sabine Bode

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Beschreibung

Die Kriegsvergangenheit zeigt auch heute noch in vielen Familien Spuren, bis in die zweite und dritte Generation hinein. Jetzt meldet sich die Generation der Kinder der Kriegskinder zu Wort. Sie sind in den Zeiten des Wohlstands aufgewachsen. Noch ist es ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihre tief sitzende Verunsicherung könnte von den Eltern stammen, die ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeitet haben. Die Kriegsvergangenheit zeigt auch heute noch in vielen Familien Spuren, bis in die zweite und dritte Generation hinein. Jetzt meldet sich die Generation der Kinder der Kriegskinder zu Wort. Ein Buch, das den "Kriegsenkeln" hilft, sich selbst besser zu verstehen. Als Friedenskinder sind sie in den Zeiten des Wohlstandes aufgewachsen. Es hat ihnen an nichts gefehlt. Oder doch? Die Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen hat mehr Fragen als Antworten: Wieso haben viele das Gefühl, nicht genau zu wissen, wer man ist und wohin man will? Wo liegen die Ursachen für diese diffuse Angst vor der Zukunft? Weshalb bleiben so viele von ihnen kinderlos? Noch ist es für sie ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihre tief sitzende Verunsicherung könnte von den Eltern stammen, die ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeitet haben. Ist es möglich, dass eine Zeit, die über 60 Jahre zurückliegt, so stark in ihr Leben als nachgeborene Kinder hineinwirkt?

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Sabine Bode

Kriegsenkel

Die Erben der vergessenen Generation

Klett-Cotta

Impressum

Dieser Text beruht auf der Neuausgabe aus dem Jahr 2013.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2009, 2013, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Papa Matz

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96488-2

E-Book ISBN 978-3-608-10131-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Dank

Erstes Kapitel

Gespenster aus der Vergangenheit

Familienweihnachten als Pflichtveranstaltung

Klagen über Eltern

Überdosis

NS

-Geschichte

Flüchtlingshintergrund

Kein Mut zur Familiengründung

Die Kriegsenkel melden sich zu Wort

Wie aus Tätern Opfer wurden

Woher kommt der »Nebel«?

Eine ostdeutsche Geschichte

Das Nachbeben

Zweites Kapitel

Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben

Ein Seminar für Kinder der Kriegskinder?

Sein Vater brauchte Dauerstress

Auf der Suche nach Vorbildern

Woher kam der neurotische Umgang mit Geld?

Kapitulation kurz vor dem Examen

Die Mutter gönnte ihm keine Geheimnisse

Das Massaker von Aussig an der Elbe

Großvaters »verlorenes Paradies«

Ich muss keine Frau mehr retten

Drittes Kapitel

Die Burgfamilie

Freundliche und gut erzogene Töchter

Essstörungen

Zwei ungleiche Schwestern

Erfolgreiche Bogenschützin

Schulversagerinnen

Mama nahm alles hin

Diagnose Bulimie

Ich bin doch deine Tochter, Mama!

Viertes Kapitel

Der lange Weg zur eigenen Identität

Ein Fest mit Bergmannstradition

Frisch verliebt

Du weißt gar nicht, wie gut du es hast

Als sie ihren fröhlichen Vater verlor

Ein fürsorglicher Ehemann

Was ist emotionale Offenheit?

Ein neues Ziel: Abitur

Der jugendliche Sohn rastet aus

Der letzte Schritt in die Freiheit

Fünftes Kapitel

Die Spätzünderin

Ein Dauerproblem

Unsere Beziehung ist grottenschlecht

Sie litt unter dem beruflichen Niveau

Erst Streit – dann drei Tage Schweigen

Tote Babys am Straßenrand

Verwandte von den Nazis ermordet

Sechstes Kapitel

Das Böse

Familienforschung im Fernsehen

Verletzte Integrität

Opa war doch ein Nazi

Vater und Sohn im Dauerstreit

»Nazis«, »

KZ

« und »

SS

« – was ging mich das an?

Macht über den Vater

Lehrer in die Enge treiben

Tränen und Scheidung

Die Sache mit dem jüdischen Friedhof

Von Schandtaten wollte ich nichts hören

Genickschuss!

Ein einfacher Hilfsarbeiter

Amerika – meine Rettung

Eine neue Familie

Die große Trauer

Siebtes Kapitel

Sohn im Schatten

Marathon auf der Theaterbühne

Wenn Kinder eine leichte Beute sind

Vergewaltigungen

 … aber meine Seele war gestorben

Tabu Königsberg

Die Fassade einer intakten Ehe

Todesursache unbekannt

Familie auf dem Prüfstand

Achtes Kapitel

Der Wehrlose

Ein vielseitiger Autor

Misstrauen und Missgunst

Ein Versöhnungskind?

Er war ein Einzelgänger

Hohe moralische Ansprüche

Die Konkurrenz der Kranken

Eine unstillbare Sehnsucht nach Trost

Neuntes Kapitel

Leben lernen

Ein empörter Brief

Mutter war furchtbar verklemmt

Eine übergroße Bescheidenheit

Balkone wie Schießscharten

Sich mit Geld betäuben

Wie sich Schatten verflüchtigen

Zehntes Kapitel

Kinderladen-Kinder

Ein Rückblick auf 1968

Ungereimtheiten

Was läuft bei ihr schief?

Kinder, die alles dürfen

Der Wutanfall eines Zwergs

Adlig und antikapitalistisch

Die neuen Normen der

WG

Eine Pubertät unter Beobachtung

Das Amerika-Desaster

Zwei Jahre ohne Kontakt zur Mutter

Ich habe meine Kindheit genossen

Zwei Wunder

Elftes Kapitel

Nebel im Kopf

Im Kinderbett kam die Angst

Zwangshandlungen

Neue Eltern braucht das Land!

Hinter dicken Mauern

Angst vor dem Atomkrieg

Schneller, die Russen kommen

Auch der Vater schien zu pubertieren

Selbstverletzungen einer Jugendlichen

Gewaltrausch während einer Therapiestunde

Folgenreiches Schwarz-Weiß-Muster

Die Kriegsängste der Mutter geträumt

Zwölftes Kapitel

Grenzen ziehen

Ein später Vater

Familienklima: »Eine stillstehende graue Sauce«

Aufwachsen ohne eigenes Zimmer

Meditation mit grauweißen Fliesen

Ein bisschen Punk

Der Fernseher bleibt an

Ich bin doch ihr Sohn!

Vorsicht – heiße Herdplatte!

Eine Tochter auf Distanz

Der Vater war noch im Krieg

Vorurteile gegenüber Polen und Russen

Alles, was schön und gut ist, wird zerstört

Ähnlichkeiten mit der eigenen Mutter

Des lieben Gottes Lieblingskind

Kein Kontakt mehr zu den Eltern

Eine typische Suchtfamilie

Sie wollte die Mutter retten

Als Säuglinge dressiert wurden

Das brüllende Kind

Der Unfall

Dreizehntes Kapitel

Als die Hochzeit abgesagt wurde

Ein beharrliches Paar

Sie könnten Geschwister sein

Ich bin stolz auf meine Eltern

Neubeginn im Rheinland

Der Abstieg einer Familie

Der Vater mied jede Prüfung

Früh geheiratet, schnell geschieden

Ankommen ist gefährlich!

Ein tiefes Gefühl von Verlorenheit

Großmutter schrieb im Luftschutzkeller

Was bedeutet das Schweigen in der Familie?

Forschungsprojekte nach dem 11. September 2001

Die Tochter durfte nicht studieren

Eltern im Dauerstreit

Führen Sie das Leben Ihrer Mutter?

Das Ultimatum

Schuldgefühle aushalten

Vierzehntes Kapitel

Die Perspektive eines Kriegskindes

Mutter-Sohn-Beziehung

Ungewöhnliche Rollenverteilung

Ihr unverarbeitetes Trauma belastete den Sohn

Die Wahrnehmung des Anderen anerkennen

Traumabehandlung mit 15 Jahren Verspätung

Ungute Fürsorge

Anmerkungen

Bücher zum Thema

Perspektive der Kriegsenkel

Familienforschung

NS-Vergangenheit und Krieg

Flucht und Vertreibung

Luftkrieg

Vaterlosigkeit

Trauma und Bindungsstörung

Deutschlandbilder

Für Ronja

Vorwort zur Neuausgabe

Als dieses Buch 2009 erschien, war »Kriegsenkel« noch ein unbekannter Begriff. Er stammt aus den Reihen der Kinder der Kriegskinder; sie haben sich den Namen selbst gegeben. Dahinter stand der Wunsch, bislang unbeachteten Gemeinsamkeiten ihrer Generation eine Überschrift zu geben. Sich als Kriegsenkel zu definieren, sprach sich herum. Netzwerke entstanden und verbreiteten die Erkenntnis, dass sich die Spuren kollektiver Katastrophen nur gemeinschaftlich entdecken lassen. Erst im Austausch in einer Gruppe werden kollektive Muster sichtbar. Von den Medien wurden die Kriegsenkel, überwiegend die sechziger und siebziger Jahrgänge, bislang wenig beachtet, im Fernsehen überhaupt nicht. Im Internet allerdings zeigt sich, wie das Bedürfnis, sich mit der eigenen Familiengeschichte im Kontext mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, stetig wächst.

Immer wieder werde ich seit Erscheinen von »Die vergessene Generation« und »Kriegsenkel« gefragt, ob dann, wenn bei den Nachkommen das Verständnis für die schwere Kindheit ihrer Eltern wachse, die Beziehungen zwischen den Generationen heilen könnten. Ja, das ist möglich, aber es geschieht eher selten. Heilung würde voraussetzen, dass beide Seiten, die erwachsenen Kinder und die älter werdenden Eltern, gemeinsam in einen intensiven Prozess einsteigen. Ohne Anleitung und ohne Selbsterfahrung gelingt das wohl nur in Ausnahmefällen. Ich höre davon gelegentlich und es freut mich sehr. Was ich aber relativ häufig höre – und das scheint mir die tragfähige gute Nachricht zu sein –, ist, dass bei vielen Kindern und Eltern das Gespräch über die Familienvergangenheit nach anfänglichen Irritationen mehr Nähe und ein bisschen mehr Frieden gebracht hat. Am Ende eines solchen Prozesses stand nicht selten eine gemeinsame Reise nach Ostpreußen oder Polen, zum Geburtsort der Eltern.

Bis vor kurzem – und das zeigt sich in diesem Buch – konzentrierte sich bei den Kriegsenkeln das Interesse auf die eigenen Eltern. Weitgehend ausgeblendet wurde jener Teil deutscher Vergangenheit, der die Frage aufkommen lässt, ob die eigenen Großeltern sich womöglich als Profiteure oder Täter in Schuld verstrickten. Der ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« machte deutlich, in welchem Ausmaß in der NS-Zeit Menschen für ihre schlechtesten Seiten belohnt wurden, und wie selbstverständlich junge Leute als Folge der Nazipropaganda Verrat an Verfolgten begingen. Dieses Fernsehereignis hat in den Jahrgängen der Kriegsenkel für Unruhe gesorgt, weil ihnen klar wurde, wie wichtig es für die heutigen Familienbeziehungen ist, sich auch den Fragen nach Schuld zu stellen. Das Verleugnen war oft genug die Ursache für das Entstehen von Familienlegenden: Es durfte kein Schatten auf den guten Namen fallen.

Häufig haben die Kriegskinder ihre Eltern geschützt, viele tun es bis heute. Sie mögen es nicht, wenn sie dazu von ihren eigenen Kindern ausgefragt werden. Das ist verständlich. Aber wenn sie, die sich nichts so sehr wünschen wie Frieden auf der Welt, noch etwas zum Familienfrieden beitragen möchten, dann wäre es jetzt an der Zeit über ihren Schatten zu springen und zu sagen, was sie wissen. Wer soll nach ihnen noch Auskunft geben?

Im August 2013

Sabine Bode

Dank

Als ich »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« schrieb, wünschte ich mir, das Buch würde Angehörige der Kriegskinder-Jahrgänge miteinander ins Gespräch bringen – was dann auch geschah. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die große Resonanz der Kinder jener »vergessenen Generation«, also die Kinder der Kriegskinder, im Wesentlichen Angehörige der 1960er-Jahrgänge. Sie sagten, die Lektüre habe ihnen zu mehr Verständnis für ihre Eltern verholfen. Darüber hinaus signalisierten fast alle Kriegsenkel große Probleme mit Mutter oder Vater. Dabei waren die Töchter und Söhne schon zwischen 40 und 50 Jahre alt. Sie befanden sich also in einem Lebensabschnitt, in dem Menschen üblicherweise die Ablösung von ihren Eltern schon geraume Zeit hinter sich haben. Die im vorliegenden Buch wiedergegebenen Klagen über Mutter und Vater sind keine Schuldzuweisungen. Schon gar nicht handelt es sich eine pauschale Anklage gegen die Kriegskinder.

Gleichfalls berichteten viele Kriegsenkel von einem verunsicherten Lebensgefühl, von unauflösbaren Ängsten und Blockaden. Hatte man sich bis dahin als Generation ohne Eigenschaften gesehen, verblüffte und erleichterte die Kinder der Kriegskinder der Gedanke, offenbar doch generationsspezifische Probleme zu haben. Sie zogen daraus den Schluss, es könne sich lohnen, einem Themenkomplex auf den Grund zu gehen, der in der eigenen Altersgruppe auffällig oft anzutreffen ist.

Am Zustandekommen des vorliegenden Buches haben viele Menschen maßgeblich mitgewirkt, vor allem jene, die darin zahlreich zu Wort kommen – die Kriegsenkel selbst. Für ihre Bereitschaft und Offenheit danke ich ihnen sehr, denn ihre Erfahrungen, Einsichten und Bekenntnisse halfen mir, etwas zunächst schwer Fassbares zu begreifen. In ihnen sehe ich die Pionierinnen und Pioniere, die sich aufgemacht haben, die Spuren der deutschen Vergangenheit in ihrer Familiengeschichte und in ihrem eigenen Verhalten oder Vermeiden zu erforschen. Indem sie über ihre Lebenswege und Hemmnisse berichteten, tragen sie dazu bei, über ein noch wenig bekanntes gesellschaftliches Thema aufzuklären. Ihre Geschichten wurden anonymisiert und ihre geänderten Namen mit einem * gekennzeichnet.

Mit diesem Buch möchte ich die Kinder der Kriegskinder einladen, sich in ihren Jahrgängen unbefangener als bislang üblich über Spätfolgen von Krieg und NS-Zeit auszutauschen. Neugier ist eine gute Voraussetzung für ein zunächst beklemmendes, später dann spannendes und in der Konsequenz Erleichterung bringendes Thema. Ich möchte die Kriegsenkel ermutigen, ihre Familiengespenster endlich aus ihrem Schatten herauszulocken, damit diese keine Verwirrung mehr stiften können.

Köln, im Januar 2009

Sabine Bode

Erstes Kapitel

Gespenster aus der Vergangenheit

Familienweihnachten als Pflichtveranstaltung

Wie kommen die Kriegskinder und die Friedenskinder miteinander aus? Wie funktionieren die Beziehungen zwischen Generationen, die auf zwei völlig unterschiedlichen Planeten aufgewachsen sind? Wenn Eltern über die verheerenden Erlebnisse ihrer Kindheit in einer Weise redeten, als hätte ihnen das alles nichts ausgemacht (»Das war für uns normal«), wenn sie ihre frühen Erschütterungen und Prägungen nicht wahrnahmen, konnte das folgenlos für die nächste Generation bleiben?

Mitte der 1990er Jahre hatte ich begonnen, der Frage nachzugehen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Meine Recherchen bezogen sich nicht nur auf die entsprechenden Jahrgänge von 1930–​1945, sondern ich wurde genauso hellhörig, wenn mir damals jemand aus der Generation der 30- bis 40-Jährigen von schlechten Beziehungen zu Mutter und Vater erzählte. Dabei tauchte wortgleich immer wieder auf: »Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin.« Es stellte sich heraus, dass die Kinder eine weit bessere Ausbildung als ihre Eltern erhalten hatten und sozial aufgestiegen waren. Doch ein einleuchtender Grund für schlechte Beziehungen ist das nicht. Wenn Ältere und Jüngere nichts mehr miteinander anfangen können, wenn das Familienweihnachten für die erwachsenen Kinder eine reine Pflichtveranstaltung ist, wo nur über Banales geredet wird, wenn keiner mehr dem anderen zuhören mag, dann kann das nicht allein an einer kulturellen Entfremdung liegen.

Klagen über Eltern

Die meisten Klagen, die ich über Eltern hörte, bezogen sich auf unbegreifliches Verhalten, verbohrte Sichtweisen, auf ein extremes Sicherheitsbedürfnis und ein gänzliches Desinteresse an irgendeinem neuen Thema. In dieser Weise äußerte sich eine Werbefachfrau, die ich aus der Nachbarschaft kannte. Sie stand noch unter dem Eindruck eines spannungsreichen Besuchs bei ihren Eltern. Einzelheiten teilte sie mir nicht mit. Stattdessen fing sie an, deren Wohnzimmer zu beschreiben: Holzmöbel in der Optik »deutsche Eiche«, eine barocke Polstergarnitur, geraffte Stores, an der Wand eine Zigeunerin sowie ein Puzzle aus 4000 Teilen und auf dem Tisch ein Weinflaschenständer mit eisernem Blattwerk. »Keine Vase gefällt mir, kein Bild, kein Kissen«, sagte die Tochter, und es klang wie eine Beschwerde. »Nichts von der Einrichtung würde ich haben wollen. Kein einziges Buch würde mich interessieren, mal abgesehen vom ADAC Auto-Atlas.« Als ich fragte, ob es denn in ihrer eigenen Wohnung etwas gäbe, das ihren Eltern gefiele, stutzte sie und dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nichts. Nicht einmal meine teure Espressomaschine.«

Einige Tage später rief mich die Werbefachfrau an und teilte mir mit, sie habe mit zwei gleichaltrigen Kolleginnen darüber gesprochen. Die hätten nur gelacht über den »clash of culture«. Obwohl man sich in völlig unterschiedlichen Welten aufhielt, war in ihren Familien das Verhältnis zwischen den Generationen entspannt. Dass Mutter und Vater sich mit den Grundgedanken der Werbung vertraut machten, wurde nicht erwartet. Geredet wurde über Enkelkinder, Verwandtschaft, Reisen und Kochrezepte, das ergab Gesprächsstoff genug. Beide Kolleginnen hatten auf die Frage »Was würdet ihr aus dem Wohnzimmer eurer Eltern gern mitnehmen?« spontan geantwortet: »Die Fotoalben von früher.« Meine Nachbarin erzählte mir, wie sehr sie das überrascht habe, denn ihre Eltern besäßen kaum Bilder aus ihrer Kindheit.

Durch Nachfragen erfuhr ich, ihr Vater habe als Fünfjähriger die Zerstörung Kassels erlebt, und ihre Mutter sei als Kleinkind mit ihrer Familie aus Ostpreußen geflohen. Als ich einwarf: »Vielleicht sind Ihre Eltern deshalb so wie sie sind, weil sie als Kinder Schreckliches erlebt haben«, herrschte eine Weile Schweigen in der Leitung. Dann kam der Satz, den ich schon von so vielen Kriegsenkeln gehört hatte: »Darüber habe ich noch nie in meinem Leben nachgedacht.«

Überdosis NS-Geschichte

Im Unterschied zu den 1950er-Jahrgängen haben Menschen, die ein Jahrzehnt später geboren wurden, einen weit geringeren Bezug zur Vergangenheit. Für sie ist kaum vorstellbar, dass die unheilvolle deutsche Geschichte auch noch in ihr heutiges Leben hineinwirken kann. Dafür gibt es drei Gründe: der zeitliche Abstand, das weit verbreitete Schweigen in den Familien und eine Aversion gegenüber NS-Themen, weil man während der Schulzeit eine Überdosis eingetrichtert bekommen hatte. Alles nachvollziehbare Gründe, die letztlich zu einem Defizit führten. Dass es Nachteile haben kann, wenn geschichtliches Denken in der persönlichen Entwicklung negiert wird, dafür fand Cicero vor über 2000 Jahren klare Worte: »Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist, heißt, immer ein Kind zu bleiben.«

Wir sprechen bei den Kriegsenkeln von einer Altersgruppe, die zu großen Teilen der »Generation Golf« (1965–​1975 geboren) zugerechnet wird. Buchautor Florian Illies, der den Begriff erfand, hat sich und seine Altersgenossen selbstironisch beschrieben: Die Generation Golf sei durch und durch konsumorientiert und vor allem von den achtziger Jahren geprägt, »das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts«. Im Rückblick auf seine Kindheit hat Illies im Klappentext des Buches einen bemerkenswerten Satz formuliert: »Noch ahnte man nicht, dass man einer Generation angehörte, für die sich leider das ganze Leben, selbst an Montagen, anfühlte wie die träge Bewegungslosigkeit eines Sonntagnachmittags.«

Ich möchte hinzufügen: Noch ahnte man in der Generation Golf nicht, dass mit Globalisierung, Finanzkrise und Arbeitslosigkeit ganz andere Themen als Konsum auftauchen würden. Noch ahnte man nicht, dass man der ersten Nachkriegsgeneration angehörte, der im Unterschied zu Eltern und Großeltern kein behaglicher Ruhestand vergönnt sein würde, weil eben diese sich der öffentlichen Kassen gedankenlos bedient und ihren Nachkommen einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen hatten. Noch ahnte man nicht, dass man zu gehemmt sein würde, um die Älteren mit ihrer Maßlosigkeit und ihrem Desinteresse an gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung zu konfrontieren. Noch ahnte man nicht, dass die 60er- und 70er-Jahrgänge maßgeblich an einem folgenreichen gesellschaftlichen Phänomen beteiligt sein würden – der Kinderlosigkeit.

Flüchtlingshintergrund

Mein Buch »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« stieß bei den Kindern jener »vergessenen Generation«, also den Kindern der Kriegskinder – vor allem Angehörige der 1960er-Jahrgänge – auf große Resonanz. Wie in der Leserpost, aber auch auf Veranstaltungen zum Thema deutlich wurde, stammten ihre Eltern, Angehörige der 30er- und 40er-Jahrgänge, überwiegend aus Flüchtlingsfamilien. Die Kriegsenkel machten mir gegenüber deutlich, wie stark Mutter und Vater, ehemalige Flüchtlingskinder, durch Vertreibung und durch den Neubeginn in einer größtenteils feindseligen Umgebung Zeit ihres Lebens belastet blieben. Ich erfuhr von einem extremen Misstrauen, und dass sie nicht aufhörten, sich über die Zukunft existentielle Sorgen zu machen, auch dann, wenn sie ein gutes Auskommen hatten und gegen jedes Missgeschick versichert waren. Die Familiengeschichten bestätigten den wissenschaftlichen Befund von Andreas Kossert in seinem Buch »Kalte Heimat« mit gelebtem Leben: Das Bild von der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945 ist ein Mythos.[1] An den Spätfolgen haben nicht selten auch die Nachkommen jener 14 Millionen Deutsche zu tragen, die nach Kriegsende ohne Heimat waren.

Auffallend oft hörte ich Kinder der Kriegskinder über sich sagen, ihnen fehle der feste Boden unter den Füßen. Dabei waren sie als Friedenskinder in den besten aller Zeiten aufgewachsen. Zumindest in Westdeutschland hatte es ihnen an nichts gefehlt. Oder doch? Es war für die meisten ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihr verunsichertes Lebensgefühl könnte von Eltern stammen, die sich nicht von ihren Kriegserlebnissen erholt hatten. War es möglich, dass eine Zeit, die nun schon über 60 Jahre zurücklag, so stark in ihr Leben als Nachgeborene hineinwirkte? Und wenn ja, warum wussten sie nichts davon?

Sie konnten sich nicht mit dem Bild identifizieren, das in den Medien über die Generation 40 plus und die »Baby-Boomer« verbreitet wird. So ermittelte eine im Jahr 2008 von der Wochenzeitschrift »Stern« in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage »eine zufriedene Generation«. In der Illustrierten wurde ausdrücklich darauf hingewiesen: »Jeder zweite sagt sogar: So gut ging es mir noch nie«.[2] Für diejenigen, die sich bei mir meldeten, galt das keineswegs.

Kein Mut zur Familiengründung

Eine Frau schrieb mir: »Ich bin 40 Jahre alt und frage mich schon lange, warum ich so verunsichert durch die Welt laufe. Ich habe eine gute Ausbildung, traue mir aber nichts zu. Wenn ich mich bewerben soll, bekomme ich Panik.« Ein Mann gleichen Alters teilte mit, er sei zwar beruflich äußerst erfolgreich und auch risikobereit, habe aber nicht den Mut zur Familiengründung – seine beiden Geschwister auch nicht. Für seine Eltern werde es wohl keine Enkel geben. In beiden Fällen wurden die Kindheiten der Eltern skizziert. Sie deckten sich im Wesentlichen mit den Geschichten in meinem Kriegskinderbuch.

Zunehmend melden sich heute Kriegsenkel zu Wort. In dem Theaterstück »Risiken und Nebenwirkungen« von Klaus Fehling, Jahrgang 1969, fand ich die Beziehung eines Kriegsenkels zu seiner Kriegskind-Mutter thematisiert. Tochter Sigrid kam nicht zu einem eigenen Leben, denn sie ließ sich von ihrer 70-jährigen Mutter Anni geradezu aussaugen. Als die Tochter sagte: »Sorgen macht sich Anni gern, aber immer nur um sich selbst«, kam aus dem Publikum ein zustimmendes Lachen. Hier saßen überwiegend die Kriegsenkel. Wie ich nach der Vorstellung im Osnabrücker Emma-Theater von den Schauspielerinnen erfuhr, handelt es sich um ein Stück mit hohem Wiedererkennungswert. Mutter Anni sorgt sich nicht um andere, sie eignet sich, wie ihre Tochter weiß, nur deren Missgeschicke an.

Sigrid:

Mir hat einer mein Handy geklaut.

So ein Rudel Rumänenkinder.

Im Café. Vom Tisch im Vorbeigehen.

Die können echt schnell laufen.

Sie ist fünf Tage nicht vor die Tür gegangen,

nachdem ich ihr davon erzählt hatte.

Und natürlich kein Auge zu. Wie immer.

Literaten entwickeln häufig ein Gespür für unverarbeitete kollektive Katastrophen und ihren Niederschlag in den nachfolgenden Generationen. Dass schwere Schuld an die Nachkommen weitergegeben wird, davon kann man in der Bibel lesen. Auf Grund der Ergebnisse der Traumaforschung und der Holocaustforschung wird der Generationentransfer in der Fachwelt nicht länger bestritten. Von einem »Trauma« wird bei den Nachkommen nicht mehr gesprochen, allenfalls von einem »sekundären Trauma«, wohl aber von »Menschen mit Bindungsstörungen«, oder abgeschwächt von solchen, die, wie es in der Fachliteratur heißt, »unsicher gebunden sind.« Der Hintergrund: Eltern konnten ihren Kindern in den frühen und damit entscheidenden Jahren nicht ausreichend Halt geben und nur wenig Vertrauen ins Leben vermitteln.

Es gab eine Zeit, in der nicht nur Eltern sondern auch Ärzte glaubten, kleine Kinder seien äußerst robust, fast schmerzunempfindlich, und sie würden selbst von den größten Schrecken ringsherum nichts mitbekommen. Als Beweis wurde stets der »selige Schlaf« der Kleinen angeführt. Man war davon überzeugt, sie besäßen noch keinerlei Antennen für die Gemütsverfassung der sie umgebenden Erwachsenen, und lobte die beruhigende Wirkung von Babys in Zeiten des Schreckens.

Das Gegenteil ist richtig. Kinder sind äußerst feinfühlig. Sie spüren selbst jenes Grauen, das ihre Eltern tief in sich vergraben und deshalb nicht mehr in ihrem Bewusstsein haben.

Der Bindungsforscher und Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch macht deutlich: »Klassischerweise werden eigene, unverarbeitete Erlebnisse der Eltern in der Interaktion mit dem Säugling wieder lebendig – geradezu wie Gespenster aus der Vergangenheit.«[3]

Waren Mutter und Vater in ihrem eigenen Lebensgefühl und in ihrer Identität verunsichert, konnten sie ihren Kindern wenig Orientierung geben. Die Kriegsenkel berichteten mir von relativ normalen Familienverhältnissen. Ihre Eltern waren keine Unmenschen gewesen. Es wurde nur übereinstimmend gesagt: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.«

Die Kriegsenkel melden sich zu Wort

Hier und da wird in den Medien über »Kinder der Kriegskinder« berichtet. Man weiß noch wenig. Man tastet sich vor. Auch in der Forschung wächst das Interesse am Thema; entsprechende Untersuchungsergebnisse werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bei meinen Gesprächen mit Kriegsenkeln über sechs Jahre faszinierte mich, wie sich in ihren Darstellungen Familiengeschichte mit Zeitgeschichte verknüpfte – vor allem mit deutscher Nachkriegsgeschichte bis hin zur Gegenwart. Anfangs ging ich von einem Buchprojekt aus, in dem nicht mehr als zehn Menschen zu Wort kommen würden. Während meiner Arbeit am Manuskript zeigte sich aber, dass die von mir gewünschte Überschaubarkeit der Komplexität und der Vielfalt nicht gerecht geworden wäre, die ich bei meinen Begegnungen mit den Kindern der Kriegskinder vorgefunden habe.

Ich habe schließlich 18 Geschichten ausgewählt, die sich gegenseitig kommentieren und ergänzen. Sie machen deutlich: Den Kriegsenkel gibt es nicht, genauso wenig wie das Kriegskind. Gerade die Verschiedenartigkeit der Erfahrungen neben den unübersehbaren Übereinstimmungen verstärkt meiner Meinung nach die Glaubwürdigkeit der Aussagen. In vielen Fällen brachte die Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte verblüffende Ergebnisse. Überwiegend werden Schwierigkeiten und Unverständnis zwischen den Generationen geschildert. Damit möchte ich nicht behaupten, die Beziehungen zwischen den Kriegskindern und den Kriegsenkeln seien grundsätzlich spannungsreich. Aber mit Sachbüchern verhält es sich genauso wie mit Romanen und Filmdrehbüchern: Es macht keinen Sinn, über gesunde Familien zu schreiben. Mein Anliegen ist es, auf die Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg in vielen deutschen Familien aufmerksam zu machen.

Aber was mache ich hier? Erfinde ich gerade ein gesellschaftliches Thema, das in Wahrheit nur wenige Einzelfälle betrifft? Richtig ist, ich kenne keine Prozentzahlen – sie wären aus der Luft gegriffen. Richtig ist aber auch: Es gab eine Zeit in Deutschland, die erst vor wenigen Jahren zu Ende ging, in der nicht einmal die Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge – in etwa von 1930 bis 1945 – der Meinung waren, sie als Generation hätten ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel selten, und noch seltener sprach ihn jemand völlig unbefangen aus. Das wirklich Neue an der Thematik »Kriegskinder« sind nicht die Schrecken des Krieges. Es ist bekannt, dass Kinder, Alte und Kranke am stärksten unter kollektiver Gewalt leiden. Das Neue ist: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen.

Die folgende Aussage stammt von einem 70-jährigen Mann, der bis vor zehn Jahren mit kaum zu steuernden Spannungen und Ängsten durchs Leben lief – ohne zu wissen, woher sie kamen. Er sagte: »Das Schlimme ist, dass man nicht weiß, dass man kriegstraumatisiert ist. Als Kind weiß man das nicht. Auch später hat niemand darüber geredet. So hört der innere Schrecken nie auf – und man beschimpft sich als Erwachsener auch noch dafür.«

Seit den 1970er Jahren, vor allem seit die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« gesendet worden war, galt das Thema »Die Deutschen als Opfer« als kulturell nicht mehr erwünscht. In den Medien, an den Schulen, in der Forschung ging es fast ausschließlich um die Fakten und Hintergründe von Hitlerdeutschland, um die Opfer der NS-Verbrechen. Vor diesem Paradigmenwechsel hatten die Deutschen sehr wohl unüberhörbar darüber geklagt, wie sehr sie im Krieg, in der Gefangenschaft, während der Nachkriegsarmut gelitten hatten.

Wie aus Tätern Opfer wurden

Auf diese Weise ging auch die Umetikettierung der Täter zu vermeintlichen Opfern vor sich. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen, 1946 geboren, beschreibt, wie sich Väter und Mütter, die sich während der NS-Zeit schuldig gemacht hatten, eine überaus haltbare Loyalität von Seiten ihrer Kinder sicherten: »Es waren ja unsere geliebten Eltern, die uns so entgegentraten, die uns auf den Schoß nahmen und dann vom Krieg erzählten oder beim Zubettbringen oder beim Essen, beim Spielen, bei Familienfeiern …«[4]

Die Not und die totalen Verluste der Heimatvertriebenen waren im Westen des geteilten Landes ein unüberhörbares öffentliches Thema (im Osten dagegen überhaupt nicht). Doch es klagten diejenigen, die im Krieg bereits erwachsen gewesen waren – nicht aber deren Kinder. Ihnen wurde bedeutet: »Vergiss alles. Sei froh, dass du lebst. Schau nach vorn«. Daran hat sich die vergessene Generation gehalten. Den meisten Kriegskindern gelang es, vor allem auch durch unermüdliches Arbeiten, ihre Schreckenserinnerungen auf Abstand zu halten. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig ein unbelastetes Seelenleben.

Erst seit wenigen Jahren ist »Kriegskinder« eine Generationsbezeichnung. Ihr Schicksal wurde im Jahr 2005 bei dem ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt öffentliches Thema, und es wurde sichtbar: Natürlich haben frühe Begegnungen mit kollektiver Gewalt Folgen, auch wenn die Betroffenen im späteren Leben nicht spüren, wodurch sie untergründig gesteuert werden. Keine Frage, die Kriegserlebnisse sind sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren die Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. Wie hoch mag der Anteil derer sein, die Schlimmes erlebten, und derer, die Glück gehabt hatten? Seit diesem Kongress haben sich die Experten weitgehend zu der Einschätzung durchgerungen, eine Hälfte habe eine normale Kindheit gehabt und die andere Hälfte nicht. Weiter heißt es: 25 Prozent erlebten kurzfristig oder einmalig ein Trauma, weitere 25 Prozent waren anhaltenden und mehrfachen traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt. Es wird vermutet, dass die letztere Gruppe unter Spätfolgen litt oder immer noch leidet. Von den Angehörigen der Jahrgänge 1930–​1945 leben heute noch 16 Millionen Menschen.

Michael Ermann, der mit seiner Forschungsgruppe an der Universität München die Spätfolgen deutscher Kriegskindheiten untersuchte, geht davon aus, »dass der Weltkrieg und die NS-Zeit ihre Spuren wohl weniger in einer offensichtlichen Labilität, Einschränkung der Lebensbewältigung oder gar klinischen Symptomen hinterlassen haben, sondern dass sie sich eher als Leerstellen ins Identitätsgefühl« eingegraben haben.

Tatsächlich scheint das Erinnerungstabu in den Familien und in der Nachkriegsgesellschaft bei Kriegsende zu einer Identität beigetragen zu haben, die mit vielen unklaren Ahnungen und offenen Fragen verbunden ist: Ahnungen und Fragen über die familiären Biografien, aber auch über sich selbst. Denn solange sie – also die Kriegskinder – »alles mit sich selbst« ausgemacht haben, gab es weder die Erfahrung, vom anderen erkannt und begriffen zu sein, noch die einer tieferen Verbundenheit. Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.[5]

Wenn also selbst die große Gruppe der Kriegskinder über viele Jahrzehnte völlig ahnungslos bezüglich ihren eigenen Prägungen und ihren Verunsicherungen war, wie sollten deren Kinder, die Kriegsenkel, auf die Idee kommen, sie könnten ein kollektives, belastendes Erbe mit sich herumtragen?

Das unterscheidet meiner Ansicht nach die 1960er-Jahrgänge von den zehn oder 15 Jahre früher Geborenen: Deren Eltern hatten die Kriegszeit überwiegend als Erwachsene erlebt; sie hatten ihre Kinder nicht mit Klagen verschont. Auch wenn man sich als Nachkriegsgeborener entsprechend überlastet fühlte und irgendwann nichts mehr davon hören wollte, so wurde doch zumindest gespeichert: Die Eltern hatten Schlimmes erlebt.

Die hier vorgestellten Biografien erzählen überwiegend von Menschen, die in den 1960er Jahren geboren wurden und denen es erst relativ spät in ihrem Leben gelungen ist, sich von ihren Eltern abzunabeln, und von solchen, die noch heute darum kämpfen, sich nicht von Mutter oder Vater steuern zu lassen. Diese Kriegsenkel haben alle geistigen Voraussetzungen, um ein erfolgreiches Leben zu führen, doch bei der Mehrzahl vermittelt sich der Eindruck: Sie sind emotional blockiert, sie stehen privat oder beruflich auf der Bremse.

Woher kommt der »Nebel«?

In den meisten Familien hatten keine Dramen stattgefunden. Stattdessen war die Rede von »Nebel« und von »Unlebendigkeit«. Ein 45-jähriger Sohn bezeichnete das Klima in seinem Elternhaus als eine »stillstehende graue Sauce.« Darüber möglichst anschaulich zu schreiben, fiel mir weit schwerer als die Arbeit an meinem Buch über das Leid der Kriegskinder. Für das Drama lassen sich leichter Worte finden als über das Fehlen des Dramas. Meine Aufgabe bestand darin, etwas völlig Unspektakuläres darzustellen, etwas Unsichtbares – ein Vakuum.

Es gab noch eine zweite Schwierigkeit. Mir fiel auf, wie oft ich mich von der Hemmung der meisten meiner Gesprächspartner anstecken ließ, Negatives auf Seiten ihrer Eltern klar zu benennen. Kriegsenkel sind in ihrer Mehrzahl geprägt von einer außergewöhnlichen Loyalität gegenüber Mutter und Vater, nicht selten eine Loyalität, der sie ihre eigene Weiterentwicklung und ihre Wünsche nach Unabhängigkeit unterordnen.

Bevor sich Kinder der Kriegskinder auf ein Gespräch für dieses Buch einließen, hatte ich ihnen folgende Zusicherungen gemacht: Erstens würde ich ihre Geschichte anonymisieren, zweitens könnten sie im Manuskript Änderungen vornehmen, und drittens könnten sie zu diesem Zeitpunkt immer noch ihre Geschichte zurückziehen. Genauso war ich vorher mit meinen Interviewpartnern aus der Kriegskinder-Generation verfahren. Hier gab es einige wenige Änderungen, völlig unproblematisch. Von niemandem hörte ich, er habe Schwierigkeiten, seine Geschichte zu autorisieren. Mein Eindruck war: Allen tat es gut, endlich in ihrem Leid und in ihrer Lebensleistung wahrgenommen worden zu sein. Auch in den Kriegskinder-Interviews waren harte Sätze über Elternverhalten gefallen – neben sehr viel Verständnis, wie schwer sie es in jenen Zeiten gehabt hätten. Aber dass die Kriegskinder sich durch ihre Aussagen in einen größeren oder gar unerträglichen Loyalitätskonflikt gebracht hätten, war auch dann nicht zu erkennen, wenn die Eltern noch lebten.

Auch bei den Kindern der Kriegskinder war unübersehbar, dass sie sich danach sehnten, endlich mit ihrem stillen Unglück, ihren Ängsten und ihren »inneren Landschaften mit Brandflecken«, wie es eine Frau formulierte, wahrgenommen zu werden. Aber als der Text schwarz auf weiß vor ihnen lag, zeigte sich ein Hindernis: In ihrem Fall hatten ja nicht die Kriegserlebnisse ihnen Schaden zugefügt, sondern ihre Eltern. Als erwachsene Kinder schlecht über Mutter oder Vater zu reden, kam ihnen vor wie Verrat, und zwar auch dann, wenn ein Elternteil schon tot war. Das Gefühl saß in den tiefsten Tiefen. Es war ein Reflex, den viele Kriegsenkel nur zu überwinden vermochten, indem sie in bewusster Anstrengung ihre Vernunft einsetzten.

Von klein auf hatten sie die Bedürftigkeit der Erwachsenen gespürt und versucht, es ihnen ›leicht‹ zu machen und sie zu trösten. Damit war das Fürsorge-Prinzip zwischen Eltern und ihren Kindern auf den Kopf gestellt worden. Wenn sie nun als Erwachsene ihre Eltern um jeden Preis schonen wollten, setzte sich diese ungesunde Fürsorge fort. Eine meiner Gesprächspartnerinnen kam aus der Loyalitätsfalle nicht mehr heraus und zog ihre Geschichte – »aus Respekt und Liebe zu meiner alternden Mutter« – zurück.

In meinem Fall war es Mitgefühl für die Kriegskinder gewesen, das mich vor fünf Jahren veranlasst hatte, über sie ein Buch zu veröffentlichen. Nun standen sie nicht mehr an erster Stelle. Dennoch musste ich mir während der Arbeit an dem vorliegenden Buch immer wieder klar machen: Nicht die Kriegskinder sind die Hauptpersonen, sondern die Kriegsenkel – die Erben der vergessenen Generation. Ich schreibe über Menschen, denen die eigenen Eltern unwillentlich Schaden zufügten, und – was die Folgen bis heute so schwer erträglich macht – deren Eltern keine eigene Beteiligung am Unglück ihres Kindes sehen, bzw. die überhaupt kein Unglück wahrnehmen.

Sie werden in diesem Buch nicht beschuldigt, denn als Traumatisierte konnten sie ihr Handeln nicht richtig einschätzen. Aber sie werden auch nicht geschont. Denn Schonung würde bedeuten, das Schweigen in die nächste Generation weiter zu tragen, wo es erneut Verwirrung und unerklärliche Symptome verursachen könnte.

Wir hören von Familiengeschichten mit deutlichen Parallelen zwischen den Generationen: Die durch den Krieg belasteten Kinder wurden mit ihrem Leid allein gelassen, und auch viele Kriegsenkel erfuhren, dass ihre Ängste und inneren Nöte von den Eltern nicht ernst genommen wurden. Der Altersforscher und Psychoanalytiker Hartmut Radebold sagt über die Beziehungen der Kriegskinder zu ihren Kindern: »Wahrscheinlich konnten diese Eltern nur wenig auf die psychischen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und erwarteten, dass diese angesichts der eigenen bedrückenden Biografie mit ihren so ›durchschnittlichen‹ Problemen und Konflikten in Kindheit und Pubertät selbständig zurechtkämen«.[6]

Eine ostdeutsche Geschichte

Bis auf wenige Ausnahmen waren über viele Jahrzehnte nicht einmal Psychoanalytiker und Psychotherapeuten in der Lage, sich mit ihrem eigenen frühen Leid als Kriegskinder auseinanderzusetzen. Zehn Jahre nach dem Mauerfall trug der Ostberliner Analytiker Christoph Seidler im Rahmen einer Konferenz mit gleichfalls ostdeutschen Kollegen seine Erfahrungen und Überlegungen zum Thema »Kindheit während des Krieges« vor. Er kam zu dem Schluss, die Kriegskinder könnten vielleicht erst jetzt – nach der Wende und dem Aussterben der Elterngeneration – ihr Recht auf die Trauer um ihre beschädigte Kindheit wahrnehmen. Der Analytiker wurde daraufhin mit heftigem Widerspruch attackiert. Es kam fast zum Eklat. Seidler griff das Ereignis im Jahr 2002 in einem Vortrag auf und erzählte, was nach der Konferenz geschah: »Ich war zunächst entmutigt, verwirrt und auch etwas beschämt. Bereits am nächsten Vormittag rief mich ein befreundeter Kollege an, der sehr heftig gegen meine Auffassung argumentiert hatte. Er entschuldigte sich, es sei so schmerzlich, alles wieder aufzureißen, wo doch endlich Gras über die Sache gewachsen sei. Der Kollege gehört zum Jahrgang 1940 und ist ein Flüchtlingskind aus Königsberg.« Seidler fügte noch hinzu, diese unsachlichen und dabei schmerzhaften Kontroversen bemerke er immer wieder, wenn dieses Thema berührt werde, sei es privat oder öffentlich.[7]

Umso mehr interessierte mich, was Christoph Seidler in einem späteren Tagungsvortrag »Lange Schatten – Die Kinder der Kriegskinder kommen in die Psychoanalyse« über eine Patientin zu berichten wusste: Wera, 1963 geboren, war mit einem Mann verheiratet, der sie ständig betrog. Wera blieb bei ihm, der Kinder wegen, hatte aber mit ihm keine sexuelle Beziehung mehr. Der Höhepunkt der Demütigung war für sie erreicht, als die Familie in den Urlaub nach Ungarn fuhr: Da saß ihr Mann mit seiner Geliebten vorn, und sie, die Ehefrau, mit den Kindern hinten im Fond. Wera hatte mit 19 Jahren ihre Mutter, die an Krebs erkrankt war, verloren. Die Patientin sprach auch von einem dunklen Familiengeheimnis. Eine Tante hatte ihr gesagt, mit der Mutter der Mutter sei etwas ganz Schlimmes im Krieg passiert, vielleicht sogar mit der Mutter selbst. Was genau das Schlimme war, wollte die Tante nicht in Worte fassen, sondern meinte nur, das müsse Wera sich schon selber denken …

In seinen anschließenden Überlegungen folgert Christoph Seidler: »Es geht offenbar um die Vergewaltigungen der sowjetischen Soldaten bei Kriegsende – wohl das barbarischste, archaischste und demütigendste und schambetonteste aller Siegerrituale. Nach Kriegsende und insbesondere auf Grund der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft mussten diese Verbrechen aber total geleugnet werden. So arbeitete die Sowjet- und DDR-Nachkriegspropaganda den Schamgefühlen natürlich direkt in die Hand, so dass hier wohl die bestgehüteten Tabus lebens- und lustfeindlich implantiert wurden. Weras Verzicht auf Sexualität hat offenbar eine bedrückende und tabuisierte Vorgeschichte.«[8]

Angesichts der Komplexität von Familienidentitäten rechnete ich mir wenig Erfolg aus bei meiner Suche nach Ost-Kriegsenkeln, denen es gelungen war, die Fäden von NS- und Kriegsgeschichte und die der DDR zu entwirren und entsprechende Spuren im eigenen Familiensystem zu benennen. Ich führte ein halbes Dutzend Interviews, aber die Familiengeschichten, die dabei auftauchten, trugen zur Klärung meiner Fragestellung wenig bei. Manchmal zeigte sich auch, dass ich zu wenig über die DDR-Hintergründe wusste und daher zu Fehleinschätzungen kam. Wie auch immer: Ich bewegte mich fast ausschließlich im Spekulativen und kam zu keinem Ergebnis, das ich guten Gewissens als seriös hätte einstufen können.

Das Nachbeben

Es gibt in Deutschland keine Familie, an der der Krieg und die NS-Zeit spurlos vorbeigegangen sind. Der größte Teil der Bevölkerung will das auf sich beruhen lassen. Man sagt: Wir wollen an die alten Familiengeschichten nicht mehr denken und was damals in Deutschland geschah, ist uns ja nun hinreichend bekannt. In der Schule mussten wir uns bis zum Überdruss damit befassen. Es fehlt nicht an Fakten.

Mag sein. Was aber sicher fehlt, ist ein Verständnis für die Auswirkungen dieser Vergangenheit. Was bedeutet diese Erbschaft für unsere persönliche Identität, für unsere Familienidentität und letztlich auch für unsere gesellschaftliche Identität? Was bedeutet es, in der Schule mit Leichenbergen in KZ konfrontiert worden zu sein, und wie lebte es sich mit der ständigen Bedrohung durch einen Atomkrieg? Auch in anderen Ländern wurde diese Angst empfunden, aber nirgendwo anders war sie so ausgeprägt und, wie wir heute noch besser wissen als damals, so berechtigt. Das ist der Hintergrund, der erklärt, warum ein Jugendbuch – »Die letzten Kinder von Schewenborn« von Gudrun Pausewang –, das im Detail einen Atomkrieg in Deutschland ausmalt, zum Bestseller werden konnte.

Die Schriftstellerin Tanja Dückers, 1968 geboren, spricht im Zusammenhang mit den Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg von einem Nachbeben. Also nach dem Erdbeben das Nachbeben. Um es neben allen anderen Lebenserschütterungen zu identifizieren, bedarf es einer geradezu seismografischen Wahrnehmung. Rein intellektuell lässt es sich erst recht nicht erfassen. Dennoch: Viele Nachgeborene werden etwas davon spüren, aber sie können es nicht einordnen. Das Erdbeben selbst haben sie ja nicht erlebt.

Vielleicht nehmen sie etwas anderes bei sich wahr: Sie haben das Gefühl, sie würden ihre Potenziale nicht ausschöpfen. Irgendetwas bremst sie. Die Kinder der Kriegskinder gehören der Altersgruppe an, die am stärksten an psychologischer Hilfe interessiert ist. Den Psychotherapeuten sind die in diesem Buch beschriebenen Schwierigkeiten und Symptome wohlbekannt, weshalb sie zunehmend die Eltern und Großeltern ihrer Patienten mit deren zeitgeschichtlichem Hintergrund in den Blick nehmen. Die Psychotherapeuten sagen: Auffällig bei den heute 40- bis 50-Jährigen ist eine diffuse Identität. Offenbar empfinden sich viele Menschen als unstimmig. Nicht alles lässt sich aus der eigenen Biografie erklären. Der Psychoanalytiker Hartmut Radebold stellt dazu fest: »Die von der 2. an die 3. Generation ›vererbte‹ psychische Erfahrungsgeschichte lässt sich zwar verleugnen, bagatellisieren und bewusst für nichtig erklären – auslöschen lassen sich die Spuren nicht. Die dritte Generation besaß und besitzt allerdings die Chance, sich ihrer eigenen Reaktionen bewusst zu werden, um sie zu reflektieren und gegebenenfalls verändern zu können.«[9]

Wenn Romanschriftsteller und Drehbuchautoren sich für die Schnittstelle zwischen Familienalbum und zeitgeschichtlichem Hintergrund interessieren, dann deshalb, weil sie einer Geschichte und der Hauptfigur mehr Tiefe geben möchten. Ich denke, hier befindet sich häufig auch der Schlüssel für einen neuen Zugang zu bislang ungeklärten Fragen der eigenen Identität.

Zweites Kapitel

Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben

Ein Seminar für Kinder der Kriegskinder?

In seiner E-Mail, die Robert Bilak* mir schrieb, stand, er habe mein Buch über die Kriegskinder gelesen und ihm sei bekannt, dass ich gelegentlich Seminare für sie abhielte. Und dann seine direkte Frage: »Könnten Sie sich vorstellen, speziell für Kinder der Kriegskinder eine Gruppe anzubieten?« Ihm lag daran herauszufinden, in welchem Ausmaß er selbst durch das Schicksal seiner Kriegskindereltern belastet war. Das Seminar, das ein halbes Jahr später tatsächlich stattfand, wurde von meinem Mann geleitet, der Familientherapeut und Psychotraumatherapeut ist. Ich selbst steuerte historisches Wissen bei sowie meinen Erfahrungsschatz, der sich aus unzähligen Begegnungen mit Kriegskindern angesammelt hatte. Es war das erste einer Reihe von Seminaren, in denen es laut Ankündigungstext um das Ziel ging, »die eigenen Eltern besser zu verstehen und sich von ihnen abgrenzen zu können.« Als ich Robert Bilak aus Anlass dieses Buchprojekts zwei Jahre später um ein Gespräch bat, erzählte er mir, noch heute würden sich die Teilnehmer dieses ersten Seminars regelmäßig treffen; es habe sich unter ihnen ein geschwisterliches Verhältnis entwickelt.

Über Robert Bilak muss man vor allem eines wissen: Er hat in seinem Leben alles anders gemacht als seine Eltern. Er studierte, sein Vater nicht, und seine Mutter besitzt nicht einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Vater war stolz auf die Autos, die er sich im Laufe seines Lebens leisten konnte. Der Sohn schaffte seinen Wagen ab. Die Mutter führte bis zum Tod ihres Mannes eine konventionelle Hausfrauenehe – für Sohn Robert kommt nur eine emanzipierte Frau in Frage, die ihr eigenes Geld verdient. Der Vater ging nie unrasiert aus dem Haus. Sein Sohn braucht, um sich wohl zu fühlen, einen Drei-Tage-Bart, was seiner Mutter bis heute schwer fällt zu glauben. Die Eltern nannten ein kleines Haus ihr Eigen. Der Sohn besitzt in München eine geräumige Altbauwohnung über zwei Etagen mit Dachterrasse.

Sein Vater brauchte Dauerstress

Man muss sich Robert Bilak als einen durchtrainierten, meist braungebrannten 50-Jährigen vorstellen – noch immer ohne Brille, noch immer volles Haar, das er länger trägt als heutzutage üblich. Mühelos – so sieht es jedenfalls aus – nimmt er die vielen Stufen hoch in seine Dachgeschosswohnung. Einmal im Jahr verabschiedet er sich radikal von allem Vertrauten. Dann verbringt er sechs Wochen in völliger Einsamkeit und in unberührter Natur, wie Robinson. Was der Rechtsanwalt absolut nicht leiden kann, ist Dauerstress. Sein Vater dagegen suchte den Dauerstress. Man könnte auch sagen, er war arbeitssüchtig. In seiner freien Zeit betrieb der kaufmännische Angestellte eine kleine Landwirtschaft. Zu einem richtigen Hof, von dessen Erträgen er sich und seine Familie hätte ernähren können, reichte sein Kapital nie.

Auf keinen Fall, sagt Robert Bilak, während er mir an einem Winternachmittag Tee anbietet, auf keinen Fall werde er sich totarbeiten, wie es sein Vater tat. Der starb während einer Herz-Operation, mit 59 Jahren, kurz bevor er in Rente gehen wollte. Im Ruhestand, so sein Vorsatz, sollte alles nachgeholt werden, was er sich bis dahin versagt hatte. Den frühen Tod des Vaters hat Rechtsanwalt Robert Bilak vor Augen, wenn er auf sein Lebens- und Arbeitscredo zu sprechen kommt: In seinem Beruf sei es üblich, 60 und auch 80 Stunden zu arbeiten; er aber halte den Verdienst einer 30-Stunden-Woche für ausreichend, um ein gutes Leben zu führen.

Dann beschreibt er die letzten Jahre seines Vaters, als dieser kaum älter war als der Sohn heute: Wie der Vater seinen körperlichen Verfall leugnete, wie er weiter schuftete, buchstäblich bis zum Umfallen. »Ich hab’ versucht, ihn wachzurütteln«, erzählt der Sohn. »Ich hab’ gesagt: ›Du musst Sport machen! Wie wär’s, wenn wir zusammen Sport machen …‹ Er wollte aber nicht. Da habe ich ihm einen Heimtrainer geschenkt. Den hat er nicht benutzt.«

Bei so starken Gegensätzen zwischen Sohn und Vater denkt man schnell an große Spannungen und Zerwürfnisse, aber es kam nur selten zu offenen Auseinandersetzungen. Robert Bilak berichtet, er sei in einer heilen Welt aufgewachsen und von liebevollen Eltern umsorgt worden. Wie es sich in seiner Erinnerung darstellt, hat er als Kind nichts vermisst, außer Geschwister. »Ich war ein Sonntagskind, dem alles gelang, was es sich vorgenommen hatte.« Ein Friedenskind war er, bestens ausgestattet, auch mit Bildung. Erst als Erwachsener fiel ihm auf, wie maßlos seine Eltern schulische Leistungen verlangt hatten. Dahinter erkannte er ihre große Existenzangst und die Sorge, ihrem Sohn könne es einmal genauso ergehen, wie ihnen selbst – auch er könne eines Tages alles verlieren und vor dem Nichts stehen. Ihnen, den Flüchtlingen, hatte sich als Überlebensmaxime eingebrannt: Nur, was man gelernt hat, das kann einem keiner mehr nehmen.