Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja - Liliana Kern - E-Book

Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja E-Book

Liliana Kern

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Beschreibung

Am 26. März standen sechs junge Leute vor Gericht. Sie wurden beschuldigt, den Zaren Alexander II. ermordet zu haben. Unter ihnen befand sich auch eine junge Frau: `Ich heiße Sofja Perowskaja und bin adliger Herkunft. Ich bin 27 Jahre alt und wohne in der Perwaja-rota-Ismailowskogopolka-Straße in St. Petersburg. Von Beruf bin ich Revolutionärin.´ Das war die Antwort der zierlichen Frau auf die Aufforderung des Vorsitzenden Richters, ihre persönlichen Daten dem Gericht mitzuteilen. Die Tochter des ehemaligen Generalgouverneurs von St. Petersburg, des Grafen Lew Perowski, aus einem der ältesten aristokratischen Geschlechter Russlands, saß wegen Mordes auf der Anklagebank.-

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Liliana Kern

Die Zarenmörderin

Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja

Biografie

Saga

Prolog

»Heute um 13 Uhr und 45 Minuten, bei der Rückkehr des Zaren-Imperators aus der Michailow-Manege wurde ein Bombenattentat auf das heilige Leben Seiner Majestät verübt. Es geschah am Ufer des Katharinen-Kanals, in der Nähe des Ingenieurpalastes. Die erste Explosion beschädigte lediglich die Equipage Seiner Majestät, die zweite dagegen fügte dem Zaren schwere Verletzungen zu. Unterwegs zum Winterpalast gelang es Seiner Majestät noch, die Letzte Ölung zu empfangen. Um 15 Uhr und 35 Minuten starb er in Gottes Gnade«, berichtete am Abend des 1. März 1881 Prawitelstwennyj westnik (Der Regierungsbote) in seiner Extraausgabe.

Am 26. März standen sechs junge Leute vor Gericht. Sie wurden beschuldigt, den Zaren Alexander II. ermordet zu haben. Unter ihnen befand sich auch »eine junge Frau. An ihrem winzigen, runden Gesicht – wie das eines Kindes – fiel sofort die ungewöhnlich hohe Stirn auf, deren Wölbung das bescheidene schwarze, mit einem schneeweißen Kragen verzierte Kleid noch stärker zum Ausdruck brachte«. Auf die Aufforderung des Vorsitzenden des Gerichtssenats, des Richters Eduard Fuchs, erhob sie sich:

»– Angeklagte, nennen Sie Ihren Namen, Ihr Alter und Ihre Standeszugehörigkeit.

– Ich heiße Sofja Perowskaja, bin 27 Jahre alt und adeliger Abstammung.

– Was sind Sie von Beruf?

– In der letzten Zeit war ich als Revolutionärin tätig.

– Wo waren Sie zuletzt wohnhaft?

– In der Perwaja-Rota-Ismailowskowo-Polka-Straße, Nummer 17–18.

– Welcher Religion gehören Sie an?

– Ich bin orthodox.

– Haben Sie eine Kopie der Anklageschrift erhalten?

– Ja, habe ich.«

Gefasst nahm sie wieder auf der Anklagebank Platz. Sichtbar erschöpft und blass hörte sie apathisch zu, wie ihre Kameraden nun auf dieselben Fragen antworteten. Regungslos blieb Sofja auch, als der Staatsanwalt die Anklageschrift verlas und schimpfende Zurufe aus dem Publikum seine Rede ab und zu unterbrachen. Auch die Worte ihres Geliebten, der ihr stets etwas ins Ohr flüsterte, ließen sie unbeeindruckt. Sie saß da, als wäre sie lediglich eine Zuschauerin, als befände sie sich rein zufällig im Gerichtssaal, als ginge sie das alles, was um sie herum geschah, letzten Endes gar nichts an.

1. Kapitel

Ein Mädchen aus gutem Hause

Niemand konnte ahnen, dass es so weit kommen würde. Niemand! Denn es waren glückliche Zeiten, sehr glückliche sogar, und die ganze Welt schien in Ordnung zu sein. Damals, als Graf Lew Perowski noch beim Zollamt beschäftigt war und mit Frau sowie vier Kindern in der Gorochowaja-Straße, im Herzen von Sankt Petersburg, wohnte. Damals, als sich die Perowskis von anderen Familien in keinerlei Weise unterschieden, als sie sich noch an den typischen, streng ritualisierten Lebensstil des russischen Beamtentums hielten, wo ein Tag dem anderen ähnelte, wie Perlen an einer Kette: Der Graf ging seiner Arbeit nach, Ehefrau Warwara sorgte für den Haushalt und die Kindererziehung, die Mahlzeiten fanden immer im ganzen Familienkreis und zur gleichen Uhrzeit statt, abends stattete man Besuche ab oder empfing Gäste, wobei die Männer Karten spielend über Politik diskutierten, während die Frauen Klatschgeschichten austauschten oder über familiäre Angelegenheiten plauderten. Die Sommer verbrachten die Perowskis irgendwo auf dem Lande, in einem gemieteten Ferienhaus, wo sie dann auch bis zu den ersten Schneeflocken blieben.

Aber der Graf war ein ehrgeiziger Mann und hegte den Wunsch, auf der Karriereleiter weiter nach oben zu klettern. Seine hiesige Stellung betrachtete er lediglich als eine vorübergehende Lösung auf der Suche nach gehobeneren Posten. Da Perowski gerade nach Sofjas Geburt – sie erblickte am 1. September 1853 das Licht der Welt – so intensiv um den Berufswechsel bemüht war, dürfte neben dem Streben nach sozialem Aufstieg auch die finanzielle Enge eine gewisse Rolle gespielt haben. Seit kurzem besuchte sein achtjähriger Sohn Nikolaj ein nobles Internat, wofür Perowski natürlich tief in die Tasche greifen musste, und bald sogar noch tiefer, weil der vier Jahre alte Wassili in die Fußstapfen seines Bruders treten sollte. Dazu kamen noch die Honorare der Hauslehrer, welche die sechsjährige Marja unterrichteten, und jetzt war auch Sofja da. Obendrein gehörte der sparsame Umgang mit Geld nicht unbedingt zu den Stärken des Grafen.

Dass sein Anliegen nicht lange auf sich warten ließ, hatte Perowski der Hilfe zweier seiner Onkel väterlicherseits zu verdanken. Der eine von ihnen, Wassili, war Generalgouverneur von Orenburg und jener mit Ruhm bedeckte Feldherr, der die Grenzen des russischen Imperiums um die weiten Gebiete Mittelasiens erweitert hatte. Der andere, Boris, der ehemalige Erzieher von zwei Söhnen Alexanders II., befand sich zwar im Ruhestand, lebte aber weiterhin in Zarskoje Selo, in der unweit von Petersburg liegenden Sommerresidenz der Zarenfamilie, und unterhielt somit immer noch enge Kontakte zu den höchsten Hofkreisen. Die guten Worte, welche die einflussreichen Verwandten für ihren Neffen einlegten, verhalfen diesem zum Amt des Vizegouverneurs von Pskow, einer kleinen, südlich von Petersburg liegenden Stadt.

Sofja war drei Jahre alt, als die Perowskis das beste, im alten rustikalen russischen Stil errichtete Holzhaus im Ort bezogen. Es besaß ein Zwischengeschoss, und seine Giebel, Fenster und Verandabrüstung zierten dekorative Ornamente. Im weitläufigen, zur Hälfte mit Obstbäumen bepflanzten Garten gab es einen Teich voller Karauschen, nebenan stand ein Holzturm und wuchs ein uralter, schiefer, zum Klettern wie geschaffener Kastanienbaum. Als man dann auf dem Rasen auch noch Schaukeln und Wippen aufstellte, verwandelte er sich in ein echtes Spielparadies.

Wenn die Kinder nicht draußen tobten, waren sie um den Hauslehrer Wassilew versammelt. Er erteilte ihnen Unterricht in allen Fächern, ausgenommen davon waren lediglich Fremdsprachen: Denn Deutsch lernten sie von Amalia Karlowna, ihrer betagten deutschen Gouvernante, Französisch von der Mutter, welche ihnen ebenso beibrachte, wie man auf den Knien vor den Ikonen betete, bevor man zu Bett ging.

Mit dem kleinen Nachbarn, Nikolaj Murawew, der ein paar Jahre älter als Sofja war, freundeten sich die Kinder sehr schnell an und spielten tagtäglich zusammen. Sie retteten ihm sogar das Leben, als er einmal in den Teich fiel und beinahe ertrank. Seit dem Tod seiner Mutter – sie starb bei der Geburt des Jungen – lebte er allein mit seinem Vater Walerian, dem Pskower Generalgouverneur und dem Vorgesetzten des Grafen. Sofja hätte damals nicht ahnen können, dass ausgerechnet er, ihr ständiger Spielkamerad, etwa zwei Jahrzehnte später als Staatsanwalt im Prozess um den Zarenmord Anklage gegen sie erheben und sie vor Gericht bringen würde.

Der neue Dienst nahm den Grafen voll und ganz in Beschlag, so ließ er sich nur zur Mittagszeit im Familienkreis blicken. »Als Sonja1 etwa fünf Jahre alt war, kriegte sie ihren Stammplatz am Essenstisch«, schreibt Wassili Perowski, Sofjas Bruder, in seinen Memoiren. »Wenn der Vater gut gelaunt von der Arbeit zurückkehrte, pflegte er uns zu amüsieren. Er stellte Sonja tiefsinnige philosophische Fragen, die sie mit naiven, ja kindlichen Antworten erwiderte und dabei todernst blieb, während wir Tränen lachten. Überhaupt verhielt sich der Vater uns gegenüber sehr gut.« An den seltenen Abenden, die er zu Hause verbrachte, frönte Perowski mit seinen Freunden dem Kartenspiel bis tief in die Nacht, besonders gerne mochte er das Pikett.

»Noch an eine Episode aus unserem Leben in Pskow erinnere ich mich bis heute«, fährt Wassili Perowski fort. »Zu dieser Zeit wurden Räume mit Schmalzkerzen beleuchtet. Beim Kartenspielen lag neben den Spielern, auf dem Einsatztisch, eine kleine silberne Zange zur Entfernung von angebrannten Dochten parat. Auch wir Kinder machten abends unsere Hausaufgaben bei diesem Licht. Einmal brachte uns der Vater von seiner Dienstreise in Petersburg etwas Neues mit: eine ganze Kiste Stearinkerzen. Am 4. Dezember, zum Namenstag der Mutter, organisierten wir dann einen Ball, und dieser war außergewöhnlich gut besucht. Als alle Türen aufgemacht wurden, entstand ein märchenhaftes Bild. Die Lüster und Kandelaber, in denen natürlich die Stearinkerzen steckten, beschienen alle Zimmer samt dem Tanzsaal, was einen ganz besonderen Effekt erzeugte.«

Im Jahre 1858 erreichte die Familie die Nachricht vom Tod des Großvaters Nikolaj, der zusammen mit seiner Gattin Scharlotta auf der Krim, nahe der Stadt Simferopol, ansässig gewesen war. Der einstige Beamte im Innenministerium sowie spätere Zarendiplomat in China und Dänemark hatte zuletzt den Posten des Generalgouverneurs der Krim bekleidet, wo er auf »Kilburn«, auf einem seiner vier dortigen Landgüter, für immer geblieben war. Dank ihm »genoss die Familie Perowski auf der ganzen Halbinsel sehr hohes Ansehen«. Lew Perowski und sein jüngerer Bruder Petr erbten nun die Anwesen, was gleichzeitig deren Verwaltung beinhaltete. Da der im Außenministerium tätige Bruder stets an verschiedenen diplomatischen Missionen teilnahm, zeigte sich der Graf zu einem neuen Umzug bereit und bat abermals die Onkel, sich darum zu kümmern. Noch im gleichen Jahr erfolgte Perowskis Versetzung auf die Krim, wobei er seine bisherige amtliche Position beibehielt. Im Herbst wurde der Haushalt Hals über Kopf aufgelöst, das Mobiliar zu Spottpreisen verkauft: Eine Fahrt von über 2200 Kilometern stand der Familie bevor.

»Wir fuhren mit der Bahn über Sankt Petersburg nach Moskau. Von dort aus setzten wir die Fahrt in unseren Droschken und mit von der Post gemieteten Pferden fort. … Der Vater, brennend vor Ungeduld, war schon mit Nikolaj dorthin gereist«, erzählt Wassili Perowski weiter. »Wir kamen immer langsamer, immer mühsamer voran, sodass wir schließlich in jeder der Bahnstationen eine Übernachtungspause einlegen mussten. Am nächsten Tag besorgten wir dann auf den Ortsmärkten den notwendigen Proviant. Die Reise war mehr als anstrengend, weil der Mutter, unserer Gouvernante sowie Marja, Sonja und mir nur vier Sitzplätze zur Verfügung standen, außerdem quetschten wir da noch zwei neulich gekaufte Jagdhunde mit hinein. Obendrein trafen wir unterwegs auf eine endlose Kolonne von Fuhrwerken, auf denen reisende Händler Vieh oder Salz transportierten. Sie umhüllten uns mit einer Staubwolke und zwangen uns noch dazu, ihnen auszuweichen, nicht selten an einer dafür vollkommen ungeeigneten Stelle. Die Hitze in der Kutsche war unerträglich.

Endlich erblickten wir in der Ferne die Krimberge mit ihren Gipfeln. Vater eilte uns entgegen, und nachdem wir in Simferopol die Pferde ausgewechselt hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Die Landschaft um uns herum war von einer malerischen, überwältigenden Schönheit. Wohin das Auge sah, grünte es in Hülle und Fülle, erstreckten sich weit und breit üppige Obstgärten. Ganze Alleen von Pyramidenpappeln säumten die Straßenränder, und von großen, auf den Baumspitzen sitzenden Starenschwärmen ertönte klangvolles Zwitschern. Wir waren wie verzaubert, und voller Verzücktheit schrien wir ununterbrochen auf. Es war unsere erste Begegnung mit der Natur des Südens.

In ›Kilburn‹ empfing uns unsere Großmutter Scharlotta. Kaum hatten wir gegessen, legten wir schon in alle Richtungen los, um die Umgebung weiter zu bewundern: die wunderschöne Aussicht auf das Flusstal der Salgira sowie den imposanten Gipfel Tschatyrdag, der sich in klarer Linie gegen den Gebirgsrücken abzeichnete.«

Im Winter bezogen die Perowskis eine Wohnung in Simferopol. Nikolaj und Wassili besuchten das Gymnasium, Marja schickte der Graf in ein Internat, obwohl die Mutter von dieser Entscheidung gar nicht begeistert war, und Sofja bekam eine Hauslehrerin. Anfangs zeichnete sie sich weder durch Wissbegier noch durch Fleiß aus. Erst im Alter von acht, relativ spät im Verhältnis zu ihren Geschwistern, gelang es ihr, Lesen und Schreiben zu beherrschen. Außerdem begann man, die Kinder auf das spätere Leben in der gehobenen Gesellschaft vorzubereiten, und dazu gehörten auch Tanzkurse. Aber Sofja fand nicht den geringsten Gefallen daran, sie weigerte sich, komplizierte Schrittkombinationen zu üben, weshalb aus ihr auch nie eine gute Tänzerin wurde.

Während des Aufenthalts in der Stadt beschäftigte sie sich noch mit Puppen. Allerdings nur dann, wenn ihre einzige Freundin, die Tochter einer älteren Dame namens Warpachowskaja, zu Besuch kam. Schon im Sommer, mit der Rückkehr auf »Kilburn«, hörte sie für immer damit auf. Laut den Memoiren ihres Bruders schenkte das Kind dem typischen Mädchenspielzeug nie große Beachtung. Dass es aber just zu diesem Zeitpunkt die schon bestehende, wenn auch schwach ausgeprägte Neigung dazu vollkommen verlor, mag vielleicht auch daran liegen, dass Marja an der Gesellschaft der wesentlich jüngeren Schwester längst nicht mehr interessiert war und Sofja nun allein Wassili zum Spielen übrig blieb. »Der Großvater hatte ein Dutzend kupferner Kanonen unterschiedlicher Größen, mit französischen Aufschriften, und etwa ein Arschin2 lange Lafetten«, liest man bei Perowski weiter. »Sonja und ich schossen tüchtig damit, weil das Schießpulver für lächerlich wenig Geld zu kaufen war. Ich, der Ältere, behielt für mich – wie es sich schon ziemte! – die Rolle des Kommandeurs. Nach meinem Befehl steckte Sonja gehorsam die Lunte ins Zündloch und betätigte die Waffe, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr war ebenso nicht die winzigste Spur von Angst anzumerken, als die Kanone beim Rückstoß absprang.

Als Mädchen spielte Sofja lieber mit Waffen als mit Puppen, 1865

Wie sehr ich mich auch anstrengen würde, ich kann mich bei meinem besten Willen nicht an einen einzigen Fall erinnern, welcher Sonja Furcht einjagen oder sie in Schrecken versetzen konnte. Hier ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. Einmal ging ich über den Hof, als ich einen unserer Diener sah: Er winkte mir panisch zu und rief dabei, ich solle mich sofort verstecken, weil mir ein tollwütiger Hund entgegenlaufe. In der Tat erblickte ich ihn mit zwischen den Beinen eingezogenem Schweif, mit Schaum vor dem halb offenen Maul, und hastete sofort ins Haus zurück. Mit der Schrotflinte, die ich bei der Jagd benutzte, stürzte ich wieder raus. Nach dem Hund suchend, blickte ich um mich herum, und dann erspähte ich ihn doch: Der bog hinter den Stall ein und rannte über einen Pfad direkt auf Sonja zu. Mir lief der kalte Schauer über den Rücken. Ich schrie ihr zu, sofort von dem Weg runterzugehen, auf der Stelle stehen zu bleiben, damit sie die Aufmerksamkeit des Tieres nicht auf sich lenke. Sonja wich vier oder höchstens fünf Schritte zur Seite – mehr nicht! – und wartete völlig unbeirrt, bis der Hund an ihr vorbei war.«

Vielleicht wäre das Leben der Perowskis weiterhin ganz unbeschwert verlaufen, hätte es nicht ein Ereignis gegeben, das die Familienidylle erheblich trübte. Der Generalgouverneur auf der Krim war General Schukowski, der sehr oft dienstlich verreist war. In Abwesenheit seines Vorgesetzten übernahm Perowski dessen Stellvertretung, doch sehr bald kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden. Die eskalierten von Tag zu Tag immer weiter, bis sie letztendlich zu einem ernsten Konflikt ausuferten, worüber sich der General beim Innenminister öfters beschwerte und zum Schluss die Befugnis bekam, den Grafen zu entlassen.

Im Oktober 1861 packte man nun wieder die Koffer und trat erneut die mühsame Reise an, diesmal Richtung Norden, zurück nach Sankt Petersburg.

2. Kapitel

Unter Nihilistinnen

Wenn Alexander II. in seiner Residenz an der Newa weilte, pflegte er immer im »Sommergarten«, in dem schönsten Park der Stadt, zu spazieren. Es war allgemein bekannt, denn täglich, so etwa gegen zwei Uhr nachmittags, sah man eine Menge Schaulustige und ein Dutzend Gendarmen am Zaungitter sowie einige an den Toren postierte Zarenleibgardisten.

So war es auch am 4. April 1866. Nach dem Spaziergang war der Zar dabei, in die Equipage einzusteigen, als ein hagerer Bursche plötzlich einen Revolver aus der Manteltasche zog und auf den Imperator schoss. In gleicher Sekunde aber schlug ein danebenstehender Mann dem Angreifer auf die Hand, warf sich auf ihn, und nach kurzem Gerangel überwältigte er den Attentäter.

Der Bauer Ossip Komissarow rettete dem Herrscher das Leben und wurde zur Belohnung in den Adelsstand erhoben, während Dmitri Karakosow, Mitglied einer konspirativen Organisation namens »Ad« (»Hölle«), zum Tode verurteilt wurde. Nach der Ablehnung des Gnadengesuchs endete der fünfundzwanzigjährige Student aus Moskau im September gleichen Jahres am Galgen.

Unmittelbar nach dem Anschlag »versammelten sich Tausende vor dem Winterpalais und jubelten Seiner Majestät dem Kaiser zu, der sich immer wieder auf dem Balkon zeigte …, dann kampierten sie dort die ganze Nacht und den nächsten Tag über«, berichtet der amerikanische Botschafter Cassius Marcellus Clay.

Karakosows Schuss verfehlte den Zaren, dafür aber erwischte er zuerst Lew Perowski und danach dessen Familie, und zwar mit voller Wucht. Der Graf hatte seit fünf Jahren, seit seiner Rückkehr von der Krim, das Amt des Generalgouverneurs von Sankt Petersburg inne und war somit für die persönliche Sicherheit des Zaren direkt verantwortlich. Vielleicht wäre er noch glimpflich davongekommen, wäre die Polizei im Laufe der Ermittlungen gegen die »Hölle« nicht auf jenen anonymen, vor dem Anschlag warnenden Brief gestoßen, der noch im März in seiner Kanzlei eingetroffen war. Aber Perowski ließ das Schreiben, aus welchen Gründen auch immer, unbeachtet und sorgte deshalb auch nicht für die erforderlichen Maßnahmen. Den dadurch entstandenen Unmut Alexanders II., den sogar die einflussreichen Onkel nicht zu besänftigen vermochten, bekam er sofort zu spüren: Er wurde entlassen. Es folgte die Versetzung ins Innenministerium, wo er eine beratende Funktion erhielt, was zugleich seine Karriereträume zunichtemachte.

Der Prestigeverlust traf den Grafen hart: Es scheiterte nicht nur Lew Perowski als Privatperson, vielmehr stand er da als einziger Versager eines der ältesten aristokratischen Geschlechter Russlands, dessen Mitglieder seit über hundert Jahren der Krone glanzvolle Dienste leisteten. Der Graf musste sich also nicht nur an der beruflichen Laufbahn seines verstorbenen Vaters, der beiden Onkel oder des Bruders messen, sondern vor allem an der des Urgroßvaters Kyrill Rasumowski, der im Alter von achtzehn Präsident der Akademie der Wissenschaften und mit zweiundzwanzig Hetman der Ukraine geworden war.

Die Aristokratenfamilie Perowski stammte von der Zarendynastie Romanow ab: vordere Reihe (v. l.) Sofjas Großeltern, Nikolaj und Scharlotta, ihr Onkel Petr; hintere Reihe in der Mitte: Lew Perowski, Sofjas Vater

Einen so schwindelerregenden Aufstieg hatte Sofjas Ahnherr allerdings seinem Bruder Alexej Rasumowski zu verdanken, und die Biografie des Stammgründers mutet wie ein echtes Märchen an. Der Kosakensohn, der Hirtenjunge aus einem Dorf in der Nähe von Tschernigow, landete seiner außergewöhnlich klangvollen Stimme wegen in der Zarenhofkapelle in Petersburg. Im Jahre 1735 begegnete ihm die junge Großfürstin Jelisaweta, die Tochter des Zaren Peter des Großen, verliebte sich in den schönen Sänger auf den ersten Blick und nahm ihn zum Liebhaber. Neun Jahre später, nach ihrer Thronbesteigung, veranlasste sie Kaiser Karl VII., Rasumowski den Titel eines deutschen Reichsgrafen zu verleihen. Kurz danach bescherte ihm die Zarin selbst noch einen russischen Grafentitel dazu, ernannte ihn erst zum Oberjägermeister und daraufhin zum Feldmarschall, um ihren morganatischen Favoriten nun schließlich heimlich zu heiraten. Zur Erhebung in den Adelsstand gehörte ebenfalls die Namensänderung; so nannte sich die Familie Perowski, nach dem Ort Perowo, wo die Trauung der beiden stattgefunden hatte.

Der ruhmreichen Familientradition gerecht zu werden, gelang dem Grafen offensichtlich nicht. Perowskis Verbitterung und Schmerz entluden sich in seinem aggressiven Verhalten hauptsächlich der Ehefrau sowie dem Küchenpersonal gegenüber. »Der Vater war übertrieben wählerisch, äußerst verwöhnt, wenn es um das Essen ging«, schreibt Sofjas Bruder Wassili in seinen Memoiren. »Einfache Gerichte der Landküche waren nicht nach seinem Geschmack. Bekam er ein solches serviert, sei es noch so lecker, rastete er sofort aus, beschimpfte den Koch, um danach über die Mutter herzufallen. Ungeachtet der Anwesenheit des Personals kränkte er sie mit schlimmsten, beleidigenden Worten, warf ihr und ihrer Verwandtschaft bäuerliche Primitivität vor. Auf alle Demütigungen antwortete die Mutter mit einem beharrlichen Schweigen. Solange er herumtobte, traute er sich nicht, uns Kinder anzuschauen, unsere finsteren Mienen zeigten ihm eindeutig, auf wessen Seite wir standen. Vaters tyrannisches Benehmen empörte besonders Sonja.«

In der Tat war Sofjas Mutter ein Mädchen vom Lande. Sie wurde als Tochter des Kleinadeligen Stepan Wesselowski in einem kleinen Dorf unweit der Stadt Mogilew geboren. Der damals dreißig Jahre alte Graf, ein großwüchsiger, bärenstarker junger Mann, an dessen Haupt das kräftige Kinn sowie die unverhältnismäßig hohe Stirn auffielen, lernte die gescheite junge Frau 1842 kennen und lieben, als das berühmte Ismailowski-Regiment, in dem Perowski als Adjutant des Korpskommandeurs diente, ein Manöver in der Mogilewer Gegend abhielt. Zum Militär wechselte der Graf nach seinem Studium am Petersburger Institut für Nachrichten- und Verkehrswesen und der darauf folgenden Arbeit am Bau des Ladogakanals, wo er als Ingenieur tätig war. Da sich Perowski mit der Kunst der Unterordnung anscheinend schwertat, hängte er einige Jahre später seine Uniform an den Nagel, nahm den Dienst beim Zollamt auf und vermählte sich anschließend mit seiner Braut. Die provinzielle Herkunft seiner Gattin fiel damals noch nicht ins Gewicht: »Da der Vater über eingeschränkte finanzielle Mittel verfügte, besuchten uns neben wenigen Verwandten nur einige seiner Arbeitskollegen sowie ein paar ehemalige Kameraden, und das war’s. … Auch unsere Großmutter Scharlotta stieg immer beim Onkel Petr ab, wenn sie sich in Petersburg aufhielt«, erzählt Wassili Perowski. Ebenso später, in Pskow oder auf »Kilburn«, erregte der Mangel an gehobenen Manieren der Gräfin kein Aufsehen, weil sie in der Provinz lebte, in einer ihr wohl vertrauten Umgebung.

Doch die Situation änderte sich schlagartig, nachdem der Generalgouverneur von Sankt Petersburg und reiche Erbe Lew Perowski seine Türen der vornehmen Gesellschaft geöffnet und den wöchentlichen, damals sehr modernen Jour fixe zu organisieren begonnen hatte. »An diesen Abenden verspürte die Mutter stets Unbehagen, weil man an jeder ihrer Gesten merkte, dass man es mit einer Provinzlerin zu tun hatte, was an dem Vater nicht vorbeiging und was ihn immer wieder wütend machte«, so Perowski weiter. »Es war der Grund für ihre ständigen Auseinandersetzungen, wobei der Vater äußerst grob werden konnte.«

Perowskajas Widerwille der mondänen Petersburger Oberklasse gegenüber übertrug sich auf die zwei jüngeren Kinder, besonders bei Sofja prägte sich diese Abneigung intensiv ein: »Während dieser Tanzabende tummelten Sonja und ich uns zwischen den Gästen, oder noch lieber setzen wir uns irgendwo in die Ecke und machten uns lustig über die herausgeputzten Damen mit ihren tiefen Dekolletés. Es waren die einzigen Bälle, die meine Schwester jemals besuchte. Auch als sie älter wurde, mied sie sämtliche Veranstaltungen solcher Art«, behauptet Wassili Perowski.

Neben den allmählich zum Alltag gewordenen Eheszenen tauchte ein weiteres Problem auf. Der Verdienst eines Mitglieds des Staatsrates, was der Graf jetzt war, reichte vorne und hinten nicht für ein Luxusleben, das ihm sein ehemaliger Posten ermöglicht hatte. Aber den eigenen sozialen Abstieg so offen zur Schau zu stellen und ihn obendrein noch zu akzeptieren, das wollte oder konnte er nicht. So gab der Graf weiterhin das Geld mit vollen Händen aus, weswegen die Familie bald vor einem Schuldenberg stand. Zum Ausmaß der wirtschaftlichen Misere trug gleichermaßen der Einnahmeausfall der vier geerbten Landgüter auf der Krim bei. Dieser kam dadurch zustande, dass ihr Verwalter in die eigene Tasche wirtschaftete und keinen Rubel nach Petersburg schickte. Der Not gehorchend, verkaufte Perowski die unschätzbar wertvolle Kollektion chinesischen Porzellans samt einigen Stücken des Antikmobiliars, eigentlich alles, was ihm sein mittlerweile schwer erkrankter Bruder Petr schenkte, bevor er zu Heilungszwecken nach Genf übersiedelte.

Als nun die Familienikonen verscherbelt wurden, versuchte die energische Perowskaja zu retten, was noch zu retten war. Sie entließ den Verwalter und fuhr mit den Töchtern im Sommer 1867 auf das Landgut »Kilburn«, während die Studenten Nikolaj und Wassili mit dem Vater in Petersburg zurückblieben. Die Trennung der Eheleute tat vor allem den Kindern gut: Sie wurden von den qualvollen, peinlichen Streitereien verschont. Dennoch schaffte es der Graf lediglich bis zum Winter, mit den Söhnen allein zu leben, dann aber, merklich überfordert, teilte er der Ehefrau mit, er wolle sich von ihr trennen, woraufhin er »bei einer moralisch anrüchigen Frau und deren Tochter zwei Zimmer anmietete«.

Im Unterschied zu den sich selbst überlassenen Brüdern erlebte Sofja dagegen eine unbekümmerte Zeit auf dem Lande, wo sie inzwischen reiten lernte: »Wir hatten auf dem Anwesen tatarische Braune, die zum Reiten hervorragend geeignet waren, was die Schwestern natürlich restlos auskosteten«, liest man bei Perowski weiter. »Insbesondere Sonja ritt leidenschaftlich gerne und hatte daran unheimlich viel Spaß, das Pferd galoppieren zu lassen. Da es aber nur einen Frauensattel gab, machte es ihr nichts aus, den für Männer zu benutzen.«

Nach zwei Jahren bereitete Perowski mit seiner Ankunft im Sommer der Krimer Idylle ein jähes Ende. Da die Landgüter »Kilburn« und »Nikolskoje« mit Hypotheken belastet waren und dem Grafen ein Gerichtsverfahren drohte, sah er sich gezwungen, zuerst das etwa 600 Hektar große »Nikolskoje« für 49000 Rubel zu veräußern. Zur Schuldenbegleichung reichte die Summe trotzdem nicht, und nun kam auch »Kilburn« unter den Hammer.

So packte die Mutter erneut die Koffer und brach mit den Mädchen gen Norden auf. Während der Zugreise begegnete Sofja einer jungen Frau namens Anna Wilberg. Die kleinwüchsige, pummelige Brünette mit strengen Gesichtszügen hatte bereits ihr Elternhaus verlassen, um sich in Petersburg bei den Alartschinski-Kursen einzuschreiben. So bezeichnete man populär die an der Alartschin-Brücke gelegene, im Frühling eröffnete staatliche Einrichtung für Frauenbildung. Es war in der Tat ein bemerkenswertes Ereignis, denn noch bis vor kurzem waren die Tore der Lehranstalten für Mädchen versperrt. Eine damalige Russin – natürlich nur, wenn sie aus einer wohlhabenden Familie kam – hatte lediglich die Möglichkeit, entweder im häuslichen, also privaten Bereich oder aber in einem Klosterinternat ihre Ausbildung zu erwerben.

Zu der grundsätzlich neuen Bestimmung des sozialen Status der Frauen kam es eigentlich schon 1856, nach dem Ende des Krimkrieges, den Russland gegen das Osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien geführt hatte. Der dreijährige Feldzug erwies sich für das Zarenreich nicht nur als eine militärische Katastrophe, vielmehr offenbarte er gnadenlos alle Schwächen des rückständigen feudalen Imperiums.

Eine Erneuerung an »Haupt und Gliedern« erwies sich also als bitter nötig, was den damals sechsunddreißigjährigen Alexander II. dazu veranlasste, weitreichende Reformen einzuleiten, als er ein Jahr vor dem Kriegsende den Thron bestieg und sein schweres Erbe antrat. Im Prozess der Modernisierung nahm er auch eine grundlegende Reorganisation des Bildungssystems in Angriff. Neben dem weiteren Ausbau von schon bestehenden Grund- und Mittelschulen für Knaben, die nun für alle Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht wurden, richtete man parallel dazu auch die ersten Mädchenschulen ein und gestattete Frauen das Ausüben von pädagogischen und medizinischen Berufen, welche die mittlere Reife voraussetzten. In den Gymnasial- und Hochschulprogrammen setzte man die Priorität auf praktische, also naturwissenschaftliche und technische Fächer zuungunsten der klassischen, da Russland für seinen langfristig angelegten Industrialisierungsprozess Ingenieure, Physiker, Handwerker oder Wirtschaftsfachleute weit dringender brauchte als Gräzisten oder Latinisten.

Die Universitäten erhielten Autonomie, und in diesem Rahmen entstanden Bibliotheken, Hilfskassen sowie Küchen zur Unterstützung sozial schwacher Studierender. Zum ersten und zum letzten Mal in diesem Jahrhundert wurde in Russland die Benutzung von ausländischer Literatur erlaubt. Die mit dem Bildungswesen fest verknüpfte Rede- und Pressefreiheit schlug sich in zahlreichen nichtstaatlichen Publikationen nieder, es kam zur Lockerung der Zensur, und 1859 erschien sogar die erste Frauenzeitschrift. Einige Monate danach erfolgte ebenfalls die Zulassung von Frauen zu den Universitäten.

Aber nach dem Attentat Dmitri Karakosows legte der erzürnte Alexander II. alle Reformpläne auf Eis, indem er einen reaktionären politischen Kurs einschlug. Nach einigen Jahren des Stillstands stellte ein Gesetzentwurf Ende der 1860er Jahre eine Verbotsaufhebung hinsichtlich der Frauenhochschulbildung in Aussicht, wobei der Gesetzgeber den Russinnen vorerst lediglich die Zulassung zum Medizinstudium gewährte. Ausschließlich diesem Fakt hatten die Alartschinski-Kurse ihre Entstehung zu verdanken. Sie wurden mit dem Ziel gegründet, junge Frauen auf das Universitätsstudium vorzubereiten. Demzufolge fungierten sie als eine Art Mädchengymnasium. Ihre Einrichtung fand bei den namhaftesten Pädagogen der damaligen Zeit begeisterten Beifall, sie erklärten sich sofort zum Unterricht bereit und verzichteten sogar auf Entgelt, da sich der Staat nur mit einer symbolischen Summe an der Finanzierung der pädagogischen Anstalt beteiligte und die dafür erforderlichen Gelder größtenteils aus Spenden oder aber aus Kursgebühren stammten.

Offensichtlich gelang es der fünfundzwanzig Jahre alten Anna Wilberg im Laufe der langen Reise, ihren Enthusiasmus nicht nur auf ihre Mitreisende zu übertragen, sondern sie überredete die junge Frau auch noch dazu, ihrem Entschluss zu folgen. Und Sofja entschied sich schnell, ohne lange Überlegungen, denn aufgrund der prekären finanziellen Situation engagierte Perowski seit drei Jahren keine Hauslehrer mehr, und notgedrungen lernten Sofja und Marja autodidaktisch. Zurück in Petersburg, nahm Sofja schon im gleichen Jahr ihre Ausbildung auf, und täglich, von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends, verbrachte sie ihre Zeit auf der Schulbank. »In den Algebra-Stunden hob sich eine junge Frau durch ihre beträchtliche Begabung von uns ab«, so eine Kursteilnehmerin. »Mit ihren glatt gekämmten Haaren, ihrem schlichten braunen Kleid mit weißem Kragen ähnelte sie eher einem kleinen Mädchen. Sie saß immer in der ersten Reihe neben ihrer wesentlich älteren Freundin Anna Wilberg. Bei privaten Gesprächen hielt sie sich zurück, sodass kaum jemand sie näher kannte. Diese bescheidene, schweigsame Schülerin war die sechzehnjährige Sofja Perowskaja.«

Nach der Schule blieben die jungen Frauen weiterhin zusammen und halfen sich gegenseitig bei Hausaufgaben oder besprachen die Bücher, von denen die meisten seitens der Zensur auf den Index gesetzt wurden, weil sie Fragen wie zum Beispiel die des Proletariats, des Klassenkampfes oder der Sozialökonomie behandelten, welche weder dem absolutistischen Staat noch seinem Herrscher genehm waren. Für Sofja stellten die zensierten Titel kein Neuland dar. Dank ihrem Bruder Wassili, dem nach wie vor einzigen und engsten Vertrauten, war sie schon in Berührung mit verbotener Literatur gekommen: »In unserer Kindheit fiel mir die Rolle von Sonjas Spielgefährten zu, und danach, in ihrer Mädchenzeit, bin ich so etwas wie ein Erzieher für meine Schwester geworden, weil ich sie mit der Lektüre versorgte, die ihre Ansichten entscheidend beeinflusste.«

Zu Beginn von Sofjas Weiterbildung an den Alartschinski-Kursen, im Herbst 1869, studierte Wassili bereits am Petersburger Technischen Institut und verkehrte in radikalen Jugendkreisen. Unter deren Einfluss beteiligte er sich an den seit dem Ende des vergangenen Jahres andauernden Studentenunruhen; durch sie sollte die Rückkehr des Zaren zum ehemals liberalen Kurs erzwungen werden. Das Ergreifen der repressiven Maßnahmen durch Alexander II. nach dem Schuss Karakosows bekam die Jugend besonders hart zu spüren. Mit der Ernennung des erzkonservativen Grafen Dmitri Tolstoj zum Bildungsminister kehrte in das russische Schulwesen die Ära des Obskurantismus zurück. Doch die Jugendlichen, da sie schon einmal in den goldenen Apfel der Freiheit gebissen hatten, wollten auf die liberalen Privilegien nicht mehr verzichten. Der Zar war lediglich dazu bereit, einige halbherzige Zugeständnisse zu machen, da die Protestkundgebung aufgrund ihres lokalen Charakters keine ernst zu nehmende Gefahr für ihn darstellte, weswegen sie auch relativ zügig unter Kontrolle gebracht wurde. Die Teilnahme an dem Aufruhr trug Sofjas Bruder eine zweimonatige Studiensperre ein.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Graf seinen zwanzigjährigen Sohn wegen der Kontakte zu den extremen Gruppierungen jemals zur Rede gestellt hätte. Es entsteht im Gegenteil der Eindruck, als würde Perowski auf Wassilis Interesse für die revolutionären Ideen nicht nur mit Verständnis reagieren, sondern vielmehr dieses sogar unterstützen: Von mehreren Besuchsreisen bei dem Bruder Petr in Genf brachte er auf die Bitte des jungen Mannes die Werke der in Russland verbotenen zeitgenössischen Autoren mit, die letztendlich auch in Sofjas Händen landeten. So war sie in die »Tabu«-Themen schon eingeweiht, als sie sich an den Diskussionen ihrer Mitschülerinnen beteiligte.

Aus den inoffiziellen Gesprächsrunden der Kursteilnehmerinnen bildeten sich im Laufe der Zeit mehrere Zirkel heraus. So schlossen sich Sofja und Anna Wilberg der Gruppe an, die um Alexandra Kornilowa, die Tochter des Inhabers der Petersburger Porzellanfabrik »Gebrüder Kornilow«, versammelt war. Das Mädchen organisierte in ihrer Wohnung regelmäßig Sitzungen, welche Sofja sehr ernst nahm und von denen sie nicht eine einzige verpasste, »diejenigen, die nicht pünktlich erschienen, fauchte sie scharf an«. Ein wenig später stieß zu dem Arbeitskreis auch Jelisaweta Kowalskaja aus Charkow, ein zierliches Mädchen mit einer nachdenklichen Miene, über dessen Brust zwei lange, dicke Zöpfe herunterhingen. Die uneheliche Tochter eines Gutsbesitzers und einer Leibeigenen brachte im Alter von sieben Jahren den Vater dazu, der Mutter den Status einer freien Bürgerin zu verleihen. Sie gehörte zu den ganz wenigen Menschen, welche die verschlossene Sofja an sich heranließ, zu welcher sie ihr Leben lang einen engen, innigen Kontakt aufrechterhielt. Die Kowalskaja erinnert sich an ihren ersten Abend bei Alexandra Kornilowa in der Wladimir-Straße: »Ich ging durch die offene Tür und betrat den geräumigen Flur, ausgestattet mit Palmen, teuren Spiegeln und Kleiderständern, die von großem Luxus zeugten. Aus dem benachbarten Raum ertönte ein ohrenbetäubender Lärm, verursacht durch die Stimmen vieler Frauen, die sich einen erbitterten Streit lieferten. Ein Mädchen, klein und von kräftiger Statur, eilte mir entgegen. Die Art und Weise, wie es gekleidet war, verriet es sofort als eine Verfechterin der Frauenrechte: Sie hatte kurz geschnittene Haare und trug einen schwarzen Rock, darüber ein Herrenhemd, das um die Taille von einem Ledergürtel umschlossen war. … Überhaupt ähnelte sie mehr einem Jungen als einem Mädchen. Das war Alexandra, die jüngste der vier Schwestern Kornilow. Sie hieß mich willkommen und führte mich in das mit Wortgefechten erfüllte Zimmer, durch welches dicke Rauchschwaden zogen, sodass man kaum atmen konnte. Etwa zwanzig Frauen fand ich darin vor. Einige von denen unterhielten sich rege, während der Rest, zuhörend, ganz ruhig dasaß. … In der Mitte befand sich eine junge Frau, fast noch ein Kind. Ihr graues, einfaches Kleid mit weißem Kragen, so etwas wie eine Schuluniform, sah nicht besonders schick aus. Es war klar, dass sie dem Kleidungsstil keine Beachtung schenkte, so stand sie in krassem Gegensatz zu den anderen. … Von einer schlanken Blondine stürmisch attackiert, konterte sie zurückhaltend, jedoch mit einer nicht zu brechenden Beharrlichkeit. … Der Blick ihrer grauen Augen war eher ausweichend, doch ihm war eine unbeugsame Sturheit zu entnehmen, genauso wie ihrer Haltung ein gewisses Misstrauen. Wenn sie schwieg, presste sie die schmalen Lippen zusammen, als würde sie sich fürchten, etwas Überflüssiges zu sagen. Ein ernster Ausdruck haftete stets in ihrem gedankenversunkenen Gesicht, alles in allem strahlte die ganze Erscheinung des Mädchens eine klösterliche Askese aus. … Mitternacht war schon längst vorbei, als sich die Gesellschaft auflöste. Die Kornilowa bat mich, noch eine Weile zu bleiben. Nachdem sich die letzten Besucherinnen auf den Weg gemacht hatten, erfuhr ich, dass die junge Frau im grauen Kleid Sofja Perowskaja war.«

Durch ihre Freundschaften geriet Sofja nun in die Gesellschaft der Nihilistinnen, dennoch war sie zunächst offensichtlich nicht bereit, deren antifeminine Einstellung zu übernehmen. Wahrscheinlich fasste sie einerseits immer noch keinen Mut zu einem so radikalen Schritt, denn das Äußere sowohl dieser Frauen als auch ihrer männlichen Gesinnungsgenossen, die sich ebenfalls schwarz kleideten und Jakobinerhüte, lange Haare sowie Bärte trugen, irritierte die Öffentlichkeit so sehr, dass man eine große Portion Begeisterung und nicht weniger Kühnheit brauchte, um sich mit einem solchen Habitus unter Menschen zu trauen.

Andererseits dürfte diese anfängliche Distanzierung ebenfalls auf der Unfähigkeit der blutjungen Sofja beruhen, den Sinn des nihilistischen Strebens nach der absoluten Befreiung des Individuums aus dem Joch der Kirche, Familie oder des Staates zwecks Schaffung eines »neuen Menschen« zu begreifen. Diese kurzlebige Bewegung der 60er und 70er Jahre entstand in der Umbruchsära der bereits erwähnten Reformen Alexanders II., in welcher alle bis dahin geltenden Werte, sei es politischer, kultureller oder religiöser Natur, in Zweifel gezogen wurden. »Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität verbeugt, keinem Prinzip blind vertraut, möge man ihm noch so viel Zuversicht schenken«, definierte Iwan Turgenew den Anhänger der jungen Skeptikergeneration und gab ihm zugleich den Namen: Der Dichter leitete den Begriff vom lateinischen »nihil« (»nichts«) ab.

Die Befürworter einer neuen, auf antitraditionellen Grundlagen basierenden Gesellschaft machten die staatlichen Behörden, vor allem die Polizei, auf sich aufmerksam. »Es reichte lediglich eine solche Lappalie, wie kurz geschorene Haare bei Frauen oder ein langer Bart, um einen jungen Menschen zum Staatsfeind zu erklären und ihn ins Gefängnis zu stecken. Daraufhin verbannte man ihn irgendwohin, weit weg, und zwar ›auf unbefristete Dauer‹, wie man es im bürokratischen Jargon formulierte.«

Mit den Nihilistinnen entdeckte die mitten in der Pubertät steckende Sofja den Reiz des Verbotenen, einen bis dahin ungeahnten Nervenkitzel, während sie bei der Gratwanderung am Rande des Illegalen die Grenzen auslotete. Dass die Gruppe um die sechzehnjährige Kornilowa nicht ins polizeiliche Visier genommen wurde, war nur der Tatsache zu verdanken, dass es sich hier um die Tochter eines der größten russischen Unternehmer handelte, zu dessen Kundschaft sowohl der Zarenhof als auch die Vertreter der reichsten Schicht beziehungsweise die größten Firmen des Landes zählten. Darüber hinaus räumte der für jene Zeit erstaunlich tolerante Iwan Kornilow seinen Töchtern vollkommene Selbständigkeit ein und gewährte ihnen in jeder Situation Schutz. In diesem Spiel mit dem Feuer drohte den Mädchen also keine Gefahr.

Ebenso wie die Abenteuerlust begeisterte Sofja der enorm hohe Wert, den Nihilisten auf Bildung, vor allem auf Naturwissenschaften, legten, weil das Mädchen fest entschlossen war, Mechanik zu studieren, sobald Frauen Zutritt auch zum Technikstudium erlangen würden, und das solle in absehbarer Zukunft geschehen, immerhin beteuerte das Wassili.

In der Gesellschaft der Nihilistinnen war Sofja mit einem weiteren Erlebnis nicht nur konfrontiert, vielmehr wurde sie von dieser Entdeckung völlig übermannt. Das Gefühl der uneingeschränkten, ja totalen Freiheit verspürte Sofja 1870, als sie zum ersten Mal ohne Familie verreiste. Da Lew Perowski am Jahresanfang schwer erkrankte, rieten ihm die Ärzte, im Ausland Hilfe zu suchen, und so brach er im Frühling in Begleitung der Ehefrau und der älteren Tochter zur Reise nach Aachen auf. Obgleich er schon monatelang von der Familie getrennt lebte und nicht einmal zum Mittagessen nach Hause kam, ließ ihn die Gräfin nicht allein fahren.

Vom Gefühl der uneingeschränkten Freiheit übermannt: ganz vorn Sofja; in der Mitte (v. l.) Alexandra Kornilowa, Anna Wilberg; dahinter Sofja Leschern von Herzfeldt, 1870

Die Abwesenheit der Eltern nutzte Sofja sofort aus, indem sie ohne ihr Wissen und demnach auch ohne ihre Erlaubnis – die hätte sie bestimmt nicht erhalten! – zusammen mit Alexandra Kornilowa und Anna Wilberg eine Datscha in der Nähe Petersburgs, im Dorf Lesnoje, anmietete. Den drei Freundinnen schloss sich Sofja Leschern von Herzfeldt an, eine dreiundzwanzig Jahre alte, stämmige Generalstochter mit kurz geschorenen schwarzen Haaren und einem energischen Kinn. Sie war ebenfalls sowohl eine der Teilnehmerinnen der Alartschinski-Kurse als auch des Arbeitskreises der Kornilowa. Etwa sechs Monate verbrachten die jungen Frauen auf dem Lande, lernten viel, viel mehr aber genossen sie beim Schwimmen, Reiten oder bei Bootsfahrten die unbeschwerten Tage, weit weg von jeglicher Kontrolle. »Die drei erzählten mir hinterher, dass Sonja, als wäre sie verrückt geworden, ihr Pferd bis zur Erschöpfung galoppieren ließ oder das Tier zwang, sich aufzubäumen, während die anderen Mädchen in tausend Ängsten schwebten«, so Wassili Perowski. »Sie hatte stets meine Klamotten an: ein weißes Hemd, eine Pumphose und Stiefel. Ein Bekannter, der ihr zufälligerweise in Lesnoje begegnete, erkannte sie nicht wieder und dachte, sie wäre ein Junge.«

Die einsame Sofja berauschte sich aber vor allem an der echten Kameradschaft, die in der Frauenbande herrschte, an der durch überschäumende Lebensfreude geprägten Atmosphäre. Das Bewusstsein, einer »Familie« endlich wirklich anzugehören, dort wirklich angekommen zu sein, zog das Mädchen so unwiderstehlich zu Kornilowas Zirkel. Weder Sofja noch ihre Geschwister hatten Freunde und konnten sie durch den ständigen Wohnortwechsel auch nicht haben. »Es ist unbestritten, dass die Perowskaja ausschließlich zu den Schülerinnen der Alartschinski-Kurse Kontakte pflegte.«

Darüber hinaus herrschte in Sofjas Familie eine bedrückende emotionale Kälte, hervorgerufen durch die Entfremdung der Eltern voneinander, wofür man genügend Beweise in Wassilis Memoiren findet. Äußerst selten begegnet einem dort ein Zeichen irgendeiner sentimentalen oder nostalgischen Wärme, ihr Ton weist eher auf einen Bericht als auf Lebenserinnerungen hin. Das zerrüttete Familienverhältnis hinderte die Kinder daran, ein Zugehörigkeitsempfinden zu entwickeln, demzufolge standen sich die Geschwister gegenseitig nicht nah. Neben der Mutter, die sie abgöttisch liebte, fand Sofja in Wassili die einzige vertraute Person, bevor sie zu den Nihilistinnen kam, und diese gaben ihr nun alles, was sie bis dahin zu Hause so sehr vermisst hatte.

Daher nahm sich Sofja nicht einmal eine Sekunde zum Überlegen, als sie, vor die Wahl gestellt, sich zwischen der Familie und dem Zirkel der Nihilistinnen entscheiden zu müssen, die Freundschaft wählte. Den ersten Selbstbestimmungsversuch wagte die junge Frau im Herbst, unmittelbar nach der Heimkehr der Eltern aus Deutschland. Die Aachener Kur brachte dem Grafen keine gesundheitliche Besserung, weswegen er stets mürrisch herumlief. Da er wieder unter einem Dach mit der Familie wohnte, lud Sofja ihre Freundinnen nur in seiner Abwesenheit ein. Einmal fand er sie doch vor, und an diesem Tag ging es Perowski besonders schlecht. Die bestiefelten Mädchen mit grauen – in Russland verpönten! – Brillen, die wie Matrosen qualmten und dabei in einer außergewöhnlich derben Sprache miteinander redeten, missfielen ihm sehr. Als die jungen Frauen weg waren, untersagte Perowski der Tochter jeglichen Kontakt zu ihnen.

Auf das Verbot reagierte die empörte Sofja sofort mit der Ankündigung, sie wolle das Elternhaus verlassen und von nun an ein selbständiges Leben führen. Dafür benötigte sie aber, wie übrigens jede junge Russin, welche die Eigenständigkeit außerhalb der elterlichen Obhut anstrebte, einen Bewilligungsbescheid, dessen Erteilung nur dem Vater oblag. Dieses schriftliche Dokument war weiterhin die Bedingung für die Erhaltung eines Reisepasses, der zugleich als Personalausweis fungierte. Sowohl Töchter als auch verheiratete Frauen waren im damaligen Russland in den Pässen ihrer Väter und Ehemänner eingetragen und gelangten in den Besitz ihres eigenen ausschließlich durch deren Genehmigung. Der Graf, ein Mensch konservativer Ansichten, lehnte natürlich Sofjas Bitte kategorisch ab. Diese packte ihre Sachen, verschwand spurlos und ließ dem Vater ausrichten, sie würde sich so lange verstecken, bis sie die Erlaubnis erhalten habe. Als das Mädchen spätabends immer noch nicht zurückkehrte, ging die besorgte Mutter zu Anna Wilberg und bat sie, ihr Sofjas Aufenthaltsort mitzuteilen, doch sie kam unverrichteter Dinge heim.

Als Sofja auch am nächsten Tag nicht erschien, meldete der Graf seine Tochter als vermisst. An demselben Abend begab sich die Gräfin zu Alexandra Kornilowa: »Es war fast Mitternacht, und ich lag schon im Bett, als Warwara Stepanowna an meiner Tür klingelte. Sie flehte mich verzweifelt an, entweder Sonja zu überreden, nach Hause zurückzukommen, oder aber ihr Versteck zu verraten, damit sie mit ihr sprechen könne.« Auch diesmal stieß Sofjas Mutter auf taube Ohren.

Am dritten Tag begriff der Graf, dass die Sache weit ernster war, als er gedacht hatte. Aus Angst vor einem Skandal wandte er sich persönlich an den Stadtgouverneur und bat ihn um eine diskrete Behandlung des Falles. Es verging noch eine ganze Woche, und von dem Mädchen weiterhin keine Spur. »Eines Abends«, berichtet die Kornilowa weiter, »erschien ein Polizist bei uns:

›Wissen Sie vielleicht, wo sich Sofja Perowskaja befindet? Ihr Vater hat uns beauftragt, nach ihr zu suchen‹, fragte er meinen Papa.

›Das kann ich Ihnen leider nicht sagen‹, antwortete er und drehte sich zu mir. ›Fragen Sie meine Tochter. Vielleicht weiß sie das.‹

›Ich habe die Perowskaja seit einer Weile nicht mehr gesehen. Sie kommt nicht mehr zum Unterricht, und ich bereite mich gerade darauf vor, sie zu besuchen, weil ich dachte, dass sie vielleicht krank ist‹, spielte ich die Unschuld vom Lande.«

Natürlich halfen ihre nihilistischen Freundinnen Sofja, unterzutauchen. Den Unterschlupf fand sie in der Wohnung der Schwestern Karali, ebenfalls zweier Kursteilnehmerinnen. Da die Polizei nach ihr fahndete und sie sich deshalb nicht auf die Straße traute, saß sie tagelang in den vier Wänden eingesperrt. Die zwangsläufige Gefangenschaft hielt Sofja nicht länger aus und verreiste nach Kijew, wo sie bei einem gewissen Doktor Jegor Emme etwa zwei Monate verweilte. Der Arzt war ebenfalls ein untypischer russischer Vater, weil er seine Tochter Anna sogar in Zürich studieren ließ. In der Schweiz knüpfte die junge Frau Verbindung zu den revolutionären Gruppierungen der russischen Studenten, dank diesen dann auch mit den Petersburger Nihilistinnen.

Da von dem Grafen nach wie vor kein Signal des Einlenkens kam, drohte Sofja mit Selbstmord, sollte er sich weiterhin weigern, ihre Forderung zu erfüllen. Sicherlich litt sie sehr darunter, dass die Mutter ihretwegen einem solchen Kummer ausgesetzt war, und das verzweifelte Mädchen griff nach der Suiziddrohung, um diese für beide Seiten unerträgliche Lage endlich zu beenden.

Die Sorge der Eltern wuchs mit jedem neuen Tag, zugleich schwand ihre Hoffnung, die Polizei würde Sofja aufspüren, bevor sie eine Dummheit begehe. Die permanenten Nervenstrapazen hatten verheerende Folgen für die schon angeschlagene Gesundheit des Grafen, sodass er – dem Rat seines Arztes folgend – letztendlich nachgab, indem