Die Wahnsinnskarriere des Mehmet E. Göker - Mehmet Göker - E-Book

Die Wahnsinnskarriere des Mehmet E. Göker E-Book

Mehmet Göker

4,5
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vom Migrantenkind zum Millionär Seine Markenzeichen: schnelle Autos, schöne Frauen und dicke Zigarren. Mit 22 Firmengründer, mit 25 Millionär, mit 29 eine Viertelmilliarde schwer, Villen auf zwei Kontinenten, Privatjet, Helikopter, Ferrari, Rolls-Royce, Brioni und Cohibas. Mit 31 ist fast alles weg und er hat Millionenschulden. Mit 35 hat er den Großteil zurückgezahlt und ein neues Millionenunternehmen in der Türkei an der Ägäis gegründet. Er ist wieder da, der Selfmademan und einstige Chef und Besitzer des Finanzvertriebs MEG AG: Mehmet E. Göker. Seine Firma gründete er im Kinderzimmer seines Elternhauses. Bereits 2009 beschäftigte er über 1300 Angestellte, scharte Promis wie Günter Netzer, Carsten Maschmeyer oder Guido Westerwelle um sich. Er veranstaltete rauschende Partys – heute wird gegen ihn ermittelt. Doch wer ist er, dieser Mehmet E. Göker? Seine offizielle Biografie gibt Einblick in die Welt eines Mannes, der alles erreicht, (fast) alles verloren und sich so gut wie alles wiedergeholt hat. Ein Getriebener, ein Gejagter, der nun erstmals auspackt. Über die Versicherungskonzerne, die mitgemacht haben, über Aufstieg und Fall seines Imperiums und über das Hier und Jetzt, getreu seinem Motto: GIB NIEMALS AUF – NIEMALS! Mit 16 Seiten exklusiven und persönlichen Bildern aus Mehmet E. Gökers privatem Fotoalbum

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 521

Bewertungen
4,5 (38 Bewertungen)
27
2
9
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE WAHNSINNSKARRIERE DES

MEHMET E. GÖKER

MIT CHRISTIAN SCHOMMERS

DIE AUTOBIOGRAFIE

Vom Migrantenkind zum Millionär –Aufstieg, Fall und Comeback des

POWERVERKÄUFERS

DIE WAHNSINNSKARRIERE DES

MEHMET E. GÖKER

MIT CHRISTIAN SCHOMMERS

FBV

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

4. Auflage 2019

© 2016 by FinanzBuch Verlag

ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

* Bilder mit freundlicher Genehmigung von Ulf Schaumlöffel

Redaktion: Teddy Hoersch, Werner Wahls

Korrektorat: Ulrike Kroneck, Bärbel Knill

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, München

Umschlagabbildung: privat und unter Verwendung von iStock-Bildern

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-89879-886-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-669-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-670-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort Mehmet E. Göker

Vorwort Christian Schommers

Kapitel Eins

Der Tag X. New York. Es klopft an der Tür meiner Suite 717 im Sheraton. Razzia bei MEG in Kassel. Anklage wegen Scheinselbstständigkeit.

Kapitel Zwei

Ich erblicke das Licht der Welt. Kinderpopo verbrannt. Ich, das Nesthäkchen. Verwöhnter Wonneproppen. Mamas Liebling, Papa hart, aber herzlich. Mein Vorbild.

Kapitel Drei

Schulzeit. Die ersten Mädchen. Verhaftung bei McDonald’s. Superfan! Sommer in der Türkei. Malochen als Kellner. Augen auf bei der Berufswahl. Und immer wieder Fußball, Fußball, Fußball …

Kapitel Vier

Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei der DKV. Mehmet, das Verkaufstalent. Jahrgangsbester. Die Angestelltenwelt wird mir schnell zu klein.

Kapitel Fünf

Selbstständigkeit. Die MEG. Erstes Büro. Zweites Büro. Drittes Büro. Immer mehr Mitarbeiter. Wir wachsen. Es läuft und läuft und läuft ... Meine Erfolgsregeln!

Kapitel Sechs

Todesfälle erschüttern die Familie Göker. 2004 – ein Schicksalsjahr.

Kapitel Sieben

2005 & 2006 – Höhenflug. Niederlassungen werden gegründet. Incentive-Reisen durch die ganze Welt. Umsatzrekorde. Immer mehr, immer mehr. Bonuszahlungen der großen Versicherer. 2006. Auf der Überholspur. Ich will AWD überholen. Kontrollverlust. Dünnes Eis. Gier frisst Hirn.

Kapitel Acht

Die Jahre 2007 und 2008. Die erfolgreichste Zeit der MEG.

Kapitel Neun

2009 und 2010. Die Aragon übernimmt MEG für einen Euro. Dazu ein Millionen-Euro-Berater-Vertrag für mich. Nach vier Wochen Insolvenz. Staatsanwaltschaft. Ermittlungen. Der tiefe Fall.

Kapitel Zehn

MEG ist durch. Auf in die Türkei. Kuşadası. Rückzug in meine Residenz. Unsicherheit. Alles neu. Abschalten. Was kommt jetzt?

Kapitel Elf

Ich stehe wieder auf. Neue Firma. MEG TR. Erfolg. Ziele. Geburt meines Sohnes Eron Prometheus Göker. Glück! Liebe! Comeback!

Lieber Gott, beschütz mich nicht vor meinen Feinden, mit denen komm ich selber klar, bitte beschütz mich vor der Dummheit meiner Freunde.

VORWORT MEHMET E. GÖKER

Mein Name ist Göker, Mehmet E. Göker. Ich bin 36 Jahre jung und angetreten, Geld zu verdienen. Viel Geld! Das ist mir schon einmal gelungen. Mit 25 war ich Millionär, mit 29 mehrfacher Millionär. Ich hatte eine Firma – die MEG AG – mit 1.400 Mitarbeitern und einem gutachterlich bestätigten Schätzwert von nahezu einer Viertelmilliarde Euro. Ferraris parkten in der Garage. Ich unternahm Luxusreisen mit meiner Familie, mit meinen Freunden und Angestellten. Ich verschenkte Porsches, wenn mir danach war. Ich schwamm im Geld. Ich wollte nicht der Erste sein, ich wollte der Allererste sein, den Zweiten deklassieren. Dass man sich damit nicht nur Freunde macht, ist klar. Je nachdem, wo man selbst stand, hieß es: der Powerverkäufer, das Vertriebsgenie, der Messias oder aber Verführer, Guru, Teufel in Menschengestalt. Man hat mir viele Namen gegeben – in Kassel, wo meine Geschichte anfing, sagten sie immer: »Schau mal, der Kanake im Ferrari!« oder, wenn sie nicht ganz so rassistisch waren, »der Türke«.

Biografie, Bilanz, Bestandsaufnahme, aber – wer mich kennt, weiß das – auch Abrechnung. Abrechnung mit den Pharisäern der Versicherungsbranche, den falschen Freunden, all den Arschlöchern, die glauben, einem vorschreiben zu können, wie man zu sein, wie man zu leben, wie man sich zu verhalten hat. Alle sagten immer: »Das geht nicht!« Dann kam ich, der das nicht wusste, und habe es einfach gemacht. Ich war immer positiv und optimistisch eingestellt. Geht nicht gibt’s nicht. Ich war immer laut, frech, forsch, fordernd. Eigentlich viel zu laut für die Branche, in der ich groß geworden bin. Dem Versicherungswesen.

Ich möchte mich bedanken bei: Meinem Vater Asim, meiner Mutter Nezihe, meiner Schwester Asuman, meinem Bruder Ertugrul, meinen drei Neffen Cüneyt, Gökhan und Asim sowie meinen vier Nichten Berna, Aylin, Berrin und noch mal Aylin. Außerdem bei meinen besten Freunden Vincent, Stefan, Farid und Said. Diese Menschen haben in guten und in schlechten Zeiten als Freund und als Mensch zu mir gestanden. Danke, dass es Euch gibt!

Und für mich, Papa, wirst Du ewig weiterleben.

VORWORT CHRISTIAN SCHOMMERS

Die MEG-Residenz in Davutlar, circa 20 Autominuten von Kușadas1 entfernt, ist so, wie man sich das Paradies vorstellt. Die Sonne strahlt, der Himmel ist azurblau. Ein leichter Wind weht vom Meer herüber. Es riecht nach Süden, nach Urlaub. Das große Stahltor öffnet sich auf Knopfdruck und man fährt geradewegs durch eine Reihe luxuriös aufgereihter, adretter Villen bis zu einem Parkplatz direkt neben dem Domizil des Chefs. Die aus Sandstein gebauten, weißen, kubisch-zergliederten Häuser sitzen auf einer großzügigen, umlaufenden Terrasse, eine Pergola mit Sonnensegeln ruht auf ihren Säulen. Hinter der Terrassentür, die ins Innere führt, befindet sich das Wohnzimmer, das fast die gesamte Grundfläche einnimmt. Kamin. Helle Farben, umlaufende Stuckverzierung. Daneben Küche und Gäste-WC, oben drei Schlafzimmer und ein großes Bad. Die Häuser umgeben einen Pool, in dessen Boden das MEG-Logo in weißen Lettern auf blauem Grund eingelassen ist. Als Gökers Erfolgsgeschichte noch keine Dellen hatte, hat er die Anlage für 1,8 Millionen Euro gekauft und mit seiner Entourage die Sommer hier verbracht. Kunstfertig getrimmte Bäume, bunte Blumenbeete und ein grün leuchtender Rasen. Vorn wehen Fahnen: die der Türkei, die von MEG und die von Gökers Lieblingsfußballclub, dem FC Bayern München. Garten Eden mit Palmen, versteckt in dieser kleinen Stadt; schwer zu finden, wenn man nicht ortskundig ist. Dorthin fuhr ich im Sommer 2014, um Mehmet E. Göker für seine Biografie zu interviewen. Viele Wochen mittendrin, nicht nur dabei. Eine Überdosis Göker sozusagen. Und wer diesen Mann kennt, der ahnt, wovon ich rede.

P.S.:

Die 29 Interviews, die diesem Buch zugrunde liegen, wurden von mir im Juli und September 2014 in Kuşadası in der Residenz von Mehmet E. Göker geführt. Die Audiofiles und Abschriften dieser Interviews stehen als Quellen zur Verfügung. Auch wenn vieles hinterfragt wurde, können sich bei der Erinnerungsarbeit Ungenauigkeiten und Fehler einschleichen. Ich habe mich – gerade bei Zahlen und brisanten Themen – genau an die Aussagen von Herrn Göker gehalten.

Hamburg, im Januar 2015

KAPITEL EINS

Der Tag X. New York. Es klopft an der Tür meiner Suite 717 im Sheraton. Razzia bei MEG in Kassel. Anklage wegen Scheinselbstständigkeit.

Wir sitzen im Bug eines yachtähnlichen Gebäudes, das der türkischen MEG als Firmensitz dient. Draußen brütet die Hitze. Der Himmel über Kuşadası an der türkischen Riviera ist tiefblau. Drinnen kühlen Klimaanlagen Gökers Büro, das mit zwei Ensembles aus Ledersofas und Couchtisch, eins links, eins rechts, eingerichtet ist. In Vitrinen und auf den Schränken die Trophäen des 36-Jährigen. Schwarze Granitblöcke von der Halleschen für den besten Versicherungsvertrieb, eine Frauenfigur, auf deren Fuß ein goldenes Schildchen mit Rekorddaten angebracht ist. Mehmet E. Göker war jahrelang der erklärte Liebling der Versicherungsbranche im Bereich PKV, private Krankenversicherungen. Seine damals in Kassel ansässige Firma MEG brachte seinen Premiumpartnern, wie der Halleschen Krankenversicherung, AXA, Allianz und der Bayerischen Beamtenkrankenkasse viele Kunden. Das Geschäft mit den Provisionen lief so gut, dass Gökers Aktiengesellschaft immer schneller wuchs. Manche Premiumkunden zahlten an den Vermittler an der Spitze bis zu 21 MB, so kürzen die Versicherungsprofis den Begriff »Monatsbeitrag« ab.

2007 bekam ich von meinen Freunden eine New-York-Reise als Geburtstagsgeschenk. Einmal die US Open aus nächster Nähe erleben – ein Festtag für uns Tennis-Fans. Wir haben ein Spiel von Roger Federer gegen einen eher unbekannten Spieler gesehen. Federer hat in drei Sätzen gewonnen. Und ein Spiel der Israelin Shahar Peer.

Weitläufige Executive Suite im Sheraton, ganz oben, wo ich damals auch hingehörte. Alles picobello, alles vom Feinsten. Zwei riesige Flatscreens, ein großzügiges Bad. Für New Yorker Verhältnisse, wo selbst in 5-Sterne-Hotels die Zimmer eher klein sind, war das wirklich üppig.

Wir waren mit Lufthansa Business Class nach New York geflogen – tolles Wetter, 30 Grad im September, sehr heiß. Und wir haben uns das volle Programm gegeben: Central Park, die Hamptons, 5th Avenue, Shopping, als gäbe es kein Morgen mehr …

Schöne Tage. Dann kam der Abend des 2. September: Wir sind in so eine typische, dunkle, holzvertäfelte Bar gegangen. Zu dritt sind wir dann noch um die Häuser gezogen. So gegen ein zwei Uhr wurde ich müde, und wir sind zurück ins Hotel.

Frühmorgens gegen fünf klopft es an meiner Tür. Knockknockknock ... »Was ist los?«, denke ich. Vor der Tür stehen Marth und Kammerer und sagen, der MEG-Sicherheitsbeauftragte Marinko habe sie angerufen: Razzia in der Hauptverwaltung in Kassel. 100 Mann. Ich darauf: »Bleibt mal locker, ihr wisst doch, Marinko übertreibt gerne. Da sind wahrscheinlich 20 Leute vom Finanzamt, die sich die Bücher ansehen wollen. Bleibt cool!« Ich rufe in der Hauptverwaltung an, um mit meinem Vertriebsvorstand Björn Kotzan zu sprechen.

Ich: »Björn, der Marth steht vor meiner Tür und erzählt was von 100 Mann, die eine Razzia machen?«

Björn: »Nein, stimmt nicht, es sind 200, und sie suchen nach Schwarzgeld. Steuerhinterziehung.«

Ich: »Ach du Scheiße! Seid offen, wir haben nichts zu verbergen, bleibt bei der Wahrheit.«

Inzwischen waren etwa 300 SMS eingetrudelt. Tenor: »Egal, was ist, wir stehen zu dir!« An diesem Tag hatten 40 Neue angefangen. Einer davon, Emmanuel Matschlik (er hat später Karriere bei uns gemacht), schrieb mir: »Mensch Mehmet, zwei Tage hier, kommt eine Riesenrazzia. Geile Firma! Hier bin ich richtig.« So begann der schwarze Dienstag, der 4. September 2007. Das war – abgesehen vom Todestag meines Vaters – der schlimmste Tag meines Lebens.

Das Komische war, dass es keinerlei Vorzeichen gegeben hat. Die Aktion kam – zumindest für mich – komplett überraschend. Ich war politisch nicht vernetzt, habe wirklich nichts gewusst. Zuerst habe ich die ganze Sache im Videotext mitverfolgt. In Kassel wurden derweil Straßen abgesperrt. Mehrere Fernsehteams waren vor Ort. Habe dann auch genau miterleben dürfen, was Neid bewirkt. Gegenüber von der Firma war eine Bushaltestelle. Dort sind einige der ärgsten Neidhammel hingepilgert und haben ihre mitgebrachten Billig-Sektflaschen geköpft, so nach dem Motto: »Geil, jetzt machen sie den Göker platt!« Ohne das mit einem Krieg vergleichen zu wollen: Aber die Razzia war mein persönliches Pearl Harbor! Morgens um fünf hinterrücks attackiert von den Bullen! 62 anonyme Anzeigen: Göker macht illegale Geschäfte. Göker hinterzieht Steuern. Göker hat Kontakte zur Unterwelt. Alle Menschen, die sich nicht erklären können, dass einen Talent, harte Arbeit und Disziplin nur in eine Richtung bringen – nämlich nach oben –, vereinen sich gegen dich. Das größte Lob bekam ich am zweiten Tag durch einen Online-Kommentar in der HNA (Hessische Niedersächsische Allgemeine). Da schrieb einer sinngemäß: »Woran man erkennt, dass Göker ein Betrüger und Hochstapler ist, ist doch ganz klar. Das, was Göker gemacht hat, haben 50.000 Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg probiert, und keiner hat es geschafft, so ein Imperium aufzubauen. Da liegt es doch auf der Hand, dass ein 27-jähriger Türke das erst recht nicht kann. Und dann noch legal!« Da ich aber wusste, dass alles legal war, war dies das größte Kompliment meines Lebens. Danke, unbekannter Schreiber.

Inzwischen hatte ich von New York aus mit meinen Führungskräften telefoniert und folgenden Kurs abgesteckt: »Alles locker. Aber passt auf. Die Versicherer in Deutschland kriegen das alles mit. Die werden uns mit Argusaugen beobachten. Die Qualitätssicherung [die sicherstellt, dass keine gefälschten Anträge eingereicht werden, Anmerkung des Verfassers] fällt für eine Woche weg, denn der Umsatz darf nicht zurückgehen. Die werden genau beobachten, ob die Zahlen einbrechen. Wenn der Umsatz gleich bleibt oder nur geringfügig zurückgeht, sagen wir um 10 oder 20 Prozent, werden alle bei der Stange bleiben. Merken die aber, dass das Schiff ein großes Leck hat und sinkt, dann werden alle die Titanic verlassen. Wir müssen jetzt – solange das Loch noch klein ist – reagieren.« Alle Anträge, so meine Order, müssen umgehend weitergeleitet werden.

Vier Tage später kommt der erste Anruf: »Hallo, Herr Göker, wir haben seit dem Tag der Razzia ganz genau auf Ihre Zahlen geschaut. Nur acht Prozent Rückgang – trotz dieses Debakels. Respekt!« – »Siehst du, Björn, ich hab’s gewusst. Die haben uns genauestens beobachtet!«

Das Gute war: Wir konnten eigentlich normal weiterarbeiten, denn es waren nur elektronische Daten gesichert worden. Im Rückblick wird klar: Diese Razzia – und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die meines Anwalts – entbehrte jeder rechtlichen Grundlage. Von allen Anklagepunkten wie Steuerhinterziehung, Geldwäsche usw. blieb nur der Vorwurf der Scheinselbstständigkeit übrig.

Bei manchen Versicherungen hat jeder Außendienstmitarbeiter Vorgaben. Das fängt bei der Kleiderordnung an und hört bei der Farbe des Büros auf. Alles ist geregelt: Man kann nur diesen Computer und jenen Laptop kaufen, Öffnungszeiten, Gehalt der Sekretärinnen – alles ist vorgegeben. Aber dennoch gelten diese Außendienstler als selbstständig. Normalerweise – und das machen eben auch die großen Versicherer so – ist der Innendienst fest angestellt, und die Verkäufer sind laut HGB § 84 (Handelsgesetzbuch) selbstständige Außendienstmitarbeiter. Die müssen ihre Provisionen selbst versteuern. Aber wir waren ein ziemlich wilder Haufen, hatten flexible Arbeitszeiten, damals noch keine strenge Kleiderordnung. Das war denen – bei dem offensichtlichen Erfolg unserer Truppe – ein Dorn im Auge. Gegen anonyme Anzeigen ist keiner gefeit. Das hat man nicht in der Hand.

Das, was sie mir ursprünglich anlasten wollten, hatte sich bei der Razzia nicht bestätigt. Sie haben alles auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden. Übrig blieb also nur der Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Es kam dann zu einem denkwürdigen Treffen – auf der einen Seite des Tisches ein Typ vom Finanzamt, einer von den Sozialkassen und einer von der Staatsanwaltschaft, auf der anderen Seite ich. Im Vorfeld hatte es geheißen:

Sie: »Können wir uns mal treffen?«

Ich: »Klar, aber ich bringe meinen Anwalt mit ...«

Sie: »Nein, wenn Sie mit Ihrem Anwalt kommen, gibt es kein Treffen. Wir unterhalten uns nur mit Ihnen alleine!«

Und dann das Treffen, ohne meinen Anwalt.

Sie: »Also, Herr Göker, Sie wollen keinen Prozess, wir wollen keinen Prozess. Sie haben vier Millionen hinterlegt, eine legen Sie als Sicherheit für die Sozialabgaben noch drauf und dann noch zwei Jahre auf Bewährung …«

Ich: »Nein, auf keinen Fall.«

Sie: »Doch!«

Ich: »Nein!«

Das ging so eine Weile hin und her und dann haben die mit ihrem Chef telefoniert. 1.000 Euro Tagessatz, hieß es. Sie wollten 720.000 Euro, ich wollte ihnen 180.000 geben. Wir wären hier nicht auf einem türkischen Basar, ließ man mich wissen. Die Alternative: Als Sicherheit sollten innerhalb einer Woche noch einmal acht Millionen Euro für ausstehende Sozialabgaben bis zum Prozessbeginn in ein, zwei Jahren hinterlegt werden.

Sie: »Oder wir kommen morgen und nehmen jeglichen Wert aus der Firma heraus, um die acht Millionen abzusichern.«

Ich: »Ich bin 27 Jahre alt, wo soll ich acht Millionen hernehmen? Die vier, die ich hatte, habt ihr euch ja schon genommen.«

Es bestand kein Zweifel, dass sie das knallhart durchziehen würden. Aber dann hätten wir nicht mehr arbeiten können – wie auch? Ohne Computer?! Ich hatte die Wahl zwischen Pest oder Cholera – ich musste auf die Forderung mit den 720.000 Euro eingehen, anderenfalls würden sie den Laden leerräumen. So sieht eine Zwangsverhandlung in Deutschland mit der Staatsanwaltschaft, dem Finanzamt und den Sozialkassen aus.

Als mich die Hiobsbotschaft in New York erreichte, habe ich die Reise sofort abgebrochen und direkt einen Rückflug gebucht. Wir sitzen also in der Business Class und mein Sitznachbar schüttet mir seinen frisch gepressten O-Saft über die Hose. Ich schaue ihn an und sage: »Wissen Sie, an jedem anderen Tag hätte ich mich darüber ziemlich aufgeregt, heute ist mir das scheißegal.« Natürlich bestand die Gefahr, am Flughafen verhaftet zu werden, aber nichts dergleichen geschah. Keine Kontosperrung, nichts.

Die Razzia war mein erster großer Skandal. Regional war die MEG schon einmal aufgefallen. Ehemalige Mitarbeiter schuldeten mir Geld und wollten es einfach nicht zurückzahlen. Das läpperte sich, und als sich die Summe auf 250.000 Euro hochgeschaukelt hatte, habe ich eine Inkassofirma beauftragt. Die haben dann mal 2.000 Euro, mal 3.000 eingetrieben. Moskau Inkasso GmbH. Eine Frau, die mir 3.000 schuldete, ist damit zur Presse. Moskau Inkasso schüchtern ein, aber die schlagen nicht. Olek und Bolek kommen dann zu dir und sagen (imitiert russischen Akzent): »Hör mal, du schulden Mehmet Geld!« Die kommen an deinem Geburtstag, vor all deinen Freunden und fragen: »Wann gedenken du zurückzuzahlen?« Und die kommen dreimal am Tag, bis du zahlst. Dann ist diese Frau zur Presse und hat gesagt: »Moskau Inkasso ist unseriös. Die haben mich eingeschüchtert ... bedroht!« Diese Frau schuldet mir 3.000 Euro und zeigt mich dann an. Strafanzeige. Ich hielt mich zu dem Zeitpunkt in der Türkei auf und erhalte dort einen Anruf. Morgen wird im Extra Tip ein Artikel erscheinen: »Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Göker wegen Bedrohung ehemaliger Mitarbeiter«. »Was ist denn das für eine Schlagzeile?« Ich bin ausgerastet. »Was soll denn das? Die schuldet mir Geld, und ich werde angezeigt. Ihr Wichser, was fällt euch ein, so einen Mist zu schreiben?« Heute würde ich sagen: »Schreibt, was ihr wollt!«, aber mit Mitte, Ende 20 gehen dir, gingen mir die Gäule durch. Ich habe gesagt: »Wenn ihr das macht, dann kommt ihr nicht mehr zu den Spielen des KSV Hessen Kassel ins Stadion.« Ihre Reaktion: »Das machst du nicht!« Großer Irrtum. Ich war der Hauptsponsor und in meiner Rage habe ich in der Geschäftsstelle angerufen und gesagt: »Die Typen vom Extra Tip kommen nicht mehr rein, entzieht ihnen die Akkreditierung.« Und die Verantwortlichen haben – sehr zu meiner Verwunderung – ihr Okay gegeben. Inzwischen ruft mich der Chefredakteur vom Extra Tip an: »Mehmet, wenn du das durchziehst, dann machen wir dir das Leben schwer – und zwar jeden Tag. Mach das nicht!« Da habe ich erst kapiert, welche Macht die Medien haben. – »Ist erledigt, aber können wir uns auf eine andere Headline einigen, die Zeile ›Staatsanwaltschaft ermittelt ...‹ – kann man die rausnehmen?« Er willigt ein. Am nächsten Sonntag Titelseite. In großen Lettern: »Porsche, Partys, Provisionen« Darunter: »Staatsanwaltschaft ermittelt …« »Ihr Schweine«, hab ich gedacht und drehte den Spieß um. Ich habe dann eine ganzseitige Anzeige geschaltet, ihre Überschrift genommen »Porsche, Partys, Provisionen« und ganz groß drunter: »… gibt es nur bei MEG. Bewirb Dich jetzt!«

Der Skandal mit der Razzia weitete sich aus. Als wir von New York zurückkamen, wurden wir von Björn Bischof und unserem Sicherheitschef Marinko abgeholt. Es war seltsam. Richtige Angst hatte ich eigentlich bis dahin noch nie gehabt. Aber wenn Angst dieses mulmige Gefühl ist, dann hatte ich diesmal Angst. Angst vor dem Ungewissen, vor dem, was mich erwartet. Ich war bis dahin nie polizeilich aufgefallen. Meine Akte schneeweiß. Noch nicht einmal schwarzgefahren, nicht einmal einen Kaugummi geklaut, und dann kommen die mit 200 Leuten in deine Firma rein und stellen alles auf den Kopf. Lustige Anekdote am Rande: Am Tag der Razzia so irgendwann gegen Mittag wurde der Ton merklich lockerer. Die haben gemerkt, dass bei uns gar nichts zu holen war. Eine Mitarbeiterin von uns hat dann tatsächlich zwei von denen eine PKV verkauft. »Was«, hab ich gesagt, »nur an zwei von 200? Warum nicht an alle???? Dann hätte sich das wenigstens gelohnt.«

Wir kommen also in der Firma an, und da warten sie schon. Sechs oder sieben Mann vom Finanzamt, wie sie halt aussehen – graue Vögel, ein Anzug mieser als der andere.

»Sie sind vom Finanzamt«, begrüße ich sie.

»Woher wissen Sie das?«

»Das erkenne ich … (an ihren billigen Anzügen).« Den letzten Teil denke ich nur.

Staatsanwalt: (spricht mit knarzender Stimme) »Mensch, Göker, Sie verdienen ja eine Stange Geld. Sie verdienen ja in einem Monat mehr als ich im ganzen Jahr.«

(Monatsgehalt von Mehmet Göker als CEO der MEG 120.000 Euro im Monat plus Boni)

Wir saßen im Büro von Björn Kotzan, eine Runde von 15 Leuten. Nach einem Tag hätten sie, eröffnete einer von ihnen die Rede, herausgefunden, dass ich pro Datensatz 100 Euro Gewinn mache. (Datensätze sind gekaufte Kundenanfragen, die Interesse an einem unverbindlichen Vergleich für ihre Krankenkasse haben.)

»Lügner«, schrie ich, »Lügner!«

Am Ende der Woche mussten sie eingestehen, dass sie den Vorwurf der Steuerhinterziehung fallen lassen mussten. Die MEG hatte keine Steuern hinterzogen. Keinen Cent. Dann blieb es, wie schon oben erwähnt, bei dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Sie wussten, dass sie niemals einen Prozess gewinnen würden, und ließen sich deswegen auf einen Deal mit mir ein. Hätte auch nur die geringste Chance bestanden, den Prozess gegen mich und die MEG zu gewinnen, sie hätten ihn mit großer Freude geführt. Ich aber war wegen der Höhe der Summe – 720.000 Euro – nun vorbestraft und hatte keine Wahl: Entweder ich akzeptierte die Strafe oder ich musste zwölf Millionen hinterlegen, vier pro Jahr bis zum voraussichtlichen Prozessbeginn. Der Prozess wurde bislang ja nicht geführt.

Eine Woche später nämlich, ich wollte gerade in die Firma, da klingelte es bei mir zu Hause. Wieder so drei Gestalten vom Finanzamt.

»Hallo, Herr Göker, nach unseren Berechnungen reichen die 3,3 Millionen, die hinterlegt wurden, nicht aus. Wir brauchen noch einmal 700.000 Euro.«

Ich schaue die Herrschaften an, drehe mich um und sage:

»Moment, bitte, ich hole sie ...«

Ich drehe mich wieder zu ihnen um, grinse und sage (laut):

»Ihr wollt mich gerade verarschen, oder? Ich habe euch 3,3 Millionen zur Sicherheit für die Sozialkassen gegeben … meint ihr etwa, ich würde das Geld zu Hause drucken???? Woher soll ich denn jetzt auf die Schnelle 700.000 nehmen? Ich hab nichts. Tschüss …«

»Okay«, sagte einer der Typen, »dann müssen wir jetzt pfänden. Hier ist der Beschluss.«

Ich (sehr laut): »Sagt mal, habt ihr sie noch alle??? Gebt mir doch einen Tag Vorlauf. Ruft mich doch an und sagt mir, dass ihr mehr Geld braucht, dann kann ich das vielleicht besorgen. Ich hab jetzt keine 700.000. Das ist ja nicht die Welt, aber ich brauche 48 Stunden, um diese Summe zu besorgen ...«

»Nein, wir brauchen das Geld jetzt! Aufschub gibt es nicht!«

Angelockt durch das laute Gespräch im Treppenhaus kommt meine Mutter aus ihrer Einliegerwohnung und fragt, was denn los sei. »Das Finanzamt will noch einmal siebenhundert.« Sie darauf: »Momentchen, dann geh ich kurz zur Bank und hol das Geld …« Ich muss lächeln. »Mutti, die wollen nicht 700 Euro, sondern 700.000!« Meine Mutter: »Uiuiuiuiui ... die hab ich gerade auch nicht da.« Ich wende mich wieder den Finanzamtsheinis zu und sage, schon etwas ruhiger:

»Gebt mir doch bitte 24 Stunden, und ich bringe euch morgen das Geld.«

Aber sie blieben stur bei ihrem Nein.

»Dann pfänden wir jetzt Ihren Rolls-Royce!«

»Wollt ihr mich verarschen? Wenn das Finanzamt jetzt mit meinem Rolls wegfährt, ist mein Ruf in dieser Stadt ruiniert. Niemals – wo wollt ihr den denn abstellen?«

»Bei uns!«

»Könnt ihr vergessen. Was macht denn Gökers Auto auf dem Hof vom Finanzamt?? Der Rolls wird in einer der Garagen bei der nächsten Shell-Tankstelle abgestellt. Dann schließt ihr ab, nehmt den Schlüssel mit, und ich hab 24 Stunden, um das Geld aufzutreiben, okay?«

»Ist in Ordnung!«

»Kann der nicht einfach hier stehen bleiben und ihr macht einen Zettel drauf«, versuchte ich noch einmal die Pfändung abzuwenden.

»Nein.« Sie hatten anscheinend klare Order, mit irgendetwas zurückzukommen.

»Okay, wer soll den Wagen denn fahren?«

»Ich«, sagte einer der drei.

»Auf gar keinen Fall. Vergiss es!! Ich lass dich doch nicht einen 400.000-Euro- Wagen fahren. Los gehen wir, ich fahr ihn selbst dorthin.«

»Herr Göker«, wagt sich einer von dem Trio vor, »dann fehlen ja noch 300.000 … .«

»Waaaas? Das gibt es jetzt nicht.«

Dann wollten sie mein Portemonnaie sehen. Taschenpfändung. Ich habe meistens so zwischen 3.000 und 5.000 Euro bei mir. Die nehmen das Geld heraus und lassen ein paar Scheine drin …

»Was machen Sie denn jetzt?«

»Wir nehmen das Geld heraus!«

»Und wie viel haben Sie mir gelassen?«

»Siebzig Euro!«

»Was soll ich denn mit siebzig Euro machen? Die Tankfüllung für den Rolli kostet doch schon 200.«

»Siebzig Euro reichen, um in Deutschland eine Woche zu leben«, sagt eine der Flöten.

»Siebzig Euro für eine Woche. Das reicht noch nicht einmal von zwölf bis Mittag.«

»Tja, dann müssen Sie Ihren Lebensstil eben entsprechend anpassen!«

Da fiel mir ein, dass ich noch meine Uhren hatte, alle schön in einem Uhrenkasten. Darauf ließen sie sich dann ein. Zum Abschluss bat ich sie, mir doch eine Uhr zu lassen …

»Nö, die sind zu wertvoll. Kaufen Sie sich eine preiswerte Uhr …«

»Mit welchem Geld denn, ihr habt mir doch alles weggenommen.«

Sagt der eine doch rotzfrech:

»Aber Sie haben doch noch 70 Euro! Für 30 Euro gibt’s doch schon eine Uhr.«

»Seid ihr jetzt zufrieden?«

»Ja!«

»Also, wenn ich jetzt das Geld ranschaffe, krieg ich meine Uhren und den Rolli dann zurück?«

»Den Rolli?«, fragt einer.

»Den ROLLS ROOOOOYCE!«

»JA!«

»Okay, ich hoffe, ihr kommt nicht noch einmal!«

»Aktuell nicht.«

»Was heißt hier aktuell – ihr habt vier Millionen Euro von mir als Sicherheit. Was wollt ihr denn noch?«

Laut deren Ermittlungen waren die vier Millionen der Fehlbetrag für die Sozialabgaben per annum. Deswegen konnten sie diese Nummer durchziehen.

Der Rolls war ebenso wie ein Teil des Geldes Firmeneigentum, also meines. Ich habe bei allem mit meinem Privatvermögen gehaftet. Mein größtes Vermögen belief sich 2009 auf knapp 254 Millionen Euro. Davon 236 Millionen Firmenwert, zwölf Millionen Barvermögen und drei bis vier Millionen steckten im Fuhrpark und in Immobilien in Asien und Europa. Mein Freund Frank Marth hat damals mit jemandem von Forbes Deutschland telefoniert und es wurde von einer Berliner Kanzlei bestätigt, dass ich zu den 1000 reichsten Deutschen gehöre. Mit 29 Jahren.

Viele haben mich gefragt, wieso mir niemand zur Seite gesprungen ist, zu Hilfe kam? Hattest du keine Freunde in der Stadt, politische Verbindungen? Nein! Ich war in diesem Sinne nie ein Netzwerker. Ich hab nicht gekungelt. Ich will keine Hilfe von der Politik, ich will niemanden, der Kohle hat. Ich mache alles selbst. Ich wollte nie als Bittsteller vor jemanden treten. Ich kann das nicht, ich will das nicht. Ich mache einfach meinen Job!

Wir mussten die Außendienstler alle fest anstellen. Und genau das geht nicht. Das System bricht dadurch zusammen. Nicht nur wegen der Mehrbelastung – wir hatten knapp fünf Millionen Euro im Jahr nur an Lohnsteuer und Abgaben zu zahlen –, sondern auch, weil man durch die Festanstellung die Motivation des Außendienstes kappt. Ich hatte plötzlich 90 Prozent mehr Kosten. Das ging nicht, das geht nicht.

Irgendwann wurde dieser Druck einfach immens. Du stehst jeden Morgen auf, jeden Morgen, und weißt: Kleines Geschäft, kleine Sorgen, großes Geschäft, große Sorgen. »Ich muss heute 200.000 Euro verdienen, um plus minus null zu erreichen.« Und in dieses Dilemma hatte ich mich selbst hineingebracht. Ich wollte nämlich immer wachsen, immer größer werden. Ich weiß, dass immer gesagt wird: Wenn junge Firmen zu schnell wachsen, dann … Es gibt aber kein »zu schnell«. Es gibt kein zu schnell Auto fahren. Entweder du bist gut oder du bist schlecht. Wenn du gut bist, kannst du schnell alles erreichen. Wenn du langsam bist, dann eben langsam. Es gibt kein zu gut oder zu schnell – das ist die Ausrede von Versagern, die nichts machen. »Mach mal langsam«, ich kann das nicht mehr hören. Weil du doof bist, machst du langsam. Wenn ich gut bin, dann kann ich es eben auch schnell machen. Und ich war gut. Aber ich war nicht gut genug bei dieser Geschwindigkeit. Es war objektiv nicht zu schnell, es war FÜR MICH zu schnell! ICH WAR NICHT GUT GENUG. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich keine Kontrolle mehr über diese Firma mit ihren 1.500 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 100 Millionen hatte. Ich war nicht in der Lage, so einen Konzern zu führen. ICH BIN ÜBERFORDERT. ICH SCHAFFE DAS NICHT MEHR. Als wir 500 Leute waren, hatte ich alles im Griff. Aber irgendwann im Jahre 2009 habe ich Fehler gemacht. Und weil ich Fehler gemacht habe, habe ich die Kontrolle verloren. Und dadurch haben wir Geld verloren.

Will einer wissen, welche Fehler ich im Einzelnen begangen habe?? Ich habe eine Million Euro in die Niederlassung Würzburg investiert. Reinfall! Michael Bär? – Niederlassungsleiter Würzburg und Organisationsdirektor MEG – eine Katastrophe! Eine Million NL München, eine Million Hamburg. Reinfall. Eine Million Stuttgart … du machst einen Mietvertrag über 100.000 Euro im Jahr, mal drei Jahre, also 300.000, die hinterlegt werden müssen. Dann der Arbeitsplatz plus Rechner kostet circa 4.000 Euro; macht für 40 Mann also 160.000 Euro. Werbemaßnahmen auch noch einmal 500.000 bis eine Million Euro.

Ich lese gerne Biografien, unter anderem um zu verstehen, wie was geht, und um Fehler zu vermeiden, die andere schon vor mir gemacht haben. Bei der Biografie von Rockefeller ging es darum: Wie wurde er der reichste Mann Amerikas? Sein Prinzip habe ich mir von Anfang an zunutze gemacht. Rockefeller wollte das Ölgeschäft kontrollieren. Aber es gelang ihm nicht, da andere Ölbarone ihm gesagt haben: »Verpiss dich, unsere Ölfelder kriegst du nicht!« Rockefeller wusste: Wer das Öl kontrolliert, der wird die Zukunft kontrollieren. Das war ihm schon damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, bewusst, als noch niemand die ganzen Ausmaße des Ölgeschäftes absehen konnte. Er sagte also: »Scheiße, auf die leichte Tour komme ich nicht an die Ölfelder der anderen ran.« Dann eben so: John D. kaufte die Eisenbahn und hat den Preis für Öltransporte sofort um 1.000 Prozent erhöht. Was früher mal 1.000 Dollar kostete, kostete ab sofort 10.000 Dollar. Die Ölbarone regten sich auf: »Hast du eine Macke, das rentiert sich doch so nicht mehr!« – »Okay, dann verkauft mir die Ölfelder.« So kam er an die Ölfelder heran.

In meinem Fall hießen die Ölfelder Datensätze. Gute Leute verkauften viel aufgrund von guten Datensätzen. Da musste ich ran. Also kaufte ich meinen ersten Datensatz, meinen zweiten, meinen dritten, meinen vierten – später hatte ich circa 60 Prozent aller Datensätze vom Markt und 1.000 Leads (Datensätze heißen im Branchenjargon auch Leads. Ein Lead besteht aus Name/Vorname, Adresse, Telefonnummer, Geburtsdatum, Berufsstand, aktuelle Versicherung, Monatsbeitrag, Vorerkrankungen, u.v.m. Hochwertige Leads sind die, wo der Verkäufer schon im Vorfeld weiß, dass der Kunde sich nach einer – anderen – privaten Krankenversicherung erkundigt hat.) Wenn in Deutschland jemand Datensätze wollte, musste er zu mir kommen. »Willst du essen, dann musst du zum Göker«, hieß es. Willst du in diesem Geschäft Kohle machen, dann musst du zum Göker. So wurde ich immer größer und größer. Aber diese Datensätze kosten Geld. Sie sind eine Investition, die man erst einmal wieder reinholen muss. Datensätze sind das Erdreich, aus dem man die Goldnuggets rauswaschen muss.

Die Niederlassungen Bielefeld und Berlin liefen bombig. In Kassel saß ich selbst. In Bielefeld und Berlin hatte ich überragende Niederlassungsleiter. Mit ihnen steht und fällt das Geschäft. Hervorragende Leute, Führungspersönlichkeiten, die andere Menschen angezogen haben, die für andere da waren, die ganz einfach Vertrieb gelebt haben. Deswegen lief das. Bielefeld und Berlin waren aufgrund dieser Personen unsere Nonplusultra-Filialen. Dort lebten sie den MEG-Spirit. Die Verkäufer haben ihre Niederlassungsleiter geliebt. Diese Männer wurden geliebt, weil sie andere zum Erfolg geführt haben. Es ist ja unser Job, andere Menschen erfolgreich zu machen, dann machen uns die anderen Menschen auch erfolgreich. Es gibt einen großen deutschen Finanzdienstleister, die DVAG. Wenn du auf deren Website gehst, kannst du einen Multiple-Choice-Test machen, um herauszufinden, ob du für diesen Job geeignet bist. Das habe ich selbst ausprobiert.

Erste Frage: Bist du gerne mit Menschen zusammen?

Sehr gerne | gerne | nicht so gerne.

Ich kreuze »nicht so gerne« an.

Zweite Frage: Kannst du dich gut artikulieren?

Ja sehr | manchmal | nö …

Ich mache mein Kreuz bei »Nö«.

Verdienst du gerne Geld?

Nö. Alles nein. Ich habe nur die negativen Antworten angekreuzt und am Ende lautete das Resultat: »Klasse, du hast alle Voraussetzungen, um mit uns zu arbeiten. Melde Dich bitte umgehend bei der nächsten Niederlassung.« Die Provisionen sind ein Witz und Datensätze gibt es nicht. Jeder wird aufgefordert, seine Freunde und Bekannten zu werben – das macht man, je nachdem wie viele Freunde man hat, ein zwei Monate oder ein halbes Jahr, und dann ist es vorbei. Freunde hat man keine mehr, weil man denen ja ein Scheißprodukt verkauft hat. Und danach kriegt man das Telefonbuch, und nun leg mal los ... Der Durchschnitts-DVAGler verdient 11.000 Euro im Jahr, der Durchschnitts-MEGler verdient 80.000 im Jahr. Bei MEG kommst du in die Arbeit, und die »Leads« liegen frisch gedruckt, wie warme Semmeln, auf dem Tisch. Jeden Tag vier frische Datensätze. Die Leute haben mich geliebt, ich habe ihnen ein Umfeld geschaffen, hab sie motiviert. Meine Energie und ihr Einsatz – das war die Kombination. Du kommst morgens, machst dir einen Kaffee und dann rufst du den Kunden XY an, der bezahlt viel zu viel. Du hast alle relevanten Informationen vorliegen. Wir laufen nicht hinterher wie irgendwelche Bittsteller, sondern treten an Kunden heran, die etwas von uns wollen. Der Mensch geht heutzutage ins Internet und schaut sich um: Gibt es dieses oder jenes Produkt irgendwo preiswerter? Und das hab ich erkannt und genutzt. Es gab PKV vor Göker und es gibt PKV nach Göker, aber die Zeit mit mir war für die Branche die lukrativste. Wie sie mir alle in den Arsch gekrochen sind. Eine Versicherung: Rekordumsatz bisher die Impuls AG, Maklerfirma aus Augsburg mit 700.000 MB, MEG bricht diesen Rekord mit 1,2 Millionen Monatsprämie, knapp 15 Millionen Euro Beitragseinnahmen nur durch die MEG AG. Alleine. Der Rekord bei einer Versicherung lag beispielsweise bis dahin bei 300.000 MB, 3,6 Millionen vermitteltes Jahresgeschäft. Dann kommt der Türke, hat vier Jahre ’ne Firma und macht einen neuen Rekord: 12 Millionen Euro, eine Million im Monat ... nicht 3,8, nicht 4, nein, 12 Millionen.

Datensätze waren der Schlüssel zum Erfolg. Ich habe den ganzen Markt leer gekauft. Bei Google werben, Datensätze generieren und ab dafür. Zuerst habe ich das bei Curatel gesehen, die im Fernsehen geworben haben. Ich rief damals den ersten Kunden an:

»Hallo und guten Tag! Sie haben im Internet nachgefragt wegen einer ...?«

»Ja, stimmt!«

Oh, mein Gott, ist das geil, ich werde nicht – wie vorher üblich – beleidigt nach dem Motto »Was willst du Arsch, mir ’ne Versicherung andrehen?« Der Kunde will ja was und hat sich im Internet kundig gemacht, bzw. auf ein E-Mail reagiert.

»Was kann ich denn für Sie möglich machen?«

»Ja, ich bin bei der Gothaer und möchte dort raus …«

Oh, mein Gott, das ist es! Zwei Leads, drei Abschlüsse, einen hab ich noch geschäftlich versichert. 400 Euro investiert und 5.000 rausbekommen. Daraufhin hab ich meinen Datensatz-Lieferanten angerufen, 20 Leads bestellt und dann ging’s los. Mein Rekordtag waren 45 Anfragen. In dem Monat habe ich 95.000 Euro nach allen Kosten und Steuern verdient. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, weil es einfach nur geil war. Vorher war’s ein Hurenleben, mit Datensätzen war’s großartig. Als Azubi bei der DKV habe ich mit 20, 21 im 2. und 3. Lehrjahr 4.000 Euro netto verdient. Hatte eine Luxuswohnung in Kassel-Brasselsberg, 85 Quadratmeter, bevorzugte Wohngegend, Badezimmer mit Urinal, eine richtige Junggesellenbude.

Bis zu dem frühmorgendlichen »Knockknockknock« an die Tür meiner Suite im Sheraton war alles eins-a gelaufen. Fast zu gut! Alles wie im Traum. Die MEG war wie eine Rakete in den Himmel gestiegen und hatte die Mitbewerber hinter sich gelassen. Aber New York markierte die Umkehr. Wir überstanden zwar die Zeit nach der Razzia und den damit einhergehenden Skandal einigermaßen unbeschadet, aber dass ich gezwungen war, wegen der angeblichen Scheinselbstständigkeit alle Außendienstler fest anzustellen – das war das Todesurteil. Die Rakete verlor Schub. Die Nase neigte sich nach unten und der unaufhörliche Absturz begann.

Aber bevor wir diese Sache weiter beleuchten, fangen wir mal ganz vorne an. Zurück ins Jahr 1979.

KAPITEL ZWEI

Ich erblicke das Licht der Welt. Kinderpopo verbrannt. Ich, das Nesthäkchen. Verwöhnter Wonneproppen. Mamas Liebling, Papa hart, aber herzlich. Mein Vorbild.

Ich bin geboren am 2. April 1979. In Kassel. Sohn des Schuhmachermeisters Asim Göker und seiner Frau Nezihe Göker. Toller Vater, tolle Mutter. Die Tatsache, dass ich zu Hause auf die Welt kam, war nicht nur außergewöhnlich, sondern sollte meine weitere Zukunft bestimmen.

Kindheit in der Langen Straße in Kassel-Wilhelmshöhe, einem Viertel mit einem relativ hohen Türkenanteil. Meine Hebammen waren meine Schwester Asuman und mein Vater. Ich habe noch einen 20 Jahre älteren Bruder Ertuğrul. Asuman ist 17 Jahre älter, aber wenn man uns nebeneinander stellt, denkt man, ich sei der Ältere. Das Auto meines Vaters war in der Werkstatt. Ich kam sehr schnell und zügig, wie im richtigen Leben auch. (Natürlich rede ich nicht vom Bett, sondern vom Geschäftssinn!) Der Krankenwagen war noch auf dem Weg, aber Klein-Mehmet war schon da. Es war Montagmorgen, pünktlich acht Uhr. Zum Glück bin ich nicht einen Tag früher gekommen, sonst wäre ich noch ein Aprilscherz geworden. In Amerika wäre ich gleich am ersten Tag meines Erdendaseins Multimillionär geworden. Denn als der Krankenwagen endlich da war, steckten sie mich gleich in einen Brutkasten. Ich war ein Frühchen. Ich kann nirgendwo zu lange bleiben, weder bei meiner Mutter im Bauch, noch mit einer Frau zusammen, ha ha ha.

Mehmet zeigt mir Brandnarben am Rücken, oberhalb des Pos.

Das ist das Ergebnis von meinem Aufenthalt im Brutkasten. Meine Haut war so zart, dass sie von der Temperatur im Brutkasten verbrannt wurde. Ich kam auf die Intensivstation, denn ich schwebte in Lebensgefahr. Gleich am ersten Tag – das war ein Omen, denn es sollte so weitergehen. Nach mehreren Tagen auf der Intensivstation wurde von meinem Oberschenkel – sieht man heute nicht mehr – ein Stück Haut entfernt und auf die verbrannte Stelle transplantiert. Mein Bruder bedrohte noch den behandelnden Arzt, falls mir etwas zustoßen würde; meine Eltern gingen vor Gericht und erhielten ein bombastisches Schmerzensgeld. Dafür, dass mein Arsch für alle Zeiten entstellt war, bekam ich wahnsinnige 4.000 Mark. Der Richter begründete dies damit, dass man die Wunde ja nicht sehen würde, solange ich Klamotten anhätte, außerdem sei ich kein Mädchen und deswegen beeinträchtige das meine Zukunft nicht. Wäre ich ein Mädchen gewesen, so der Richter, dann hätte es dreimal so viel gegeben. Also 12.000 Mark. Ein Anwalt hat mir später bestätigt, dass ich in Amerika definitiv eine Million oder mehr erhalten hätte. Als Teenager war ich dauerverstört, weil ich dachte: Wenn ich irgendwann mal mit einer Frau intim werde und sie meinen Arsch sieht, wird sie weglaufen. Jedoch hörte ich im Laufe der Jahre immer wieder, dass mein nacktes Hinterteil mich zu etwas Einzigartigem mache. Da hab ich mir gedacht: »Warum ist nicht mein ganzer Körper verbrannt?« Hätte ja auch schlimmer kommen können – etwa im Gesicht. So zog ich also mit verbranntem Arsch durch meine Kinder- und Jugendjahre. Irgendwann im Alter von zwölf Jahren sprach ich meinen Vater an und fragte, wann ich denn die 4.000 Mark Schmerzensgeld haben könnte. Die Antwort: »Was für 4.000 Mark, Junge? Weißt du, wie teuer du seit der Geburt warst und immer noch bist?! Du kannst mir gerne was drauflegen!«

Seine Mutter erzählt: »Ich weiß nicht, ob Mehmet im Krankenwagen geschrien hat. Ich war nicht dabei, mich hat man mit einem anderen Wagen ins Krankenhaus gebracht. Dort habe ich sofort nach meinem Baby gefragt und die Schwester sagte mir, dass Mehmet krank sei. ›Nein‹, sagte ich zu ihr, ›er ist vollkommen gesund.‹ Dann kamen auch schon mein Mann und meine Tochter und sie haben noch einmal nachgefragt.«

Mehmet kommt aus dem Haus und ruft schon beim Anblick seiner Mutter: »Muttiii, das ist aber schön, dass du da bist. Entschuldige, dass ich ein paar Tage nicht bei dir war, aber diese netten alkoholkranken Männer aus Deutschland nehmen mich total in Beschlag!« Er berichtet seiner Mutter von den Interviewsessions, zeigt ihr sein Wunsch-Titelfoto. Wir haben schon New York, die Razzia, Ausbildung und jetzt sind wir bei der Kindheit – »und wer kann da besser mitreden als du?!«

»Die Krankenschwester wich uns aus und sagte, es sei etwas nicht in Ordnung, Mehmet sei im Kinderkrankenhaus. Irgendwann sind sie dann rausgerückt mit der Sprache und haben gesagt, der Popo des Babys sei verbrannt. Zudem hatte er sehr viel Wasser verloren durch diese Hitze im Brutkasten. Der Rücken war ersten Grades verbrannt (das war nicht so schlimm), aber am Popo hatte Mehmet Verbrennungen dritten Grades. Rotes, rohes Fleisch. Ich wollte sofort Haut für ihn spenden, aber das ging nicht – die Haut war zu unterschiedlich. Also haben sie Haut von seinem Bein genommen und die Transplantation gemacht. Er musste dreimal operiert werden. Er war insgesamt sechs Wochen im Krankenhaus. Als er nach Hause kam, war die Wunde immer noch offen. Wir mussten ihn jeden Tag mit einem Spezialöl baden und nach einiger Zeit war die Wunde dann abgeheilt. Natürlich sind wir vor Gericht gegangen und haben 4.000 Mark zugesprochen bekommen. Das Urteil blieb vier Jahre lang anhängig, denn man wusste nicht, wie sich das entwickelt – ob zum Guten oder Schlechten. Aber zum Glück ist alles gut verheilt.«

Die Mutter weiter: »Mehmet war kein einfaches Kind. Sehr viel Temperament! Nicht zu bändigen. Sehr lebhaft. Man konnte ihn nicht eine Minute aus den Augen lassen. Als er klein war, war das noch schlimmer als heute. Er kann keine Sekunde ruhig sitzen. Wenn er wusste, dass ich einen Tag frei hatte, fing er schon abends an zu klagen: ›Mama, ich hab Bauchschmerzen! Ich kann morgen nicht in den Kindergarten gehen, ich sterbe, Mama.‹ Bis Mehmet zwei Jahre alt war, lebte meine Mutter bei uns und hat auf ihn aufgepasst. Sie war abends total fertig, denn der Junge war ständig in Bewegung. Schlimmer zu hüten als ein Sack Flöhe. Aber richtig Sorgen hat er uns nie gemacht. Nie!

Als er sieben Jahre alt wurde, fing er an Fußball zu spielen und ist jeden Tag zum Training gegangen. Im Verein von Süsterfeld. Wir haben ja in dieser Ecke gewohnt. Später ist er dann Schiedsrichter geworden.

Das Verhältnis von Mehmet zu seinem Vater war sehr gut. Mehmet stellt es gerne so hin, als sei sein Vater streng gewesen, das war er in gewisser Weise auch, aber Mehmet ist 17 Jahre jünger als seine Schwester, 20 Jahre jünger als sein Bruder – er war unser Liebling, das Nesthäkchen. Alles, was er sich gewünscht hat, hat er auch bekommen. Er ist in die Stadt gegangen und hat sich in den Läden Sachen ausgesucht: ›Das, das und das – stellen Sie es in die Ecke … meine Mutter kommt es nachher abholen.‹«

Die Mutter meint, Mehmet sei zu vertrauensselig. Bis heute. Sie hat sich, als seine Karriere losging, eigentlich aus allem herausgehalten. Stolz war sie, aber auch ein wenig ängstlich. Mehmet hat laut ihrer Aussage ein gutes Verhältnis zu seinem heute 54-jährigen Bruder (Automechaniker).

»Mehmets Vater hat die Karriere seines Sohnes nicht mehr erlebt. Als es richtig losging, wurde er krank, eine Woche später ist er gestorben, er hatte ein Blutgerinnsel im Kopf, später kam eine Lungenentzündung hinzu, die am 10. April 2004 zu seinem Tod führte. Mehmet war vierundzwanzig, als der Vater starb.« – Mehmet ist laut seiner Mutter ein Familienmensch. »Ich bin finanziell unabhängig, habe 36 Jahre gearbeitet und habe jetzt eine schöne Rente. Nachdem mein Mann so plötzlich gestorben ist, hatte ich körperliche Schwierigkeiten. Panikattacken, Herzklopfen ...«

Mehmet, das Schlüsselkind: »Er ist nach der Schulzeit nach Hause gekommen und konnte sich das Essen warm machen. Er hat oft vergessen, den Herd abzuschalten, Töpfe sind verbrannt. Dann kam die Mikrowelle und das hat geklappt. Nach dem Essen ging Mehmet ins Bürgerhaus und machte dort Schularbeiten. Um vier, wenn meine Schicht vorbei war, kam er dann nach Hause. Als Mehmet das Haus mit Schwimmbad und Sauna gekauft hat, haben wir noch ein Jahr dort zusammen gelebt. Dann hat er ein noch größeres Haus gekauft, aber mir gefiel das alte besser. Es war gemütlicher. – Ich habe acht Enkelkinder, vier von meiner Tochter, vier von meinem anderen Sohn. Ich habe sogar schon vier Urenkel. Eine große Familie.

Ich habe mich in Deutschland sehr wohl gefühlt, war Schneiderin in der Klinik. Ich war sehr glücklich und hatte viele deutsche Freunde. Von Rassismus habe ich nie etwas gespürt. Manchmal vermisse ich meine Freunde. Ich esse gerne Sauerkraut, Leberwurst nicht so.

Eines Abends sitzen wir zu Hause, als das Telefon klingelt. Ein Herr, bei dem mein Mann kurz gearbeitet hat, ist dran und sagt, Mehmet sei bei ihm gewesen und wolle eine Schusterlehre machen. Mein Mann sagte: ›Er ist noch nicht achtzehn, zerreißen sie den Vertrag. Er soll weiter zur Schule gehen.‹ Mehmet kommt nach Hause und wir fragen ihn, was er sich dabei gedacht hat. Er sagt: ›Ich will Geld verdienen, denn ich will ein Auto!‹ Zuerst bekam er mit 17 ein Mofa, dann mit 18 sein erstes Auto.«

Mehmet brüllt im Hintergrund. Es steht 2:1 für Holland und 2:0 für Costa Rica: die WM-Wetten werden gerade abgeschlossen.

Mutter: »Er ist immer so laut!« Wenn er hinten in die Straßenbahn einstieg, wusste ich vorne sofort: »Aha, Mehmet ist da.« Mehmet hat erzählt, dass seine Mutter ihn »zum Schwein« gebracht habe. Gehacktes vom Schwein sei nämlich schmackhafter als Rind – für Bolognese oder Frikadellen. Und sie sei eine leidenschaftliche Rotweintrinkerin gewesen, jeden Abend ein Glas, sagt Mehmet. Die Mutter widerspricht: »Nicht immer ..., nein!«

Mehmet mischt sich wieder ein. Er beschreibt die Anfänge seiner Eltern in Deutschland.

Meine Mutter ist 1969 morgens um sechs in Frankfurt am Main gelandet, nach Kassel gefahren und hatte nachmittags einen Job. In dem Betrieb blieb sie 36 Jahre lang. Und da erzählen Leute in Deutschland, sie finden keinen Job. »Na, Nancy«, sagten die Kollegen zu ihr, wenn ich sie besuchen kam – sie nannten sie Nancy, weil ihren richtigen Namen Nezihe (gesprochen Nesie) keiner aussprechen kann. So wird auch meine Tochter heißen, sollte ich mal eine bekommen: Nezihe, nicht Nancy. Meine Eltern hatten die Wahl zwischen Paris und Kassel. In Paris gab es Mutters Bruder, Hayretin Aker, der Chefdesigner bei Pierre Cardin war und später ermordet wurde. Aus irgendeinem Grund haben sie sich für Kassel entschieden, Paris wäre auch schwieriger geworden. Und: Dort gibt es keine PKV. Die Mutter: »Bevor ich nach Kassel kam, war ich sechs Monate in Paris. Dann hieß es, sie brauchen eine Schneiderin, und so bin ich nach Kassel gekommen.« – »Holland spielt jetzt, sie spielen wieder 4-3-3, de Jong und Kuit …«, schreit Mehmet.

Der Autor bedankt sich bei Mehmets Mutter für das Interview. Sie sagt höflich: »Bitteschön.« Nach einer längeren Pause nimmt Mehmet den Faden wieder auf: lebhaftes Kind, viele Freunde, dauernd in Bewegung.

Ich hab schon mit sechs oder sieben Jahren das erste Mädchen kennengelernt. Sie hieß Manuela. Meine Mutter war bei der Arbeit und ich dachte: »Komm, nimmst die Kleine mit nach Hause!« Manuela stand total auf Nutella. Ich hab also Nutella rausgeholt, wir haben »Pink Panther« geguckt und Nutella mit Löffeln gegessen. Dann kam mein erster Kuss (singt) »Wer hat an der Uhr gedreht, ist es denn wirklich schon so spät?« Kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es war ein angenehmes Gefühl. Wie verlief meine Kindheit weiter? Ich kann mich an eines erinnern und dafür möchte ich meinen Eltern danken: Ich habe in meiner Kindheit niemals eine Ohrfeige bekommen. Es gab vielleicht mal einen Klaps auf den Po. Und das ist umso erstaunlicher, weil ich als Kind so viel Mist gebaut und so viel Scheiße gemacht habe. Es ist schier unglaublich. Mein Vater war eine Respektsperson für mich. Für Liebe und Freundschaft war meine Mutter zuständig. Ich war ein extremes Muttersöhnchen. Ich konnte die ersten fünf Jahre gar nicht ohne meine Mutter einschlafen. Damals lebten wir auf 60 Quadratmetern in der Langen Straße. Zwei Zimmer, Küche. Bad. Die Küche selbst war auf dem Flur. Unten war die Wäscherei Humburg und deren Mitarbeiter benutzten unsere Toilette mit. Wenn du also tagsüber auf Toilette musstest, konnte es passieren, dass da ein Mitarbeiter der Wäscherei seine Sitzung abhielt. Dort wohnten wir von 1979 bis 1984, und die Miete betrug, wenn ich mich recht erinnere, 70 Mark. Und meine Mutter sagte immer: »Wir werden hier nicht länger leben und Mehmet soll hier nicht groß werden!« Über meiner Kindheit steht, trotz solch beengter Verhältnisse, in großen Lettern das Wort HARMONIE. Meine Eltern sind 46 Jahre verheiratet gewesen. Meine Mutter war, als sie heiratete, 15 Jahre jung, mein Vater war 24. Es war keine Zwangsheirat. Sie wurden sich vorgestellt, drei Monate Zeit zum Kennenlernen – und danach haben sie dann geheiratet. Und – das kann ich bestätigen – sie waren sehr glücklich miteinander. Ich kann mich, ganz im Gegensatz zu anderen Kindern und Spielkameraden, nicht daran erinnern, dass es bei uns zu Hause Streit gab. Ich habe bis zum meinem Auszug 22 Jahre mit meinen Eltern zusammengelebt. In der ganzen Zeit gab es zweimal Streit. Einmal, ich muss so drei oder vier gewesen sein, komme ich heim und sehe, dass meine Mutter traurig ist. Ich frage sie, was los ist und sie sagt: Streit mit Papa. Ich zu meinem Vater und frage: »Warum hast du Streit mit Mutter, was ist passiert, was hast du gemacht?« Er sagt: »Guck mal, sie hat mich gekratzt!« Und das zweite Mal, da waren wir in der Türkei zum Sommerurlaub und sie sind vorne im Auto laut geworden. In 22 Jahren, die ich erlebt habe, also in 8035 Tagen, gab es an zwei Tagen Streit. Rekord!

Die Mutter sitzt dabei und mischt sich ein. »Der erste Streit«, sagt sie lächelnd, »war wegen Mehmet ...« Der protestiert: »Neinneinnein ... Es ging um meinen Bruder.« »Nein«, widerspricht die Mutter, »das war der Grund für den zweiten Streit.« Okay.

Mehmet erklärt einige seiner kindlichen Ausraster mit der spät bei ihm festgestellten ADHS-Störung. Mir war langweilig und ich hab mit einem Hammer meine Spielzeugautos kaputt geschlagen. Irgendwann war ›Spielzeugautos zerschlagen‹ auch langweilig und da hab ich mir den Wohnzimmerschrank, diese Riesenmöbel, die in türkischen Haushalten immer stehen, vorgenommen. Und irgendwann war mir eben langweilig und meine Eltern waren nicht da und ich war sauer, dass sie mich nicht mitgenommen hatten und ich alleine zu Hause war. – Meine Mutter hat mir immer den Schlüssel um den Hals gehängt, damit ich daheim reinkam und damit wenigstens die Hunde mit mir spielten. Ich hatte keine Freunde, weil ich schon früher ein Arschloch war ...

Mehmet erzählt diesen Witz immer wieder gerne. Wir hören ihn, leicht abgewandelt, das zweite Mal. Er grinst, wendet sich an seine Mutter und fragt: »Richtig??«

Ich hatte also ADHS, wie der Arzt letztes Jahr festgestellt hat, ...

Die um Mehmet versammelte Mannschaft grinst. »Wäre man nie drauf gekommen«, sagt der Autor. »Wusste ich nicht!«, sagt Said. Und Wolfgang definiert: »Das ist eine Störung, keine Krankheit.« Darauf legt Mehmet auch Wert.

… also ADHS in extremem Ausmaß, dass ich eine wirkliche Last war. Meine Mutter musste mich anbinden, wenn sie mal in Ruhe aufräumen wollte. Sie band mich – für mich war das wie ein Cowboy- und Indianerspiel – an ein Sofabein. Ein anderes Beruhigungsmittel war der Fernseher. Wenn ich die Hababam Sınıfı (Die chaotische Klasse)-Reihe mit Kemal Sunal als İnek Şaban (sinngemäß Schaban, das Rindvieh) schauen durfte, war ich ruhig.

Man kam in die Wohnung in der Langen Straße und es roch nach den Zigarren von Karl Humburg, dem Wäschereibesitzer. Daher kommt meine Leidenschaft für Zigarren. Mein Vater sagte immer: ›Ekelhafter Typ mit seinen Zigarren.‹ Ich hab’s genossen. Dieser Duft, wenn mein Vater die Miete bei ihm vorbeibrachte. Toll! Da war ich vielleicht drei. Zwanzig Jahre später war ich im Burj Al Arab in Dubai und dort gab es eine Zigarrenausstellung, Cohiba, Davidoff, das ganze Programm. Man durfte proberauchen und meine erste war eine Davidoff, aber schließlich bin ich bei der Cohiba hängen geblieben, Siglo I bis VI. Die Siglo heißt Siglo, weil diese Reihe 1992 zu Ehren von Christopher Kolumbus, der 1492 Amerika entdeckt hat, aufgelegt wurde. Siglo heißt Jahrhundert und es beginnt mit der Siglo I, kleine Zigarre, und endet bei der Siglo VI, große Zigarre.

Man kam also in der Langen Straße nach oben in die Wohnung und gleich links war die Küche. Da ich Coca-Cola liebte, hat mein Vater diese Limonade in Kisten gekauft, in Glasflaschen. Finde ich bis heute hundertmal besser als Cola in Plastikflaschen. Köstlich! Jedenfalls waren damals – das muss zur WM ’82, EM ’84, WM ’86 gewesen sein – im Deckel Fußballspieler-Bildchen drin zum Sammeln. Ich habe alle Flaschen auf einmal aufgemacht und die Bildchen rausgefriemelt. Mein Vater ist ausgerastet, weil die Kohlensäure natürlich aus allen Flaschen entwichen ist. »Papa, Cola ist alle!« Um schneller mit dem Sammeln fertig zu sein, habe ich die Flaschen aufgemacht, die Cola weggeschüttet, damit mein Vater neue kaufen musste … Irgendwann kam das natürlich raus. Ein anderes Mal, ich war wieder mal alleine und sauer, hab ich die Schrankbar geleert. Da gab es Jägermeister, Bommerlunder, so das übliche Zeug. Ich setze mich ans Fenster und gucke, wann meine Eltern nach Hause kommen. Erste Flasche auf, gerochen, rausgeschmissen. Zweite Flasche, aufgedreht, ein Schluck getrunken, rausgeschmissen. Dritte Flasche ... vierte Flasche, die ganze Bar lag in Scherben auf der Straße vor dem Haus. Das erste Mal betrunken, mit drei oder vier Jahren. Meine Eltern kamen zurück, mein Vater hat nur gelacht. »War ja meine Schuld«, sagte er, »ich hätte den Alkohol wegsperren müssen.« Es gab nie Ärger, niemals.

Meine Mutter ist immer mit mir zu C&A gegangen. Und als kleiner Junge – keinen Schimmer von Brioni, Zegna, Boss – dachte ich, es gibt nur eine Bekleidungsmarke auf der ganzen Welt und die heißt C&A. KiK gab es damals nicht. Kein H&M. Für mich gab es C&A und »Wohlwort«, ich sprach das deutsch aus, nicht Woolworth. Dort wurden Haushaltswaren gekauft. Und Schuhe bei Deichmann. (Mutter: »Die gab es damals noch nicht.« Mehmet: »Inzwischen in der Türkei eine angesagte Marke.«) Bei Charme und Anmut (C&A) hab ich dann getestet, ob meine Eltern mich wirklich lieben. Dachte immer, die wollen dich gar nicht. Wenn wir bei C&A waren, bin ich abgehauen und zur nächsten Kasse. Ich wusste, was kommt. Ab zur Infotheke.

»Ich hab meine Eltern verloren.«

»Wie heißt du denn, mein Kleiner?«

»Mehmet ... Mehmet Göker!«

Über Lautsprecher: »Der kleine Mehmet … Göker sucht seine Eltern. Kommen Sie bitte zur ...«

Ich dachte: Wenn sie nicht kommen, kommste in ein Heim. Wenn sie kommen, lieben sie dich, dann kommst du nach Hause. Fünf Minuten später … meine Eltern. »So, wo ist er?« – »Da!« Mein Vater zu mir: »Mehmet, lauf doch nicht immer weg!« Eine Woche später dasselbe Spiel. Das war doch geil, letzte Woche, ich will meinen Namen nochmal hören über dieses Dings da, diese Lautsprecheranlage. »Der kleine Mehmet.« Mein Vater kommt wieder, um mich abzuholen. »Das war das letzte Mal, dass du weggelaufen bist. IST DAS KLAR??« Und wenn er eine so deutliche Ansagen machte, dann war das auch klar.

Als ich sechs war, hab ich mit meinem Vater verhandelt.

»Papa, krieg ich Taschengeld?«

»Nein, du kriegst dann Geld, wenn du es brauchst!«

»Aber die deutschen Kinder haben auch alle Taschengeld!«

»Wir sind keine Deutschen!«

»Ich möchte aber Taschengeld!«

Ich habe dann ab der fünften Klasse, vorher war ich auf der Fridtjof-Nansen-Grundschule, jeden Tag Geld bekommen. Da gab es in der ersten und zweiten Klasse keine Noten, zum Glück! Da stand am Ende des Schuljahres immer: »Mehmet ist ein sehr lebhafter Schüler. Er stört öfter den Unterricht und läuft durch die Klasse.« Ab der dritten Klasse gab es dann Zeugnisse. Und mein Vater sagte zu mir: »Guck mal, Junge, du hast zwei Optionen – es gibt nur Einsen, Zweien und manchmal vielleicht eine Drei auf dem Zeugnis. Niemals eine Vier.« Von Fünfen und Sechsen wurde gar nicht erst gesprochen. Dritte Klasse: Ich habe die Wünsche meines Vaters erfüllt. Vierte Klasse: eins, zwei, drei. In der fünften Klasse dann Förderstufe. In dieser Schulform (die mich übrigens positiv geprägt hat) sind in den Nebenfächern alle zusammen – Gymnasiasten, Real- und Hauptschüler. Die Hirnis und die Realos. Die Hauptfächer – Deutsch, Englisch und Mathematik – hat man in Förderstufen A, B und C unterteilt, eben A (Gymnasium), B (Realschule) und C (Hauptschule). Soweit ich mich erinnere, war ich im B-Kurs in Englisch und Deutsch und im A-Kurs in Mathematik. Und dann bemerkt man, dass die Hauptschüler doch ein bisschen assi und einfacher strukturiert sind. Die Realschüler waren die Normalen, deren Eltern gehörten zur Mittelschicht, und bei den Gymnasiasten hörte man Sätze wie: »Ah, wir haben ein Dienstmädchen!« Ich denke: »Was ist denn bitteschön ein Dienstmädchen?« Heute weiß ich, dass sind so gute Seelen wie die Feridae [Mehmets Haushälterin in Davutlar], die ja bei uns zur Familie gehört. Ihr Mann ist der Hausmeister. Ich grille mit ihnen, ich esse mit ihnen, wir arbeiten seit sieben Jahren jetzt gut zusammen. Die kriegen Geburtstagsgeschenke, Weihnachtsgeschenke – die helfen mir, die halten mir den Rücken frei. Deswegen nenne ich Feridae mit allem Respekt Haushälterin und nicht Putzfrau oder so.

Zurück zu C&A. Ich dachte, es gibt einen Weltkonzern für Kleidung, eben C&A. So wie Drogen aus Kolumbien kommen und Mercedes das größte Auto baut, hat C&A das Monopol für Bekleidung. Denn auf meiner Unterhose stand C&A, Hose C&A, Hemd C&A, alles war von C&A.

Als Schulkind hatte ich immer eine große Angst. Ich hatte Angst, gehänselt zu werden wegen meines Namens. Man hört ja immer wieder, was da so abgeht ... Meh-met. Mem-me. Davor hatte ich Angst. In meinen 14 Schuljahren, zwölf plus zwei Ehrenrunden, wurde ich nicht einmal Memme genannt. Nicht einmal! Sehr gut! In der Schule war ich absoluter Durchschnitt, Mitläufer, unauffällig, kein Alphatier. Meine Persönlichkeit hat sich erst mit zunehmender Attraktivität entwickelt. Mit 16 steht man vor dem Spiegel und fragt sich: »Wie fühlt sich das wohl an, wenn man attraktiv ist und gut aussieht?« Mit 17 habe ich einen Modelvertrag bekommen und mit 18 bin ich bei »Gesicht 97« Zweiter geworden. In Hessen bin ich ziemlich weit gekommen, wog bei 1,82 Meter 67 Kilo. Ich war hager. Fast zu dünn. Aber mit der Optik kam ein extremes Selbstbewusstsein. Dann sieht man: Mutter attraktiv, Schwester attraktiv, liegt wohl in der Familie. Und dann geht man abends weg und checkt das mit den Frauen. Du kriegst eine nach der anderen. Ohne finanzielle Mittel, aus einfachem Hause. Ohne dickes Auto. Die Frauen fahren auf einen ab.

Der Sport hat mich unglaublich nach vorne gebracht, wegen meines Ehrgeizes. Mein Vater war ein Fußballfanatiker – Galatasaray Istanbul und FC Bayern München. Ich bin in einem Nichtraucher- und Nichttrinker-Haushalt groß geworden. Ich habe einmal gesehen, dass mein Vater nach einer türkischen Hochzeit in die Badewanne gebrochen hat. EINMAL! Manchmal, wenn Männerfreunde da waren, hat er mal einen Raki oder einen Schnaps getrunken oder zum halben Hähnchen mit Pommes aus dem Wienerwald ein Kasseler Bier, Martini Edel-Pils. Ansonsten Tee und Wasser. Sport war bei uns immer ein Thema.

Schon damals steckte in mir ein Unternehmer. Kein Witz. Ich bin in die Küche, habe mir eine Schürze umgebunden, einen Block und einen Stift genommen, so wie ich es im Wienerwald gesehen hatte und servierte meinen Eltern die halben Hähnchen und das Bier. Und ich kassierte ab: »Drei Mark, drei Mark, macht zusammen 11,60 DM.« Mein Vater hat mich bezahlt. Geil. Am nächsten Tag sage ich: »Papa, können wir wieder Hähnchen holen?« – »Ja!« Ich wieder in die Küche, Schürze, Block, Stift – ich komme und er sagt: »Vergiss es, das klappt nur einmal! Denk ja nicht, dass du heute noch einmal abkassieren kannst.« Werde ich nie vergessen.

Mein Lieblingsessen als Kind war ein halbes Hähnchen mit Pommes, Spaghetti von Mirácoli mit Mamma-Mirácoli-Soße, Nutella-Brot – und ich war ein leidenschaftlicher Cola-Trinker. Einmal war ich mit meinen Eltern in einem Hotel, wo ich herausfand, dass man die Getränke an der Bar aufschreiben lassen konnte. »’Ne Cola, bitte.« Toll. »’Ne Cola, bitte …’ne Cola, bitte …’ne Cola, bitte.« Boah, das ist umsonst. »’Ne Cola, bitte!« Mein Vater kam eines Abends und sagte: »Sag mal, hast du eine Macke, ich musste heute schon wieder 20 Cola zahlen. Bist du irre … Trink Fanta! Bestell Fanta, so viel du willst!« Nein, es musste Cola sein. Am nächsten Tag komme ich an die Bar … »COLA!« Der Typ guckt mich an und sagt: »Cola ist aus!« – »Wie aus?«, frage ich, »Ich will Cola!« – »Ich kann dir ’ne Fanta geben oder Sprite, Cola ist aus!« Dahinter stecken meine Eltern, sagte ich mir. Ich war vielleicht sechs Jahre alt. Kommt ein anderer Gast und verlangt Cola – und kriegt Cola. »WIESO KRIEGT DER COLA UND ICH NICHT?« – Der Typ: »Deine Eltern haben es verboten!« Ich schleppe meinen Vater zur Bar: »Papa, sag ihm, dass ich wieder Cola kriege!« – Mein Vater: »Alles klar, kannst ihm wieder Cola geben!«