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Angelique denkt an ihre Mutter, die heute vor vierzehn Jahren spurlos verschwand. Damals flog gerade der Jahrhundertkomet über den Himmel. Beim Abendessen erzählt Angelique ihrem Freund, Michael Kalt, die Geschichte. Er hält die Geschichte für verrückt. Angelique ahnt nicht, wie sie die Zeit mit ihrer Erzählung verändert. Eine fantastische Geschichte mit einem unerwarteten Geheimnis.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dezember 2020
Angelique stand, mit einem roten Stift in der Hand vor ihrem Wandkalender. Dem einzigen altmodischen Gegenstand in ihrer modern eingerichteten Wohnung. Alle Termine waren auf ihrem Smartphone im Kalender gespeichert. Alle außer dem Tag an dem ihre Mutter verschwand.
Der 17. Dezember war dieses Jahr ein Donnerstag.
Vor dem Fenster schien die Sonne. Selbst aus dem siebten Stock des Hochhauses konnte sie das Gras auf der Fläche um das Haus herum sehen. Ein grünbraun vom Regen und den Schuhsohlen der Leute, die quer darüber liefen, statt auf den Wegen zu bleiben. Der Wetterbericht hatte für die ganze Woche keinen Schnee angekündigt.
Nicht wie vor vierzehn Jahren. Damals hatte es geschneit und sie hatte einen Schneemann gebaut mit ihrer Mutter. Bevor sie verschwand. Bevor ihr Vater sich von einem lustigen Menschen in einen mürrischen, schweigenden Mann verwandelte, der nicht mehr lachte.
Eingerahmt neben dem Papierkalender hing Angeliques Lieblingskinderbuch Die Abenteuer des Astronauten Ulrich Sauerstoff. Der Astronaut sah aus, als stecke er in einer Blechdose. Der blaue Hintergrund war verblasst und fast so hell wie der weiße Kometenschweif der darüber flog.
Es klingelte an der Wohnungstüre.
Vermutlich die Post, mit einem neuen Päckchen. Das Kamerasystem würde den Postboten erkennen und die Türe öffnen. Sie musste nichts tun.
Stattdessen starrte sie weiter auf den Kalender.
Bis heute wusste niemand, was aus ihrer Mutter geworden war. Und das Einzige was sie als Anhaltspunkt hatte, war eine vergilbte, hellgelbe Aktenhülle auf der »Fall Dampfstraße« stand. Ein Fall, der niemanden mehr interessierte, sonst läge die Akte nicht bei ihr im Schrank. Eingeklemmt zwischen dem Ordner mit Steuerunterlagen und einem Bildband über die schönsten Gärten Deutschlands.
Ein Schlüssel klickte im Schloss. Michael kam nach Hause. Früher als sonst.
Angelique wischte eine ungeweinte Träne aus ihrem Auge.
»Guten Abend mein Schatz«, sagte Michael und kam direkt ins Wohnzimmer. Noch mit Jacke und Schuhen und dem Rucksack auf dem Rücken. »Was ist los? Geht es dir nicht gut? Ich habe eine Nachricht von deiner Kollegin bekommen, dass du früher gegangen bist.«
Er sah noch süßer aus als sonst, wenn er besorgt war.
Angelique lächelte.
»Mir geht es gut, Michael. Wirklich. Simone macht sich zu viele Sorgen«, sagte Angelique.
Sie hätte doch bleiben sollen bis Feierabend. Es war ja noch nicht einmal ein runder Tag des Verschwindens. Aber die Arbeit war fertig gewesen. Alle Vorgänge warteten auf Antwort. Sie hatte nicht mehr in dem öden, weiß gestrichenen Büro bleiben wollen. Nicht wie ihr Vater, der damals jeden Abend später nach Hause kam. Überstunden für die Zeitung.
Michael schüttelte sich die Jacke von den Schultern, stellte seinen Rucksack neben das Sofa auf den Boden und legte die Jacke über die Lehne. Dann nahm er sie in seine warmen Arme. Er roch angenehm warm und nach Tomaten.
»Du siehst traurig aus«, sagte Michael und streichelte ihr über die Schultern.
Angelique lehnte sich an und schloss die Augen. Seit sie Michael im Frühling, trotz Abstandsregeln, beim Einkaufen für die älteren Nachbarn, näher kennengelernt hatte, hatte sie ihm noch nichts von diesem Tag erzählt. Sie hatte ihm auch nichts davon erzählt, dass ein Namen darin stand.
Sie löste sich aus der Umarmung und holte die Akte. Legte sie auf den niedrigen, ovalen Couchtisch vor dem hellen Sofa, neben ihr Smartphone und ihren eBook Reader.
»Was ist das?«, fragte Michael und setzte sich neben sie auf das Sofa. Einen Arm legte er um ihre Taille und rückte ganz dicht heran. »Schlechte Nachrichten?«
Angelique schüttelte den Kopf und begann zu erzählen. Aber die Akte schlug sie nicht auf. Sie wollte den Zeitungsartikel von ihrem Vater, der gleich oben auf lag, nicht wieder lesen.
Dezember 2020
In der Küche klappte das Messer auf dem Holzbrett. Fett brutzelte im Topf und der Wasserkocher mischte sich mit blubberndem Wasser in das Konzert.
Michael Kalt verdrängte die Geräusche aus seinem Kopf und schaute auf die gelbe, an den Kanten abgegriffene Akte auf dem Tisch. Sie sah fehl am Platz aus, neben Smartphone und eBook Reader. Ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Genau wie die Geschichte, die Angelique, seine Freundin, ihm gerade erzählt hatte.