Die Welt war ein Irrenhaus - Rudolf Schönwald - E-Book

Die Welt war ein Irrenhaus E-Book

Rudolf Schönwald

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„Kunst, die nicht politisch ist, ist sinnlos!“ – Der legendäre Künstler Rudolf Schönwald über sein Leben im 20. Jahrhundert, nacherzählt von Erich Hackl

Sensibler Künstler und Lehrer, unnachahmlicher Erzähler und Zeitgenosse vieler Zeiten und Genossen: Lange weigerte sich Rudolf Schönwald, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Jetzt hat der in Hamburg geborene Wiener Erich Hackl erzählt, wie es ihm als „Geltungsjuden“ gelang, Krieg und Verfolgung in Wien und Budapest zu überleben, als überzeugter, wenn auch unabhängiger Linker während des Kalten Krieges Fuß zu fassen und sich gemeinsam mit seinen Freunden Alfred Hrdlicka und Georg Eisler als Maler einen Namen zu machen. Sprachlich brillant, gespickt mit Situationskomik und frei von Pathos wird hier ein Zeitalter besichtigt, von einem der Letzten, der behaupten darf, dabei gewesen zu sein.

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Über das Buch

»Kunst, die nicht politisch ist, ist sinnlos!« — Der legendäre Künstler Rudolf Schönwald über sein Leben im 20. Jahrhundert, nacherzählt von Erich Hackl Sensibler Künstler und Lehrer, unnachahmlicher Erzähler und Zeitgenosse vieler Zeiten und Genossen: Lange weigerte sich Rudolf Schönwald, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Jetzt hat der in Hamburg geborene Wiener Erich Hackl erzählt, wie es ihm als »Geltungsjuden« gelang, Krieg und Verfolgung in Wien und Budapest zu überleben, als überzeugter, wenn auch unabhängiger Linker während des Kalten Krieges Fuß zu fassen und sich gemeinsam mit seinen Freunden Alfred Hrdlicka und Georg Eisler als Maler einen Namen zu machen. Sprachlich brillant, gespickt mit Situationskomik und frei von Pathos wird hier ein Zeitalter besichtigt, von einem der Letzten, der behaupten darf, dabei gewesen zu sein.

Rudolf Schönwald

Die Welt war ein Irrenhaus

Meine Lebensgeschichte

Nacherzählt von Erich Hackl

Paul Zsolnay Verlag

Erinnern ist das eigentliche Leben.

Carl Laszlo, »Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden« (1956)

1

Geboren bin ich in Hamburg. Das ist nur insofern bemerkenswert, als weder mein Vater noch meine Mutter der Stadt aus familiären oder beruflichen Gründen verbunden waren. Er war Wiener, sie stammte aus Breslau, die beiden hatten sich in einer Kunstgalerie in Den Haag kennengelernt, in England geheiratet und aus unerfindlichen Gründen beschlossen, in Hamburg ansässig zu werden. Genauer gesagt in Reinbek bei Hamburg, wo sie sich vom Geld meiner Mutter, einer geborenen Pringsheim, ein Haus kauften. Ich kam im Juni 1928 auf der Entbindungsstation des Krankenhauses Jerusalem zur Welt, das es heute noch gibt, am Schlump, mitten in der Stadt. Die Klinik war fünfzehn Jahre zuvor von der Missionsgesellschaft der Irisch-Presbyterianischen Kirche in der Absicht eröffnet worden, die armen jüdischen Auswanderer zu versorgen, die im Hafen auf die Überfahrt warteten, und sie mit der christlichen Nächstenliebe derart zu beeindrucken, dass sich alle noch schnell taufen ließen. Meines Wissens hat das eher selten geklappt.

Mein Bruder Peter ist im Jahr darauf schon in Reinbek geboren. Reinbek war ein Dorf. Bevor der Rowohlt-Verlag sich dort niedergelassen hat, bestand es aus der Grünwarenhandlung der Brüder Rathmann und der Gastwirtschaft der Witwe Bethause. Das war auch schon alles. Das heißt, nein — auch mein Taufpate Manfred Ragg wohnte in Reinbek oder gleich nebenan, in Neu-Wentorf. Die Bekanntschaft mit ihm verdankte sich einer zufälligen Begegnung, die um ein Haar in eine Prügelei ausgeartet wäre: Mein Vater hielt eine große Dogge und ging im Sachsenwald, einem Besitz des Fürsten Bismarck, mit ihr spazieren. Dort wurde das an und für sich gutmütige Tier eines Tages von einem Spaniel angekläfft. Die Dogge ließ sich das einige Zeit gefallen, dann packte sie den Köter am Schlafittchen, um ihn ordentlich durchzubeuteln. Die Folge war ein schreckliches Kreischen. Gleich darauf standen sich die beiden Hundehalter mit zornroten Gesichtern und erhobenen Spazierstöcken gegenüber. An Aussprache und Wahl der Schimpfwörter, mit denen sie einander bedachten, stellten sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie Landsleute waren. Sie schlossen auf der Stelle Frieden, zerrten ihre Vierbeiner auseinander und einigten sich darauf, gesellschaftlich miteinander zu verkehren.

Ragg war ein gebürtiger Kärntner. Er hatte in Chemie promoviert, besaß in Hamburg eine große chemische Fabrik und war mittels einer von ihm erfundenen Rostschutzfarbe zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen. Mit Gebetsformeln kannte er sich schlechter aus als mit Spezialanstrichen für Schiffsböden und Eisenrohre, über die er mehrere Standardwerke veröffentlicht hat. Das erwies sich bei meiner Taufe, als man ihm das Glaubensbekenntnis einsagen musste, nachdem er mittendrin steckengeblieben war. Ragg hatte drei hübsche Töchter, einen Sohn und eine prachtvolle Villa, in der ich mich gelegentlich langweilen durfte. Hin und wieder wurde mir gestattet, einer der Töchter zuzuhören, wenn sie auf ihrem Pianino spielte. Sonst hagelte es Verbote. Ich durfte da nicht gehen, mich dort nicht hinsetzen. Eigentlich furchtbar.

Furchtbar waren auch die Erziehungsmaßnahmen meines Vaters, weil sie sich im Wesentlichen darin erschöpften, andere Kinder von mir und meinem Bruder fernzuhalten. Wir wurden weder in einen Kindergarten geschickt noch ermutigt, auf dem Spielplatz oder im Park mit Gleichaltrigen zu spielen, die mein Vater als Seuchen- und Bazillenüberträger ansah. Was er in Hamburg oder Reinbek den ganzen Tag getrieben hat, ist mir unbekannt. Vermutlich lebte er vom Geld meiner Mutter, die um uns Kinder rührend besorgt war. Gegen meinen Vater stand sie auf verlorenem Posten. Er war eifrig bemüht, ihr jeden Lebensmut zu nehmen, verbot ihr den Umgang mit ihrer Mutter und allen anderen Verwandten und hatte selber auch den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen. So wuchsen wir auf, ohne dass wir unsere Großmütter sehen durften — beide Großväter waren schon vor meiner Geburt verstorben —, und vor Kindern habe ich mich, glaube ich, lange Zeit gefürchtet. Die Erwachsenen waren mir zwar auch nicht wahnsinnig angenehm, aber ich akzeptierte sie, solange sie mich nicht herablassend behandelten, sondern einfach in Ruhe ließen.

Ein solches Verhalten zeichnete unseren Nachbarn Hermann Goele aus, einen schweigsamen pensionierten Gymnasiallehrer und Freizeitkomponisten, der für gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer saß und in einer Wolke aus Pfeifenrauch über Schachprobleme nachdachte. Er und seine lebhafte, aus Süddeutschland stammende Frau hatten einen großen Garten, in dem es zu jeder Jahreszeit für meinen Bruder und mich etwas zu tun gab. Wir waren mit Feuereifer damit beschäftigt, Unkraut zu jäten und Äste zu zersägen. Der Sohn des Ehepaares, Helmut, war ein junger Offizier der Handelsmarine, der zur Belohnung für seine glänzend bestandenen Prüfungen auf dem Segelschulschiff Admiral Karpfanger mitfahren durfte, das auf seiner ersten Auslandsfahrt vor Kap Hoorn unterging. Es gab keine Überlebenden.

Damals begann das Schuljahr in Deutschland nicht im September, sondern zu Ostern. Anfang April 1934 war also mein erster Schultag, da war ich fast sechs Jahre alt und hatte das dringende Bedürfnis, endlich lesen zu lernen. Davon konnte aber keine Rede sein. Stattdessen musste ich mich mit Spielen abquälen, die mich überhaupt nicht interessierten. »Alles, was Flügel hat, fliegt« oder »Mäuschen, wie piepst du?«, so in der Art. Dann raus in den Hof, wo wir nach Lust und Laune herumtoben sollten. Die Erziehungsmethoden waren weitaus fortschrittlicher als in Österreich, man wollte die Kinder nicht mit dem Lehrstoff überfallen, sondern allmählich an den Schulbetrieb gewöhnen. Aber das ging mir unendlich auf die Nerven. Ich verkörperte eben schon damals den autoritären Charakter in Reinkultur, den Theodor W. Adorno ein paar Jahre später im US-amerikanischen Exil erkennen und beschreiben sollte.

Für meinen Vater war die Tatsache, dass er einen jüdischen Vater hatte — die Mutter war eine Wiener Tschechin —, eine Lebenskatastrophe. Mit diesem Kleinbürger focht er heftige Kämpfe aus. Er war sogar einmal sechs Wochen lang mit einer Opernsängerin verheiratet gewesen, nur damit sein Vater vor Zorn zerspringt. Um sich vom Judentum loszusagen, hatte er sich irgendwann in den zwanziger Jahren taufen lassen und war seither praktizierender Katholik. Die sich anbahnende Judenverfolgung wollte er nicht zur Kenntnis nehmen. Immerhin war es schon ein Jahr her, dass Hitler die Macht übernommen hatte. Meine Mutter erkannte die Gefahr und drängte darauf, aus Deutschland wegzukommen. Aber statt dass sie mit uns nach Übersee gefahren wären, wo Verwandte von ihr lebten und er sich mit seinen zweifellos vorhandenen Talenten und seiner Sprachbegabung ohne weiteres eine Existenz hätte aufbauen können, verfiel mein Vater auf die abstruse Idee, sich ausgerechnet in Salzburg niederzulassen — im Frühjahr 1934, drei Monate nach dem blutig niedergeschlagenen Februaraufstand, als in Österreich das Standrecht herrschte und die Zahl der illegalen Nazis in die Höhe schnellte.

Wir fuhren also nach Salzburg. Dort wohnten wir den Sommer über in der Pension »Steinlechners Gasthof«, wo während der Festspielzeit jeden Sonntag Richard Strauss und Clemens Krauss zu speisen pflegten. Anschließend zogen sich die beiden Giganten des Musiklebens mit gewichtigen Mienen und allerlei Papieren unter dem Arm in das Gartensalettl zurück, wo sie dann, statt über Mozart- und Beethoven-Partituren zu brüten, die Schweizerische Handelszeitung studierten und sich dabei eifrig Aktienkurse notierten. Inzwischen wurde für uns am Stadtrand, in der Nesselthalergasse 6 in Parsch, ein Einfamilienhaus errichtet. Im Herbst konnten wir einziehen. Es war im bäuerlichen Stil gehalten, hatte einen Balkon mit geschnitzter Balustrade, musste mit Holz und Kohle beheizt werden und stand inmitten eines etwas struppigen Gartens.

In Österreich war im September Schulbeginn, und so kam es, dass ich nun zum zweiten Mal eingeschult wurde, in der Nonntalschule, in der ein anderer Wind wehte als in der nach kinderpsychologischen Erkenntnissen geführten Volksschule von Reinbek. Als Erstes mussten wir das Aufstehen und Niedersetzen üben, als Zweites im Chor rufen: »Grüß Gott, Frau Lehrerin!«, und als Drittes das Kreuz schlagen und dabei die Gebetsformel herunterleiern: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Katholischer Ständestaat, Austrofaschismus, autoritäre Erziehung. »Setzen.« Gleich darauf begann auch schon der Unterricht. Wir holten unsere Schiefertafeln hervor, nahmen die Griffel in die Hand und schauten zur Tafel, auf die unsere Lehrerin, das Fräulein Giger, den ersten Buchstaben malte, ein Kurrent-I aus drei kurzen Strichen und einem Punkt. Ich war begeistert. Endlich hatte ich etwas gelernt! Und jeden Tag kam ein neuer Buchstabe hinzu, bald würde ich lesen können.

Meine Erinnerungen an die Volksschulzeit sind nicht sehr ergiebig. Sicher ist, dass Gerhard Amanshauser vier Jahre lang mein Banknachbar war. Trotzdem nahmen wir kaum Notiz voneinander, er noch weniger von mir als ich von ihm. Ich habe schon damals gern und viel gezeichnet, war aber selbstkritisch genug, um mir einzugestehen, dass ich seinen mit Buntstift gezeichneten Sonnenuntergängen nichts Gleichwertiges zur Seite stellen konnte. Dafür gelangen mir die Aufsätze besser als dem späteren Schriftsteller, wahrscheinlich haben wir beide unseren Beruf verfehlt.

Meine Hochachtung für ihn stieg sprunghaft, als wir im Unterricht das Dollfuß-Lied singen mussten, eine feierliche, von Rudolf Henz ersonnene Hymne auf den von Nazis ermordeten Bundeskanzler, die mit diesen Worten begann: »Ihr Jungen, schließt die Reihen gut, ein Toter führt uns an. Er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann. Die Mörderkugel, die ihn traf, die riss das Volk aus Zank und Schlaf …« Amanshauser wagte es, leise, aber doch deutlich hörbar statt »die Mörderkugel, die ihn traf« »der Zwetschkenknödel, der ihn traf« zu singen, was für mich eine Blasphemie unvorstellbaren Ausmaßes darstellte und mir höchste Bewunderung abrang. Bei der Vorbereitung auf die Erstkommunion erwies sich mein Banknachbar hingegen als weniger schneidig. Es wurde uns eingeschärft, ja nicht auf die Hostie zu beißen, die uns der Priester auf die Zunge legen würde, da sonst »das Blut des Herrn herausrinnen« könnte. Ich hatte damit kein Problem, aber der sensiblere Amanshauser wurde bei dem Gedanken, den Mund voller Blut zu haben, ohnmächtig.

Meine religiösen Handlungen beschränkten sich auf den Besuch der Sonntagsmesse und das Sammeln von Stanniolpapier, das, zu Kugeln gerollt, beim Katecheten abzuliefern war, der sie für die Bekehrung armer Heidenkinder brauchte: »Auch für uns Mohren ist Jesus geboren.« Außerdem musste ich wie alle Schüler an der Fronleichnamsprozession teilnehmen, die sich im Salzburger Nonntal besonders lang hinzog und von einem barbarischen Böllerschießen vor jedem Altar untermalt wurde.

An unserer Schule gab es zwei Religionslehrer. Der eine war ein gutmütiger alter Kanonikus, der in seinem Tiroler Dialekt immer denselben faulen Witz machte, wenn ein Schüler aufzeigte und sich für eine Fehlstunde entschuldigte. Der zweite, ein junger Vikar namens Strasser, hielt uns einmal einen Vortrag über die Zehn Gebote. Dabei kam er mit seiner schnarrenden Stimme auch auf das Sechste zu sprechen:

»Wer Unkeusches tut in Gedanken, Worten und Werken, der wird dereinst in der Hölle in einen Pfuhl geworfen, wo er nackt liegt und Schlangen, Molche, Kröten und ekles Gewürm über ihn kriechen.«

Das ging mir nicht aus dem Kopf. Kaum war ich zu Hause, lief ich zu meinem Vater, der gerade einen Artikel in seine Schreibmaschine hämmerte.

»Was ist Unkeuschheit?«, fragte ich ihn.

»Was, Unkeuschheit? Das geht dich gar nichts an. Wieso fragst du?«

»Weil der Vikar Strasser uns heute erklärt hat, wer Unkeusches tut in Gedanken, Worten und Werken, der kommt nackt in einen stinkenden Pfuhl.«

Es gibt Menschen, die werden, wenn sie sich ärgern, rot im Gesicht. Dann gibt es diejenigen, die aus dem gleichen Grund kreidebleich werden. Mein Vater fiel in diese Kategorie. Er sprang auf, stürzte aus dem Haus, warf sich im Laufen seine Pelerine über, weil es wie fast immer in Salzburg gerade regnete, schwang sich aufs Fahrrad und radelte erbost in die Stadt. Dort läutete er den Vikar Strasser heraus und sagte zu ihm:

»Passen S’ auf, wenn Sie den Kindern noch einmal so einen Blödsinn erzählen, dann beschwere ich mich über Sie beim Unterrichtsminister persönlich.«

Das dürfte seine Wirkung nicht verfehlt haben, denn zu meiner grenzenlosen Enttäuschung habe ich nie wieder etwas von dem Pfuhl und vom Nacktliegen und von der Unkeuschheit gehört.

Einmal gab mir die Bestrafung eines Unschuldigen zu denken: Wir hatten einen Aufsatz zum Thema »Ein Frühlingsspaziergang« schreiben müssen. Die Lehrerin kam mit den korrigierten Hausübungsheften unter dem Arm in die Klasse gestürzt, warf die Hefte auf das Pult und rief den Namen unseres Mitschülers Karl Wimmer. »Wimmer, aufstehen. Wimmer, in die letzte Reihe. Niederknien!« Was hatte er ausgefressen? Alle bekamen seine Schandtat zu sehen, Wimmers Heft mit dem Blatt, auf dem unter der Überschrift »Ein Frühlingsspaziergang« ein einziger Satz stand: »Ich ging am Samstagnachmittag mit meiner Tante in Morzg spazieren.« Nicht genügend, drei Ausrufezeichen. Dazu eine Schimpfkanonade. Ich kannte damals natürlich noch nicht Wittgensteins Sentenz: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, die ganz gut zum Anlass der allgemeinen Entrüstung gepasst hätte, aber immerhin durchfuhr mich der Gedanke, dass mein in der letzten Bankreihe kniender Mitschüler mit seinem Ein-Satz-Aufsatz der einzige normale Mensch in diesem Narrenhaus war. Ich hingegen hatte mir zum gestellten Thema den aberwitzigsten Stuss ausgedacht, von dem ich ahnte, dass er der Lehrerin gefallen würde. Wimmer machte mir meine Charakterlosigkeit bewusst. Eigentlich sollte er für seine Kürze belobigt werden, dachte ich. Stattdessen musste er zur Strafe hundertmal einen Satz aus dem Lesebuch abschreiben, und alle Kinder lachten ihn aus. Nur ich hielt mich hier sehr stark zurück.

Meine Mutter war auch in Salzburg rührend um das Wohlergehen ihrer Söhne bemüht. Das führte dazu, dass sie zeitweise von mir versklavt wurde. Entweder musste sie an meinem Bett sitzen, wenn ich wieder einmal Grippe oder Keuchhusten hatte, oder mir helfen, die Zeichenbretter aufzustellen, damit ich riesige Germanenschlachten zeichnen konnte. Sie hatte auch die Aufgabe, mich einmal in der Woche mit dem Fahrrad von der Volksschule abzuholen. Sonst ging ich immer zu Fuß, der Schulweg dauerte ungefähr eine halbe Stunde, aber mein Lieblingsprogramm bei Radio Wien begann Punkt vier Uhr, und ich hätte den Anfang verpasst, wenn ich nicht wie ein geölter Blitz aus dem Schultor geflitzt wäre, vor dem meine Mutter abfahrbereit zu warten hatte. Ich sprang auf den Gepäckträger ihres Fahrrads und trieb sie mit den Rufen »Schneller, schneller!« zu größerer Eile an. Alles nur, damit ich zu der Sendung mit den Loewe-Balladen zurechtkam — »Der Nöck«, »Archibald Douglas«, »Edward«, »Tom der Reimer« … —, von denen ich, in der Interpretation des Baritons Heinrich Schlusnus, nicht genug kriegen konnte. »Du bist die Himmelskönigin! Du bist von dieser Erde nicht!« Kein Mensch kümmert sich heutzutage um Loewes Balladen. Ich war süchtig nach ihnen. Nicht minder versessen war ich auf die österreichischen Volkslieder, die der Lehrer Karl Magnus Klier in seiner Sendung vorstellte. »A Schüsserl und a Reindl is all mei’ Kuchlg’schirr …« Aus mir wäre unter normalen Umständen ein Sangesbruder geworden. Dass ich’s nicht werden konnte, habe ich zutiefst bedauert. Hitler hat es wie so vieles in meinem Leben verhindert.

Mein Vater rückte auch in Salzburg nicht von seinen Erziehungsprinzipien ab, die darin bestanden, seine Kinder von allem, was die Welt für sie bereithält, abzuschirmen. So kommt es, dass ich mich eigentlich an keine Bubenstreiche, keine Abenteuer, keine Spiele mit Gleichaltrigen erinnern kann. Ich erlebte nichts, oder fast nichts, von dem, was ein normales Kind im Alter von sechs bis zehn Jahren außerhalb der Schule erfährt. Ich bin in der Früh in die Schule gegangen und am Nachmittag wieder nach Hause getippelt. Andere Kinder wurden dort nicht geduldet. Offenbar hielt mein Vater sie für giftig.

Die Isolation, in der wir uns befanden, hatte aber auch noch einen anderen Grund. Denn Salzburg war in einem seltsamen Zustand: nach außen hin katholisch und österreichtreu, im Kern völlig von den Nazis unterwandert. Niemand wusste vom andern, ob er nicht schon insgeheim Mitglied der Nazipartei war. Die Rassenfrage wurde hochgehalten, das sogenannte Judenproblem, was besonders lächerlich war, weil es in Salzburg, wenn es hochkommt, hundert Juden gab. Auf alle Fälle war es eine Frage des Geruchssinns. Die Katholiken erschnupperten einander, die Nazis, die Arbeitslosen sowieso. Das Elend war sichtbar. In unserer Schule gab es Kinder, die sogar im Winter barfuß und mit zerrissenem Gewand in die Schule kamen. Die Bessergestellten, zu denen außer Gerhard Amanshauser und mir noch Kinder von Rechtsanwälten, Ärzten oder Geschäftsleuten gehörten, wurden aufgefordert, für die Bedürftigen ein zusätzliches Jausenbrot mitzubringen. Mit dem Spürsinn, den sie ausgebildet hatten, witterten die Leute jedenfalls, dass mit uns — also mit mir, meinem Bruder und meinen Eltern — etwas nicht stimmte. Wir waren getaufte Katholiken, wir waren sogar fromme Katholiken. Und wir hatten immerhin so viel Geld, dass wir in geregelten Verhältnissen leben, uns sogar ein eigenes Haus leisten konnten. Das alles nützte angesichts der schiefen Optik gar nichts: Da ist ein Ehepaar mit zwei Kindern, das im Jahr vierunddreißig beschließt, aus Deutschland — dem Land, in dem im Jahr zuvor die Sonne des Führers aufgegangen war — zu emigrieren und nach Österreich zu ziehen. Mit denen stimmt etwas nicht, nämlich mit ihrem Ariernachweis, auf alle Fälle sind sie nicht nationalsozialistisch gesinnt. Bei meinem Vater war das auch deutlich zu sehen, denn er markierte den österreichpatriotischen kaisertreuen Landedelmann und lief in einem Steireranzug herum, an dessen Rock das Signum-Laudis-Zeichen aus dem Ersten Weltkrieg steckte, vielleicht sogar das Emblem der Vaterländischen Front. Deshalb fand ich auch keine Spielgefährten. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätte Amanshausers Vater irgendwann gesagt: »Pass auf, Gerhard, sag doch deinem Sitznachbarn, dem Schönwald Rudi, er soll einmal zu uns auf den Nonnberg kommen, da könnts miteinander spielen.« Oder umgekehrt hätte mein Vater diesen Vorschlag machen können. Das ging aber schon deshalb nicht, weil der Vater des Gerhard Amanshauser der Obernazi von Salzburg war und die Familie Schönwald jüdisch versippt. Nur wir Kinder wussten das nicht. Weder wussten wir, was Arier sind, noch hatten wir je davon gehört, dass wir Juden waren oder für solche gehalten wurden. Das Thema existierte in unserer Familie nicht. Zumindest wurde es von mir und meinem Bruder ferngehalten.

Über die Tätigkeit meines Vaters wusste ich hingegen Bescheid. Er schrieb Theaterkritiken und Aufsätze für die katholische, munter antisemitische Tageszeitung Salzburger Chronik. Ob er die Familie davon ernähren konnte, wage ich zu bezweifeln. Eher vermute ich, dass unser Unterhalt vom Erbe meiner Mutter bestritten wurde. Mein Breslauer Urgroßvater Fedor Pringsheim, Bankier, Mitglied des Breslauer Stadtrats und Vorsitzender der Breslauer Kultusgemeinde, hatte einst das stolze Wort gelassen ausgesprochen, dass noch die Urenkel von seinem Vermögen zehren würden. Er hat sich zwar gehörig getäuscht, aber etwas von seinem Geld war noch vorhanden, und so konnte mein Vater frei von finanziellen Nöten ein umfangreiches Werk verfassen, an dem er in unseren Salzburger Jahren fleißig arbeitete. Es hieß Spiel und Maske in Salzburg. Vom barocken Schauplatz bis zu den Salzburger Festspielen, wurde vom Anton Pustet Verlag zum Druck angenommen und vom Unterrichtsministerium mit einer Subvention gefördert. Bevor es erscheinen konnte, marschierte die Deutsche Wehrmacht in Österreich ein, und das Buch des Halbjuden Dr. Ludwig Schönwald verschwand aus dem Verlagsprospekt.

Nach 1945 hat sich kein Verlag für dieses Manuskript interessiert. Es war für die damalige Zeit offenbar zu wissenschaftlich, das Barocktheater in Salzburg lockte keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Die Leute wollten lieber etwas über die Amouren und Lemuren der Salzburger Festspiele lesen, über die Salzburger Nockerln, den Salzburger Schnürlregen, den Salzburger Trachtenjanker, die Salzburger Haferlschuhe, die Kragenweite des Jedermann, den Busen der Buhlschaft, die Wespentaille der Opernsängerin Maria Cebotari, den Taktstock des Dirigenten Clemens Krauss, die faden Witze des Komponisten Richard Strauss. Das Buch meines Vaters war definitiv keine Fremdenverkehrswerbung, die man ja wieder sehr intensiv betrieben hat, damit Geld ins Land kommt.

Mein Vater hatte die Angewohnheit, sich mit allen Leuten zu überwerfen. Mit seinen Nachbarn tobte er immer im Garten herum, dabei ging es um irgendwelche Sträucher, die schon wieder zu uns rübergewachsen waren, oder ähnliche Kindereien. Er hatte kaum Freunde, die wenigen konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Ich erinnere mich, dass er im Wohnzimmer abends oft mit einem ungarischen Edelmann, dem Baron Erös von Bethlenfalva, zusammensaß und politisierte. Dabei war meine Gegenwart selbstverständlich unerwünscht. Aber altklug, wie ich war, lauschte ich heimlich ihren Gesprächen. Daladier wird sich das sicher gut überlegen, Chamberlain wird schon wissen, was er tut … Offensichtlich gaben sich beide der Illusion hin, dass die Westmächte oder irgendwelche höheren Gewalten die Annexion Österreichs verhindern würden. Hitler wird Österreich nicht einfach schlucken können, davon waren sie überzeugt. Sie wurden bitter enttäuscht. Daladier tat gar nichts, Chamberlain schon überhaupt nichts. Hitler ist einmarschiert, niemand hat es verhindert.

Der zweite Gesprächspartner meines Vaters war ein durchaus friedfertiger, gutmütiger Geistlicher namens Pater Virgil Redlich, Sohn des bekannten Historikers Oswald Redlich. Er war ebenfalls Geschichtsprofessor, Mönch im Benediktinerstift St. Peter, später Prior in der Abtei Seckau in der Steiermark, veröffentlichte ein Buch über Meßfeier als Lebensquell und ein zweites über Religiöse Lebensgestaltung, und mehr ist über ihn nicht zu sagen.

Ferner machte uns ein Graf Schaffgotsch des Öfteren seine Aufwartung. Er war nicht identisch mit seinem Namensvetter Franz Xaver Schaffgotsch, dem Schriftsteller und Übersetzer von Tolstoi und Gogol, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft 1920 als glühender Kommunist zurückgekehrt war und sich als Kofferträger am Wiener Westbahnhof in Milena Jesenská verliebte, nachdem er von seiner adeligen Familie enterbt worden war. Diesen Graf Schaffgotsch habe ich später einmal kennengelernt, zu meinem großen Vergnügen, denn er war eine ausgesprochen originelle Erscheinung. Der Salzburger Graf Schaffgotsch jedoch, auch Franz mit Vornamen, war Maler, Grafiker und Bühnenbildner am Salzburger Marionettentheater. Als ergebener Anhänger des Ständestaatregimes hatte er im Juli 1934 den Naziputsch in seiner Heimatgemeinde Lamprechtshausen niedergeschlagen und auch nachher noch dem einen oder anderen illegalen Böllerwerfer zu einem blauen Auge verholfen. Er versuchte immer wieder, meinen Vater davon zu überzeugen, dass mein Bruder und ich den Ostmärkischen Sturmscharen beitreten sollten, stieß aber auf taube Ohren. Zu seinem Glück befanden sich der Graf und seine jüdische Frau Hedwig im März 1938 gerade auf einer Italienreise, sonst hätten ihn die Nazis sicher erschlagen. Von seinem späteren Schicksal — er kam 1942 unter ungeklärten Umständen in Dubrovnik ums Leben, in einem deutschen Internierungslager — erfuhr ich erst aus den Lebenserinnerungen seiner Frau, die die Naziherrschaft in Kroatien überlebt hatte.

Ansonsten erinnere ich mich noch verschwommen an den Schriftsteller Heinz Jonke-Zellhof, den mein Vater frei nach Homer »den göttlichen Sauhirten« nannte. Der saß polternd gelegentlich bei uns herum. Eines von seinen Theaterstücken wurde auf einer Freiluftbühne am Fuß des Untersberges aufgeführt, ich sah eine Vorstellung, kann mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Sooft ich später nach Salzburg kam, erkundigte ich mich nach Jonke-Zellhof. Niemand vermochte mir je etwas über ihn zu sagen.

Ja, und dann gab es noch die wenigen Nachbarn, mit denen sich mein Vater nicht zerstritten hatte. Einer war der Herr Häufler, ein Nazi, aber ein harmloser, was wir ihm nach dem Krieg auch bescheinigt haben. Er hatte eine Tochter in meinem Alter, war Geschäftsmann, fuhr einen tschechischen Tatra und genoss meine Wertschätzung, weil er mich gelegentlich darin mitnahm. Der zweite hieß Hödlmoser und war der pensionierte Dorfgendarm von St. Gilgen, von meinem Vater wegen seiner Haarfarbe als »der rote Bazi« bezeichnet. Hödlmoser war auch ein Nazi und hatte unglaublich krumme Beine, mit denen er auf dem Fahrrad in die Stadt strampelte. Seine Frau, die für die Nazis nichts übrighatte, stammte aus dem Waldviertel. Manchmal kam sie uns besuchen, unterhielt sich mit meiner Mutter und erzählte uns Buben wunderschöne Geistergeschichten, so dass sie von mir heiß geliebt wurde.

Zu den erfreulichsten Begebenheiten meiner Kindheit gehörten zwei Ferienaufenthalte an der Ostsee. Salzburg hatte damals ein furchtbares Klima, die meiste Zeit regnete es, und die Temperaturen stiegen oder fielen von einer Minute auf die nächste wie die Aktienkurse einer Scheinfirma auf den Kaimaninseln. Mein Bruder und ich husteten zum Gotterbarmen.

»Die Kinder müssen dringend ans Meer!«

An die Ostsee deshalb, weil unsere Eltern noch das Haus in Reinbek besaßen, das vermietet war, ehe es schließlich verkauft werden musste. Die Mieteinnahmen durften nicht nach Österreich ausgeführt werden. Also fuhr unsere Mutter mit meinem Bruder und mir im Sommer 1935 und nochmals im Jahr darauf mitten hinein ins Nazideutschland, um das Guthaben zu verprassen. Ich wäre an ihrer Stelle ja nicht hingefahren, aber sie kannte offenbar keine Berührungsängste. Mein Vater war nicht dabei, der musste das Haus hüten, in dem zur Festspielzeit zwei italienische Sängerinnen abstiegen. Halb Salzburg lebte vom Vermieten von Salons, Schlafzimmern und Abstellkammern an Akteure und Gäste der Festspiele.

Dass mein Vater nicht mitgekommen war, erwies sich als Glücksfall, denn er war im Allgemeinen unerträglich. Entweder bekam er einen Anfall übertriebener Fröhlichkeit. Dann war er imstande, ganze Eisenbahnwaggons voller Passagiere zu unterhalten. Oder er verfiel in tiefe Trauer und sprach tagelang kein Wort. War er schlecht aufgelegt, brüllte er herum. Bipolare Störung nennt man das heute. Jetzt war er einmal sechs Wochen weg. Das war lustig, meine Mutter ließ uns freie Hand, wir fuhren mit kleinen Schiffen, ritten auf kleinen Pferden, sahen den Fischern beim Fischen zu, pritschelten im seichten Wasser der Lübecker Bucht und wälzten uns im Sand. Gesund wurden wir auch. Mit dem Husten hatte es ein Ende. Wenn es darum ging, ihren Kindern etwas Gutes zu tun, war auf meine Mutter Verlass. Das möge ihr nicht vergessen werden.

Mein Vater, der Haustyrann, hatte auch seine guten Seiten. Und seine komischen. Mein Bruder und ich mussten um acht Uhr im Bett sein. Natürlich schliefen wir nicht, sondern schlugen Polsterschlachten oder erzählten uns Geschichten. Mein Vater war ständig bemüht, uns in flagranti zu ertappen. Das gelang ihm jedoch nie, weil die Treppe ins Obergeschoß bei jedem Schritt knarrte, egal, wie leise er auftrat. Sobald wir hörten, dass er im Anmarsch war, stellten wir uns schlafend. Er wiederum wusste, dass wir noch gar nicht schliefen, fand aber keine Gelegenheit, uns zu überführen. Denn wenn er gesagt hätte: »Ihr schlafts ja gar nicht«, hätten wir geplärrt: »Jetzt hast du mich aufgeweckt, dabei habe ich schon so gut geschlafen«, und ihm wäre nichts anderes übriggeblieben, als schuldbewusst wieder abzuhauen. Er stand also jeweils stumm vor unseren Betten, starrte eine Weile ins Dunkel und murmelte im Weggehen immer die gleichen Worte: »Falsche Jesuiten.«

Obwohl er uns Kindern und vor allem meiner Mutter jede Freude vergällte, schätzte, ja verehrte ich meinen Vater auch. Er konnte nämlich etwas, das ich über alle Maßen schätze, er konnte ausgezeichnet vorlesen. Meistens lehnte er meine Bitte ab, aber hin und wieder ließ er sich doch erweichen. Die »Hexenküche« und »Auerbachs Keller« aus GoethesFaust konnte ich gar nicht oft genug hören. Mein absolutes Lieblingsstück war jedoch Der Barometermacher auf der Zauberinsel von Ferdinand Raimund. Auch Heines Gedicht »Die Wallfahrt nach Kevlaar« konnte er wunderschön vortragen. Ich zweifle nicht daran, dass er uns im Grunde seines Herzens mochte. Speziell mit mir war er durchaus einverstanden, als er feststellte, dass ich gewisse Interessen zeigte, die sich mit seinen Vorlieben trafen: läppische Versuche meinerseits, Gedichte zu schreiben, oder das absurde Detailwissen, das ich mir über die Wappen der Salzburger Erzbischöfe aneignete. Damit protzte er dann vor dem schon erwähnten Pater Virgil Redlich, dem vor all den Löwen, Hüten und Quasten, die ich ihm in allen Einzelheiten beschrieb, das große Gähnen kam. Die Tatsache, dass wir aufgrund seines unerklärlichen Widerwillens von anderen Kindern ferngehalten wurden, sollte sich für uns bald als vorteilhaft erweisen. Denn als wir darauf angewiesen waren, uns allein durchzuboxen, spürten wir keinen Verlust, weil wir das Alleinsein gewohnt waren.

Spazierengehen gehörte nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Hierfür war ich zu faul und körperlich zu träge. Trotzdem sind wir mit meiner Mutter an die frische Luft gegangen, meistens am Gaisberg, auf die Judenalm, wo Segelflieger von Mannschaften mit langen Gummiseilen in die Luft katapultiert wurden. Zufällig waren wir auch an jenem geschichtsträchtigen Tag auf der Judenalm unterwegs, an dem die Wehrmacht in Salzburg einmarschierte. Die Sonne schien, kein Hauch regte sich, und von der Stadt herauf war ein vielstimmiges Gebrüll zu hören, wie bei einem Fußballspiel nach dem Goal, nur ohne Unterbrechung. Das war umso auffälliger, als aus dieser griesgrämigen Stadt, auf die tagein, tagaus der Regen runtertropfte, nie ein lauter Ton gedrungen war. Außer »Grüß Gott« oder »Na ja« oder »Wissen S’ eh, wie’s halt so geht« war nichts zu hören gewesen. Auf einmal öffneten sich also die Herzen der schlecht gelaunten Lodenmantelbesitzer ebenso wie die der nicht minder verdrossenen, armselig gekleideten Arbeitslosen. Aus der Nähe konnte ich den Rauschzustand, in den sie durch den Einmarsch der deutschen Truppen versetzt worden waren, nicht beobachten, denn in diesen entscheidenden Stunden war ich nicht am Domplatz.

Salzburg im Flaggenschmuck. Ich sehe vor mir noch die Staatsbrücke mit den vielen Hakenkreuzfahnen. Die hatten sie auf einmal alle. Jeder trug auch schon sein Parteiabzeichen auf dem Revers. Unser Oberlehrer Hans Jöchl, ein Tiroler, der als frommer Katholik jeden Sonntag in der Franziskanerkirche die Messe dirigierte, hatte schon vor dem Einmarsch ein Hitlerlied gedichtet und komponiert, das er nun flugs aus der Schreibtischlade zog, um es mit uns Schulkindern einzustudieren. Wir mussten es auswendig lernen, und wie alles Überflüssige ist es mir bis heute im Gedächtnis geblieben: »Wacht auf, wacht auf, ein Wunder ist geschehen. Wir sind befreit von aller Not und Qual. Im ganzen Lande Hitler-Fahnen wehen und Herzen brennen lodernd ohne Zahl …« Das wurde also gesungen, die Melodie in Moll, was eigentlich ungewöhnlich war, weil die Nazilieder für gewöhnlich einen eher optimistischen Ton hatten. Der Herr Oberlehrer war vielleicht gar kein so schlechter Musiker, ich weiß es nicht.

Außer mit dem Singen derart erhebender Weisen waren wir in der Schule jetzt hauptsächlich mit dem Aufsatzschreiben zum Thema »Der Führer kommt nach Salzburg« beschäftigt. Ich entwickelte eine gewisse Spottlust. Zum Beispiel erschien mir ein Mädel in unserer Klasse als äußerst lächerlich, das auf die Frage, was es am sechsten April auf dem Residenzplatz erlebt habe, mit versagender Stimme und gesenktem Blick zur Antwort gab: Der Führer habe ihre Wange getätschelt. Das wurde mit Ergriffenheit zur Kenntnis genommen. Ich seh sie heute noch vor mir, ein eher hässliches Mädchen, die einzige Protestantin in der Klasse, und die Handbewegung, mit der sie sich in einer Mischung aus Demut und Stolz eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Ich dachte, jetzt wirst du dich wahrscheinlich nicht mehr waschen oder dir ein Taferl um den Hals hängen. Aber ganz wohl war mir nicht bei dem Gedanken. Irgendwie ahnte ich, dass es anfing, ungemütlich zu werden.

Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen, wieso man über etwas Bescheid weiß, das einem nie jemand erklärt hat. Wieso erfasst man einen Sachverhalt, obwohl einem die Zusammenhänge unklar sind, und wieso vermag man aus dieser Unklarheit die richtigen Schlüsse zu ziehen? Bis jetzt war Antisemitismus nie an mich herangetragen worden. Von Juden wusste ich nicht mehr als die etwas verwirrende Kunde, dass sie Jesus gekreuzigt hatten, der aber selbst ein Jude gewesen war. Ich wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man mir gesagt hätte, dass es Juden nicht nur in Jerusalem gibt. Dass jemand bald nach dem Einmarsch das Wort »Juden« auf unser Gartentor geschmiert hatte, nahm ich nicht persönlich. Von Hitler wusste ich zwar, dass er was Schlimmes bedeutete, aber was genau und warum, das hatte mir nie jemand dargelegt. Bei einem Aufmarsch, bei dem wir zwei Stunden lang vergeblich auf sein Erscheinen gewartet hatten, ehe wir durchfroren und patschnass nach Hause geschickt wurden, beschlich mich jedoch auf einmal das Gefühl, bei einer Sache mitzumachen, bei der ich nichts verloren hatte. Deshalb war ich auch nicht besonders überrascht, als mich meine Eltern Anfang Mai oder Ende April aus der Schule nahmen. Du kommst jetzt weg, hieß es, in ein Internat. Wie sie sich darüber verständigt hatten, weiß ich nicht. Jedenfalls war klar, dass unsere Zeit in Salzburg abgelaufen war. Ich verließ die Stadt ohne Bedauern und trotz meines verfrühten Abgangs mit dem Abschlusszeugnis der vierten Klasse Volksschule, lauter Einser bis auf einen Zweier in Leibesübungen. Mein Bruder sollte noch das Schuljahr zu Ende bringen, dann würde er mir folgen.

In ganz Deutschland einschließlich der Ostmark hätte uns kein Gymnasium mehr aufgenommen. Daran war der fehlende Ariernachweis schuld. Aber in St. Blasien im Schwarzwald gab es seit 1934 ein großes Knabeninternat mit angeschlossener Oberschule, das von deutschen Jesuiten geführt wurde, die über unser angebliches Judentum einfach hinwegsahen. Es war 1934 als Dependance des weithin bekannten Jesuitenkollegs Stella Matutina von Feldkirch gegründet worden, das wegen der von Hitler verhängten Tausend-Mark-Sperre Schülern aus Deutschland nicht mehr offen gestanden war. Wahrscheinlich hatte mein Vater seine katholischen Beziehungen spielen lassen, damit ich und bald nach mir auch mein Bruder in St. Blasien zugelassen wurden, was in seinem Fall besonders großzügig war, weil er nur drei Klassen Volksschule absolviert hatte.

Zunächst war ich in St. Blasien stockunglücklich. Ich erinnere mich an Weinkrämpfe nachts, wenn ich im großen Schlafsaal in meinem Alkoven lag. Offenbar machte ich einen völlig hilflosen Eindruck, da ich aufgrund der Isolation, in der mich mein Vater gehalten hatte, beim besten Willen nicht wusste, wie ich agieren sollte, um Freunde zu gewinnen. Wobei ich betonen muss, dass die anderen Kinder in den ersten Tagen sehr nett zu mir waren. Erst als sie merkten, dass mit mir überhaupt nichts anzufangen war, trat eine gewisse Entfremdung ein. Kein Wunder, ich war in meiner Not völlig auf mich gestellt und den Präfekten und Lehrern des Ordens ausgeliefert. Die Erziehung war streng, hielt sich aber im Rahmen des Erträglichen. Den Jesuiten war ja nicht daran gelegen, die Buben zu frommen Kerzenschluckern zu dressieren, sie folgten vielmehr dem Ideal der Manneszucht: Reife, Würde, Ehre, um junge Menschen heranzubilden, durch die sie später auf Politik und Wirtschaft Einfluss nehmen konnten. Deshalb verwehrten sie den Buben auch nicht, eigene Initiativen zu ergreifen und sich einmal am Tag auszutoben. Ich beobachtete meine Mitschüler bei ihren Spielen und Klüngeln, war aber vorerst unfähig, daran teilzunehmen. Dann fing ich an, mich aufzurappeln. Nicht immer in meinem Leben bin ich so zielstrebig vorgegangen wie in St. Blasien, wo mir mit einem Mal fixe Vorstellungen von meiner Zukunft kamen. Meine Absicht war, ein, zwei Jahre lang durchzuhalten, bis ich kein Außenseiter mehr wäre. Allmählich freundete ich mich sogar mit dem einen oder anderen Buben an.

Die Nachmittage verbrachte man hauptsächlich im sogenannten Studium. Das war der Saal, in dem die Aufgaben gemacht werden mussten. Jeder Schüler hatte sein eigenes Pult, so dass immer dieselben Buben einer Abteilung — meine umfasste die erste, zweite und dritte Klasse — nebeneinandersaßen. Ich kam ausgerechnet neben Maria Emanuel Markgraf von Meißen und Kronprinz von Sachsen zu sitzen, also dem zukünftigen Haupt des Hauses Wettin und König von Sachsen, nur dass es das Königreich Sachsen schon seit längerem nicht mehr gab. Um polnischer König zu werden, war August der Starke seinerzeit zum Katholizismus übergetreten, was von seinen protestantischen Untertanen toleriert wurde, seine Nachfahren blieben katholisch, und deshalb wurden die Prinzen in einem Jesuiteninternat erzogen.

Maria Emanuel saß im Studium also neben mir und war hauptsächlich damit beschäftigt, Lampensysteme zu installieren, damit rotes Licht aufleuchtete, wenn jemand sein Pultfach öffnen wollte, in dem er Modelleisenbahnen im Kreis fahren ließ. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je ein Heft oder ein Buch in die Hand nahm oder seine Rechenaufgaben machte. Er war zwei Jahre älter als ich, mir also körperlich überlegen, und wirkte eigentlich recht bürgerlich, wenn man von seiner Rauflust und seinem Jähzorn absieht. Mir brachte er durchaus Sympathien entgegen. Sooft mich jemand verprügeln wollte, baute er sich mit dem drohenden Ruf »Dixi steht unter Naturschutz!« vor dem Angreifer auf. Das hieß, Dixi — also ich — durfte nicht verdroschen werden. Einmal ermahnte ich ihn, wenigstens ein bisschen was zu lernen, denn es ging schon auf Ostern zu, davor gab es die Prüfungen, und wer durchfiel, wurde nicht versetzt. Es war natürlich streng verboten, sich im Studium miteinander zu unterhalten, und so murmelte er nur: »Wenn du glaubst, dass die Pfaffen mich durchfallen lassen werden, dann irrst du dich.« Ich irrte mich tatsächlich, die Pfaffen haben ihn nicht durchfallen lassen.

Jahrzehnte später las ich in einer Zeitung, dass er 1943, als Siebzehnjähriger, wegen Wehrkraftzersetzung und Rundfunkverbrechen verhaftet wurde und der Todesstrafe nur durch Zufall — der für seinen Volksgerichtsprozess vorgesehene Blutrichter Roland Freisler war bei einem Bombenangriff umgekommen — und wegen guter Beziehungen seines Vaters zu hochrangigen Nazifunktionären entging. Ein anständiger Bursche also. Maria Emanuel ist uralt geworden, und Freunde in Sachsen haben mich immer wieder aufgefordert, meinem Berufskollegen — er betätigte sich nach dem Krieg als Maler und Grafiker — doch einen Brief zu schreiben. Das habe ich nicht getan, er hätte sich gedacht, was will dieser Schnorrer von mir, und zu einem Wiedersehen anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens von St. Blasien, 1984, ist es aus privaten Gründen nicht gekommen.

Wie schon erwähnt, legte ich im Internat eine gewisse Zielstrebigkeit an den Tag, die mir in meinem späteren Leben wieder abhandengekommen ist. Ich wollte mich behaupten und traf dafür auch die richtigen Entschlüsse. In der Zuversicht, zum allgemeinen geistigen Aufschwung etwas beitragen zu können, verfiel ich auf den Gedanken, dem sogenannten Geheimklub beizutreten. Ihm gehörte die Elite der Jesuitenzöglinge an, eine dünne Bubenoberschicht, die im Schwarzwald eine eigene Hütte besaß. Wehe, man kam ihr zu nahe, dann flogen einem die Tannenzapfen um die Ohren. Damals gab es noch Tannen im Schwarzwald, heute gibt’s nur noch Fichten. Nun konnte man dem Geheimklub aber nicht einfach beitreten, sondern musste von einem Mitglied vorgeschlagen werden. Es verstand sich von selbst, dass Maria Emanuel diesem Klub angehörte. Und so, wie ein Fabrikdirektor einen anderen Fabrikdirektor um dessen Unterstützung bittet, um bei den Freimaurern aufgenommen zu werden, trug ich ihm mein Anliegen vor. Nachdenklich meinte Maria Emanuel, dass in zwei Wochen ohnehin die Generalversammlung anstehe, dort werde er meinen Antrag zur Abstimmung bringen, aber ich möge mir keine Hoffnungen machen, ich würde nicht genug Stimmen bekommen. Trotz dieser Auskunft war ich auf das Ergebnis neugierig. Es war, wie mir Maria Emanuel nach vierzehn Tagen mitteilte, zwar so ausgefallen, wie er es prophezeit hatte, allerdings hätte ich mehr Stimmen als von ihm erwartet bekommen. Deshalb könne ich mir gute Chancen ausrechnen, im nächsten Jahr in den Geheimklub aufgenommen zu werden. Dann musterte er mich kurz und sagte: »Na ja, so viel dran ist an dir ja auch nicht.« Einer musste es mir endlich sagen.

Das war also mein vergeblicher Versuch, den Geheimklub zu unterwandern. Im Jahr darauf gab es ihn nicht mehr, und auf den Grund hierfür werde ich gleich zu sprechen kommen. Zuvor erwähne ich noch ein anderes Ziel, das ich mit ähnlich großem Ehrgeiz verfolgte. Ich bekam Klavierstunden beim Musiklehrer des Internats, Herrn Böllinger, der in der Stiftskirche — einem architektonischen Glanzstück mit der drittgrößten Kuppel Europas — die Orgel spielte und den Chor leitete, in dem ich unbedingt mitsingen wollte. Herr Böllinger stand meinem Ansinnen eher skeptisch gegenüber, aber ich fiel ihm so lange lästig, bis er sagte: »Na gut, in Gottes Namen«, und mich in den Altstimmen einreihte. Er studierte mit uns seltene Choräle ein, alte Musik, oft noch aus dem Mittelalter. Manchmal ließ er uns auch seine eigenen Kompositionen singen, die Vertonung eines Morgenstern-Gedichts zum Beispiel, bei der sich meine Begeisterung in Grenzen hielt. Über Hitler wurde uns im Übrigen nichts mitgeteilt. Wir waren beschäftigt mit der Verehrung der hehren Himmelskönigin Stella Matutina und beharrten darauf, dass Christus — und nicht Hitler — der »Herrscher auch unserer Zeit« ist. »Wir sind bereit, rufet es weit, Christus ist Herrscher auch unserer Zeit«, das war eines der Lieder, die leicht provokant gesungen wurden. Ich habe es nach meinen anfänglichen Schwierigkeiten in St. Blasien recht gut ausgehalten.

Einmal wurde die Alltagsroutine durch einen unerwarteten Vorfall unterbrochen, in dessen Mittelpunkt ein etwas verstört wirkender, dicklicher, unbeholfener Bub namens Hildebrandt stand. Er war nicht imstande, auch nur die geringste Ordnung zu halten. Das Durcheinander in seinem Pult spottete jeder Beschreibung. Dagegen sollten Erziehungsmaßnahmen gesetzt werden. Die Aufgaben von Erziehern und Psychologen wurden von jungen Patres übernommen, die dafür nicht ausgebildet waren und außerdem durch das Studium, das ihnen viel Arbeit abverlangte, das Zölibat und ähnliche Beschwerden überfordert waren. So verfielen sie dem Irrglauben, den hilflosen Hildebrandt besonders streng bestrafen zu müssen, sonst würde er sich’s nicht merken.

Strafen wurden in St. Blasien folgendermaßen vollzogen: Der Präfekt schrieb die Missetat, die der Schüler begangen hatte, auf Latein auf einen Zettel. Mit diesem Zettel in der Hand klopfte er an die Tür des Pater Generalpräfekt. Der Pater Generalpräfekt öffnete, las den Zettel und rief den Missetäter zu sich: »Ist das wahr, was hier steht, dass du das und das getan hast?« Der Missetäter, der als echter deutscher Junge nicht lügen wollte, erwiderte: »Ja, das ist wahr, das habe ich getan.« Worauf — das könnte man jetzt natürlich etwas ausschmücken — in der kargen Mönchszelle, in der nur ein eisernes Bett stand und ein Kruzifix an der Wand hing, der hohlwangige Mönch mit den schwarzen, stechenden Augen einen Rasierriemen vom Haken riss und damit auf das Patschhändchen des Delinquenten einschlug. Das tat weh. Und damit war man auch schon wieder aus der Zelle entlassen. Der Jesuitenschüler James Joyce hat diesen Vorgang sehr anschaulich beschrieben.

Eine »Tatze«, darüber brauchte man kein Wort zu verlieren. Eine zweite hat schon irgendwie Wirkung gezeigt. Drei Tatzen habe ich nie gekriegt, ich weiß daher nicht, wie sich das angefühlt hat. Und vier Tatzen, die es in ganz schweren Fällen gab, hätten ausgereicht, um das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag anzurufen. Der Pater Generalpräfekt führte diese Exekutionen sehr ungern durch, weil er sich — wie ich später erfahren habe — vor den Kindern fürchtete und froh war, als er feststellte, dass sie sich vor ihm fürchteten.

Man musste gelegentlich bestraft werden, das heißt, man legte es darauf an, von den Pfaffen aufgeschrieben zu werden, andernfalls hätte man als Schlappschwanz gegolten. Wer es nicht darauf anlegte, das war der arme Hildebrandt, der vollkommen hilflos und mehr oder weniger unzugänglich war und wegen irgendwelcher Schlampereien zum Pater Generalpräfekt geschickt wurde. Eines Tages kam er heulend aus der kargen Mönchszelle heraus- und in das Studium hereingelaufen, wo er seine roten geschwollenen Finger von sich streckte. Er hatte vier Tatzen auf jede Hand gekriegt.

Nun gab es in der Bibliothek — also dort, wo man sich Karl-May-Romane ausborgen konnte, die mich viel weniger interessierten als die Seeräubergeschichten von Robert Louis Stevenson und Friedrich Reck-Malleczewen — einen Briefkasten für Anregungen und Beschwerden, von dem ich leider keinen Gebrauch machte. Denn am Abend nach Hildebrandts Bestrafung geschah Folgendes: Alle Schüler versammelten sich im Speisesaal und warteten, dass die große Glastür aufgehen und ein Laienbruder namens Sämli einen Kessel mit heißer Suppe auf Rädern hereinrollen und die Suppe austeilen würde. Aber nichts dergleichen geschah, die Glastür blieb verschlossen. Unser Präfekt Pater Hänsli, ein aus der Schweiz stammender, etwa dreiundzwanzigjähriger Jesuit, stand mit versteinerter Miene auf einer Art Podest und sagte: »Alle aufstehen, keiner bleibt sitzen!« Wir erhoben uns. »Bevor wir essen, muss noch etwas abgehandelt werden. Ich hab hier eine Menge Briefe bekommen, die lese ich jetzt vor. Erster Brief: ›Das ist eine Gemeinheit mit dem Hildebrandt. Sie müssten doch wissen, dass der nicht so kann und dass er nicht so ist wie wir. Eine Schweinerei.‹ Der zweite: ›Ein aufgelegter Schwachsinn. Hildebrandt darf in dieser Weise nicht bestraft werden. Man weiß ja, dass der einen guten Willen hat, aber einfach keine Ordnung halten kann. Schämt euch!‹« So ging das weiter, ungefähr zehn Briefe, die ganz oder teilweise verlesen wurden. Dann sagte Pater Hänsli: »Ich will wissen, wer die Briefe geschrieben hat.« Denn sie waren anonym. »Bevor ich das nicht erfahre, gibt’s nichts zu essen.« Sitzen durfte man auch nicht, alle Buben standen an ihren Tischen, Hänsli auf seinem Podest. Hinter der Glastür wurde die Suppe des Sämli kalt. Wir standen fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten. Dann ging ein Bub von seinem Tisch weg, auf den Präfekten zu und sagte: »Pater Hänsli, Sie können uns auch noch bis nach Mitternacht stehen lassen, und Sie werden nicht erfahren, wer die Briefe geschrieben hat.« Der Mann überlegte kurz, dann sagte er: »Setzen!« Sämli kam rein mit der kalten Suppe, es wurde gegessen und nie wieder ein Wort über die Angelegenheit verloren.

Zu meiner Schande war ich nicht unter den Briefeschreibern gewesen. Das hätte ich eigentlich auch tun sollen, dachte ich. So lernte ich langsam dazu, und an der nächsten Aktion hätte ich mich wahrscheinlich beteiligt. Aber dazu kam es genauso wenig wie zur nächsten Generalversammlung des Geheimklubs, denn die Nazis hatten sich spät, aber doch entschlossen, das Internat aufzulösen. Die Jesuiten kämpften mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln um seinen Erhalt. Dabei kam es zu einer seltsamen Personalunion. Aus taktischen Gründen hatte sich der Pater Direktor zum HJ-Führer des Internats aufgeschwungen. Ich erinnere mich, dass einmal die Hitlerjugend im Hof aufmarschiert ist, in glühender Hitze, und sich auf der zum Hitlergruß erhobenen rechten Hand des Direktors eine grüne Schmeißfliege niedergelassen hat. Das war wahrscheinlich der Teufel. Genützt hat auch der nichts, die Nazis waren nicht davon abzuhalten, das Internat zu schließen. Zu Ostern 1939 mussten wir unsere Koffer packen.

In der Zwischenzeit hatten meine Eltern das Haus in Salzburg vermietet und waren anschließend nach Hamburg gezogen, wo sich meine Mutter endlich von meinem Vater trennte. Vielleicht hätte sie seinen Hirngespinsten weiterhin nachgegeben. Aber wenn es um ihre Kinder ging, wurde sie zur Löwin. Als Erstes setzte sie sich über sein Verbot hinweg und nahm Verbindung zu ihrer Mutter Lilly Pringsheim in Breslau und zu deren Bruder Franz Hutter in den Vereinigten Staaten auf, der als Verleger außerordentlich erfolgreich war, schon mit siebenundzwanzig Jahren eine Direktorenstelle bei Ullstein bekleidet hatte, nach dem Ersten Weltkrieg von England aus in die USA gegangen war und unter dem anglisierten Vornamen Francis im Presseverlag McCall Corporation Karriere machte. Er war sofort bereit, sie in ihrem Vorhaben, meinen Bruder und mich außer Landes zu bringen, finanziell zu unterstützen. Emigrieren kostete Geld, das wird heute vielfach übersehen, und deshalb haben fast immer nur die Begüterten und Einflussreichen ihre Haut retten können. Jedenfalls gelang es ihr mit seiner Hilfe, in England eine Familie aufzutreiben, die bereit war, uns aufzunehmen. Wir hatten auch schon die erforderlichen Papiere sowie zwei Schiffskarten für einen Passagierdampfer, der in der dritten Septemberwoche im Hamburger Hafen vor Anker gehen und uns nach England bringen sollte. Nur ist am ersten September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und deshalb hat kein britisches Schiff mehr in Hamburg angelegt.

Wir lebten mit meiner Mutter in einer Pension, die von zwei unverheirateten Schwestern, Anna und Klärchen Lehmann, geführt wurde. Die beiden waren schon um die siebzig, hatten ein großes Mundwerk, einen scharfen Verstand und einen dicken, trägen und süffelnden Bruder, den Onkel Richard, dem man nie etwas Jüdisches angemerkt hätte. Die Pensionsgäste standen entweder im Begriff zu emigrieren oder bemühten sich noch um ein Visum. Der Pension Lehmann war eine Privatschule angeschlossen, in der ein Fräulein Bernauer mehr schlecht als recht jüdische Kinder unterrichtete. Wie das im Einzelnen vor sich ging, weiß ich nicht mehr. Ein Ereignis ist mir jedoch in Erinnerung geblieben, die Aufführung eines Einakters, den mein Vater für die Kinder geschrieben hatte, in Versen, so etwas konnte er von einem Tag auf den andern aus dem Ärmel schütteln. Mein Bruder gab darin das Schulteufelchen. Ich fing damals an, selbst Stücke für ein Kasperltheater zu verfassen, drapierte Puppen mit Stoffresten, entwarf auch das Bühnenbild und führte Regie. Meine Glanzleistung war die Dramatisierung des Märchens Das kalte Herz von Wilhelm Hauff, das von mir und meinem Bruder aufgeführt wurde. Die Pensionsgäste waren davon sehr angetan. Unter ihnen befand sich ein sehr netter Arzt, der Herr Dr. Goldschmidt, der meinem Bruder und mir — wir waren damals zehn bzw. elf Jahre alt — die erste Zigarette unseres Lebens schenkte. Eine besonders schöne, mit einem goldfarbenen Mundstück. Wir standen hustend und qualmend, aber der Bedeutung des Augenblicks durchaus bewusst in einer Ecke, als wir vom Dienstmädchen aufgescheucht wurden, das vor Entsetzen über unser ruchloses Tun die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Goldschmidt war Kettenraucher und Herzspezialist. Dass das eine das andere eigentlich ausschloss, schien ihn nicht zu beunruhigen.

Jetzt war also Krieg. Onkel Richard kakelte mit Hamburger Akzent, dass er kein gutes Ende nehmen werde. Überhaupt war die Stimmung flau, nicht nur in unserer Pension. Für die anglophilen Hanseaten in den Villenvierteln war es klar, dass man gegen England keinen Krieg gewinnen konnte. Ich schnappte Gerüchte auf, dass man schleunigst die Luftschutzkeller aufsuchen solle, weil die Royal Air Force Angriffe auf Hamburg fliegen werde. Es wäre interessant zu erfahren, woher diese Idee kam, denn es gab damals noch keine Bombardements von Städten, außer von Guernica und anderen spanischen Ballungszentren durch die Legion Condor oder die italienische Luftwaffe, und dann natürlich Warschau. Jedenfalls waren die Hamburger nicht gerade kriegsbegeistert und begannen, Vorkehrungen zu treffen. Meine Mutter beispielsweise kaufte drei Kilo Mehl, zwei Liter Öl und sechs Seifen, etwa in dieser Größenordnung, denn der Krieg werde ja nicht lange dauern. An diese Prophezeiung erinnere ich mich auch deshalb, weil mein Bruder und ich gehalten waren, hin und wieder unseren Vater zu besuchen, der irgendwo in der Stadt in einem großen finsteren Untermietzimmer hauste, wirres Zeug redete, ständig in die Kirche rannte, Gedichte schrieb und uns in unnatürlichen Anfällen von Fröhlichkeit zum Sekttrinken aufforderte. Sicher hat ihn meine Mutter erhalten. Er verfügte über keine Fertigkeiten, mit denen er sich in dieser Notlage behaupten hätte können. Dass er im Ersten Weltkrieg Leutnant und dann Oberleutnant gewesen war, interessierte niemanden, und vom Schreiben konnte er nicht leben, dafür hätte er der Reichsschrifttumskammer beitreten müssen, was ihm als Halbjuden verwehrt war.