Die Verrückten Band 6 - Jakob Landolt - E-Book

Die Verrückten Band 6 E-Book

Jakob Landolt

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Beschreibung

Irrsinn in der Geschichte Diese mehrbändige Buchreihe hat den menschlichen Irrsinn zum Thema und versteht sich als Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie und Psychologie. Band 6: Erste Psychiatrie Ab ungefähr der vorletzten Jahrhundertwende (1800) erwachte die Psychiatrie als eigenständige medizi-nische Disziplin. Man unterschied zwischen einer Verwahrpsychiatrie und einer Universitätspsychiatrie. Markante Persönlichkeiten führten diese erste Psychiatrie in neue und wissenschaftsnahe Bahnen. Auf dem europäischen Festland hatten die Franzosen hier die Nase früh vorn mit ihren berühmten Kettenbefreiern Pinel und Esquirol. Dicht auf den Fersen standen ihnen aber der Italiener Chiarugi und der Deutsche Reil. In England fand mit Battie und Tuke ebenfalls ein früher Aufbruch in eine neue Psychiatrie statt. Weitere Pioniere: Rush, Autenrieth, Haslam und Langermann. Die Zeit der Planung und Erstellung psychiatrischer Monumentalbauten folgte. Die Folter und die InKettenLegung wurde ersetzt durch die Zeit der Zwangsbehandlungen mittels Zwangsjacken, Fixierungen, Isolierungen und Deckelbädern.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis:

Band 6: Erste Psychiatrie

Vom Asklepieion über die Dorenkisten zur Anstaltspsychiatrie

Anstaltsbauten

Pioniere der Anstaltspsychiatrie

Philippe Pinel 1745-1826

Benjamin Rush 1746-1813

Johann Christian Reil 1759-1813

Autenrieth und Hölderlin

Vincenzo Chiarugi 1759-1820

John Haslam 1764-1844

(James Tilly Metthews und das Air-Loom)

Johann Gottfried Langermann 1768-1832

Jean-Étienne Esquirol 1772-1840

Die moralische (psychische) Behandlung der Seelenstörungen

Die physische (somatische) Behandlung der Seelenstörungen

Ausblick auf Band 7

Literatur und Quellen

Irrsinn in der Geschichte

Einführung Band 6:

Ab ungefähr der vorletzten Jahrhundertwende (1800) erwachte die Psychiatrie langsam als eigenständige medizinische Disziplin. Man unterschied zwischen einer Verwahrpsychiatrie und einer Universitätspsychiatrie.

Markante Persönlichkeiten führten diese erste Psychiatrie in neue und wissenschaftsnahe Bahnen. Auf dem europäischen Festland hatten die Franzosen die Nase früh vorn mit ihren berühmten ‚Kettenbefreiern‘ Pinel und Esquirol. Dicht auf den Fersen standen ihnen aber der Italiener Chiarugi und der Deutsche Reil. In England fand mit Battie und Tuke ebenfalls ein früher Aufbruch in eine neue Psychiatrie statt.

Weitere Pioniere: Rush, Autenrieth, Haslam und Langermann.

Die Zeit der Planung und Erstellung psychiatrischer Monumentalbauten folgte. Die Folter und die In-Ketten-Legung wurde ‚ersetzt‘ durch die Zeit der Zwangsbehandlungen mittels Zwangsjacken, Fixierungen, Isolierungen und Deckelbädern.

Erste Psychiatrie

Vom Asklepieion über die Dorenkisten zur Anstaltspsychiatrie

Greifen wir in einem Kurzüberblick auf frühe Zeitepochen zurück, kann ein genaues Anfangsdatum von spezifischen Bauten für Psychischkranke kaum ausgemacht werden. Das Asklepieion zur Zeit der Griechen, noch weit vor der christlichen Zeitrechnung, machte seine Medizin- und Tempeltore auf für Menschen mit psychischen Krankheitsbildern und versuchte mit entsprechenden Therapien auf die Gemüter und Geister der Irren einzuwirken. Aber diese Asklepieions wurden nicht speziell für Psychischkranke erbaut.

Die nicht christlichen Gesellschaften hatten im Bau der Anstaltspsychiatrie vermutlich die Nase vorn. Schon bei den frühen Römern berichtete man über Personen mit einer geistigen Verwirrung. Die nicht christlichen Bimaristane des frühen Persiens jedoch, die zur selben Zeit wie die christlichen Hospitäler ins Leben gerufen worden waren, schufen in ihren Mauern bereits eigene Abteilungen für Irre. In christlichen Hospitälern kannte man solche speziellen Irren-Abteilungen für Psychischkranke jedoch noch nicht.

Im alten Rom empfahl bereits Aulus Cornelius Celsus die Anwendung von Ketten bei erregten Irren. Die dahinter stehende ‚therapeutische Ohnmacht‘ hielt sich leider bis heute.

Die Römer übernahmen vieles aus der griechischen Welt, so auch die Idee des Asklepieions resp. des Thermalbades. Überhaupt baute man recht früh therapeutisch wirkende Thermalbäder. Ein weitum bekanntes findet man auf der Insel Ischia. Rom machte sich früh Gedanken über gesunde und kranke Menschen. Immerhin kannte man das geflügelte Wort des Dichters Juvenal, der in seinen Satiren sagte: “‚orandum est ut sit mens sana in corpore sano“. Somit sah bereits er ein, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper stecken sollte, aber auch, dass in einem gesunden Körper auch ein kranker Geist stecken konnte. Daher forderte er, man solle beten, dass auch ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei! Er berief sich hierin vermutlich auf die ‚Seelenlehre‘ Platons.

Man kannte im alten Rom den (psychopathologischen) Cäsarenwahn, hier als Bezeichnung des Grössenwahnsinns oder der Paranoia für jene Kaiser, die mit ihrer Machtfülle und ihrem Reichtum nicht so richtig umzugehen wussten. Ein klassischer Vertreter eines solchen grössenwahnsinnigen Imperators war Kaiser Nero. Er gilt noch heute als Inbegriff des grössenwahnsinnigen und paranoiden Tyrannen. Rom machte sich also Gedanken zum psychischen Verfassungszustand vereinzelter Bürger, insbesondere jedoch über seine machthungrigen und besitzgierigen Kaiser, Imperatoren, Kriegsfürsten oder Senatoren.

Heute kommt uns, nicht nur in der Politik, der Ausdruck des Cäsarenwahns für eine krankhafte Übersteigerung des Machtanspruches noch immer bei Diktatoren, Oligarchen, Despoten, Tyrannen und gewissen landesväterlichen Politikern entgegen, die sich in ihrem Land entsprechend wie unangefochtene Cäsaren aufführen und schnell, man weiss nicht wie, plötzlich zu Milliardären geworden sind. Quasi von heute auf morgen verfügen sie alsbald über Ländereien, Firmenbeteiligungen und über sonstige Reichtümer, die mit Sicherheit vor allem durch eine mafiöse, korrupte und manchmal auch kriegslüsterne Amtsführung ermöglicht wurde. Es macht grundsätzlich verdächtig, wenn Volksführer, Landespräsidenten, Mogule oder Diktatoren quasi über Nacht zu Millionären oder Milliardären geworden sind, wo sie doch vorher kaum über Geld verfügten. Viele römische Cäsaren waren plötzlich von Glanz und Reichtum umgeben.

Der Cäsarenwahnsinn bezeichnet eine spezifische Form der Hybris, des Grössenwahns und der Paranoia, die insbesondere bei einigen römischen Kaisern aufgetreten sein soll. Der Ausdruck bezeichnet weniger eine Krankheit im medizinischen Sinne als vielmehr ein Bündel von Merkmalen eines zur Herrschaft ungeeigneten Monarchen.

Aus: Wikipedia

Der Cäsarenwahn kreiste bei diesen Imperatoren um den Glauben an die eigene Göttlichkeit (Unfehlbarkeit und höchste richterliche Instanz), um Verschwendungssucht und dem Heisshunger nach militärischen Triumphen und schliesslich – ganz persönlich – um eine Neigung zum Verfolgungswahn (z. B. Verfolgung durch Medien oder politische Gegner). Einem Benito Mussolini kann auch eine gewisse Wahntheatralik nachgesagt werden, die noch heute einigen Staatsmännern eigen ist. Man erforsche nur ihre Körperbewegungen, besonders die ihrer Arme und Hände, ihren Gesichtsausdruck und ihr polemisches Schreien, welches manchmal sogar zur völligen Heiserkeit und zum Überschnappen und versagen ihrer Stimme führt.

Im antiken Badewesen Roms - welches eine Weiterentwicklung der Asklepieions war - liess man sich u.a. innerhalb heisser Thermalquellen einer Heilung zuführen, deren Prozedur auch manchen Geisteskranken zugute kam, wenigstens den Begüterten unter ihnen. Selbstverständlich hatte ein aggressiver und lauter Patient aus niederem Stande weniger Chancen je in eine solche Heiltherme zu gelangen, als vielmehr solche aus wohlhabendem Hause und jene, die sich äusserlich als weniger ‚ver-rückt‘ und geistig deutlich unauffälliger gebärdeten.

Geisteskranke mochten, gemäss gewissen römischen Gesetzesquellen, viel eher in Gefängnisse abgeschoben worden sein. Aber Bauten für rein Psychischkranke gab es im alten Rom nicht. Die Irren waren (noch) kein allzu interessantes, medizinisches Thema, eher ein Thema des Glaubens oder Aberglaubens oder der Versündigung gegen die Gottheiten. Irrsinn galt oft als selbst verschuldetes Schicksal.

Die Heilwirkung dieser warmen und vulkanischen Quellen mit ihren mineralischen Zusätzen (Mineral- und Thermalquellen) war weitum bekannt. Diese Badeanlagen, oft von Triumphatoren oder sehr reichen Bürgern Roms erbaut, dienten nicht nur feierlichen Reinigungszeremonien zu Ehren der Götter oder zu sonstigen kultischen Zwecken, sondern spezifisch auch zur Erholung und Heilung von körperlichen Krankheiten oder Verletzungen. Waren keine warme, mineralischen Naturquellen vorhanden, baute man sie nicht nur luxuriös ausgestattet, sondern auch mit einer aufwendigen Heiztechnik (Unterbodenheizung, Hypocaust) versehen auch bis in die tiefsten römischen Provinzen hinein. Dort dienten sie auch den römischen Truppen (Invasionssoldaten) zur Erholung und Entspannung.

Die römischen Bürger der Antike betrachteten einen Besuch in einem öffentlichen Bad (Therme) als selbstverständlich und man kann annehmen, dass dies im Grundsatz auch für Menschen mit einer psychischen Erkrankung galt. Wenigstens bis zu einem gewissen Grad. In einer Therme enthalten waren Umkleideräume, ein Schwitzraum, ein Warmbad, ein mässig warmer Raum und ein Kaltbad. Im Warmbad bauten sich Temperaturen von 40 oder noch mehr Grad auf. Das wirkte sicher auf Körper und Geist und zwar dämpfend wie auch anregend.

Manche Thermalkomplexe kannten in ihrer Nähe auch Übernachtungsmöglichkeiten, die sicherlich auch Psychischkranken offen standen, wenn sie sich noch einigermassen entsprechend gesittet aufführten, in Begleitung waren und die Zeche bezahlen konnten. Aber spezielle, diesen Thermen angegliederte Bauten im Sinne eines Tollhauses kannte man nicht. Es gibt jedenfalls keine Überlieferungen dazu.

Im muslimisch-arabischen Raum (Damaskus, Kairo, Granada) jedoch wurden nachgewiesenermassen die ersten, spezifisch auf die Beherbergung und Heilung von Irren gerichteten Massnahmen in eigens dazu gebauten Gebäudekomplexen ins Leben gerufen. Immerhin erbaute man dort bereits im 9. und später im 12. Jahrhundert die ersten Spezialhäuser für Geisteskranke, die Bimaristane. In ihnen führte man die Kranken verschiedenen Heilungsversuchen und spezieller Pflege innerhalb eines Fachzirkels zu. Zumindest die etwas höher gestellten Irren erhielten darin eine gewisse ärztliche Hilfe.

Nach den muslimischen Übergriffen ins europäische Andalusien wurden Bimaristane auch dort erbaut (Granada). Sie entstanden in den Städten des ganzen islamischen Kulturraumes und hatten einzig nur zum Zweck, Patienten mit ansteckenden und psychiatrischen Erkrankungen von der Gesellschaft zu isolieren.

Oft wurden diese Bimaristane neben Moscheen angebaut und enthielten eine Schule, eine Bibliothek, eine Apotheke, verschiedene Krankensäle und eine Küche. Grössere Bimaristane unterhielten auch eine spezielle Abteilung für Geisteskranke.

Gemäss heutiger Erkenntnis waren es Völker muslimischen Glaubens, die sich als erste speziell den Irren, Verrückten und Wahnsinnigen mit Hingabe und Pflege annahmen und zwar auf Grund resp. in der Gesinnung des religionsbedingten, humanitären Wohlwollens.

Ein christliches Pendant dieses humanitären Verhaltens (zum Bau von Bimaristanen) lässt sich zur selben Zeit und im selben Sinne nicht oder nur rudimentär eruieren. Die Christen bauten um diese Zeit, ausser einigen nachfolgend beschriebenen Hospitälern, die eher durch Orden oder religiösen Kirchenleuten gebaut wurden, als durch die offizielle Kirche selbst, viel lieber prunkvolle Kathedralen, Dome, Münster und Kirchenpaläste wie beispielsweise die Notre-Dame de Paris, die Kathedrale von Wells, den Mailänder Dom, das Strassburger Münster, sowie weitere Münster und Dome (Nürnberg, Regensburg, Ulm etc.) und im römischen Vatikan, allerdings später, den Petersdom. Psychiatrische Bauten als solche und im Vergleich zu den Bimaristanen des Orients baute die Kirche (im Wissen des heutigen Standes) nicht.

Auch floss viel Vermögen in die Kunst, z. B. in die Malerei, in aufwendige Schnitzereien, in monumentale, beeindruckende Wehrbauten, in farbige Decken- und Wandfresken, in Gipsstuckaturen, Marmorsäulen, Holz- und Marmorplastiken und Steinmetzarbeiten, in architektonisch grossartige Deckengewölbe, ausladend, weit und hoch, in Altäre und Chorgestühle und Kirchenorgeln usw.

Selbst in den Gottesdiensten wurde mit Prunk angegeben und Ehrfurcht vor Gott erheischt, anstatt Ehrfurcht vor den Irren, wie es selbst Mohammed gepredigt haben soll. Sicherlich jedoch floss kaum Geld in christliche Krankenhäuser in Anlehnung an Bimaristane und schon gar nicht in Bauten für Geisteskranke.

Mit diesem Pomp wollte man im Volke die Glaubensstärke und die Unterwürfigkeit zu Gott und Kirche festigen. In diese Prunkbauten hinein sickerte viel Geld und Reichtum, welches den Geisteskranken, Schwachen und Kranken hätte zur Verfügung stehen sollen und dort fehlte. Jesus Christus hätte dies sicherlich nicht so gewollt und hätte sich wohl etwas gestört an der Ergötzung seiner ihn stellvertretenden Päpste und Bischöfe für solche teuren Tempel- und Prunkbauten.

Viele, noch so kleine und abgelegene Kirchen und Kapellen wurden mit verschwenderisch üppigen Altären und feudalen Deckenfresken und vergoldeten Malereien ausgestattet, die jede Menge Geld und Gold verschlangen, dadurch im Volk tiefen Eindruck schindeten und Respekt für das Klerikale erheischten.

Die Tollen und Irren jedoch wurden in Dorenkisten gesteckt, schlecht betreut und mit Nahrung unterversorgt, bis sie ermattet, körperlich abgemagert und geistig desillusioniert irgendwo in abgelegenen Gebieten wie auch inmitten städtischer Betriebsamkeit jämmerlich verelendet dahinvegetierten und starben.

Aber dass irgendwo damals im christlichen Einflussgebiet kirchlicherseits ein weitum bekanntes, grosszügig angelegtes Gottes- und Krankenhaus für Irre und Schwache gebaut wurde, ist nirgendwo nachzuweisen. Immerhin gab es Glaubensgemeinschaften resp. Orden, die sich der Irren annahmen und ca. ab dem 12. Jahrhundert Einrichtungen erbauten, die auch Geisteskranke aufnahmen, teils sogar in speziellen Abteilungen. Hier eine kurze Aufzählung einiger Einrichtungen, die auch Geisteskranke aufnahmen und ihnen somit offen standen:

Hotel Dieu, Paris (ab 651, 1479, u.a. Daten)

Anstalten für Geisteskranker in Damaskus, Aleppo und Kaldun, 1160

Heilig-Geist-Spital in Mainz, 1236

Spital St. Marie of Bethlehem (Bedlam) in London, 1247

Mansur-Spital in Kairo, 1283

Spitäler des Ordens der Cellitinnen und Alexianer, 1350

Marie of Bethlehem (Bedlam) nahm auch Geisteskranke auf, 1368

Casa des Orates, Granada, 1375

Erstes Irrenhaus Europas (?): Valencia, 1409

Irrenhaus in Saragossa, 1425

Irreneinrichtung in Valladolid, 1436

Irrenhaus in Toledo, 1483

Breslauer Klause, erstes Irrenhaus in Deutschland (?), 1488

Doll-Huys: Amsterdam, 1562

Irrenhaus in Marseille, 1600

Unsinnigenhaus in Lübeck, 1602

Irrenhaus Hospiz de Charenton der ‚Frères de la Charité‘, Paris, 1641

Teils wurde früher bereits darüber berichtet. Erwähnt wurden beispielsweise Einrichtungen wie das frühe Bürgerspital, die Dorenkisten und Narrenkäfige wie auch die Leprosorien. Die klösterlichen Spitäler der damaligen Zeit beherbergten zwar immer wieder Menschen auch mit einer Geistesstörung, gewiss, beispielsweise in Einrichtungen des Johanniterordens. Viele Hospitalstiftungen wurden jedoch von gläubigen Edelleuten oder sonstigen gut betuchten Bürgern finanziert und nicht von der Kirche. Zudem war der Zweck dieser Bauten im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen eher deren Verwahrung und Ausgrenzung, als deren Heilung oder Pflege.

Die Heilig-Geist-Spitäler waren ebenfalls solche karitativen Hospitalstiftungen, die Psychischkranken aber eher Verwahrung boten als medizinische Heilung und Pflege. Allein in Deutschland wurden immerhin an die Einhundert solcher Häuser gebaut, einige bereits ab dem 12. Jahrhundert, andere später. Sie dienten vielen Armen, Alten und Kranken sowie den Durchreisenden und Bettlern als Zufluchtsstätte. Davon sind einige noch heute als Alteneinrichtungen in Betrieb.

Das Heilig-Geist-Spital in Mainz gilt als das älteste Bürgerhospital in Deutschland, gebaut im Jahre 1236. Es gehört zu den ältesten, christlichen Spitalbauten Europas. Sie nahmen sich darin teilweise auch den Irren an und versuchten, ihre Leiden zu lindern, auch wenn der Verwahr- und Ausgrenzungsgedanke noch stärker war. Eine spezifisch gebaute Einrichtung für Psychischkranke jedoch war das Spital nicht.

Viele Wahnsinnige fristeten ihr Leben damals noch immer in feuchten Erdlöchern, in freiheitsberaubenden Dorenkisten und in zur Schaustellung verwendeten Narrenkäfigen. Andere wurden auf Fegefeuern exekutiert, nicht ohne sie vorher in Inquisitionstribunalen gefoltert zu haben. Denn eine Geisteskrankheit galt damals als Gottesstrafe und dies wurde entsprechend ‚honoriert‘.

Auf das Jahr 1357 datierte sich ein Erneuerungsbau (?) des Hospitals Betlehem in London, im Volksmund einfach Bedlam genannt, in das ab 1368 auch Psychischkranke aufgenommen worden sein sollen. Auch die Pariser Salpêtrière nahm recht früh einige Seelischkranke in ihren Mauern auf. Aber das waren, zumindest zu Beginn, keine eigentlichen Psychiatriebauten, sondern dienten noch als Gefängnisse, Ausgrenzungsanstalten, Verwahranstalten und Armen und Waisenhäuser. Sie waren zwar Bauten, welche unter dem Einfluss des ‚Patrimonium Petri‘ entstanden, teils jedoch wurden sie Privatspendern finanziert und erbaut.

Nicht zu vergessen ist allerdings, dass es in den spätantiken Klöstern viele Initiativen zur Krankenpflege gab, aus denen grosse medizinische Errungenschaften hervorgingen: der Bau von Hospizen. Auch wenn damals zu einem solchen Hospital eine Kirche, ein Oratorium und eine Kapelle gehörte, darf nicht vergessen werden, dass gerade christliche Mönche einen entscheidenden Einfluss auf die Medizinwissenschaft hatten.

Erinnert sei hier in diesem Zusammenhang auch an das berühmte Frankfurter ‚Stocke‘, oder an die Lübecker Dorenkisten. Sie waren ganz frühe Bauten für die Irren. Auch an die Tollkisten vor manchen Stadttoren sei nochmals erinnert und an die Turmgefängnisse in den Stadtmauern des Mittelalters, die auch Irre in ihrem Mauern beherbergten, für die Private finanziell aufkamen.

Im sog. ‚dunklen‘ Mittelalter trieben der Teufel, die Inquisition, der Aberglaube breiter Bevölkerungsschichten, die inquisitorischen Hexenverbrennungen und der abstruse Zauberglaube ungebildeter Massen das ihrige in der Begegnung geistig abnormer Menschen. Alles zusammen tötete viele Irre, machte sie rechtlos und setzte sie ungeschützt dem Unbill der Kirche und dem dummen Aberglauben der damaligen Menschen aus. Niemand liebte die Psychischkranken, alle gingen ihnen aus dem Wege und zeigten eine starke Angst vor Ansteckung! Sie waren allen Gesellschaften eine Last geworden resp. schon immer gewesen.

Falls damals ein solcher armer Irrer der inquisitorischen Verbrennung entkommen konnte, war es hier und dort die Barmherzigkeit und das Empfinden von Leid, das auch einen Hexenglauben begleiten konnte, aber keineswegs die Regel war. Es war also eher ein grosses Glück, wenn ein Irrer in einem Asyl oder einem Hospiz aufgenommen und gepflegt wurde. Meist war er dann begütert oder hatte eine einflussreiche Verwandtschaft, die für seine Obhut aufkam.

Das Hôpital Généreaux beispielsweise, das Allgemeine Krankenhaus von Paris, war eine Art von Asyl oder Spital, das erwiesenermassen auch Irre aufnahm. Immerhin bestand dieses Hôpital aus mehreren Häusern resp. Abteilungen. Unter der Herrschaft Ludwigs Xlll. wurde es von einer katholischen Geheimgesellschaft im Jahr 1656 erbaut. Es diente jedoch nicht rein als medizinische Einrichtung, sondern hatte anfänglich das Problem des Bettelns aufgrund der sich ausbreitenden Armut zu dieser Zeit zu lösen resp. die ‚Seelen der Gefallenen zu retten‘.

Es sollte also die aus den Fugen geratene öffentliche Ordnung des Landes, der Stadt wieder herstellen, wie man damals dachte. Das Hôpital Généreaux (mehrere Abteilungen) war denn zugleich, neben einem Irrenhaus, auch eine Justizvollzugsanstalt, also ein Zuchthaus (Gefängnis), ein ‚Besserungsasyl‘ oder eine ‚Arbeitserziehungsanstalt‘ für das die Stadtentwicklung störende Gesindel.

Aufgenommen wurden Arme und Waise, Bettler und Landstreicher, Straftäter, Mörder und Verbrecher, Prostituiere, Krüppel, Geistigbehinderte, Körpergeschädigte, mit Lustseuchen (Syphilis und Lues) behaftete und weitere arbeitsscheue, nichtsnutzige Elemente der verarmten Gesellschaft, die darin meist schlecht und unmenschlich behandelt wurden. Schnell verkamen diese Anstalten zu Orten der Gewalt und der Veruntreuung.

Dem Hôpital Général, wie es auch genannt wurde, entsprach in England das ‚Workhous‘, in Deutschland das ‚Zuchthaus‘. Aus der Gesellschaft aussortierte Menschen vegetierten dort in einem Betrieb, der eher einem Gefängnis glich, als einem heutigen Krankenhaus. Eine geregelte Ärzteschaft kannten diese Häuser nur ansatzweise.

Diese Institutionen wurden früher also nicht speziell für Psychischkranke erbaut, sondern erfüllten Aussonderungs-, Züchtigungs- und Erziehungszwecke. Es waren oft durch die Kirche oder aus ihrem Umfeld gespendete Häuser, erbaut für Lahme, Sieche und Malade und dienten als städtische Aussonderungs- und Verwahranstalten als Gefängnisse, Disziplinierungs- und Arbeitsanstalten einzig oben beschriebenen Zweck. Irre gehörten auch hinein, wurde jedoch von den ‚Normalen‘ heftig drangsaliert. Manchen blieb zur Erlösung nur der Suizid.

Spitäler dienten auch der Ausgrenzung und Verwahrung von Aussätzigen (waren Leprosorien, Pesthospitale, Tuberkuloselazarette, Siechenhäuser), beherbergten aber auch Armengenössige, Irre und wurden dadurch quasi zu ersten Tollhäusern, ‚Mad-Houses‘.

Kirchennahe Hospitale, Pilgerhospitals, Bürgerspitäler für Verarmte, Kranke, Kriegsgeschädigte und Findel- und Waisenkinder boten manchmal wie eine glückliche Fügung also auch einige wenige Plätze für die Irren an. Vor allem für die etwas Begüterten unter ihnen. Die ganz armen und ungeschützten Psychischkranken vegetierten irgendwo dahin und fanden, ohne Pflege und medizinische Versorgung meist einen frühen Tod. Auch die Kirchen erbarmten sich ihrer nicht.

Anstaltsbauten (ab ca. 1750-1900)

Ab ungefähr 1750 reifte die Zeit für eine ‚psychiatriespezifische‘ Versorgung von psychisch kranken Menschen. Die Heil- und Pflegeanstalten behandelten mit gezielten ‚Interventionsmassnahmen‘ Geisteskranke. Man schrieb bald erste Lehrbücher über Irrenkrankheiten, von denen noch berichtet wird, und erfand eifrig neue Nosologien. Eine unaufhaltsame Verabschiedung von den Lehren Galens nahm unumkehrbar ihren Lauf. Nach 1500 Jahren eine unabdingbare Erfordernis!

Unaufhaltsam entwickelte sich eine eigene Wissenschaft der Psychiatrie, die eng im Einklang stand zu den europaweit aufkommenden Irrenanstalten. Bis ungefähr 1750 hatte man damit zugewartet, nun aber wurde der gesellschaftspolitische Druck immer grösser und führte zu einem Bauboom von Anstalten für Irre.

Nicht, dass ein Battie, ein Cullen, ein Tuke oder ein Brown, trotz Abhandlung in der sogenannt ‚vorpsychiatrischen Zeit‘ (Band 5), nicht auch grossartige Pioniere der Anstaltspsychiatrie gewesen wären, im Gegenteil, sie waren im Grunde genommen ihre allerfrühesten Pioniere. Diese Persönlichkeiten führten in irgendeiner Form ein Irrenhaus, oft als private Einrichtung oder als umgebautes Hotel für ‚Bedlame‘, ‚Insane‘, ‚Irre‘, ‚Geisteskranke‘ oder ‚Neurastheniker‘.

Das erste, bekannte Psychiatriebuch schrieb, wie bereits in Band 5 dieser Buchreihe beschrieben, der Engländer William Battie: ‚A Treatise on Madness‘, 1758.

Manche ‚Psychiater‘ resp. Ärzte behandelten Patienten ambulant bereits vor dem Bauboom des Irrenanstaltswesen ab 1750, beispielsweise in Form einer ‚Sprechstundenpsychiatrie‘ oder mit Hilfe von Magneten oder der Hypnose. Die Klientel waren die reichen und adeligen ‚Irrenkranken‘ der höheren Gesellschaft Londons, Wiens oder Paris etc. Man diagnostizierte bereits Jahrzehnte zuvor ‚Astheniker und Stheniker‘, ‚Neurastheniker‘, Mesmersche ‚Somnambule‘ oder (Cheynsche) ‚Hypochondriker‘. Dazu kamen Hysterische, Manische und Melancholische.

Und in noch früheren Zeiten behandelte man, wie bereits beschrieben, in der Antike des Asklepieions auch psychisch Auffällige, führte sie heilschlafend in Höhlen und Tempel. Bereits Hippokrates nahm sich ihrer an und vertrat für die damalige Zeit eine erstaunlich wissenschaftliche Sichtweise, die weiser war, als zu Zeiten der religiös fundierten Hexenverfolgung.

Das antike Griechenland therapierte bereits mit Massagen, Aderlässen, Diäten und Schröpfungen, gab Nieswurz ab, macht Ölumschläge. Begleitet wurden die Genesungsversuche durch Theaterspiele, Brettspiele oder durch anregende und begleitete Reisen in ferne Länder. Alles war bereits da, alles durchgespielt, erprobt und bekannt und harrte der Wiederentdeckung in Irrenhäusern.

Die Therapien änderten sich jedoch. Man bediente sich nun mit Deckelbädern, Kaltwassergüssen, Drehstühlen, Zwangsjacken und ersten Medikamenten, die häufig zu manchmal tödlichen Vergiftungen führten (Quecksilber). Zwangsbehandlungen, von kräftigen Wärtern mit harten Strafandrohungen und Stockschlägen durchgesetzt, wurden zur Ruhigstellung der Unruhigen bis zur Perfektion ausgetüftelt. Man kannte auch damals schon die Elektrofolter. Es gab Nahrungsentzüge, körperliche Züchtigungen, Freiheitsentzüge, soziale Schlechterstellungen.

Bevor wir mit den eigentlichen Pionieren der frühen Anstaltspsychiatrie beginnen, also u.a. mit Pinel, Rush, Reil, Chiarugi, Esquirol, Conolly, Griesinger und beispielsweise auch Charcot, seien hier noch kurz zur Vervollständigung des Wissens einige wenige Einfügungen zum Thema: ‚Baugeschichte und Entwicklung erster Psychiatrien‘ angefügt.

Wann wirklich der Anfang der ‚eigentlichen Psychiatrie‘ war, lässt sich auch aus Ermangelung einer Definition, was denn genau Psychiatrie, oder vielmehr, was psychiatrisches Handeln sei, geschichtlich nicht exakt festlegen. Wie soll eine solche Definition aussehen? Muss eine solche das gesamte heute bekannte psychiatrische Instrumentarium enthalten? Oder genügt bereits eine erste einheitliche und allseitig anerkannte Nomenklatur für psychische Krankheiten? Ein erstes, noch rudimentäres Diagnose- und Therapiesystem psychischer Erkrankungen? Eine erste psychiatriespezifische Nosologie? Eine oberflächliche psychopathologische Erklärung von Geisteskrankheiten?

Einhergehend mit einer solchen ersten Psychiatrie liess sich eine Änderung des ursprünglichen Zweckes der Verwahrung, in einen ersten und noch hilflosen Versuch der Heilung und Therapie von Geisteskranken und Übeltätern ausmachen. Die Verwahranstalten wurden im Verlauf der fortschreitenden Zeit immer entschiedener zu Heil und Pflegeanstalten. Dies war sicherlich eines ihrer entscheidenen Merkmale, das sich von den Verwahranstalten unterschied.

Die Psychiatrie als solche gab es ab dem Baumboom von Anstalten für Irre, die politisch beinahe zur selben Zeit in Europa ungefähr ab Mitte des 18. Jahrhundert (1750-1800), oft als Privatbauten, erstellt wurden (York). Ein nächster Schub in einem breiteren Umfange erfolgte ab Mitte des 19. Jahrhunderts (1850-1900), jetzt als öffentliche Bauten in vielen europäischen Ländern.

So akzeptierte und betrachtete man den Wahnsinn gesellschaftspolitisch ab Ende des 18. Jahrhunderts (teils erst ab beginnendem 19. Jahrhundert) immer mehr als therapiebedürftige Krankheit – und nicht als Gottesstrafe -, welche der säkularen ärztlichen Wissenschaft zugänglich gemacht werden musste und die der fürsorglichen Pflege bedarf. Man suchte nach Heilung und somit nach Therapien und nicht nach Strafmassnahmen. Mit dieser sich immer weiter in die Behörden hinein verbreitende Ansicht über Geisteskrankheit wurde gleichzeitig die Forderung laut, diese Kranken nicht mehr zusammen mit verurteilten Verbrechern in denselben Anstalten und Abteilungen einzukerkern. Die Forderung nach einer Trennung und humanen Fürsorge wurde endlich lauter.

In manchen europäischen Ländern wurden deswegen neue Gesetze erlassen, die dieser und auch anderen Forderungen Rechnung trugen. So wurde in England recht früh, nämlich bereits 1744, gesetzlich festgelegt, dass die Wahnsinnigen und Geisteskranken mit der Absicht der Heilung (und nicht der Wegsperrung) interniert werden sollten, auch wenn die alte Absicht, die Irren aus der Gesellschaft zu entfernen, noch so manchem Politiker und Beamten im Kopfe herumschweben mochte. Ein Parlamentsakt in London wurde 1744 genehmigt, indem bestimmt wurde, dass zwei autorisierte Richter einen gefährlichen und tobenden Irren zu untersuchen und wenn nötig zu fesseln (lassen) hätten.

Später wurde in England auch beschlossen, dass 5 Ärzte in eine Kommission zu wählen seien mit dem Auftrag, die Privatanstalten um London herum, die es damals bereits gab, jährlich mindestens einmal, wenn nötig auch öfters, zu visitieren. Nicht nur in England, sondern in ganz Europa folgten immer mehr Irrengesetze. Weiter folgte um 1800 in England ein ‚Gesetz zur Unterbringung irrer Verbrecher‘. Oder um 1814, ebenfalls in England, die ‚Private Mad-House Bill‘, welche die periodischen Visitationen der zahlreichen privaten Irrenanstalten durch die Magistrate vorschrieb.

Es folgten weitere Gesetze, welche die Rechte von Geisteskranken, aber auch die des Staates regelten. So z. B. regelte man, was mit dem Vermögen solcher Irren bei einer Einweisung zu geschehen hatte (Vermögensregelung). So wurden etwa eine irre Person und dessen Vermögen unter den obersten Gerichtshof Londons (Englands) gestellt. Oder es wurde gesetzlich verhindert, dass ein gesunder Mensch aus unlauterer Absicht als ‚Geisteskranker‘ in einer Irrenanstalt oder einem Gefängnis eingesperrt werden durfte. Ob jedoch diese ‚Bills‘ dem Betroffenen eher schadeten, als dass sie ihm nützten, bleibt dahingestellt.

Die Geisteshaltung des Rationalismus war es, die dazu beitrug, dass Geisteskranke nicht norm- und gesetzlos angekettet und von der Gesellschaft ausgeschlossen werden konnten, sondern dass man versuchte, sie therapeutisch zu heilen oder ihre Symptome zumindest abzuschwächen.

Viele Bauten mit dem Zweck der Verwahrung und Aussperrung waren bereits in der ‚vorpsychiatrischen Zeit‘ erstellt worden und es galt nun, ihren ursprünglichen Zweck zu ändern. Ein Verwahrgefängnis wäre im Charakter unter Umständen auch schon eine frühe ‚psychiatrische‘ Einrichtung gewesen, wenn die Verwahrung vermehrt unter dem Gesichtspunkt der Humanität und Therapie erfolgt wäre, innerhalb der sich menschliches Wohlwollen und milde nachsichtige Begegnung gegenüber dem unbescholtenen Irren durchgesetzt hätte. Aber das Losbindung von Ketten und Pfählen, eine humane ärztliche Behandlung und Krankenpflege, gutes Essen, lichte Räume, regelmässige Freigänge an der frischen Luft, eine tolerante Bewilligung von Krankenbesuchen und eine geistliche Seelsorge erfolgte erst jetzt.

Der Verwahranstalt fehlten jegliche ärztliche Wissenschaft und somit auch die genaue Analyse der Krankheiten, es mangelte an Diagnosen und entsprechenden Therapien ihrer (unfreiwillig gefangenen) Insassen. Es fehlte also an einer begleitenden ärztlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit in diesen Häusern. Das damalige Menschenbild der Erbauer solcher Anstalten (und der Gesellschaft) war bei vielen noch nicht reif gewesen für Humanität und karitativ-psychiatrische Seelsorge, sondern noch immer (streng eugenisch) ausgelegt für Bestrafung und Ausgrenzung von Abartigen, Ausgestossenen und Arbeitsscheuen. Inmitten dieses heterogenen Haufens an Elenden, Gewaltverbrechern, Zuchthäuslern, Armengenössigen, Geisteskranken usw. tummelten sich auch die Geisteskranken.

Die (politisch-gesellschaftliche) Optik gegenüber dem ‚menschlichen Abschaum‘ entsprach weitgehend, aber nicht überall, in den Anfangszeiten der Bauphase des Anstaltsbaus noch einer verwahr- und ausgrenzungsbezogenen christlichen Inhumanität, verlangte man doch nach einer bestrafenden ‚Abreibung‘ dieser miesen, faulen, lasterhaften, verluderten, arbeitsscheuen und unproduktiven Elementen. Solche ‚negativen‘ eugenischen Gedanken jedenfalls waren zu dieser Zeit weit verbreitet (berichtet wird auch hiervon später) und es bleibt die Frage, inwieweit die Kirche dagegen hätte Einfluss nehmen können oder hätte nehmen müssen.

Die Irren lebten in diesen Verwahreinrichtungen noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weiterhin an Ketten gebunden und auf Stroh. Es roch in den dunklen Zellen nach Viehhaltung (siehe Bedlam). Einen Arzt bekamen den Kranken nie zu Gesicht, dafür umso brutaler die Peitschen der Gefängniswärter und kräftig gebauten Aufseher. Mit einer milden Geldgabe konnte man diese Irren wie in einem Zirkus beschauen, ein Leckerbissen für die Vergnügungssüchtige Oberschicht.

Eine kleine Übersicht über die allerersten ‚Irrenanstalten‘, in denen auch psychisch Erkrankte aufgenommen (zwangsinterniert) wurden:

Bologna (1710) (Hinweis folgt)

Warschau (1726)

Berlin (1728)

Dublin (1745)

Ludwigsburg (1746)

London (1759)

Deventer (1760)

Manchester und Kopenhagen (1766)

Williamsburg (1773)

Wien (1784) (Hinweis folgt)

Frankfurt am Main (1785) (Hinweis folgt)

Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Manche von ihnen erfuhren eine wechselvolle Geschichte, manche änderten ihren Zweck während ihres baulichen, physischen Daseins.

Zur oben erwähnten ‚Irrenanstalt Bologna‘ um 1710.

Es war ein gewisser Dr. Anton Maria Valsalva (1626-1712) Bologna, ab 1697 Professor der Anatomie und Wundarzt (Chirurg) am Hospital der Incurabeln (Unheilbaren), des Ospedale di Sant’Orsola di Bologna, der sich zu Lebzeiten und als einer der ersten dafür einsetzte, dass psychiatrische Patienten eine humanitäre Behandlung erhielten, um ihre Heilung zu unterstützen. Im Jahre 1710 wurde – gefördert durch einen unbekannten weltlichen Wohltäter – für Bettelmönche ein Haus erbaut, worin auch Irre beiderlei Geschlechts Aufnahme fanden, die bis zu diesem Zeitpunkt in anderen Einrichtungen zusammen mit Verbrechern dahinvegetierten.

Valsalva forderte für diese Kranken eine milde Form der Behandlung. Statt dass er die Tobenden in Fesseln legte, empfahl er diese in ein weiches Tuch aus Leinen einzuwickeln(!). Er stand zwar noch ganz in der Tradition des Galenos mit seiner Viersäftelehre und empfahl bei Manie noch immer den Aderlass. Etwas kurrliger, aber dafür positiv naturnahe empfahl er auch Melonen-Emulsionen, einen Absud resp. eine Abkochung von Mohnsirup. Er empfahl auch die Erwärmung von Händen und Füssen und sogar Bluttransfusionen, was erstaunt. Für die Melancholie empfahl er: Helleborus Niger (schwarze Nieswurz oder Schneerose, auch Christrose genannt).

Valsalva kannte folgende Klassifizierung für Geisteskranke der damaligen Zeit:

Vesania in imbezillita

(Wahnsinn bei angeborenen Schwachsinn A.d.A.)

Stupidita

(Beschränktheit, Dummheit, Geistlosigkeit A.d.A.)

Delirii

(frenesia, mania o furore, delirio melancolico) (Verwirrtheit A.d.A.)

Valsalva betrachtete psychische Krankheiten, im Gegensatz zur damaligen Zeit, als organische Erkrankungen und vertrat somit eine frühe somatische Betrachtungsweise um Jahre vor der eines Vincenzo Chiarugi (1759 – 1820) oder eines Philippe Pinels (1745-1826), von denen weiter unten noch berichtet wird. Mit dieser Meinung lief er Gefahr, bei den Ärzten anzuecken und sich gegen die Doktrin der Kirche aufzulehnen, die damals noch immer festhielt, eine Geisteskrankheit entstünde durch Sünde, resp. durch Versündigung gegen Gott (Blasphemie) und müsse mittels inquisitorischen Urteilen auf dem Scheiterhaufen enden.

Erwähnt seien hier speziell noch, um der Vollständigkeit dienen zu wollen, die frühe Berliner Charité (ab 1709), ursprünglich jedoch ein Pesthaus und erst später zur Psychiatrie umfunktioniert (Teile der Bauten), in Frankreich das Hôpital de la Salpêtrière, wobei gerade in diesem die Anfänge noch viel weiter zurückgingen, nämlich bis auf 1656. Einige Häuser, die später einen Ruf als psychiatrische Kliniken erhielten, waren ursprünglich als Krankenhäuser oder als Gefängnisse oder als Arbeitshäuser gebaut worden.

Zur oben erwähnten ‚Irrenanstalt Ludwigsburg‘ um 1746.

In diesem Jahr wurde im Herzogtum Württemberg eine erste staatliche Irrenanstalt, ein Tollhaus eingerichtet. Bereits vorhanden auf dem Gebiet war ein Zucht-, Arbeits- und Waisenhaus. Die Herzöglich Württembergische Anstalt wurde einer Tollhausdeputation unterstellt. Es wurde also eine politische Abordnung ins Leben gerufen, die im Auftrag einer Versammlung einer politischen Körperschaft Wünsche und Forderungen übermittelte. Das war eine Form von Aufsicht. Bereits im Jahre 1810 wurde dieses Tollhaus nochmals neu eingerichtet und umbenannt. Es erhielt die Bezeichnung: Waisen-, Zucht- und Irrenanstalt, wobei bereits ein Jahr später erneut eine Namensänderung angesagt war: Pflegeanstalt für Geisteskranke.

Immer wieder kam es nun vor, dass Einrichtungen geschaffen wurden, die mehr oder weniger nur für die Geisteskranken erbaut wurden und nur ihnen, als einzige Zielgruppe, offen standen. So geschehen beispielsweise in Frankfurt am Main.

Zum oben erwähnten ‚Narrenturm Wien‘ um 1784.

Ein ganz spezielles Gebäude für die Wiener Irren wurde im Jahre 1784 eröffnet. Damit war Kaiser Josephs ‚Gugelhupf‘, wie es die Wiener nannten, eines der ersten Gebäude, welches für Irre konzipiert und erbaut wurde. Der fünfgeschossige Rundbau mit seiner Panoptikumarchitektur war mit einem Allgemeinkrankenhaus verbunden. Jedes seiner fünf Stockwerke enthielt 28 Zellen. Insgesamt erbaute man 139 Einzelzellen, jede gerade 13 Quadratmeter gross.

In diesen engen und kahlen Zellen fristeten die Irren ein grausames Dasein. Die runde Architektur, das Panoptikum, schützte die Insassen zwar vor Verletzungen, diente jedoch auch ihrer Observierung. Darin vollzog sich die damalige Irrenpflege. Der Narrenturm hatte jedoch auch die Aufgabe, die Irren von der Gesellschaft auszuschliessen, denn Kaiser Joseph ll. wollte sie sowohl aus der Armut, als auch aus der Gesellschaft entfernen, wo ihr Anblick störte.

Er hielt in einem Hofdekret von 1781 fest, wer in den Gugelhupf zu verbringen war: ,Jene, die Schaden und Eckel verursachen (...) Wahnwitzige und mit Krebsen oder mit solchen Schäden behaftete Personen, welche aus der allgemeinen Gesellschaft, und aus den Augen deren Menschen müssen entfernt werden (...).‘ Quelle: www.habsburger.net

Der Wiener Narrenturm ‚Gugelhupf‘, erbaut 1784

Bild aus: http://der-schware-planet.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/09/narrenturm-wien.jpg

Kaiser Joseph ll. war ein eher moderner Kaiser und dem aufgeklärten Absolutismus durchaus aufgeschlossen. Er reiste sehr gerne, besuchte Frankreich und lernte auf einer dieser Reisen das Hôtel Dieu in Paris (Beaune) kennen. Ein solches Krankenhaus sollte, nach der Order des österreichischen Königs Ludwigs ll., auch in Wien erbaut werden.

Das unter dem westeuropäischen, christlichen Einflussbereich im Jahre 1443 n. Chr. erbaute Hospital Hôtel-Dieu ist eines der ältesten Krankenhäuser Europas, welches vermutlich anfänglich nur eine bescheidene Herberge, eine Art von Hospiz (Pilgerherberge) war. Es existiert noch heute. Es bot vorüberziehenden Pilgern ein sicheres Nachtquartier, nahm jedoch bald auch Armengenössige und Kranke und irgendwann auch einige Psychischkranke auf.

Das Pariser Hôtel Dieu, das der österreichische Kaiser besuchte war ein riesiges Grosskrankenhaus. Es verfügte über 1200 Betten und beherbergte in Spitzenzeiten bis zu 5000 Patienten (einige unter ihnen waren Irre). Die Kranken mussten sich jedoch die Betten teilen und ein Bett beherbergte drei bis vier Kranke.

Bild: Hôtel Dieu, Beaune. Bild aus: upload.wikimedia.org/wikipedia/Hostel-Dieu-Beaune,jpg

Hospitalfieber:

Oder auch Lazarettfieber ist eine historische Sammelbezeichnung für mehrere teilweise epidemisch in Hospitälern oder Lazarette vorkommende Krankheiten wie Hospitalbrand, Pyämie, Rose und Fleckyphus.

Diese Enge hatte jedoch zur Folge, dass in diesem Grossspital eine hohe Ansteckungsgefahr herrschte. Und wirklich kannte man darin schon lange Zeit das sogenannte ‚Hospitalfieber‘, dem viele Patienten erlagen. Dies alarmierte jedoch die Wiener Ärzteschaft und die sprachen sich daher für Kleinspitäler aus. ‚Jedem sein eigenes Bett!‘, befahl daher Kaiser Joseph ll. zukunftsweisend.

Schliesslich standen bei der Eröffnung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien - neben dem Gugelhupf - auch ein allgemeines Krankenspital, ein Gebär- und Findelhaus und mehrere Siechenhäuser ( als Quarantänestationen zum Schutz vor Epidemien) der Bevölkerung rund 2000 Spitalbetten zur Verfügung.

Mit Kaiser Joseph ll. vollzog sich eine staatliche und zentral organisierte Gesundheitsvorsorge, ähnlich wie in Frankreich. Diese löste die bisherige kirchliche oder städtische Fürsorge ab. Krankenhäuser standen nun allen offen, zersplitterten sich jedoch sofort in eine erste, zweite und dritte Klasse.

Es verwundert daher nicht, dass in den Wiener Narrenturm auch andere Menschen, nicht nur Irre, in die trutzigen Anstaltsmauern eingekerkert wurden. So z.B. auch verletzte Soldaten, die man dort zu rehabilitieren suchte. Oder Personen, die der ‚medizinischen Polizey‘ Wiens, die für die öffentliche Sicherheit zu sorgen hatte, auffielen. Sie rissen somit nicht nur die Irren aus der Gesellschaft, sondern auch die Armen, Bettler und Müssiggänger, wie auch die mit Krebsen befallenen und Eckel verursachenden Personen. Sie alle mussten aus den Städten entfernt werden, da sie in der Bevölkerung und bei der Obrigkeit Ekel erregten.

Bald wies man alle Abartigen und Auffälligen in den Wiener Narrenturm ein. Es waren die gesellschaftlich Randständigen, die Abnormalen, die Asozialen und Bettler, die mit den entsprechenden Therapien, die im Narrenturm praktiziert wurden, resozialisiert, vielmehr aus der Gesellschaft ausgeschieden werden sollten. Bald unterschied man in die noch heilbaren von den unheilbaren Patienten. Die Unheilbaren, also oft die Irren, blieben für immer im Gugelhupf eingesperrt.

Die darin durchgeführten Therapien schritten jedoch im Laufe vieler Jahre auf eine zunehmende Humanisierung der Behandlung hinaus. Allerdings zwang das Anstaltspersonal die Irren, unter Androhungen härtester Bestrafungen (bei Verweigerung), zu irgendeiner ihnen körperlich zumutbaren Arbeit. Widersprachen sie, wurden sie von den Wärtern arg kasteit.

Das tägliche Geschehen im Gugelhupf erschien den Wienern als absolutes Chaos, ein Irrenhaus, wie es im Buche steht. Eine solche Klapsmühle war für alle Neuland und man verfügte damals weder über ein solides psychiatrisches Wissen, noch hatte man Erfahrung in der Führung einer solchen Irrenanstalt. Immerhin wurden die Irren nicht mehr als rechtlose Individuen behandelt, sondern erhielten einen gewissen Rechtsanspruch auf ärztliche Behandlung und quasi auch auf eine pflegerische Zuwendung und auf Arbeit.

Allerdings war diese ‚pflegerische Zuwendung’ unter der heutigen Optik gesehen äusserst brutal, wie das bereits unter dem Hospital Betlehem und an anderen Stellen hinlänglich beschrieben wurde.

Zur Erinnerung sei hier aber nochmals auf die 4-Säfte-Lehre des Galen aufmerksam gemacht. Der Glaube an die galensche Lehre bestimmte anfänglich noch immer die Therapie im Gugelhupf (1784). Diese längst veraltete Lehre war bei den Wiener Ärzten immer noch führend und bestimmte die medizinisch-ärztliche Arbeit.

Denn noch immer glaubte man, dass diese vier Säfte in einem Gleichgewicht zu sein hätten, damit sich die im Gugelhupf internierten Menschen ‚normal‘ verhalten würden. Wer also als Patient im Gugelhupf ein starkes Temperament zeigte, wie es etwa bei agitierten Manikern und bei tobenden Unruhigen vorkam, galt als cholerisch und wurde zu Ader gelassen oder erhielt Brechmittel.

Gemäss der Lehre Galens hatte der Choleriker zu viel gelbe Galle im Magen. Mit dieser Diagnose ausgestattet, verordneten die Irrenärzte des Gugelhupfs nun Brechmittel und zwar viel Brechmittel, so viel, bis dass der Irre manchmal buchstäblich gelbe Galle ausspuckte. Dies war ein Beweis der Richtigkeit der galenschen Lehre und somit auch ein Beweis für die Wirksamkeit der angewandten Therapie. Man nahm an, die Heilung des Irren sei mit dem Ausspucken von Galle in die Wege geleitet worden. Allerdings sprach der weitere Krankheitsverlauf des betroffenen Patienten eine andere Sprache. Viele starben an dieser Kur.

Klar war, dass diese brachiale, den Körper, resp. die Gesundheit des Irren arg strapazierende Methode zu einer deutlichen und markanten Schwächung führte. Viele mussten angeschlagen, kränklich und auch morbid gewirkt haben. Genau diese Schwächung jedoch, die somit alles andere als gesund war und durchaus zum Tode führen konnte, beruhigte den Irren gezwungenermassen. Er wurde unter dieser brachialen Therapie sichtlich ruhiger, für die Mitpatienten und für die Wärter, die täglich mit ihnen zu tun hatten, erträglicher und folgte bald kleinlaut jeder weiteren Anweisung des Wärterpersonals, dem er sich nicht mehr zu widersetzen traute.

Der Narrenturm von Wien wurde noch bis 1866 mit Irren belegt. Dann wurden die Geisteskranken in die neu erbaute Niederösterreichische Landesirrenanstalt umgesiedelt und der Wiener Narrenturm blieb lange leer. Später funktionierte man den Gugelhupf um und beherbergte, nun als Wohnheim konzipiert, Krankenschwestern oder Ärzte in Dienstwohnungen. Seit 2012 wird im Narrenturm ein Naturhistorisches Museum betrieben, welches eine weltweit einzigartige pathologisch-anatomische Sammlung ausstellt.

Diese Ausstellung ist allerdings nichts für Menschen mit sehr schwachen Nerven. Hochinteressant zwar, zeigt sie viele Wachs- und Paraffinabdrücke von gruselig wirkenden Krankheitsbildern, die aussehen, als seien den Irren betroffene Körperteile abgenommen worden. Diese Wachspräparate wurden bearbeitet, z.B. bemalt und zeigen verschiedene Stadien im Verlauf einer Krankheit auf. Gezeigt werden Feuchtpräparate und organisches Gewebe, Föten und Missbildungen, durchlöcherte Schädel, ein Skelett siamesischer Zwillinge und vieles mehr.

Zur oben erwähnten ‚Irrenanstalt Frankfurt am Main‘ um 1785.

Aus der Geschichte der Psychiatrie in Frankfurt am Main kann man entnehmen, dass bereits im Jahre 1564 auf Anordnung des Rates der Stadt in einem Speicher durch den Allgemeinen Almosenkasten ein ‚Gefängnis‘ errichtet wurde, welches ausschliesslich der Unterbringung von Geisteskranken diente. Der Almosenkasten, aus einer testamentarisch festgelegten Vermögenszuwendung eines Arztes gegründet, war eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Sie versorgte sehr früh Bedürftige mit Nahrung und Kleidung. Mit der organisierten Unterbringung (Versorgung) von Geisteskranken und geistig Behinderten in ihren Mauern kann man ihr daher den Status einer vorpsychiatrischen Institution unterstellen.

Tollhaus, Anstalt für Irre und Epileptische, Frankfurt am Main, 1606 erstmals erwähnt

Das frühere Frankfurter Tollhaus stand an der Tollhausgasse, der Strassenname wurde jedoch später umgeändert in ‚Kastenhospitalgasse‘ und der abstossende, veraltete Name Tollhaus wurde in ‚Kasten-Hospital‘ abgeändert. Um 1780 erfolgten auf Grund ständiger Überfüllung Um- und Erweiterungsbauten. Im Jahre 1819 wurde dann neben dem Kasten-Hospital eine ‚Anstalt für Irre und Epileptische‘ errichtet, die jedoch wiederum wegen Überfüllung die Stadt veranlasste, einen Neubau ausserhalb der Stadt zu errichten.

Zu erwähnen wäre noch, dass die Stadt Frankfurt einen damals in der Anstalt tätigen Arzt um ein Urteil bat, wobei dieser zum Ergebnis kam, dass die herrschenden Mängel im alten Tollhaus (Anstalt für Irre und Epileptische) 1859 wiederum einen Neubau erforderlich machen würden, wolle man ihre Mängel gründlich beseitigen.

Dieser Arzt übrigens ging nicht in die Geschichte ein, weil er etwa ein berühmter Psychiater war, sondern weil dieser Arzt ein weit herum bekanntes Kinderbuch veröffentlichte: den ‚Struwwelpeter‘.

Heinrich Hoffmann (1809-1894) Arzt, Anatom, Psychiater

Die Vorpsychiatrische Zeit darf nicht zurückgehen nur auf die Spurensuche von institutionellen Bauten oder auf die damals praktizierten Heilungsversuche von Menschen mit einer psychischen Behinderung, sondern sollte sich auch beziehen auf spezielle Forschungen an der Psyche von Menschen.

Noch aber waren viele Ärzte überzeugt, dass Irresein eine körperliche Krankheit sei. Viele somatisch orientierte Ärzte waren der Meinung, dass die Symptome der Irren körperlich bedingt seien, z. B. aufgrund einer Verletzung oder eine organische Erkrankung. Und damit über das Körperliche selbst heilbar. Mancher Arzt, wie z. B. Pinel, vertrat einen therapeutischen Optimismus und prognostizierte recht hohe Heilungsraten von über 50 Prozent etwa für Manien und Melancholien. Und zwar innert weniger Monaten ab Behandlungsbeginn. Diese Prognosen jedoch zerschlugen sich bald und provozierten einer anderen Denkrichtung: den Darwinismus und die Degenerationslehre.

Die Psychiker, im Gegensatz zu den Somatikern, vertraten die Ansicht, dass alle seelischen Erkrankungen der körperlosen Seele zuzuschreiben seien und plädierten kirchenfromm, diese Geisteskrankheiten seien die Folge von Sünden. Es entbrannte ein giftiger Streit zwischen diesen beiden Auffassungen, der im Grunde genommen, noch immer, auch in unserer heutigen Zeit, im Gange und noch keinesfalls entschieden ist. Noch immer therapieren wir medikamentös und seelisch und oft in einer Kombination.

Die Psychiker griffen ihrem Glauben gemäss, dass das Unheil in der Seele liege, folgerichtig (?) auf eine Therapie mittels brutalen körperlichen Methoden zurück, die auf die Seele wirken müsste. Therapeutische Massnahmen sahen sie im Einsatz von schmerzhaften Schlägen mittels Ruten, Stöcken und Peitschen sowie Foltermethoden mittels Drehstuhl und Gyrator sowie verschiedenen sog. Schockkuren wie das kalte Schneebad oder das plötzliche Eintauchen in kaltes Wasser. Alle sollten die Seele therapieren. (Einige Therapien und Foltergeräte sind in Band 5 der Reihe ‚Die Verrückten‘ beschrieben.)

Andere schworen auf die Erzeugung totaler körperlicher Erschöpfung, die erreicht wurde durch Zwangsstehen (Orthostase), durch Brech- und Abführmittel, aber auch mittels längeren Hungerkuren, die den Körper auszehrten, Peitschungen mit Nesseln oder Einreibungen der Kopfhaut mit Brechweinstein, die heftige Schmerzen erzeugten und Geschwüre bildeten und auf die Psyche einwirken sollten. Man verwendete therapeutisch auch Senfpflaster, Ameisensäure, glühende Eisen (welche auf die Fontanellen gelegt wurden) oder Elektrizität (nichttödliche Stromschläge).

Diese Schocktherapien sollten die kranke Seele bis in entfernteste Tiefen erschüttern und in Panik versetzen, so dass sich die Seele quasi wieder einrenkte und normalisierte. Allein, es blieb ein Wunschdenken. Oft bewirkte man genau das Gegenteil.

In anderen Irrenanstalten ging man den gegenteiligen Weg und befreite die darin gefangenen Irren von ihren Ketten und Schocktherapien. Die englische ‚No-Restraint-Bewegung‘, das französische ‚traitement moral‘, die deutsche Offensive gegen die ‚Zwangsbehandlung‘ und die italienisch-chiarugische Befreiung von den Ketten zeigte eine innere Umwälzung in den psychiatrischen Verwahranstalten in demselben Jahrhundert. Man suchte nach humaneren Behandlungen. Neben Pinel und Esquirol sind zu benennen: William Battie, William Tuke, Robert Gardiner Hill (1811-1878) und Conolly in England, Chiarugi in Italien, Abraham Joly in der Schweiz und Johann Gottfried Langermann für Deutschland.

Pioniere der Anstaltspsychiatrie

Heil- und Pflegeanstalten wurden ca. ab 1750 gedacht, geplant, gebaut und betrieben. Man nannte sie jetzt Heil- und Pflegeanstalten, die diesen Namen teilweise von Anfang an verdienten, andere weniger. So wurden sie mehr oder weniger als Heilanstalten für die Therapie und Beherbergung von Psychischkranken (und für keine anderen Indikationsgruppen) konzipiert und erbaut. Auch waren nicht mehr Kirchen oder Private, die sie planten, beaufsichtigten und betrieben, sondern öffentlich-städtische Kommunen, Bezirke oder Länder.

In dieser Zeit nahm der Einfluss der Kirchen in der Gesellschaft und im Staat immer mehr ab. Viele Staaten hatten sich auf den Weg in die Säkularisierung begeben. Überhaupt häuften sich nun naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Das entsprach der Zeit der Aufklärung. Parallel mit dem Anstaltsbau entwickelten sich auch das Psychiatriewesen und die psychiatrische Wissenschaft. Erste tastende Versuche förderte neues Wissen auch innerhalb der Psychologie, nicht nur in der Somatomedizin. Man untersuchte jetzt vermehrt auch den Geist des Menschen und wollte die unbewussten psychischen Kräfte verstehen, die in in Menschen wirkten.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts (1750) kam es also zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die im Zusammenhang mit der Aufklärung und der ersten Industrialisierung und wiederum im Zusammenhang mit einer Bevölkerungs- und Armutsexplosion (Pauperismus) stand, die eine erste und moderne Anstaltspsychiatrie beflügelte. Um diese Zeit verarmte eine breite Bevölkerungsschicht. Viele Menschen und Familien verelendeten, nicht nur in monetärer, sondern auch in sozialer, geistiger und psychischer Hinsicht. Die ganze Gesellschaft befand sich in einem Umbruch, welche die Industrialisierung mit sich brachte.

Pauperismus

In der Zeit der der Frühindustrialisierung einhergehenden katastrophalen Verarmung grosser Bevölkerungsschichten. Beginnend ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fand die Pauperismuskrise ihren Höhepunkt in den 1830er und 1840er Jahren (Deutschland). Der Pauperismuskrise ging ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein gewaltiges, vorindustrielles Bevölkerungswachstum voraus.

Als Voraussetzungen für das Bevölkerungswachstum gelten: technische Verbesserungen in der Landwirtschaft, Ausweitung der Anbauflächen, Einführung der Kartoffel als Grundnahrungsmittel, Wegfall grundherrschaftlicher Bindungen. Dies und viel mehr führten zur Bevölkerungsexplosion.

Der Übergang von einer landwirtschaftlichen in eine industrielle Produktionsweise brachte eine starke Arbeitsteilung mit sich. Jeder einzelne Arbeiter verkam zu einem ganz ‚kleinen Rädchen‘ in der Wirtschaft, der jederzeit problemlos ausgewechselt werden konnte. Dadurch wurden die Arbeitnehmer gezwungen, auch menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf zu nehmen. Die Kinderarbeit gedeihte.

Missernten und Wirtschaftskrisen führten bald in die Versogungs-Katastrophe.

Ganze Stadtteile (Bevölkerung) verslumten und verarmten und die Arbeiter nahmen gesundheitlichen Schaden. (Arbeitslosigkeit, schlechte Luft, Mangelernährung durch Verarmung, schlechte medizinische Versorgung, mangelnde Gesundheitsvorsorge, fehlende Krankenversicherungen etc.)

Vielen Anstaltspionieren und damaligen Politikern kann nachgesagt werden, dass es bei ihren motivationalen Gründen vor allem um eine Ausgrenzung und Verwahrung dieses gesellschaftlich unliebsamen, pauperistischen Gesindels ging. Ihr Ziel war daher, diese Arbeitsscheuen, Alkoholiker, Exzessiven, Sexualdeliquenten, Armengenössigen, dieses abartige Gesocks, dieses sowohl knechtische und magdische Pack und Gezücht, diese Prostituierten, genauso wie die zahlenmässig erstarkende Gruppe der Psychischkranken und Geistigbehinderten aus der Gesellschaft und aus den Städten zu entfernen. Eine andere, humanere Motivation kann nur wenigen Gründervätern von Psychiatriebauten nachgesagt werden, viele trugen eine eugenische Grundhaltung in sich.

Man entfernte das störende Gesinde aus den Augen der Gesellschaft, internierte diese störenden Elemente in die neu erstellen psychiatrischen Anstalten, beraubte sie ihrer Persönlichkeitsrechte, steckte sie gegen ihren Willen in moderne Verwahr- und Besserungsanstalten (Vormundschaft). Dort bot man ihnen innerhalb schützender Mauern eine gehörige ‚Therapie‘ an, unterminiert vom Gedanken der Rückführung in die Wirtschaft durch eine strenge Arbeitstherapie. Daher wurden gerne Alkoholiker und Taugenichtse in die Anstalt eingeliefert. August Forel, ein Schweizer Psychiater, soll sich darüber einmal bitter beschwert haben.

Dieses ‚Gesinde‘ hatte sowohl den gesellschaftlichen Normbereich, wie auch eine rechtschaffene Gottesgesinnung und somit den guten, gesellschaftlich anerkannten, sittlichen Pfad verlassen und musste aus dem gesunden Fleisch der Gesellschaft wie ein bösartiges Geschwulst exzidiert werden. Die Zeit entsprach exakt der Beschäftigung gewisser Kreise mit der Eugenik (mit Einschluss des Darwinismus) und der immer populärer werdenden Degenerationslehre. (siehe dort)

Neu wurden Verhaltensstörungen als medizinisches Problem verstanden. Wir erinnern uns an George Cheyne, der gerne Patienten behandelte mit hysterischen, neurasthenischen und hypochondrischen (Verhaltens-)Symptomen der höheren, erlauchten und verhaltensgestörten Gesellschaft. Dieses medizinische Störungsbild nannte er die ‚Englische Krankheit‘ (the English Malady).

Georg Ernst Stahl, erkannte als ein erster die Bedeutung der Seele bei den somatischen Leiden und unterschied wie beschrieben zwischen organischen (‚sympathischen‘) und funktionellen (‚pathetischen‘) Störungen. Dies eröffnete den neu erbauten Anstalten neue Behandlungsfelder.

Die meisten Irrenanstalten waren säkularisiert und verstaatlicht worden. Allerdings erbaute man auch Anstalten, welche unter dem Einfluss einer Religion, z.B. dem Pietismus standen. Meistens gehörten sie jedoch dem Staat, einer öffentlichen Kommune, einer Gemeinde oder einer grösseren Stadt. Baugrundstücke fanden sich leicht in den Agglomerationsbereichen grösserer Städte auf dem Lande. Ihre Bewirtschaftung (Personal, Patienten, gesamte Logistik etc.) erfolgte durch diese Kommunen resp. Städte.

Verbunden mit diesen Anstalten waren erste, finanziell von den Kommunen unterstützte, universitäre Lehrstühle für Psychiatrie, die anfänglich innerhalb der universitären Medizin als eigenständige Disziplin einen schweren Stand hatten.

Immerhin begann jetzt die Zeit der (psychiatrischen) Wissenschaftlichkeit. Ein psychiatrischer Lehrstuhl wurde, nicht immer von Anfang an, irgendwann dann doch eingebettet in die Medizinfakultät einer Universität und damit anerkannt. Dies geschah gleichzeitig in mehreren europäischen Ländern, in England, Frankreich, Deutschland und Österreich, aber auch in vielen anderen Ländern, wie Holland, Italien, Spanien und der Schweiz.

Den modern wirkenden und neu erbauten Heil- und Pflegeanstalten standen Direktoren vor, die eine auf sie delegierte Verantwortung trugen, der Öffentlichkeit Rede und Antwort zu geben hatten und bei Verfehlungen, wie beispielsweise bei Todesfällen auf Grund falscher Therapiemassnahmen etc., allenfalls nun gerichtlich belangt werden konnten. Auch gab es in den klotzigen Bauten erstmals einen direkten Unterricht am Krankenbett, verbunden mit einer hierarchisch aufgebauten Pflegeschaft. Auch dies war neu.

Das in den Anstalten angestellte Personal wurde erstmals für ihre Aufgabe angeleitet, manche erhielten eine spezifische Fachausbildung. Die Arbeiterschaft, also die Wärter etc. erhielt geregelten Lohn, oft zusätzlich in Form von Naturalien, wie 1-2 Liter Wein pro Tag, Bier, Nahrungsmittel und günstigen Wohnraum.

Ebenfalls eingebunden war beispielsweise das städtische Fürsorge- und Gesundheitswesen, die Politik (Parteien) und die gewählten politischen Organe (Räte), je nachdem, wer die Irrenanstalt als Träger verantwortete und finanzierte.

Erste gewählte Psychiater, die durch mehr oder weniger eingebundene Universitäten jetzt auch eigene Lehrstühle erhielten, schrieben jetzt aus eigenem Antrieb erste gewichtige Psychiatrie-Lehrwerke, die einen starken Einfluss auf die Entwicklung des zukünftigen Psychiatriewesens entfalteten. Einzelne Werke werden hier noch Erwähnung finden.

Die Psychiater erlangten als Fachpersonen eine anerkannte gerichtspsychiatrische Beraterinstanz (Forensik), die ihnen viel Macht im Gesundheitswesen und in der Politik verschaffte und für gewisse Gerichtsurteile herangezogen und beachtet wurde. Beispielsweise ging es um Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Kindstötung etc., die Psychischkranke begangen hatten.

Die Spaltung zwischen Somatikern und Psychikern führte zu unterschiedlichen Therapieformen und Auffassungen über die Genese der Krankheit. Die Somatiker waren der Meinung, dass psychische Krankheiten auf Grund von körperlichen Krankheiten entstanden seien, also beispielsweise wegen Erkrankungen der inneren Organe (Leber, Stoffwechsel, Gehirn) oder des Nervensystems. Die Psychiker hingegen glaubten, Geisteskrankheiten seien ausschliesslich oder mehrheitlich auf Erkrankungen der körperlosen Seele zurückzuführen. Krank sei nicht der Körper, sondern die Psyche oder Seele des Patienten. Und zwar als Folge von Sünde, sprich sündhafter Lebensführung oder lasterhaften, gottlosen Verhaltens.

Die brutalen Behandlungsmethoden der Psychiker kennen wir bereits seit den Zeiten Bedlams. Sie therapierten die ihnen in Obhut übergebenen Geisteskranken auf eine sehr brutale Art und Weise, mit der Absicht, durch körperliche Brutalitäten, deren Seele zu erschüttern. Die sog. Schocktherapie war geboren.

Die ersten Anstaltsbauten waren daher durchaus Bauten, gedacht für die körperliche Züchtigung, für Foltermethoden, für Abreibungen und Kasteiungen. Dazu mussten die Insassen jedoch zuerst als rechtlose Wesen verstanden werden. Oft wurden ihnen daher, sogleich beim Eintritt, alle gesellschaftlichen Rechte entzogen.

Die Psychiker ‚therapierten‘ (zur Erzeugung eines Schockes und als Bestrafung ihrer Sünden) mittels diversesten körperlichen Massnahmen: Beispielsweise mit dem Einsatz von Ruten, Rohren und Stöcken und speziellen Peitschen (spez. Auspeitschungen mit Nesseln), der Anwendung von Drehstühlen, Drehbetten und Schaukeln, dann auch mittels Anwendung von Kaltwasserbädern, Sturzbädern, dem Zwangsstehen, mittels übermässigem Einsatz von Brech- und Abführmitteln, mittels Verordnung gut gemeinter, mehrtägiger Hungerkuren, mittels Einreibungen der Kopfhaut mit Brechweinstein, die eitrige Geschwüre hervorriefen, dem Anlegen von Senfpflastern, Drohen mit glühenden Eisen inkl. einer Versengung von Haar und Hautpartien, sowie der Ruhigstellung mit dem berüchtigten Gyrator (Tranquilizer) und dem Warmwasserdeckelbad.

Aus dem Blickwinkel dieser brutalen Therapien gesehen, hätte man den Bau solcher Heil- und Pflegeanstalten eher unterlassen sollen. Aber man kannte nichts anderes als eine solche Disziplinierung (und Therapie) durch Schmerz und Angst. Dahinter stand keinesfalls ein humanistisch verstehendes Verhalten. Alle diese brutalen Massnahmen bewirkten daher auch kaum eine wirkliche Heilung.

Es folgen Beschreibungen einiger wichtiger Psychiatrie-Pioniere.

Philippe Pinel

Bild https://www.wikipedia.org/

Philippe Pinel

Fotoherkunft: wikipedia

Französischer Arzt und Psychiater. Mitbegründer der franz. Psychiatrietradition ‚traitement moral‘. Erste Deskriptionen.

Setzte sich früh für eine möglichst gewaltfreie Behandlung von Psychischkranken ein: ‚traitement moral‘. Leiter der Anstalten: Hôpital Bicêtre und Salpêtrière

Gilt er zu Recht als früher Befreier von den Ketten?

Geboren: 20. April 1745 in Jonquières, Département Tarn Gestorben: 26. Oktober 1826 in Paris

Aus: Wikipedia

Beginnen wir gleich mit einem der berühmtesten. Philippe Pinel war einer der Väter der französischen Psychiatrietradition und ist eng mit dem sog. ‚traitement moral‘ verbunden. Er gilt heute als ein früher und starker Verfechter einer möglichst gewaltfreien Behandlung von Irren. Kein anderer Psychiater wird heute dermassen eng mit der Befreiung von den Ketten verbunden, wie Pinel. Obwohl dies bereits etliche Jahre vor ihm bereits Battie und Tuke taten!

Pinel war selbst nicht sonderlich an seinem eigenen Verdienst beteiligt, als Befreier der Irren zu wirken. Es war eher der französische Revolutionsgeist, dem sich Pinel damals gerne anschloss und durch ihn wirkte. ‚Die Befreiung (der Armen) von den Ketten‘ könnte man zwar durchaus als Slogan für die französische Revolution, nicht aber für Pinel verwenden.

Die Revolutionszeit führte klar zu einer sozial motivierten Kritik an der Psychiatrie in Frankreich und dann vermutlich auch in den umliegenden Staaten. Allerdings handelt es sich bei Pinels ‚traitement moral‘ nicht sinngemäss quasi um das englische ‚moral management‘, sondern suchte sich einen eigenen Weg, der mehr auf einem administrativen Charakter beruhte, als auf der erschöpfenden Befreiung der Irren von ihren Ketten. Immerhin war diese ‚Befreiung‘ weiterhin auf der Fortführung und Verfeinerung der Zwangsbehandlung gegründet und Pinel kämpfte auch nicht an vorderster Front für die ‚Armen Irren‘, sondern unterstütze weiterhin die eingebürgerten Standesinteressen der französischen Gesellschaft.

In diesem Sinne war Pinel kein fundamentaler Revolutionär und Befreier. Aber Pinel schuf ein anderes revolutionäres Werk, welches ihn als führenden französischen Psychiater und Mediziner auszeichnete. Eines seiner Hauptwerke hiess : ‚Nosographie Philosohique ou la Méthode de l’Analyse Appliquée a la Médicine’ (1798) ist Dreiteilig und enthält Aussagen über das Fieber, die Phlegmasie, über Blutungen, Neurosen und organisch verursachte Läsionen. Dieses Werk machte ihn zu einem wichtigen Mitbegründer einer modernen französischen Psychiatrie.

Darin entwickelte er nämlich eine interessante Systematik von Krankheiten, eine sog. philosophische Nosographie. In ihm erklang wie ein frischer Wind ein therapeutischer Optimismus. Er sprach unvermittelt von Heilungsraten, die teils über 50% lagen, z.B. für Manien und Melancholien.

Dieser neue Optimismus in der Behandlung resp. Heilung von Irren führte mitunter auch zur Gründung der Anstaltspsychiatrie, die jedoch diese Heilungschancen in der Praxis leider nicht bestätigten. Inzwischen hatten auch andere gesellschaftliche Entwicklungen einen negativen Einfluss auf diesen Optimismus unter den Psychiatern: der Darwinismus, die Degenerationslehre und die Eugenik.

Meinte man bisan, dass psychische Krankheiten immer den Verstand betrafen (gemäss der Philosophie John Lockes), so fand man bald heraus, dass es auch psychische Krankheiten gab, bei denen die Verstandesfunktionen nicht oder nur marginal beeinträchtigt resp. betroffen waren. Pinel sprach von ‚manie sans dŽlire‘.