Die Wahrheit ist der Feind - Golineh Atai - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Wahrheit ist der Feind E-Book

Golineh Atai

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Blickt man auf die Entwicklung Russlands unter Putin, dann erscheint der Angriff auf die Ukraine nicht überraschend. Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Eine der besten Kennerinnen Russlands erklärt, warum Russland die globale Ordnung offen herausfordert – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Golineh Atai

Die Wahrheit ist der Feind

Warum Russland so anders ist

Über dieses Buch

Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die national-imperialistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie zeigt die tieferen Gründe für eine Politik, die in Deutschland wenig wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. «Wer die neue russische Politik verstehen will, muss verstehen, was die Russen über sich selbst und die Welt erzählen», so Atai. Der «Große Vaterländische Krieg», Josef Stalin und rechte Denker sind die Referenzgrößen, an denen Russland sich misst. Die «belagerte Festung Russland», die «faschistische Nato» oder die «kleinrussische Ukraine» folgen daraus als Selbst- und Fremdbilder. Diese bewusst geschaffenen Erzählungen werden von Teilen der westlichen Öffentlichkeit einfach übernommen. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert längst auch dort, wo es keine eindeutigen Grenzen mehr gibt: in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Golineh Atai erklärt, warum Russland die Weltordnung offen herausfordert – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist.

Vita

Golineh Atai wurde 1974 in Teheran geboren und kam mit ihren Eltern im Alter von fünf Jahren nach Deutschland. Von 2006 bis 2008 war sie für die ARD als Korrespondentin in Kairo, danach folgten verschiedene Stationen als Redakteurin und Reporterin für «Tagesschau» und «Morgenmagazin». Von 2013 bis 2018 war sie ARD-Korrespondentin in Moskau, derzeit arbeitet sie wieder von Köln aus für den WDR. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Journalistin des Jahres 2014», mit dem «Peter-Scholl-Latour-Preis» sowie dem «Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis».

«Ich bestehe darauf, wahrhaftig zu berichten, nicht neutral»

Christiane Amanpour

EinleitungRussland und Wir

«Vor fünfzig Jahren lernte ich eine Regel in den Straßen von Leningrad: Wenn der Kampf unvermeidbar ist, dann schlag als Erster zu.»

(Wladimir Putin, 2015)

Im Frühjahr 2018, nach den letzten Präsidentschaftswahlen, so erzählt der liberale russische Oppositionelle Grigorij Jawlinski, habe er sich mit Wladimir Putin getroffen und ihm gesagt: «Wladimir Wladimirowitsch, verstehen Sie, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem ein Krieg stattfinden kann?» Der Präsident Russlands soll dem Oppositionellen mit einem Lächeln geantwortet haben: «Ja, ich verstehe das. Machen Sie sich keine Sorgen, Grigorij Alexejewitsch. Wir werden den Krieg gewinnen.»

Eine Entgegnung, die uns zwingt, uns nicht mehr länger mit dem Russland zu beschäftigen, das wir uns wünschen, das wir gerne sehen würden und das wir uns lange schöngeredet haben – sondern mit dem Russland, das sich in der dritten Amtszeit Wladimir Putins herausgebildet hat. Mit jenem Russland, in dem ich mehr als fünf Jahre gelebt und gearbeitet habe. Mit jenem Russland, in dem der Gedanke an Krieg, Apokalypse und Sieg allgegenwärtig geworden ist und mit bemerkenswerter Leichtigkeit geäußert wird. Niemand hat Russlands Grenzen in den vergangenen dreißig Jahren angerührt. Aber spätestens seit 2014 wähnt sich der Kreml im Krieg. «Man hätte uns gerne in das jugoslawische Szenario von Zerfall und Aufteilung geschickt», ist Wladimir Putin 2018 überzeugt. «Wir haben erst spät die Waffe gesehen, die ihr, der Westen, entwickelt habt. Und als wir sie sahen, dachten wir, sie käme nur in instabilen, peripheren Ländern zum Einsatz. Dann sahen wir, dass ihr sie auch auf uns richten konntet.»[1], sagt ein Militär.

Von welcher Waffe redet Moskau? Dass im Nachbarland, in der Ukraine, Bürger aufstehen und ein Leben in Würde fordern, interpretiert der Kreml als heimtückischen Angriff des Westens auf Russland. Er traut dem ukrainischen Volk kein eigenständiges Denken und Leben zu, sondern sieht in seiner Forderung nach Würde eine hinterlistige westliche Anstiftung, eine westliche «Informationsoperation» – und einen Versuch, den Präsidenten Russlands von jenem Tisch auszuschließen, an dem die zukünftige Weltordnung verhandelt werde.

Russland sieht sich von Feinden umzingelt. Die Welt soll wissen: Der Präsident hat keine Angst vor dem Krieg. «Wenn jemand die Entscheidung getroffen hat, Russland zu zerstören, dann haben wir das gesetzliche Recht, zu antworten», erklärt Putin einige Wochen vor den Wahlen im März 2018. «Ja, für die Menschheit wäre das eine globale Katastrophe. Aber – als Bürger und Staatschef Russlands – möchte ich fragen: Warum bräuchten wir diese Welt noch, wenn darin kein Russland mehr ist?» Es geht Putin offenbar nicht nur darum, den Gegner zu vernichten, sondern auch darum, ihn in der ewigen Verdammnis zu wähnen: «Jeder Aggressor sollte wissen, dass Vergeltung unvermeidbar ist und dass er vernichtet wird. Wir, als die Opfer der Aggression, gehen als Märtyrer in den Himmel, während der Aggressor einfach krepiert, weil er nicht einmal die Zeit haben wird, seine Sünden zu bereuen.» Ein Satz, der eine Mission offenbart, ein «Wir sind die Guten». Demnach ist Russland im Recht, weil es angeblich die Wahrheit besitzt.

Niemand hat Russlands Grenzen angerührt. Und doch sagt Wladimir Putin, unmittelbar nach dem Maidan-Aufstand in Kiew sei er kurz davor gewesen, die Nuklearwaffen seines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen. Auch ohne eine nukleare Aggression hätte der rote Knopf also gedrückt werden können. «Russland ist die größte Atommacht. Aber nein, mit uns wollte niemand ernsthaft reden. Niemand wollte uns zuhören. Jetzt hört uns zu», fordert Putin 2018 den Westen auf. Offenbar scheint diese Nuklear-Rhetorik für den Kreml der einzige Weg zu sein, ernst genommen zu werden von einem konventionell weitaus mächtigeren Rivalen.

Russland sucht die Konfrontation mit dem Westen. Zu Beginn seiner vierten Amtszeit verkündet der Präsident, dass Russland die neue, «unbesiegbare», atomwaffenfähige Interkontinentalrakete «Avangard» erfolgreich getestet habe; eine Waffe, mit der Russland den USA um Jahre voraus sei, eine Rakete, die nicht abgefangen werden könne und mit der Großstädte und Infrastruktur zerstört werden könnten – ein «hervorragendes Neujahrsgeschenk für das Land», schwärmt Putin. Es wird offen spekuliert, dass sich Moskau im hypothetischen Fall eines NATO-Einsatzes in der Ostukraine oder auf der Krim ohne den frühen Einsatz von Atomwaffen ja gar nicht verteidigen könne.[2] Die Senatoren des Föderationsrates empfehlen Putin 2018, den nuklearen Erstschlag gegen die NATO in der Militärdoktrin zu verankern. Die großen Militärmanöver üben Simulationen begrenzter Nuklearschläge. Das Konzept, zu eskalieren, um eine Aggression zu beenden, ist dabei von zentraler Bedeutung. Grigorij Jawlinski, der alte Liberale, warnt die Öffentlichkeit 2018 mehrfach vor den Sackgassen der russischen Außenpolitik: «Präsident Putin und der Kreml sind der Überzeugung – ich betone, der Überzeugung (…) – dass, wenn notwendig, ein begrenzter Einsatz taktischer Atomwaffen möglich sei. Meiner Meinung nach ist es nicht möglich, sich etwas Gefährlicheres und Falscheres vorzustellen.»[3]

 

2014 erlebe ich eine Zeitenwende. Der Kreml beginnt, im Namen eines mythischen «Neurusslands» den ukrainischen Staat anzugreifen. Seither erhöht Wladimir Putin den Einsatz, durch Rhetorik und Nadelstiche, bis an den Rand der Konfrontation, wie wir sehen werden. Der Maidan scheint wie der sprichwörtliche letzte Tropfen, um eine «Ideologie der globalen Revanche»[4] vollends auszuformen. Ein ideologisches Projekt, das die politischen Ränder Russlands in die Mitte spült. Jene bizarre, «rotbraune» Minderheit der 1990er Jahre, die damals wie übriggeblieben wirkte – erzkonservative Orthodoxe, Alt-Kommunisten, Imperial-Nationalisten – wird zunehmend zur Triebkraft der patriotischen Mobilisierung. Daher habe ich diesen ultrakonservativen Randfiguren, die nun im Staatsfernsehen auftauchen und sich mit Ministern und Spitzenbeamten treffen, mehr Platz eingeräumt. Sie prägen als Medienunternehmer und Informationskrieger, als Paramilitärs, als Geistliche, Kuratoren und politische Strategen den Zeitgeist der dritten Amtszeit Wladimir Putins. Ihre alten Ideen von der «konservativen Revolution» erleben eine Renaissance, parallel dazu verblasst der Pragmatismus, der Putins erste Jahre kennzeichnete.

Einer meiner letzten Berichte aus Russland dreht sich um die Frage, warum so viele meiner Interviewpartner seit 2014 das Land verlassen haben: Akademiker, Journalisten, Aktivisten, Kulturschaffende, Unternehmer. In den Monaten zuvor habe ich das Gefühl, dass sich die gesellschaftliche Atmosphäre noch weiter anspannt, noch weiter verengt. Orthodoxe Fanatiker reagieren auf einen Film über eine Liebelei des letzten Zaren mit mehreren Brandanschlägen, bei denen wie durch ein Wunder niemand ums Leben kommt. Ein geisteskranker Mann sticht eine kritische Journalistin mit einem Messer nieder. Ein Starregisseur landet in Hausarrest, das Bolschoi-Theater sagt dessen mit Spannung erwartete Aufführung über einen homosexuellen sowjetischen Balletttänzer plötzlich ab. Russlands Parlament weicht die Strafen für häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder auf, weil körperliche Züchtigung ein «wichtiges Recht» sei. Der Oppositionelle Alexej Nawalny verliert in einem Anschlag mit einem Antiseptikum fast sein Augenlicht. Und zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion wird ein amtierender Minister zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt – in einem absurden Strafprozess, mit dem ein mächtiger Putin-Vertrauter einem Technokraten eins auswischen will. Kurze Zeit später kommen vier Journalisten unter mysteriösen Umständen ums Leben, ein weiterer wird vergiftet.

Niemand ist sicher. Jeden kann es erwischen. Stanislaw Kutscher, selbst Journalist und Filmregisseur, damals Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten, macht Wladimir Putin im prachtvollen Alexander-Saal des Kreml auf eine bedrohliche Entwicklung aufmerksam: «Herr Präsident, allein aus meinem Bekanntenkreis sind im letzten Jahr ungefähr zwanzig Menschen ausgewandert. In erster Linie junge Menschen. Die haben das Gefühl bekommen, dass ein kalter Bürgerkrieg läuft. Das Gefühl einer zunehmenden Rückwärtsgewandtheit, die sich nach der Präsidentenwahl nur verstärken wird.» Die Vorfälle der letzten Zeit fühlten sich an wie eine Verfolgungskampagne gegen Andersdenkende, sagt Kutscher. Und das vertreibe viele junge Menschen, darunter die besten, aus dem Land. Der Präsident stimmt zu, dass die Auswanderung ein beunruhigendes Phänomen sei, zumeist aber wiegelt er ab, man dürfe nicht alles in einen Topf werfen. Schließlich antwortet Putin mit einem Whataboutismus, einer für ihn typischen, in der Sowjetunion oft genutzten rhetorischen Technik der Ablenkung auf ausländische, nicht vergleichbare Missstände: «Schauen Sie, was in den USA passiert. Oder in Europa. Brexit, Katalonien, Terror, Flüchtlinge, Gott weiß, was – dort herrscht echtes Chaos!» Darüber denken viele Russen offenbar anders. Die Zahl der Auswanderer hat sich seit 2012, seit Beginn der dritten Amtszeit Putins, verdoppelt.[5] 15 Prozent der Russen säßen auf gepackten Koffern, sagen unabhängige Meinungsforscher kurz vor Putins vierter Wahl. Als Beweggründe nennen die Auswanderer die instabile ökonomische Situation in Russland, den Mangel an Schutz vor der Willkür der Behörden und den Wunsch, ihren Kindern eine Zukunft mit Würde zu ermöglichen.

Im Interview mit mir spricht Stanislaw Kutscher, wie einige andere russische Intellektuelle auch, von einem «orthodoxen Talibanismus», einem «schleichenden Obskurantismus», der das Land teilweise erfasst habe. Er habe Putin auf diesen Ungeist der Intoleranz aufmerksam machen wollen: «Einige Leute in seiner Umgebung treiben die Dinge zu weit. Ich wollte, dass Putin diesen Leuten sagt, dass sie das lassen sollen.» Der Journalist meint damit jene Ideologieproduzenten, die seit 2012 ein Comeback feiern und mit ihren Einflusskanälen und Netzwerken den Nährboden für Putins «Russische Welt» und seine «traditionellen Werte» bereiten. Die Synthese von Sowjetreich und Zarenreich in einen neuen Konservatismus, in ein imperiales Projekt der Zukunft, gelingt ihnen mühelos. In einem Wahlkampffilm, in dem der Präsident sein aufwändig restauriertes Lieblingskloster Walaam im Ladogasee besucht, vergleicht er wie selbstverständlich die in einem Mausoleum liegenden Gebeine des Revolutionsführers Lenin, eines militanten Atheisten, mit orthodoxen Heiligenreliquien. Stalin, Lenin, Orthodoxe Kirche, der Patriarch und Putin verschmelzen gleichsam zu einer bizarren patriarchalischen Mythologie, die Putins Herrschaft legitimiert. Entwickelt wurde sie von den Verlierern von 1991: «Sie standen da und verkauften diese Zeitungen, sie sagten etwas von Stalin, Lenin, Scheißjuden, und daneben hielt irgendjemand das Porträt von Nikolaus II. hoch. Das war damals ein Häufchen Misfits mit Sehnsucht nach dem, was sie verloren hatten. Und plötzlich sind diese Freaks zum Mainstream geworden», erinnert sich der Journalist Andrej Loschak, der in den 1990er Jahren auf seinem Weg zur Fakultät für Journalistik am Manege-Platz gegenüber dem Kreml oft den Links-Rechts-Nostalgikern begegnete. Wie kann es sein, fragt mich Loschak im Interview, dass ein Mann, der damals den Anti-Perestroika-Roman «Der letzte Soldat des Imperiums» schrieb, heute Kommentator im Staatsfernsehen geworden ist? Wie kann es sein, dass der Kreml gerade in diesem Milieu Menschen findet, mit Hilfe derer er Stellvertretergruppen und Sachwalter entwickelt, um seine außenpolitischen Ziele umzusetzen? Eine Auswahl dieser – vordergründig nicht-staatlichen, aber staatlich finanzierten – Akteure wird im Buch vorgestellt.

Die Wahrheit über die sowjetische Vergangenheit, die Wahrheit über die Machtverhältnisse der Gegenwart ist mit Beginn dieser dritten Amtszeit Wladimir Putins zunehmend unerwünscht. Mittels «Geschichtskriegen» und «Informationskriegen» manipuliert die Elite die Wahrnehmung der Wirklichkeit, verdreht Tatsachen, sucht Ausflüchte in der Zweideutigkeit, argumentiert im Postfaktischen, im Trolling, in der Maskerade. Für den westlichen Journalismus mit seiner Pflicht zur Ausgewogenheit und Pluralität wird die Berichterstattung über Russland zunehmend zu einer Herausforderung, denn plötzlich hat jeder eine andere Wahrheit, hat jeder andere Begriffe über Russland, die eigene Leser- und Zuschauerschaft erst recht. Dem schwankenden Westen fehlt zunehmend Gewissheit, plötzlich könnte alles auch ganz anders, könnten Fakten nur noch Ansichtssache sein. Die westliche Politik fürchtet sich lange, einen Konflikt «Krieg» zu nennen und eindeutige Belege darüber zu präsentieren, wie Russland Tatsachen schafft – die Konsequenzen einer Offenlegung könnten ja zum Handeln zwingen, zu weit mehr als der Verabschiedung von Sanktionen, und so einschneidend handeln will der Westen lange Zeit nicht.

Allein die Tatsache, dass Russland den Einsatz seiner Sicherheits- und Streitkräfte in der Ukraine verschleiert, begleitet die Berichterstatter als Frage und Zweifel kontinuierlich. Jedes Mal, wenn sie in den ersten Jahren des Krieges die russische Einmischung dokumentieren, werden sie als paranoid und parteiisch bezeichnet, mit Beschwerden bombardiert und bedroht. Dabei wäre es im April 2014 so einfach gewesen, den Kreml zu verstehen. Man hätte nur zu Beginn des «Russischen Frühlings» in der Ukraine dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu etwas mehr Beachtung schenken müssen. Als die Ukraine damals Belege für eine russische Geheimdienstoperation im Südosten des Landes sieht, gibt sich Schoigu überrascht und antwortet zynisch: «Es ist sehr schwer, in einem dunklen Zimmer nach einer schwarzen Katze zu suchen, besonders, wenn sie gar nicht da ist. Es ist umso dümmer, dort nach ihr zu schauen, wenn diese Katze klug, mutig und höflich ist.»[6] Mit dem Euphemismus «höfliche Leute» sind in Russland jene russischen Soldaten gemeint, die die Krim-Annexion umsetzen und sich dabei nicht zu erkennen geben.

In der «Informationsautokratie», wie einige Forscher das politische System Russlands bezeichnen, festigt Wladimir Putin seine Macht durch die Kontrolle der Wahrheit und die Erzeugung von Meta-Narrativen. Sprich: durch Erzählungen, die das einheimische und ausländische Publikum an den Fakten zweifeln lassen, ihre Handlungsfähigkeit lähmen und idealerweise hinter dem Kreml versammeln sollen. Dieses Buch versteht sich auch als ein Versuch, die vielbenutzten Begrifflichkeiten der vergangenen Jahre zu dekonstruieren: den «Staatsstreich» etwa, «Neurussland», das «Referendum», die «Kiewer Regierungssoldaten», die «Faschisten», die «Donezker Volksrepublik» oder den drohenden «Genozid». In einer Zeit, in der alte Gewissheiten ins Wanken geraten, will das Buch einen Beitrag leisten zu einem neuen Umgang mit Russland.

 

Ich war eine Teenagerin, als Generalsekretär Michail Gorbatschow mit den Schlagworten «Demokratisierung», «angstfreie Diskussion» und «kritische Berichterstattung» eine Wende in Moskau einleitete. Der demokratische Aufbruch in Osteuropa führte mich voller Zuversicht dazu, als Studentin der Politikwissenschaften zu erforschen, wie Demokratie institutionalisiert werden kann. Heute weiß ich, dass diese Ära des Aufbrechens und Aufbruchs in der Geschichte Russlands wohl eine Ausnahme war. Die Revolution von 1989 – so stellte es der liberale Demokrat und Soziologe Ralf Dahrendorf fest – war nicht von einer Revolution des Denkens begleitet. In der dritten Amtszeit Wladimir Putins haben die alten Gedanken und die rechtskonservativen Kräfte gewonnen – jene, die, wie Dahrendorf es 1990 befürchtet hatte, eher «reaktionäre Gefühle und Träume von der Reinheit eines vergangenen Zeitalters ansprechen, statt utopische Visionen einer besseren Zukunft».[7]

Kapitel EinsDer Zar kommt zurück

Die Jahre 2011 bis 2013

«Die Parteiobrigkeiten setzen die traditionelle russische Geopolitik fort, weltweit. Sie nutzen (…) die unerbittliche und tendenziöse, aber clevere und konsistente Propaganda innerhalb und außerhalb des Landes. Sie durchdringt schleichend alle Öffnungen und subversiven Aktivitäten im Westen.»

(Andrej Sacharow, 1975)

Juli 2012. Ich bin in Südrussland, bei Krymsk, achtzig Kilometer entfernt vom Schwarzen Meer. Nach heftigen Regenfällen hat eine Flutkatastrophe das Leben von 172 Menschen gekostet und Tausende obdachlos gemacht. Die Einwohner sind wütend auf die Behörden. Sie wissen, dass sie einen Tag, bevor die Flut kam, hätten gewarnt werden können. Haben die da oben absichtlich das Wasser durchgelassen, um einen Damm zu schützen? Sind die offiziellen Opferzahlen nicht gelogen? «Warum hat man uns nicht vorgewarnt? Warum sind wir fast ertrunken?», fragen sich die Einwohner. Wo früher Weinreben, Apfelbäume und Rosen wuchsen, liegen Steine und Schlamm. Die Katastrophenhilfe läuft nur schleppend an. Inmitten einer Atmosphäre von Verzweiflung und Misstrauen gegenüber Staat und Regierung rennen Jugendliche in bunten Jogahosen, mit Dreadlocks und Hippie-Look umher. Der Schweiß rinnt ihnen von der Stirn, als sie stundenlang Wasserkisten hochheben, einladen, ausladen und an die Einwohner verteilen. Diese Freiwilligen waren die ersten Helfer in den ersten 48 Stunden. Anders als der Staat kümmern sie sich schnell und mit System Tag und Nacht um die Opfer der Flut. «Zu uns kommen Frauen, alte Omas, die weinen, weil man sie bei den Behörden beschimpft oder schlecht behandelt hat. Die Beamten können nicht mal normal reden mit den Menschen hier», erzählt mir ein Helfer. «Ich bin so dankbar. Alle meine Nachbarn sind so dankbar. Diese Leute helfen von Herzen», sagt eine überwältigte Einwohnerin mit Tränen in den Augen.

Im Freiwilligen-Camp schläft man in Zelten, man kocht vegetarisch und macht am Abend Musik. Viele dort kennen sich aus der Moskauer Oppositionsbewegung, sie haben sich über das Internet gesammelt und Spenden organisiert: Kleidung, Laken, Medizin und Geld; sie fuhren damit in den Süden und halfen mit ihren bloßen Händen, Häuser vom Schlamm freizuschaufeln. Eine für Russland beispiellose Aktion, denn das Land kennt keine großen Graswurzel-Initiativen oder Freiwilligen-Aktionen, keine spontane Spendenkultur. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich war vom Aufeinandertreffen von Einwohnern und Jugendlichen. Diese Tausende von Freiwilligen verkörperten einen Aufbruch, eine Lebendigkeit, eine zivile Moderne, eine Energie, die ich Russland nicht zugetraut hatte. Die Bürgergesellschaft lebt hier, dachte ich, und der Staat reagiert mit altbekannten Angstreflexen auf sie, er versucht, sie mit Gesetzen einzuzäunen. Es ist meine erste Begegnung mit dem Land, und sie macht mich so neugierig, dass ich beschließe, mich auf mehrere Jahre in einem neuen Berichtsgebiet niederzulassen.

Der Flut war ein politisch spannendes halbes Jahr der Unruhen vorausgegangen. Gefälschte Parlamentswahlen und die Ankündigung Wladimir Putins, ins Präsidentenamt zurückzukehren, hatten Zehntausende Russen regelmäßig auf die Straßen gebracht. Heute, mehr als sechs Jahre später, haben jene, die damals gegen Putins Regime demonstrierten, das Land entweder verlassen oder sich sozialen oder lokalen Projekten zugewandt, um die Welt zu verbessern, wie sie sagen. Eine der Hauptorganisatorinnen der Krymsker Fluthilfe, Maria Baronowa, die in den Protesten gegen Putin aufgefallen war, arbeitet andererseits mittlerweile für das Herzstück des Regimes: für das Staatsfernsehen.

Weitere sechs Jahre Verschwendung. Stagnation und Abgestandenheit. Eine Sackgasse, in die das Land zusteuert – so fühlt sich für die demonstrierende Mittelschicht im Jahr 2012 die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt an, so empfinden sie den seit langem abgesprochenen Rollentausch Putins mit Dmitrij Medwedew. Ausländischen Beobachtern fällt auf, wie mechanisch der neue alte Kandidat sein Programm abspult. Wie er statt pfiffiger neuer Ideen, wie früher, jetzt nur alte Anekdoten wiederholt, wie er seine Kurzsichtigkeit nur schlecht versteckt, um jugendlich und fit zu wirken. «Auf die ultimative Frage, wie er das System, das er geschaffen hatte, weiter aufrechterhalten wolle, hatte er keine echte Antwort.» Auf die Frage, wie Putin beweisen wolle, dass er die US-Politik des Reset, des Neuanfangs gegenüber Russland unterstütze, antwortet er lakonisch: «Ich glaube, ich muss niemandem irgendetwas beweisen.»[1] Gleb Pawlowski, der Mann, der Putin von 1999 bis 2011 beraten hatte, der Architekt seiner «gelenkten Demokratie», bezeichnet Putins Rückkehr als Größenwahn und taktischen Fehler.[2] Als Premierminister Putin die Moskauer Olympiahalle besucht, um einem Kampfkunst-Sportler zu gratulieren, erntet er Pfiffe und Buhrufe, seine Stimme scheint kurz zu zittern. Einige Zuschauer ärgern sich, dass er das Sportereignis zur Steigerung seiner Umfragewerte genutzt habe. Tage später sind die Parlamentswahlen für seine Partei ein Fiasko. Hatte «Vereinigtes Russland» 2007 mehr als 64 Prozent der Stimmen geholt, liegt sie nun, 2011, bei knapp 49 Prozent, und Experten zweifeln selbst diese Zahl als zu hoch an. Die Liste der Verstöße und Wahlmanipulationen ist lang. Die Protestbewegung, die sich nun herausbildet, ist so groß wie seit den neunziger Jahren nicht mehr. Das Jahr 2011 beginnt mit dem «Arabischen Frühling» – und endet in Russland mit 120000 Demonstranten auf dem Sacharow-Prospekt in Moskau.

Putin wird gewählt – Die Proteste bleiben

Am 4. März 2012 wird Wladimir Putin zum dritten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt. Mit 63,6 Prozent der Stimmen braucht er sich keiner Stichwahl zu stellen. Seine Wahlkampagne besteht nicht aus Programmen zu Budget und Sozialpolitik, sondern aus Dokumentarfilmen und Fernsehserien über den Kandidaten Nummer eins. Mehr als 24 Stunden Sendezeit beansprucht das Putin-Fest und erreicht, wie die russische Tageszeitung Kommersantausrechnet, über 23 Millionen Zuschauer. Putin wird als Held in Szene gesetzt, in Kampfflugzeugen, beim Feuermachen im Wald, beim Tauchen und «zufälligem» Fund von antiken Amphoren, bei der Rettung gefährdeter Tiger und in einem Segelflieger. Ein furchtloser Held mit außergewöhnlicher physischer und psychischer Gesundheit, der seinem Land Glück bringt. Außerdem populär: seine Zugewandtheit zu den normalen, gewöhnlichen Leuten, Arbeitern, Lehrern und Rentnern. Er trinkt Tee mit älteren Damen, er gibt Neugeborenen Geschenke, er küsst Kinder, «er ist einer von uns». Außerdem weiß er über alles genau Bescheid. Er kennt immer die Antwort, er jongliert mit Zahlen und zitiert Details, die nur Experten kennen.

Tausende protestieren am Tag nach den Wahlen gegen den neuen alten Präsidenten. Auch am Abend vor Putins Amtseinführung am 6. Mai gehen in verschiedenen Städten erneut Bürger auf die Straße. Der Tag ist ein Wendepunkt in der Beziehung der Machthaber zum politisch aktiven Teil der Gesellschaft. Ein Demonstrant aus Uljanowsk an der Wolga erzählt einem Reporter in Moskau, er habe bei der Wahl seinen Wahlzettel ungültig gemacht. Aber nach der Schließung des Wahlbüros habe er gehört, dass kein einziger ungültiger Stimmzettel in den Urnen gewesen sei. «Meine Stimme wurde gestohlen, mein Wahlzettel. Und die haben unsere Straßen gestohlen. Wir sind auf der M5 hierher nach Moskau gefahren. Es gibt riesige Schlaglöcher da drin, irgendwann hörten wir auf, sie zu zählen». Ein Demonstrant aus Rjasan, 250 Kilometer südlich von Moskau, berichtet von den Wahlfälschungen in seiner Stadt. 6000 Stimmen für den Kandidaten Prokhorow seien Putin zugeschlagen und die Protokolle einfach nachbearbeitet worden. Viele in Rjasan wüssten nichts über die Fälschungen, wegen der Lügen im Staatsfernsehen und der Informationsblockade.

Die Straßen zum Kreml sind abgesperrt. Während die Demonstranten Metallgitter hochhalten und mit Gegenständen werfen, setzt die Polizei Schlagstöcke ein und zielt auf die Köpfe der Demonstranten, um sie zurückzudrängen. Diese verteidigen sich irgendwann mit ihren Fahnenstangen. Die Polizeikette hindert sie daran, über die Moskwa zum Kreml zu gelangen. In kleinen Einheiten marschieren Polizisten in die Menge und schleppen einzelne Demonstranten an Händen und Füßen hinaus. Ein Dutzend Polizisten werden verletzt, 400 Menschen werden festgenommen, unter ihnen die Oppositionellen Boris Nemzow, Sergej Udalzow und der Anti-Korruptionsaktivist Alexej Nawalny.

Einer der Festgenommenen auf der Straße ist Alexander Margolin. Als er die riesige Menge von Polizisten sieht, ahnt er, dass die Demonstration gewaltsam aufgelöst werden soll, dass die Teilnehmer in Panik verfallen und Chaos ausbrechen wird. Er erzählt von wütenden Menschen, die auf ihre Banner «Wir werden nicht weggehen» geschrieben haben, einige hätten gar Zelte dabeigehabt. Die Machthaber seien vorbereitet gewesen, sie hätten Bereitschaftspolizisten aus ganz Russland nach Moskau gebracht, erinnert er sich im Gespräch. «Die Proteste haben Putins Amtseinführungsfeier verdorben. Wahrscheinlich hat er deshalb so harsch reagiert, er wollte an den Verhafteten ein Exempel statuieren.» Ein ganzer Apparat mit rund hundert Ermittlern aus dem ganzen Land habe die Demonstration untersucht. Die Staatsanwaltschaft will beweisen, dass die «Massenunruhen» von Oppositionellen geplant und aus dem Ausland finanziert sind. Nach zehn Tagen kommt Margolin wieder frei, doch er hat eine Vorahnung: «Ich habe ganz klar begriffen, dass ich zwei bis vier Jahre für meinen Protest bekommen werde. Das war sozusagen mein Karma. Als die Polizei später an die Wohnungstür klopfte und ich mich von meinen Kindern verabschieden musste, sagte ich ihnen, dass ich für eine lange Zeit weg sein werde.» Er wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wegen der «Teilnahme an Massenunruhen» und wegen des «Einsatzes von Gewalt gegen Polizisten». Nach seiner Entlassung ist es für ihn schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden.

 

Wladimir Akimenkow ist 26 Jahre alt, als er protestieren geht. Ein Aktivist von der Organisation «Linke Front». Der Mann mit der stets schwarzen Kleidung ist leicht wiederzuerkennen, sein linkes Auge schielt. «Ich bin wirklich kein sportlicher Mensch, das sieht man, auch an meinem Auge. Ich werde beschuldigt, eine Fahnenstange 50 Meter weit geworfen und damit einen Polizisten an der Brust verletzt zu haben. Das kann gar nicht sein. Einige der mitangeklagten Demonstranten hatten wie ich überhaupt keine Mittel, sich zu verteidigen», erzählt er. Als er wenige Wochen nach der Teilnahme an der Demonstration angeklagt wird, setzen sich Menschenrechtler dafür ein, dass er «nur» zu Hausarrest verurteilt wird, denn Akimenkow könnte in der Haft sein Augenlicht verlieren.

Dennoch muss er eineinhalb Jahre im Gefängnis sitzen – bis er per Amnestie freigelassen wird. Aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen und einer illegalen Haftverlängerung wendet er sich an den Europäischen Strafgerichtshof, der Russland zu einer Entschädigungszahlung für den Häftling auffordert. Akimenkow erinnert sich, dass trotz der demonstrativen Festnahmen, trotz der Kampagne der Staatsmedien gegen die Demonstranten, die als vom Ausland gesteuerte und bezahlte Unruhestifter dargestellt wurden, die Protestbewegung über Monate weiterlebte. «Was eine wirklich negative Wirkung auf die Bewegung hatte, war Russlands Aggression gegen die Ukraine und die darauffolgende patriotische Hysterie, die der Kreml entfachte», sagt Akimenkow sechs Jahre später. Heute hilft er politischen Gefangenen. Wie er sich die Repression erklärt, die mit der Wiederwahl Putins einsetzte? «Ich denke, die Bolotnaja-Proteste waren nicht der einzige Grund dafür. Der ‹Arabische Frühling› hat Putin weit mehr geängstigt.»

Die Repression setzt ein

Obwohl ein breiter internationaler Konsens darüber besteht, dass die Russen selbst über ihr politisches System entscheiden müssen, beschuldigt Wladimir Putin bereits ganz am Anfang der Protestwelle, im Dezember 2011, nach der ersten großen Demonstration gegen die Ergebnisse der Parlamentswahlen, den Westen, an der Entstehung der Proteste gegen ihn mitgewirkt, ja diese verursacht zu haben. In diesem Jahr führen russische Medien und Politiker alle Unruhen und Aufstände in der arabischen Welt auf westliche Intrigenspiele zurück. Als dann US-Außenministerin Hillary Clinton den Ablauf der Parlamentswahlen kritisiert und über die Menschenrechte in Russland spricht, beschuldigt Putin sie, das «Signal» für die Versammlungen in Russland gegeben zu haben. Das US-Außenministerium unterstütze damit die Proteste, «ein wohlbekanntes Szenario», findet Putin. Russland müsse seine Souveränität schützen, sagt er, niemand wolle Chaos wie in der Ukraine 2004 oder in Kirgisistan 2010. Dort gab es Unruhen, als Demonstranten die Wahlergebnisse angezweifelt hatten. Putin sieht andere Drahtzieher als die normale Bevölkerung, auch in Russland. Belastbare Belege dafür präsentiert er nicht: «Wir müssen darüber nachdenken, das Gesetz zu stärken und jene mehr zur Verantwortung zu ziehen, die im Auftrag einer ausländischen Regierung innere politische Prozesse beeinflussen wollen.»

 

Seit Putins erstem Herrschaftsjahr hatte eine schnelle Modernisierung des Lebens die Wählerschaft geprägt. Der stetig steigende Lebensstandard hatte die Bürger abgelenkt, die Unzufriedenen ruhiggestellt. In diesen Jahren assoziierte die Bevölkerung Wladimir Putin mit westlich anmutendem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Eine solide Mehrheit in den ersten Putin-Jahren war pro-amerikanisch und pro-europäisch eingestellt. Ereignisse wie die NATO-Angriffe auf Serbien empörten viele Russen, aber das pro-westliche Gefühl kehrte schnell wieder zurück. Eine pro-westliche Mehrheit unterstützte Putin. 2012 aber scheint es, als ob Putin mit den Nebenwirkungen dieses Trends zu kämpfen hat. Seine Kandidatur sehen viele als Hindernis einer weiteren Modernisierung an. Mit immer mehr Menschen, die wohlhabender sind als jemals zuvor in Russlands Geschichte, scheint sich die Einstellung zur Demokratie zu verändern. Hatten im Jahr 2000 nur 47 Prozent der Bevölkerung in Umfragen davon gesprochen, dass Russland eine starke Opposition brauche, waren es 2012 bereits 70 Prozent. Mein erster Film in Russland beschäftigt sich denn auch mit der neuen Lust auf zivilgesellschaftliche Aktivität, dem neuen Interesse an Ehrenamt und Online-Aktivismus gegen soziale Missstände überall dort, wo der Staat versagt. Mal geht es um den Schutz des Waldes gegen eine neue Autobahn, mal um die Hilfe von Freiwilligen in einer überfluteten Katastrophenregion in Südrussland, oder nur den Protest gegen Regierungsbeamte, die ihre Privilegien im Straßenverkehr missbrauchen. Ein neues Russland scheint mit der Protestwelle zu entstehen – und alles Neue erscheint vielen Altgedienten als Gefahr. Die gerade entstandene Mittelschicht kündigt den Putin-Konsens auf – und muss neutralisiert werden. Putin sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, für diese Bürger wieder attraktiv zu erscheinen – nur: wie will er das erreichen?

 

Zunächst durch höhere Ausgaben. Für die Moskauer Protestgeneration werden grüne Ecken und coole Cafés gebaut, die Oppositionellen nennen sie «Kulturreservate» – konzipiert, um die Protestenergie der Stadtgesellschaft zu kanalisieren und ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Putin hebt die Einkommen der öffentlichen Angestellten an, verdoppelt die Gehälter der Bereitschaftspolizei, erhöht die Renten und die Finanzspritzen für die Provinz. Er reist in die kleinen Dörfer Sibiriens und besucht Fabriken im Ural. Ein sowjetischer Konservatismus hat dort überlebt, der gegen Moskau-Hipster und modernisierte Schichten ausgespielt werden kann. Ein «Kulturkampf», bei dem auch die Orthodoxe Kirche ihre konservative Rolle ausspielt. Politisch anders orientierte Bürger werden auch mit ihrer Hilfe als «sexuell abartig» dargestellt. Parallel verstärkt der Kreml traditionelle Werte: Nationalstolz und den Sinn für Bedrohungen von außen. 2012 stellen die staatlichen Meinungsforscher des WZIOM einen «manchmal eher künstlichen Trend» im öffentlichen Bewusstsein hin zu archaischen, patriarchalen Werten fest – und den kann sich der Kreml nutzbar machen. Tradition entspricht Repression: Kurz vor einer erneuten Demonstration gegen Putin tritt ein Anti-Protest-Gesetz in Kraft, es erhöht die Geldstrafen für Teilnehmer unerlaubter Versammlungen bis auf ein ganzes Jahresdurchschnittsgehalt. Putins Menschenrechtsrat wendet ein, dass das neue Gesetz der in der Verfassung garantierten Versammlungsfreiheit widerspreche, denn wer dieses Recht in Anspruch nehme, werde kriminalisiert. Putin erwähnt bewusst, er habe das Gesetz trotz dieser Bedenken seines eigenen Menschenrechtsrates unterschrieben.

Drei Tage später durchsucht die Polizei die Wohnungen von Oppositionellen, beschlagnahmt Computer und Fotos. Der neue alte Präsident geht noch weiter. Er segnet ein Gesetz ab, das die Kontrolle über die Zivilgesellschaft weiter ausdehnt. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Gelder aus dem Ausland bekommen und «politisch arbeiten», werden gezwungen, sich beim Justizministerium als «ausländische Agenten» zu registrieren und alle drei Monate einen Bericht abzugeben. Dabei wird «politische Aktivität» so vage formuliert, dass fast jede Organisation willkürlich betroffen sein kann.

Der Begriff «ausländischer Agent» wiegt schwer, er wird in Russland traditionell mit Verrat oder Spionage in Verbindung gebracht. Er erinnert an die Denunziationen angeblicher antisowjetischer Spione unter Sowjet-Diktator Josef Stalin, in einer Zeit, als der bloße Kontakt mit einem Ausländer ein Vorwand für Haft und Hinrichtung sein konnte. «Ein Gesetz, das kritische Nichtregierungsorganisationen erschüttern, stigmatisieren und schließlich zum Schweigen bringen soll. Die Verlierer sind nicht nur NGOs, sondern auch die russische Gesellschaft», kommentiert der Leiter der russischen Sektion von Amnesty International, Sergej Nikitin, das Gesetz. Mehr als hundert Organisationen erleben, wie ihre Mittel gekürzt, ihr Ruf bei den Russen beschädigt und ihre Mitarbeiter eingeschüchtert werden. Oftmals bieten sie gerade jene Dienste an, die der Staat nicht leisten kann, wie zum Beispiel eine juristische Vertretung oder psychologische Unterstützung für Diskriminierungs- und Gewaltopfer. Ebenso geht es um Umweltschutzmaßnahmen, Frauenrechte, Rechte sexueller Minderheiten, den Erhalt des historischen Gedächtnisses, die Reform des Justiz- und Strafvollzugssystems, Verbraucherrechte und akademische Recherche. Die erste russische Organisation, die unter das «Agentengesetz» fällt, ist ausgerechnet die Organisation Golos, deren unabhängige Wahlbeobachter die Wahlverstöße bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aufgedeckt hatten. Nach einer Geldstrafe darf Golos keinerlei öffentlichen Aktivitäten mehr nachgehen, einer der Leiter der Organisation verlässt später das Land, ihre Mitglieder stellen sich neu auf, dieses Mal als nicht registrierter Verein.

 

Die obsessive Beschäftigung mit Organisationen, die nicht durch den russischen Staat finanziert werden und die die Zivilgesellschaft stärken wollen, ist eines der wiederkehrenden Merkmale der Putin-Regierung. Schon früh fühlt Putin sich von ausländischen Nichtregierungsorganisationen bedroht. Erstmals erwähnt er sie in einer Rede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2004, noch vor Beginn der «Orangenen Revolution» in der Ukraine, die die Massen gegen Wahlfälschungen mobilisierte. Er behauptet, dass jene Organisationen, die Finanzmittel aus dem Ausland erhielten, «zweifelhaften Gruppen und kommerziellen Interessen» dienten. Kremltreue Medien verbreiten, diese Organisationen würden gegen Russlands Interessen arbeiten, einige Büros erleben mehrmals Razzien. Putin kündigt an, Spenden aus dem Ausland für die russische Zivilgesellschaft zu begrenzen. Beamte hätten Ermessensfreiheit bei der Registrierung der Nichtregierungsorganisationen. Ihre Rechenschaftspflicht wird erschwert, ein hoher Steuersatz für sie eingeführt. 2013 erreicht der Kampf gegen NGOs eine neue Qualität: Neben einer aufgezwungenen offiziellen Bezeichnung müssen rund 2000 NGOs erleben, wie unangekündigte Rechnungsprüfer Dokumente konfiszieren. Deutsche Politiker protestieren gegen die Durchsuchungen der Moskauer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Gearbeitet wird mit den Mitteln der Einschüchterung und Verleumdung. Einrichtungen, die das russische Rechtssystem oder Russlands Wirtschaft eigentlich stärken könnten, werden als Staatsfeinde gesehen.

 

Einige Organisationen stellen nun erstmals ihre Arbeit ganz ein. USAID, die US-amerikanische Agentur für internationale Entwicklung, muss ihre Präsenz in Russland aufgeben. USAID war nach dem Ende der Sowjetunion nach Moskau gekommen und hatte fast drei Milliarden Dollar in Gesundheits- und Umweltprogramme investiert sowie Projekte im Bereich Zivilgesellschaft und Menschenrechte angeboten. Dies sieht der Kreml fortan als politische Einmischung an. Auch der Protest der Umwelt-NGOGreenpeace, deren Aktivisten eine russische Ölplattform besteigen, um dort gegen die Ölförderung ein Protestbanner zu enthüllen, wird als Einmischung und Angriff verstanden: Die Arktis sei ein unveräußerbarer Teil der Russischen Föderation und seit Jahrhunderten unter russischer Souveränität. Die Crew des Greenpeace-Schiffes Arctic Sunrise wird verhaftet, zuerst wegen «Piraterie» angeklagt, dann wegen «Hooliganismus» und erst nach Monaten des internationalen Drucks auf Moskau freigelassen.

Wenige Tage nach dem Agentengesetz weitet ein neues Gesetz den Begriff «Hochverrat» aus. Kontakte zu ausländischen Organisationen können demnach als Spionage oder Landesverrat strafbar sein. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat das Gesetz vorgeschlagen, weil ausländische Geheimdienste oppositionelle oder internationale Organisationen nutzen würden, um Russlands innerer und äußerer Sicherheit zu schaden. Verrat kann sich nun auf jedes Verhalten beziehen, das Geheimdienste, Staatsanwälte oder Richter als Unterminieren der Verfassung und Souveränität Russlands betrachten.

Ein weiterer Schlag gegen die Meinungsfreiheit: ein Gesetz, das «Verleumdung» unter Strafe stellt. Angeblich verleumderische Aussagen von Medien oder Individuen können zu hohen Geldstrafen führen. Noch einige Monate zuvor, unter Präsident Medwedew, war «Verleumdung» in Russland entkriminalisiert worden. Jetzt will der Kreml offenbar die Selbstzensur in Medien und Internet verstärken. Eine öffentliche, kritische Debatte über Staatsbeamte, Richter, Staatsanwälte soll vermieden werden.

Im Staatsfernsehen tauchen die Demonstranten gegen Wladimir Putin nicht auf. Wenn doch, dann dürfen sie nur als Wirrköpfe und vom Ausland finanzierte Feinde vorkommen. Das Ausmaß der Protestbewegung ist aber im Netz einsehbar. Das russische Internet spielt auch bei der Organisation der Proteste eine entscheidende Rolle. Der Kreml sieht das gleiche Muster wie 2011, als Bürger in Tunesien, Ägypten oder Libyen ihre Proteste durch das Internet mobilisierten und koordinierten. Die arabischen Umwälzungen lassen die Angst der Politik- und Sicherheitseliten vor einem im Ausland initiierten, durch die sozialen Medien eingeleiteten «Regimewechsel» wieder erwachen. Russlands Justizbehörden beginnen, den politischen Gebrauch des russischen Netzes intensiv zu verfolgen und das bislang relativ freie russische Netz zu zensieren. Zunächst mit einem Gesetz, das angeblich Minderjährige vor schädlichen Inhalten schützen soll und der Regierung erlaubt, Seiten ohne Gerichtsverfahren zu sperren. Welche Seiten das sind, bleibt Staatsgeheimnis. Das russische Wikipedia, Menschenrechtler, die russische Suchmaschine Yandex oder der Mailanbieter Mail.ru protestieren vergeblich gegen dieses Gesetz. Russische Politikexperten sprechen oft vom Parlament als der «verrückten Druckerpresse», die im Dienste des Kreml übereifrig die Gesetzesbücher füllt. Seit seiner Wiederwahl 2012 hat Wladimir Putin 50 neue Gesetze unterschrieben, die oppositionelle Stimmen zum Verstummen bringen und die Gesellschaft «einfrieren», einschüchtern, demobilisieren sollen.

Wenn nur Stalin noch größer ist

Begleitend wird der Ton im Staatsfernsehen schriller, vieles ideologischer: Etliche gemäßigte Journalisten verschwinden. Chefredakteure, die sich nicht ganz der «Parteilinie» beugen, werden gefeuert. Schließlich wird auch die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti von der unaufhaltsamen Bereinigung der Medienlandschaft getroffen. Die seit 1941 tätige Agentur hatte ihr sowjetisches Erbe abgeschüttelt und sich den Ruf einer vertrauenswürdigen und ausgewogenen Quelle erarbeitet. Im täglichen News-Geschäft griff auch ich oft auf Ria Novosti-Meldungen zurück. Ihre Berichte über die Proteste gegen Putin oder den Anfang des Euromaidan zeugten von redaktioneller Unabhängigkeit. Aber offenbar ist jemand genau damit unzufrieden. Völlig überraschend wird die zuvor noch aufwendig modernisierte Agentur per Dekret des Präsidenten aufgelöst. Die Mitarbeiter sind vor den Kopf gestoßen, sprechen von absurden Geschehnissen, kommentieren die Auflösung als «jüngsten Zug in einer Reihe von Veränderungen in Russlands Medienlandschaft, die auf eine umfassende staatliche Kontrolle schließen lassen».

Die Präsidialadministration verkündet, aus Ria Novosti ein neues Unternehmen zu machen: die Internationale Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja. Russland verfolge eine unabhängige Politik und müsse seine nationalen Interessen «robust» verteidigen. Das sei der Welt nicht einfach zu erklären, aber man könne und müsse es tun, sagt der Chef der Administration. Eine Erklärung, die in vielen Ohren wie die unheilvolle Ankündigung eines Informationskrieges klingt, in dem Medien als Waffen eingesetzt werden. Die Neugründung wird in die Hände des Fernsehjournalisten Dimitrij Kisseljow gelegt. Ein altgedienter Moderator, der als Liberaler angefangen und einst sogar als freier Mitarbeiter für die Büros von ARD und ZDF in Moskau gearbeitet hatte – aber in den vergangenen Jahren zu einer Schlüsselfigur von Putins Medienoperation geworden war. Und nun als konservative, antiwestliche Stimme einer Talkshow namens «Nationales Interesse» im Staatsfernsehen auffiel.

Kisseljows Ernennung ist umstritten, nicht nur wegen seiner wiederholten Attacken auf Homosexuelle. So fordert er in einer Talkshow, dass es Schwulen und Lesben verboten werden sollte, Blut und Spermien zu spenden. Und falls sie bei einem Unfall stürben, sollten ihre Herzen verscharrt oder verbrannt werden, denn diese Organe würden niemandes Leben verlängern.

Am 7. Oktober 2012, dem sechzigsten Geburtstag Wladimir Putins, hält Kisseljow eine Lobrede auf den Präsidenten. Sie ist zwölf Minuten und 41 Sekunden lang. «Was seine Leistungen angeht, so ist Putin im Vergleich zu seinen Vorgängern im 20. Jahrhundert nur mit Stalin vergleichbar», schwärmt Kisseljow. Bei der Vorstellung seines neuen Mediums Rossija Sewodnja äußert er Bedenken gegen eine Pflicht zu journalistischer Objektivität. «Unter der Losung der Objektivität verzerren wir oft das Bild und schauen auf unser Land wie auf ein fremdes. Ich glaube, dass die Phase dieses distanzierten, destillierten Journalismus vorbei ist.» Er selbst habe eine innere Entwicklung vom jugendlichen Rebell zum älteren Konservativen durchgemacht. Journalismus schaffe Werte und bestimme, was gut und schlecht ist, Objektivität sei daher ein aufgezwungener Mythos. Der Moderator beschreibt die Beziehung eines Journalisten zu seinem Land als eine unkritische, romantische Liebesbeziehung. In dieser brauche ein Partner eben keinen objektiven Umgang, sondern ein Gefühl: «Unser Land braucht unsere Liebe.» Objektivität, erklärt Kisseljow, laufe oft hinaus auf Gleichgültigkeit, Vernachlässigung, «sich die Hände reiben, weil es ein Problem gibt» und die Haltung: «je schlimmer desto besser». Er fordert von seinen Journalisten, sich mit Russland zu identifizieren, und «nicht über unser Land so zu schreiben, als ob wir nicht darin lebten, als ob nicht unsere Eltern hier geboren wären».

Ist Wladimir Putins Weltbild neu oder alt?

Wie viel der Repression gegen Medien und Zivilgesellschaft ist der Angst vor einer neuartigen Protestwelle geschuldet, und wie viel davon ist Ausdruck einer Kontinuität in Putins Denken, Ausdruck eines schon immer da gewesenen Willens, eine vermeintliche Unordnung zu ordnen? Die Niederschlagung zivilgesellschaftlichen Engagements, das Denken in Freund-Feind-Schemata und die Interpretation innerer Kritik als Gefahr von außen wirken vor dem Hintergrund der ersten Putin-Dekade nicht gänzlich neu. Wladimir Putin ist sowjetisch sozialisiert. Er sieht eine Welt voller Gefahren, Unsicherheiten, Ängste. Und eine Vergangenheit, die tief in die Gegenwart hineinwirkt. Gleb Pawlowski, sein Berater der ersten Dekade, beschreibt Wladimir Putin als einen Politikertypen, der stets mit feiner Verachtung auf die Demokraten der Nach-Perestroika-Ära geblickt habe. «Putin gehört zu einer sehr großen, aber politisch undurchsichtigen, von niemandem vertretenen und übersehenen Schicht von Menschen, die nach dem Ende der achtziger Jahre, im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion, nach einer Revanche suchten. Diese Menschen konnten nicht akzeptieren, was passiert war. Sie waren keine Kommunisten. Sie waren unterschiedliche Menschen mit sehr verschiedenen Ansichten über Freiheit. Revanche, historisch definiert, bedeutete für sie die Wiederauferstehung des großen Staates, in dem wir gelebt und an den wir uns gewöhnt hatten. Kein zweiter totalitärer Staat, aber einer, den man respektieren konnte.» Putins Sprache sei die Sprache einer konfrontativen, auf Wettbewerb ausgerichteten Geopolitik. Für Putin seien die Sowjet-Machthaber Dummköpfe gewesen: Anstatt eine faire Gesellschaft anzustreben, hätten sie einfach Geld machen sollen. Und wenn dann die russischen Staatskapitalisten mehr Geld als die westlichen Kapitalisten gehabt hätten, hätten sie diese einfach aufgekauft, oder eine Waffe entwickelt, die der Westen nicht besaß. Pawlowski sieht nicht, dass Putins Denken sich seitdem grundlegend verändert habe. Der Präsident glaube auch heute nicht, dass der politische Wettbewerb der Ideen im Westen echt ist; in den westlichen Parteien sieht Putin lediglich Vertreter unterschiedlicher Kapitalfraktionen. Die Angst vor dem Sturz durch die Bevölkerung sei immer präsent in ihm. Putin hat schließlich wie viele andere erlebt, wie Präsident Jelzin 1993 auf seine im Parlamentssitz verschanzten Gegner schießen ließ.

Der Großmachtanspruch Russlands

Spätestens 2008, als Russlands Armee weit in das Staatsgebiet Georgiens vordringt, wird Putins geopolitischer Anspruch in Taten, nicht nur in Worten offensichtlich. Seine Popularität zu Hause in Russland schnellt auf Spitzenwerte, als der Kreml beschließt, im August 2008 Georgien anzugreifen. Russland beschuldigt Mikheil Saakaschwili, den damaligen georgischen Präsidenten, mit seiner Armee Zivilisten in Südossetien angegriffen zu haben. 2012 erfährt Russland: Putin soll schon einige Monate vor August 2008 die Entscheidung zu einer Invasion gefällt haben, also lange vor dem angeblichen Angriff der georgischen Armee, in einer Zeit, als er noch Präsident war. Ein detaillierter Militärplan sei unter Putin ausgearbeitet und den Kommandeuren seien bereits die Einsatzbefehle gegeben worden. Das berichtet 2012 General Yuri Baluyevsky, ehemaliger Vertreter des Verteidigungsministers und Ex-Generalstabschef. Medwedew, im August 2008 Präsident, habe damals mit dem Angriffsbefehl gezögert, bis Putin mit ihm telefoniert und ihn und den Verteidigungsminister unmissverständlich zum Angriff aufgefordert habe. Putin bestätigt diese Aussagen. Der Generalstab habe den militärischen Einsatzplan gegen Georgien schon Ende 2006 ausgearbeitet, und er persönlich habe ihn 2007 autorisiert. Ossetische Separatisten, die sich von Georgien lossagen wollten, wurden demnach vom russischen Militär trainiert. Dies deckt sich mit Aussagen westlicher Beobachter: Im April 2008 habe Russland auf eine georgische Drohne in georgischem Hoheitsgebiet geschossen, im Mai wurden Truppen in Abchasien stationiert, um eine Eisenbahn zu bauen für Militäroperationen und Logistik. Russlands «irreguläre» Streitkräfte waren bereits in Südossetien, zusammen mit «freiwilligen» russischen Kosaken-Einheiten, bevor die Auseinandersetzung begann. Die Georgien-Operation war also – entgegen offizieller Kreml-Darstellung – eine vorgeplante Aggression und nicht nur eine Reaktion auf georgische Übergriffe auf ethnische Russen.

Auf Russlands Rückkehr auf die Weltbühne 2008 folgen keine Sanktionen. Nach der russischen Invasion und Anerkennung der abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien und Abchasien schließen die USA Strafmaßnahmen gegen Russland kategorisch aus. Die EU beschuldigt Georgien, den Krieg angefangen und russische «Blauhelme» angegriffen zu haben, was eine russische Reaktion gerechtfertigt habe. Moskau benutzt sein durch den 5-Tage-Krieg gegen Georgien neu erlangtes Selbstbewusstsein, um im postsowjetischen Raum wieder mehr Einfluss auszuüben. 2010 dreht die Ukraine die «Orangene Revolution» zurück, in den Wahlen erlangt Russlands Wunschkandidat Wiktor Janukowitsch die Macht. Im gleichen Jahr errichtet Moskau eine Zollunion mit Weißrussland und Kasachstan.

Derweil findet unter Präsident Medwedew eine Politik der Wiederannäherung an die USA statt. Der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama hat gerade eine Politik des «Reset», des Wiederanfangs, mit Moskau verkündet, als zehn russische Spione in den USA auffliegen. Nach ihrem Geständnis werden sie in Wien ausgetauscht gegen vier von Medwedew begnadigte russische Doppelagenten, die für den Westen gearbeitet haben sollen. Beide Seiten sind schnell wieder bemüht, den Reset, die Wiederaufnahme guter Beziehungen, geräuschlos fortzusetzen. Russland braucht in jenem Moment die USA für den Eintritt in die Welthandelsorganisation, die USA brauchen Russland, um auf den Iran einzuwirken und ein Abkommen zur Reduktion von Nuklearwaffen zu ratifizieren.

Vor diesem Hintergrund ergreift Ministerpräsident Wladimir Putin das Wort – und verteidigt die zehn aus den USA deportierten Spione als ehrenwerte Agenten, die, wie der ganze russische Geheimdienst, niemals so umstrittene und schmutzige Methoden wie die US-Dienste angewendet hätten. Die ausgetauschten Russen hingegen bezeichnet Putin als Verräter: «Wissen Sie, eine Person, die sich dieses Schicksal aussucht, wird es tausendmal bereuen. Verräter werden verrecken.» Er ist sichtlich empört. «Wie kann es sein, dass es Menschen gibt, die ihr Leben für das Vaterland opfern, bis irgend so ein Bastard daherkommt und solche Menschen verrät?» Solche Verräter könnten nicht mehr in die Augen ihrer Kinder schauen. Sie würden an den 30 Silberstücken, die sie verdient hätten, ersticken. «Und selbst wenn diese Verräter nicht sterben, werden sie leiden, werden sie sich ihr ganzes Leben verstecken müssen, mit ihren Liebsten nicht sprechen können.»

Es ist, als ob Putin, der ehemalige KGB-Agent, den Geheimnisverrat durch Russen persönlich nimmt und sich selbst mit jenen identifiziert, die ihrem Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter großen Opfern die Treue hielten. Sein Verständnis von Verrat und Loyalität wird sich nicht ändern. Es stammt aus einer Zeit, die ihn prägte, eine Zeit, in der Loyalität zum Staat wichtiger war, als den Staat oder sich selbst in Frage zu stellen. Einer der 2010 ausgetauschten Häftlinge aus Russland ist der Doppelagent Sergej Skripal, der acht Jahre später im englischen Exil von russischen Agenten des Militärgeheimdienstes vergiftet werden wird, aber überlebt.

Ein Menetekel – der «Arabische Frühling»

«Das Volk will den Sturz des Machthabers»: Dieser Weckruf der Protestwelle in der arabischen Welt erschreckt Moskau zutiefst, nicht zuletzt, weil er auch bei regierungskritischen Russen nachhallt. Ein Ereignis, das für den Kurs der Kreml-Elite und ihrer konservativen Stützkräfte zentral ist. Denn ihre weitgehend ideologische Antwort auf den «Arabischen Frühling» ist Ausdruck ihres Verständnisses von Demonstrationen, Zivilgesellschaft und pro-demokratischen Bewegungen überhaupt. Das Jahr 2011 beginnt mit dem Fall langjähriger Regimes, die unerschütterlich schienen: Von Tunesien springt die Flamme nach Ägypten und nach Libyen. Der NATO-Eingriff in Libyen, die Unruhen im Jemen, in Bahrain, Saudi-Arabien und schließlich in Syrien wirken wie eine fast surreale Kettenreaktion. Der Kreml muss sich vor Nachahmern im Innern schützen.

Spätestens im Dezember 2011, als die Proteste gegen Wahlfälschungen und Putins Präsidentschaftskandidatur beginnen, fangen Beobachter an, Vergleiche mit dem Beginn des «Arabischen Frühlings» zu ziehen. Putin beschimpft die russischen Demonstranten unverzüglich, er nennt seine Kritiker «vom Westen bezahlte Studenten» auf den Straßen, spricht von einem Komplott, einer Intrige, um Russland zu destabilisieren und eine «samtene Revolution» zu organisieren. Er macht sich lustig über die Erkennungszeichen der Opposition: Die weißen Bänder der Demonstranten erinnerten ihn an Kondome, sagt Putin mit dem für ihn typischen Sarkasmus.

Was war zuvor passiert? Als Präsident Medwedew sich im März 2011 bei der UN-Abstimmung über eine humanitäre Intervention in Libyen der Stimme enthält, kommt es in Moskau öffentlich zu einem Dissens in der Regierung: Ministerpräsident Wladimir Putin kritisiert Präsident Medwedews Stimmenthaltung vehement. Diese UN-Resolution erlaube jedem, gegen einen souveränen Staat zu agieren, sagt Putin. Das Verhalten des Sicherheitsrats erinnere ihn an einen mittelalterlichen Befehl zu einem Kreuzzug. Als Großbritannien und die USA unter der Führung von US-Außenministerin Hillary Clinton den militärischen Druck auf den libyschen Revolutionsführer Muammar Gaddafi verstärken, fragt Putin entrüstet, wer dies erlaubt habe und ob es ein Gerichtsverfahren gegen Gaddafi gegeben habe.

Russland verliert mit Gaddafi einen weiteren Alliierten. Es verliert geopolitischen Einfluss im Mittleren Osten – ein Einfluss bedingt durch sowjetische Nostalgie, aber auch strategische Interessen, wie das einer ständigen Militärpräsenz in Nahost. Den Tod Gaddafis kommentiert Putin mit den Worten, er sei angeekelt gewesen von den Bildern der letzten Momente des Staatschefs. Ein Tod, so erklärten es mir viele Beobachter in Moskau später, den Putin als Lehre für sich selber gesehen habe. Putin habe das libysche Szenario auf Russland, auf Russlands strategische Nachbarn im postsowjetischen Raum und auf sich selbst übertragen, habe sich bedroht gefühlt. Ordnung und Ehre, zwei zentrale Pfeiler seines autokratischen Machtverständnisses, waren erschüttert worden.

Nach Putins Logik hat der Westen die arabischen Gesellschaften aufgebrochen, weil er sie zur Demokratie führen wollte und dadurch der Mehrheit den Willen einer pro-westlichen Minderheit aufgezwungen habe. Er verkennt, dass das Chaos der Revolution und die darauffolgenden Kriege vor allem eine Folge der arabischen Diktaturen waren. Denn ihre Regimes hatten politischen Wettbewerb erstickt, den Aufbau einer Zivilgesellschaft verhindert, Aktivisten in den Untergrund getrieben und die Idee der Demokratie verteufelt oder den Islamisten überlassen. Das Ergebnis waren luftleere Systeme, nach außen pseudostabil durch einen Mann zusammengehalten, im Innern aber leer und bis an den Rand mit Hass, Rache und Angst gefüllt. Putins Denken verkennt die Instabilität einer solchen Gewaltordnung und akzeptiert nicht, dass jeder Mensch das Recht hat, sich gegen Folter zu wehren und gegen Unterdrückung und Verfolgung aufzustehen. Das im Kreml herrschende Konzept einer souveränen Demokratie, als Abwehrmechanismus entwickelt gegen die «Farbrevolutionen», lehnt ein liberales pluralistisches Demokratieverständnis ab. Schon Jahre zuvor setzt Putin westliche Demokratieforderungen und westliche Versuche eines Demokratie-Exports mit westlicher Kolonialpolitik gleich – und lehnt einen solchermaßen definierten westlichen Imperialismus ab. Für die Kreml-Konservativen bestätigt gerade der «Arabische Frühling», dass die demokratische Förderung pluraler Stimmen in der Gesellschaft nur zu einem Verlust staatlicher Souveränität – und folglich zu Chaos und Zerfall – führen könne. Höchstwahrscheinlich spielt hier auch die negative Erinnerung der Eliten hinein – die Erinnerung an die eigene zivile Aufspaltung in konkurrierende Ideen und Gruppen im demokratischen Russland der neunziger Jahre und die damals akute Gefahr eines weiteren Zerbrechens des russischen Staatsgebildes. Die implizite Gleichsetzung von Demokratie mit Anarchie und der mangelnde Respekt für den Wert des Individuums sind zudem gleichsam verwoben mit einer alten patriarchalen Nationalkultur, die nie wirklich erschüttert und in Frage gestellt wurde.

In meinen Jahren in Russland habe ich beobachtet, dass es diese Gesinnung ist, die dazu führt, dass es keine politischen Rücktritte aus eigenem Antrieb, aus eigener Verantwortung gibt. Ein Beamter fühlt sich niemals der Öffentlichkeit verpflichtet und ihr Rechenschaft schuldig, sondern nur seinem Vorgesetzten. Der höchste Vorgesetzte, in anderen Worten der Souverän, der an der Hierarchie-Spitze steht, kann niemals zur Verantwortung gezogen werden. Er kann niemals beschuldigt werden, sondern im Gegenteil: Er wird um Gnade oder um Gerechtigkeit gebeten. In Putins Bewusstseinshaltung gibt es daher kein Bürgerrecht, gegen eine Regierung aufzustehen, so grausam oder so ungerecht sie sein mag. Und so erscheint es folgerichtig, dass Wladimir Putin bis heute mit aller Macht versucht, seinen letzten arabischen Verbündeten zu halten – Baschar al-Assad, einen Diktator, der akribisch dokumentieren lässt, wie in Syrien auf seinen Befehl hin gefoltert wird.

Die ideologische Antwort Russlands auf den «Arabischen Frühling» wird später vom Kreml zu einem Meme, zu einem russischen Narrativ im Informationskrieg der Kremlmedien gegen westliche Medien und westliche liberale Politiker aufgebaut: Westliche Demokratieförderung wird mit Chaos, Zerfall und Krieg gleichgesetzt, Diktatoren hingegen als zuverlässige Garanten gegen Extremismus, Bürgerkrieg und Flüchtlinge dargestellt. Zur Informationsaufrüstung kommt eine militärische Aufrüstung hinzu: ein noch von Ministerpräsident Putin unterzeichneter 10-Jahres-Aufrüstungsplan für Russlands Armee in einem Umfang von umgerechnet 767 Milliarden Dollar. Die Erneuerung des militärisch-industriellen Komplexes erklärt Putin im Wahlkampf 2011 zum «Motor der Modernisierung».

Zu einer modernen Armee gehören auch immer mehr Manöver. Bereits ein Jahr nach dem Georgien-Krieg fängt Russland nach zehn Jahren Pause wieder an, in jedem der vier großen Militärbezirke Manöver durchzuführen. Die Manöver trainieren einen großen zwischenstaatlichen Krieg und den Übergang von Frieden zu Krieg, bis hin zum Nuklearangriff. Die Zahl der teilnehmenden Soldaten ist größer, als es ein russischer Eingriff im postsowjetischen Raum je erforderlich gemacht hätte: Den Übungen liegt kein Anti-Terror-, Niederschlagungs- oder Friedenserhaltungs-Szenario zugrunde. Theoretisch wäre nur ein einziges Nachbarland Russlands in der Lage, mit seinen militärischen Ressourcen einen Teil des russischen Territoriums zu besetzen: China. Allerdings ist das erste Manöver 2009 im westlichen Bezirk eine gemeinsame Übung russischer und weißrussischer Militäreinheiten, die sich gegen einen vermeintlich «faschistischen» Angriff, sprich: einen Feind aus dem Westen, verteidigen. Simuliert werden unter anderem die Reaktion auf einen Nuklearangriff gegen Polen und die Niederschlagung eines Aufstands einer polnischen Minderheit in Weißrussland. Wenige Monate zuvor schreiben osteuropäische Intellektuelle und Politiker, darunter Václav Havel und Lech Walesa, einen Brief an US-Präsident Obama und mahnen, dass «Russland als revisionistische Macht» zurück sei: Eine Macht, die eine Agenda des 19. Jahrhunderts mit Taktiken und Methoden des 21. Jahrhunderts verfolge.

Die Ukraine und die «nationale Frage»

Die Ukraine taucht nicht erst 2014 in Putins Plänen und Politik auf, vielmehr schon in seinem Wahlkampf 2011. Ein Blick auf diese Zeit hilft, die Vorgänge von 2014 besser einzuordnen. Eine Woche nach seiner Ankündigung, erneut für das Präsidentschaftsamt zu kandidieren, beschreibt Wladimir Putin eine Vision, in der die Ukraine eine zentrale Rolle spielt. Die Idee ist das Herzstück seines Wahlkampfs. Er schlägt die Bildung einer Eurasischen Union vor, eines Blocks, der Russlands Einfluss vervielfachen und ein Gegengewicht zur EU sein könnte. Das Projekt, schreibt er in einem Zeitungsartikel, könnte aufgesattelt werden auf einer bereits existierenden Zollunion und Wirtschaftszone mit Weißrussland und Kasachstan. Eine «mächtige supranationale Union, die zu einem der Pole der modernen Welt werden kann». Es gehe nicht um die Schaffung einer neuen UdSSR, aber um eine gemeinsame Nutzung des sowjetischen Erbes und Kulturraums. Eine enge Integration, die auf neuen, sprich: konservativen Werten und einer politischen und ökonomischen Grundlage beruhe. Eine kaum verschleierte Kritik geht an die Adresse der Ukraine: «Einige unserer Nachbarn erklären ihr Zögern, an fortgeschrittenen Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum teilzunehmen, mit der Aussage, dass dies ihrer europäischen Wahl angeblich widerspricht.» Dies sei eine falsche Alternative, die Eurasische Union werde Bestandteil eines größeren Europas sein.

In der Realität allerdings ist die geplante Eurasische Union ein Konkurrenzprojekt zur EU – ein Instrument, um die Westintegration vieler Nachbarländer im postsowjetischen Raum zu verhindern. Sie ist als ein Gegenmodell zur EU entworfen, weil sie auf angeblich einzigartigen zivilisatorischen Werten und auf der Bewahrung von nationalen Identitäten beruhe. Die Stabilität der Nachbarn bedingt in dieser Logik die Stabilität Russlands, sprich: die Stabilität seines Regimes. Für den Handel Russlands mit der EU hat Putin die Vision eines gemeinsamen Marktes, einer Wirtschaftsgemeinschaft oder einer noch tieferen wirtschaftlichen Integration – «von Lissabon bis Wladiwostok». Eine alte Idee, die er seit 2001 immer wieder aufgreift. Sie würde – wirklich umgesetzt – das Ende der EU bedeuten.

Die Ukraine taucht auch auf in einem programmatischen Wahlkampfessay zur Nationalitätenfrage Russlands. Für Putin ein gutes Thema, um seine Wählerbasis zu mobilisieren. Warum ausgerechnet die «nationale Frage»? Nach den Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl 2011 sind Legitimationszweifel entstanden. Russische Nationalisten, für die alles Russische Vorrang hat («Russland den Russen») und die zentralasiatische Arbeitsmigranten in Russlands Städten ablehnen, sind auch bei den Protesten gegen Wahlfälschungen aufgetreten. Diese Nationalisten, die das Primat des russischen Volks besonders vor den Muslimen des Kaukasus fordern, haben sich zu diesen Protesten mit den Kommunisten verbündet. Mit dem Essay in der Tageszeitung Nezawissimaja Gazeta versucht Putin, diese neue Front davon zu überzeugen, dass sein Nationalismus der richtige für Russland sei: kein demokratischer, antisowjetischer Nationalismus, kein ethnischer Nationalismus, sondern ein imperialer Staatsnationalismus mit russischem Kern. Eine Vielzahl ethnischer Gruppen lebe in Russland, doch, so Putin, es handle sich um «ein Volk verbunden durch eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Werte». Er verspricht, die Arbeitsmigration aus Zentralasien zu reduzieren, und schreibt beschwörend davon, dass sein Herrschaftsmodell eine einzigartige Zivilisation zusammenhalte, deren Kern das «russische Volk» und «die russische Kultur» seien und deren Dominanz erhalten bleiben müsse. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Stellenwert, den Putin den Ukrainern einräumt: den Stellenwert einer Volksgruppe Russlands. Der multiethnische Staat, schreibt Putin, habe sich über Jahrhunderte entwickelt, mit der Hilfe vieler Volksgemeinschaften. «Es genügt zu sagen, dass ethnische Ukrainer auf diesem Territorium leben, das sich von den Karpaten bis nach Kamtschatka erstreckt, ebenso wie ethnische Tataren, Juden, Weißrussen.»

Dieses Verständnis von Ukrainern als einer Volksgruppe – und nicht als einem historischen Subjekt mit eigener Geschichte, eigener Sprache und eigenem souveränen Staat – wird in Putins Reden in den darauffolgenden Jahren immer wieder auftauchen. Nach seinem Amtsantritt wiederholt er in seiner Ansprache an das Parlament die Idee von Russland als einzigartiger Zivilisation: «Unabhängig von unserer Abstammung waren wir und bleiben wir ein Volk. Ich erinnere mich an eines meiner Treffen mit Kriegsveteranen. Darunter Vertreter verschiedener Volksgruppen: Tataren, Ukrainer, Georgier, und natürlich viele ethnische Russen. Ein Veteran, der kein ethnischer Russe war, sagte: ‹Für die ganze Welt sind wir ein Volk; wir sind Russen.› Dies war wahr im Krieg, und wird immer wahr sein.»

Nationale Frage und Eurasische Union – beides nicht zufällig miteinander verwobene Wahlkampfthemen Putins, die die Idee der einzigartigen Großmacht Russland unterfüttern sollen. Die Ukraine hat auch im außenpolitischen Konzept der Russischen Föderation von 2013 eine besondere Erwähnung, einen besonderen Stellenwert im Aufbau von Putins Vision der Eurasischen Union. Das Konzept hat zunächst einmal nichts mehr gemein mit den frühen Versuchen Putins in seiner ersten Amtszeit, Russland an die Europäische Union anzunähern oder sogar eine Integration anzustreben. Jetzt geht es um ein Russland, das die postsowjetische Phase überwunden hat. Es geht um eigene geopolitische Ziele und Souveränität. Eine Eurasische Wirtschaftsunion sei nicht nur das beste Instrument, um Wirtschaftsbeziehungen im GUS-Raum zu nutzen, sondern sie bilde gegenüber Europa und China einen eigenständigen Machtblock. Russland beabsichtige, die Beziehungen zwischen den GUS-Staaten als Zeichen des «gemeinsamen kulturellen und zivilisatorischen Erbes» zu bewahren und auszubauen. Der Schutz der sprachlichen, erzieherischen, humanitären und sozialen Rechte ethnischer Russen im GUS-Raum habe einen besonderen Stellenwert. Der vorrangige Partner innerhalb des GUS-Raums sei die Ukraine, Russland wolle «zur Teilnahme der Ukraine an den Integrationsprozessen der Eurasischen Union beitragen.» Geschrieben werden diese Zeilen in einer Zeit, in der sich die Ukraine aktiv um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union bemüht und der EU-Assoziierungsprozess sein letztes Stadium erreicht.

Als Wladimir Putin gemeinsam mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill I., dem Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, im Sommer 2013 die Ukraine besucht, ist Russlands einzigartige zivilisatorische Identität erneut das wichtigste Thema. Dieses Mal unter dem Gewand der «Russischen Welt», ein Konzept, in dem sich Religion, Werte und Großmachtpolitik vermischen. Der Grund des Staatsbesuchs: das 1025. Jubiläum der Taufe der Kiewer Rus, einer mittelalterlichen Vereinigung ostslawischer Fürstentümer, die das Vorläuferreich Russlands, der Ukraine und Weißrusslands bildeten. Der Feiertag war erst 2008 in der Ukraine und 2010 in Russland eingeführt worden, um an den Kiewer Großfürsten Wladimir zu erinnern, der sich 988 hatte taufen lassen und das Christentum zur Staatsreligion erklärt hatte. Nun wird der Akt der Taufe eines – höchstwahrscheinlichen – Wikingerstammes stilisiert als Gründungsmythos für die Geburt Russlands und für moderne, untrennbar miteinander verbundene Nationen. Die historische Komplexität einer Region, in der Slawen, Skandinavier, Khazaren, Turkstämme und Mongolen, Litauen, Polen und Schweden herrschten, wird reduziert auf einen mythischen Geburtsort Russlands. Genauso gut könnte die Region ein Geburtsort der Ukraine sein.

Die Moskauer Delegation trägt an diesem Tag Konferenzausweise, auf denen als Anlass statt «Taufe der Kiewer Rus» lediglich «Taufe der Rus» steht. Putins Rede spiegelt nahezu jedes religiöse Motiv des ideologischen Konzepts der «Russischen Welt» wider. Darin sieht sich Moskau im Zentrum einer orthodoxen Zivilisation größtenteils russischsprachiger Gemeinschaften, die ihre spirituelle und kulturelle Einheit erhalten müssen. In Putins Rede geht es um die Einzigartigkeit orthodoxer Werte in der modernen Welt, die spirituelle Einheit Russlands und der Ukraine, also eines einzigen Volkes, von keiner Macht aufkündbar. Auffällig ist die Warnung an die Ukraine, die gemeinsame historische Vergangenheit und Zivilisation bei Zukunftsfragen zu beachten. Zugleich bietet Moskau der Ukraine billiges Gas und offene Grenzen für eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Union an. Der Wettbewerb auf dem globalen Markt sei hart, und nur durch vereinigte Kräfte könne man ihn gewinnen. Wortreiches Beschwören einer mythischen Vergangenheit tritt an die Stelle konkreter Zukunftsversprechen. Spätestens jetzt wird offenbar, dass die Ukraine als zentral erachtet wird innerhalb des Konzepts der Russkij Mir, der antiwestlichen, antiliberalen, orthodox-ostslawischen «Russischen Welt». Als Kulturkonzept wird es vom Staat verwendet, um die innere Stabilität zu festigen, Russlands Status als Weltmacht wiederherzustellen sowie seinen Einfluss in den Nachbarländern zu vergrößern. Die Russisch-Orthodoxe Kirche verwendet das Russkij-Mir-Konzept als Idee, die Säkularisierung des Landes mit Hilfe der Regierung aufzuhalten. Die beiden Kirchen, die nicht zum Gedenktag mit Putin in Kiew eingeladen sind – die Griechisch-Katholische und Ukrainisch-Orthodoxe Kirche –, lehnen das Konzept der «russischen Welt» rundweg ab.

Die Kreml-Choreographie der gemeinsamen russisch-ukrainischen Geschichte geht weiter. Einen Tag später, am Tag der russischen Marine, legen Russlands Präsident und der ukrainische Staatschef Janukowitsch Kränze nieder am Denkmal für die heldenhafte Verteidigung Sewastopols 1941–1942 auf der Krim, und schauen einer russisch-ukrainischen Flottenparade zu. «Sewastopol ist der Ort, wo eine Waffenbrüderschaft zwischen unseren Völkern geschmiedet wurde, und Seiten unserer gemeinsamen Geschichte geschrieben wurden», sagt Putin. Auch der Rest der Rede dreht sich ausschließlich um die gemeinsame Vergangenheit, die Verteidigung einer gemeinsamen Heimat. 2010 hatte Präsident Janukowitsch beschlossen, die Pachtzeit für Russlands Schwarzmeerflotte auf der Krim, die eigentlich 2017 auslaufen sollte, mindestens bis zum Jahr 2042 zu verlängern. Dafür hatte Moskau ihm billiges Gas angeboten. Damit war früh klar, dass das Land die nächsten Jahrzehnte nicht NATO-Mitglied werden konnte.

Einen Tag nach Putins Krim-Besuch beginnt Moskau einen Handelskrieg gegen die Ukraine. Einen Krieg, den es so lange herauf- und herunterfährt, bis Kiew diese Signale versteht.

Eine «maximale Putinisierung» der Welt?

Das jährliche Treffen mit internationalen Experten und Journalisten im Valdai