Die Zeit, die bleibt - Ingeborg van Beek - E-Book
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Die Zeit, die bleibt E-Book

Ingeborg van Beek

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Beschreibung

Wenige Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes erleidet Ingeborg einen epileptischen Anfall. Im Krankenhaus der Schock: Sie hat einen Tumor im Kopf. Groß wie ein Tennisball. Die sonst so fest im Leben stehende Frau ist wie betäubt als man ihr mitteilt, ihre Lebenserwartung würde nunmehr etwa acht Jahre betragen. Sie fährt nach Hause, schottet sich ab, denn schon bald werden die vielen Beileidsbekundungen ihr zu viel. Nach einer Weile merkt sie: So kann es nicht weitergehen. Ingeborg beschließt, sich noch einmal voll ins Leben zu stürzen und die Zeit, die ihr bleibt, voll auszukosten.

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Seitenzahl: 267

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitat1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelDank

Über dieses Buch

Wenige Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes erleidet Ingeborg einen epileptischen Anfall. Im Krankenhaus der Schock: Sie hat einen Tumor im Kopf. Groß wie ein Tennisball. Die sonst so fest im Leben stehende Frau ist wie betäubt als man ihr mitteilt, ihre Lebenserwartung würde nunmehr etwa acht Jahre betragen. Sie fährt nach Hause, schottet sich ab, denn schon bald werden die vielen Beileidsbekundungen ihr zu viel. Nach einer Weile merkt sie: So kann es nicht weitergehen. Ingeborg beschließt, sich noch einmal voll ins Leben zu stürzen und die Zeit, die ihr bleibt, voll auszukosten.

Über die Autorin

Ingeborg van Beek lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Amsterdam. Mit nur siebenunddreißig Jahren wurde bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert. Ein Schock, den Ingeborg nur allmählich überwinden konnte.

Ingeborg van Beek

Die Zeit,die bleibt

Meine kleine Familie, ein bösartigerTumor und wie ich weiterlebe

Aus dem Niederländischen vonSimone Schroth

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Xander Uitgevers B.V.

Titel der niederländischen Originalausgabe: »Levenshaast«

Originalverlag: Xander Uitgevers B.V.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Alena Ozerova/shutterstock

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5665-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für alle, die den Kampf kennen, den das Leben mit einem Hirntumor bedeutet, und für die Wissenschaftler, die sich dafür einsetzen, dass der Durchbruch in der Behandlung dieser Patienten gelingt.

Der Schweiß in meinen Augen vermischt sich mit meinen Tränen

Ein Lächeln und Zweifel verschmelzen auf meinem Gesicht

Ich höre eine Stimme ganz tief in mir

Was geschieht, geschieht; gib nicht auf

Unsichtbar stoßende Hände schüren das Feuer.

Liedtext von Maarten Peters

1.

Im Traum höre ich sie aus der Ferne rufen, und dann zwingt mich ein rauer Urinstinkt, über die Wirklichkeit nachzudenken. Mit leichtem Widerwillen strecke ich mich aus. Ich bekomme die Augen nicht auf. Es geht einfach nicht. Ich versuche es noch einmal.

Gegenüber dem Muttersein empfinde ich eine Hassliebe. Manchmal bezweifle ich, ob ich für dieses unablässige Säugen und Sorgen geeignet bin. Ob ich Tygo, meinem zweijährigen Sohn, und meiner kleinen Tochter Eline, die zwölf Wochen alt ist, gerecht werde.

Gerade habe ich noch friedlich geschlafen, jetzt brüllt Eline, als hätte sie eine Woche lang nichts zu essen bekommen, und meine Brüste verspritzen plötzlich Milch, ohne dass das vorher mit mir abgesprochen worden wäre. Ich spüre die nassen, warmen Flecken in meinem Schlafshirt.

Mein linkes Auge bleibt weiterhin geschlossen, aber durch die Wimpern von meinem rechten erkenne ich die roten Ziffern auf dem Radiowecker. 4.35 Uhr. Seufzend reibe ich mir die Augen. Ich nehme Eline aus dem Bettchen und lege sie neben mich, die Milch spritzt ihr inzwischen ins Gesicht. Nichts da rosiges, dankbares Baby, das mit einem glückseligen Lächeln friedlich an der Mutterbrust liegt. Eline hat Hunger, also saugt sie mit ihrem gierigen kleinen Mund kräftig drauflos.

Ich gähne. Durch das ganze nächtliche Füttern hat sich in den vergangenen Wochen ein gigantisches Schlafdefizit aufgebaut. Davon abgesehen bin ich seit dem Mutterwerden sowieso nicht wirklich aufgeblüht: Ich habe tiefe Ringe unter den Augen, Krähenfüße, die es vor zwei Jahren noch nicht gab, und mein Bauch ist alles andere als straff, seit ich zwei propere Babys zur Welt gebracht habe.

Ich muss über meine Gedanken lächeln. Wie wichtig ist schon mein verwelkendes Äußeres im Vergleich zu dem echten kleinen Menschen da neben mir, mit seinen molligen Ärmchen und Beinchen, seinem klopfenden Herzchen, den kleinen Zehen und Fingern und seinem zufriedenen, herrlich duftenden Babygesicht?

Ich schnuppere vorsichtig an Elines Köpfchen und mache mir bewusst, dass ich gesegnet bin.

»Schlafen kannst du, wenn du tot bist«, würde mein Vater sagen.

Mir fallen die Augen zu. Ich höre ein Sausen. Weiße Blitze kommen auf mich zu, zum Teil sind sie auch blau. Rasch öffne ich die Augen. Ruhig ein- und ausatmen, Ingeborg, es ist gar nichts passiert.

Auf der Höhe meines Herzens höre ich ein zufriedenes Schmatzen. Kurz berühre ich Elines Babyköpfchen, das kleine Bündel schmiegt sich entspannt an mich.

»Hey, mein lieber Schatz«, flüstere ich, während ich sie noch näher an mich ziehe.

Das hilft, und das seltsame Gefühl nimmt langsam ab. Auch wenn es mir so vorkommt, als wären kleine schwirrende Teilchen auf meiner Augenlinse. Und dann dieses Geräusch. Ist es das, was man den »Lärm der Stille« nennt?

Ich darf mich nicht so anstellen, ich bin ganz einfach unglaublich müde.

Jetzt lege ich mich bequem auf die Seite, mit Eline an der Brust. Ganz kurz die Augen zumachen, das geht schon. Sobald ich die Augen schließe, spüre ich, wie sich eine schwere Benommenheit in meinem Körper ausbreitet. Alles ist ruhig. Alles ist normal. Ich darf mich ohne Gewissensbisse kurz ausruhen.

Als ich die Augen wieder öffne – meinem Gefühl nach ist höchstens eine Minute vergangen –, ist alles anders. Die Vorhänge sind auf, und ein grelles Licht strömt durchs Fenster ins Zimmer. Ich höre Stimmen. Vor mir stehen zwei Sanitäter, mein Freund Peter hat mich am Arm gepackt.

»Was ist denn los?«, frage ich.

Niemand gibt mir Antwort.

»Sie gehören gar nicht hier rein«, sage ich einfach, und dabei versuche ich mich aufrecht hinzusetzen. Ich habe Kopfschmerzen, und im Arm spüre ich Stiche. Da drinnen befindet sich eine Infusion mit Bandagen und Pflastern.

»Sie sollen gehen!«

Peter schüttelt den Kopf und sieht plötzlich traurig aus, ihm laufen die Tränen über die Wangen. Erst dann sehe ich das mühsam lächelnde Gesicht des munteren Rettungsassistenten neben mir. »Meine Liebe, Sie hatten einen kleinen epileptischen Anfall, und jetzt fahren wir Sie für ein paar kleine Untersuchungen in die Notaufnahme.«

Ich fühle mich verunsichert und nervös, Peter hilft mir in eine Jogginghose. Ich ziehe einen seiner Pullover an. Mit Gelassenheit und unter den fröhlichen Jubelrufen meines zweijährigen Sohnes (»Mama Krankenwagen, Mama Krankenwagen«) werde ich in den Rettungswagen gehievt und ins Krankenhaus gebracht.

Dort nimmt man mir Blut ab, macht ein EEG und ein Kernspintomogramm, einen MRT-Scan. Während ich fixiert in dem polternden Apparat liege, entfalten sich allerlei Szenarien vor meinem inneren Auge, aber das Gefühl, dass ich eine kerngesunde Mutter zweier kleiner Kinder bin, voller wilder Pläne für den Rest ihres Lebens, beruhigt die hartnäckige, nagende Unruhe weiter hinten in meinem Kopf.

Ganz kurz denke ich an dieses eigenartige Rucken in meinem Kopf, von dem ich jede Nacht ein paarmal aufwache. Und manchmal sacke ich tagsüber plötzlich weg. Ich kann nur schwer beschreiben, wie es sich anfühlt, es sind fast real wirkende Albträume.

Wahrscheinlich bin ich ganz einfach entsetzlich müde, beruhige ich mich selbst, als man mir aus dem Kernspintomographen hilft. Ein Donnergrollen ist kein Gewitter. Ein solcher Anfall bedeutet nicht, dass plötzlich etwas nicht in Ordnung ist.

Zu Hause beschließen wir zu feiern, dass die blöden Untersuchungen hinter uns liegen. Ich gieße uns ein Glas kalten Wein ein. Stillen kann ich sowieso nicht mehr, weil man mir im Krankenhaus Kontrastmittel verabreicht hat. Der Schreck des großen epileptischen Anfalls, wegen dem ich heute Morgen mit Schaum vor dem Mund und krampfartigen Bewegungen im Bett lag, weicht vorsichtiger Erleichterung.

»Auf die Gemütlichkeit!« Ich erhebe mein Glas und lache Peter zu.

»Jaja, bei dir muss immer alles gemütlich sein, Brabo!« Peter trinkt einen Schluck. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, wenn die Nächte vorbei sind, in denen man dauernd aufstehen muss, und unsere beiden Kinder endlich durchschlafen.«

»Wunderbar, Peter. Dann darfst du dich auch gleich auf ein gutes EEG und ein gutes Kernspintomogramm freuen. Was für eine Scheißuntersuchung!«

Peter macht als Reaktion auf meine beunruhigte Bemerkung eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach was, du hast schon nichts. Mach dir keine Sorgen, Schatz.«

Ich sage nichts mehr. Wir werden es ja erfahren, übermorgen im Krankenhaus.

2.

Zwei Tage später. Peter und ich melden uns nervös am Empfang des Krankenhauses an, um die Ergebnisse meines EEGs und des Kernspintomogramms zu erfahren. Draußen scheint die Sonne, sodass das Wartezimmer der neurologischen Abteilung so aussieht, wie ich mir das Himmelstor vorstelle. Durch das Glasdach strömt ein sanftes Licht nach drinnen. Allen hier Wartenden wird dadurch etwas Feierliches verliehen, und die herumlaufenden Ärzte und Pflegekräfte gleichen Engeln in weißen Gewändern, umstrahlt von einem Kranz himmlischen Lichts.

Deswegen nehme ich relativ ruhigen Herzens auf einem Stuhl neben dem Kaffeeautomaten Platz, mein getreuer Sankt Peter (Petrus, das war doch der Wächter an der Himmelspforte?) setzt sich neben mich und nimmt meine Hand.

Wir sind pünktlich und haben Eline und Tygo in der Krippe abgegeben, damit es kein unnötiges Geschrei im Wartezimmer gibt. Ich nutze die Zeit und lasse mich im Stuhl zurücksinken. Ich schaue mich um. »Neurologie?«, denke ich und suche in meinem Gedächtnis nach der Information, was man auf dieser Abteilung so macht, außer sich MRT-Scans wie meinen anzuschauen.

Weil eine meiner Freundinnen mit einem Neurologen zusammen ist, weiß ich, dass eine Abteilung wie diese hier unter anderem von Ärzten geführt wird, die sich nach ihrem medizinischen Examen weitere sechs Jahre in das Gehirn und das Nervensystem vertieft haben. Und dass sie Patienten mit Leiden wie Epilepsie, MS, Parkinson, Demenz und Muskelkrankheiten in ihren Wartezimmern empfangen.

Mein Blick fällt auf das Poster einer MS-Kampagne. Unmöglich, denke ich. Ich habe nie irgendwelche Beschwerden. Ich habe auch nie irgendetwas Schlimmes. Selbst damals nicht, als ich mir als Jugendliche sehnlichst ein ernsthaftes Leiden wünschte. Ich verließ die Praxis meines Hausarztes immer mit der Empfehlung, das Ganze etwas ruhiger angehen zu lassen und schlimmstenfalls vor dem Schlafengehen eine Tablette Paracetamol zu nehmen. Dann würde sich alles wieder regeln. Der Nächste, bitte!

Kurz darauf sitzen wir im Sprechzimmer. Die Neurologin, Larissa Koper, ruft fröhlich, dass sie die Ursache meines epileptischen Anfalls gefunden haben. Ich krähe ein albernes »Hurra«, während mir mein immer galanter Peter den Stuhl zurückschiebt, damit ich mich setzen kann.

Dr. Larissa ist ganz schön in Fahrt; heute hat sie ihren großen Tag, und daraus macht sie auch keinen Hehl. Noch bevor ich mit dem Hintern den Stuhl berühre, sagt sie, dass ich einen tennisballgroßen Tumor im Kopf habe. Sie deutet auf den Bildschirm ihres Computers. Ein großer weißer Fleck überlagert die graue Hirnmasse.

BUMM!

Ich schlucke kurz, aber dann frage ich doch. Ist das erblich? Ist es ansteckend? Hätte ich es verhindern können? Ich zittere und bekomme eine Gänsehaut.

»Aber wie ist das denn möglich, wir haben doch gerade erst unser zweites Kind bekommen!«, piepse ich und verkrieche mich dabei in Peters Achselhöhle. Der hat bedeutend weniger Schwierigkeiten damit, seine Gefühle zu zeigen, und weint.

»So ein verdammter, blöder Scheißdreck«, murmelt er, während er mir beinahe die Hand zerdrückt, »damit werden wir verdammt noch mal fertig.«

Ich schaue die Ärztin an.

»Frau Koper, muss ich sterben?«

»Nun ja, Frau van Beek, sterben müssen wir natürlich alle einmal. Sie werden wahrscheinlich einige Zeit früher sterben müssen als andere.«

Kurz verspüre ich ein Entsetzen, und ich will Frau Koper als blödes Miststück beschimpfen, weil sie mir das Ganze doch sehr wenig taktvoll serviert, aber dann fasse ich mich wieder.

»Und … Was werden Sie dagegen unternehmen, gegen diesen Tennisball?«

Die Ärztin schaut uns treudoof an. »Nun ja, ich werde Sie an das Medizinische Zentrum der Freien Universität weiterverweisen, ans VUmc, dort wird man dann sehen, was man für Sie tun kann.«

Ich lasse diese Neuigkeiten auf mich einwirken. Also ein anderes Krankenhaus.

Larissa Koper, das Miststück, reibt sich unbehaglich die Hände.

»Entschuldigung, möchten Sie vielleicht noch kurz mit einer Krankenschwester sprechen, die auch einiges über dieses Thema weiß?«

Na wunderbar, denke ich. Jetzt werden wir zur Krönung auch noch abserviert – es ist ganz offensichtlich, dass wir nicht wichtig sind, wir mit unserem Tennisball. Ich frage sie, ob sie mir aufschreiben kann, was ich da im Kopf habe. Also los. Sie nimmt sich einen Zettel und kritzelt »Astrozytom, möglicherweise anaplastisch« darauf. »Aber«, erklärt sie, während sie mir den Zettel in die Hand drückt, »diesen Begriff sollten Sie auf gar keinen Fall googeln, denn das hätte bestimmt keine positiven Auswirkungen auf Ihren Gemütszustand und Ihre Stimmung!«

Wenn ich bisher noch Zweifel verspürte, weiß ich jetzt mit Sicherheit, dass ich gerade mein Todesurteil zu hören bekommen habe. Ich fange an zu weinen. Sie hätte auch sagen können, dass ich nicht an einen blauen Elefanten denken darf.

Wir rasen nach Hause und kriechen einander auf dem Sofa in die Arme, völlig am Ende. Dann nehme ich mein Handy, um meine Mitmenschen über diese neue Wendung in unserem Leben zu informieren. Ich schicke eine SMS an meine Freundinnen:

MRT-Ergebnis gar nicht gut. Man hat in meinem Kopf etwas gefunden, was da nicht hingehört: einen Hirntumor. Wie es jetzt weitergeht, wissen wir noch nicht, bald Termin im VUmc. Ihr könnt gerne auf einen Kaffee, Tee oder Wein vorbeikommen. Alles Liebe von uns vieren. Küsschen – P, I, T und E

Manche rufe ich persönlich an. Meine Mutter befindet sich gerade auf einem Psychologenkongress und fängt abwechselnd zu schreien und zu weinen an, als sie die Neuigkeit erfährt. Dann ruft sie, dass sie sofort zu mir kommt. Fransje, meine liebste und beste Freundin, die in Spanien lebt, will wissen, ob sie gleich ins nächste Flugzeug steigen soll. Mein Vater sitzt im Garten in der Sonne und reagiert ruhig, so wie ich das von ihm kenne. Diese Art Neuigkeiten brauchen eine Weile, um einem bewusst zu werden, denke ich.

Während Peter seine Anrufe erledigt und seine Eltern, seine Schwester und seine besten Freunde kontaktiert, verkrieche ich mich hinter dem Computer und google alles, was sich über Hirntumore finden lässt. Atemlos lese ich Informationen zum Unterschied zwischen einem Hirntumor zweiten Grades (einem langsam wachsenden Meuchelmörder) und einem Hirntumor vierten Grades (an dem man mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres verstirbt).

Ich schaue zu meinem kleinen Zweijährigen herunter, der ruhig auf dem Boden mit Duplos spielt, und zu seiner drei Monate alten Schwester, die ungerührt ihr Plüschkaninchen gegen eine Wand der Kiste haut. Mir werden die Augen feucht.

Ich wische mir die Tränen ab, bevor sie mir übers Gesicht laufen können.

Mein Handy gibt inzwischen pausenlos Geräusche von sich: Das Teil piepst, vibriert und spielt immer wieder den Grande Valse Brillante. »Wusstest du, dass dieser Standardklingelton von Nokia auf einem Teil aus dem Gran Vals basiert, einem Stück des spanischen Komponisten Francisco Tárrega?«, sage ich zu meiner Mutter, die inzwischen angekommen ist. Sie liegt auf unserem Sofa und weint mit vollem Körpereinsatz, mit ausgiebigem Luftholen und jeder Menge Rotz. Die Schachtel Kleenex, die wir immer auf dem Fensterbrett stehen haben, damit wir Apfelsirup, Schokoladencreme und Tränen von den Gesichtchen unserer Sprösslinge entfernen können, ist längst leer, und sie benutzt ihre Blusenärmel.

Obwohl meine Mutter diese kleinen Weisheiten unter gewöhnlichen Umständen durchaus schätzt, beantwortet sie meine Bemerkung diesmal mit einem noch lauteren Weinanfall. Sie wimmert und ringt die Hände. »Das kann doch einfach nicht wahr sein … Schrecklich, einfach schrecklich.«

Ich gieße ihr noch einmal Weißwein nach und versuche sie zu trösten, indem ich ihre Hände festhalte.

»Liebe Mama, alles wird gut, wirklich!«

»Ich hätte diesen Tumor bekommen sollen, nicht du!«

Jetzt fange ich auch an zu weinen. Ich denke an die wenigen Bestattungen, an denen ich teilgenommen habe, an zu früh verstorbene Menschen, deren Vater oder Mutter, mit Medikamenten vollgepumpt bis zum Anschlag, die Leichenrede hielten. Bei der Vorstellung, selbst einmal eines meiner Kinder zu Grabe tragen zu müssen, zieht sich mir das Mutterherz zusammen. Dann bin ich doch tausendmal lieber selbst an der Reihe. Seltsamerweise stimmt mich dieser Gedanke ein wenig fröhlicher. Ich denke an Dries, einen guten Freund, der mir folgende Mail schickte, nachdem er von dem Tumor erfahren hatte:

Liebe Ingeborg, du bist einer der Menschen mit der positivsten Einstellung, die ich kenne, und ich hoffe, du heißt diesen Besucher in deinem Kopf willkommen und knuddelst ihn mit deiner positiven Energie zu Tode. Ich habe schon oft gehört, dass so etwas nur Menschen zustößt, die auch damit umgehen können – du kannst das, ihr könnt es, wir können es, das Universum kann es!

Ich spüre, wie seine Worte erneut meinen Körper durchströmen. Und ich will es – ich will es schaffen. Also erzähle ich das meiner weinenden Mutter. Dass ich mich der positiven Energie des Universums öffnen und diesem Dreckstumor zeigen will, wie man leben muss!

Dann halten wir uns aneinander fest. So, wie nur Mütter und Töchter das können. Ich vergrabe die Nase in ihrem Mamahals, sie streichelt mir mit den Händen über den bloßen Rücken. Ganz kurz fühle ich mich wieder wie das vierjährige Mädchen von früher, das auf der Straße hingefallen ist und von seiner Mutter aufgehoben wird. Auch jetzt lasse ich mich aufsammeln, obwohl ich weiß, dass ich in der nächsten Zeit mehr als jemals zuvor auf eigenen Beinen stehen und meine eigenen Entscheidungen werde treffen müssen.

Es ist schon dunkel, als meine Mutter das Haus verlässt. Ihr Freund holt sie ab. Die Tränen sind versiegt. Im Türrahmen machen wir Witze über gut aussehende Ärzte, abenteuerliche Punkte auf meiner »Liste der letzten Wünsche« und andere Dinge, die mit unheilbaren Krankheiten zu tun haben. Die Kinder schlafen, Peter sitzt auf dem Sofa, und erst, als ich die Küche aufräume, fällt mein Blick auf den Zettel, den meine Mutter mir dagelassen hat.

Besiege den Geiz mit Freigebigkeit,

Besiege den Lügner mit der Wahrheit.

Besiege Wut mit Liebe,

Besiege das Böse mit dem Guten.

Buddha

Wieder weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Meine fantastische, durch und durch spirituelle Hippie-Mama, die mich mit makrobiologischer und zuckerfreier Ernährung großgezogen hat, mich ab dem siebten Lebensjahr meditieren ließ, mit der ich Yogaübungen machte, meine inneren Blockaden mit Rebirthing und Atemcoaching aufbrach, und die mich anspornte, dem ganzen Scheiß aus der Vergangenheit mit Emotionalkörpertherapie zu Leibe zu rücken, diese Mutter muss nun hilflos zusehen, wie ihre Tochter mit siebenunddreißig Jahren total ins Klo statt nach den Sternen greift. ZACK: Krebs!

Ich spüre, wie sich in mir eine furchtbare Angst ausbreitet vor dem, was jetzt kommt. Aber während ich noch schnell durch die vielen neuen Nachrichten auf meinem Handy scrolle, entdecke ich eine ganze Menge toller Menschen, die mich lieben. Das hilft.

3.

Am wichtigsten ist es zu wissen, was wichtig ist. Dieser Satz schallt mir wie ein Mantra durch den hämmernden Schädel. Neben mir liegt Peter, er hat das Licht im Schlafzimmer angemacht und schaut besorgt drein.

»Wieder ein epileptischer Anfall, Schatz.«

Ich fühle mich vor allem sehr benommen.

»Du hast fünf Minuten lang zuckend und mit Schaum vor dem Mund dagelegen, kannst du dich denn gar nicht mehr daran erinnern?«

»Gar nicht«, gebe ich heiser zurück. Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Wir beschließen, morgen früh Kontakt mit dem Krankenhaus aufzunehmen; jetzt schlucke ich eine Schmerztablette, und wir gehen wieder schlafen.

Als ich Stunden später aufwache, versucht mir das Sonnenlicht in die Augen zu kriechen. Das Bett neben mir ist leer, die roten Zahlen des Weckers zeigen 8.15 Uhr an – ein Ausschlafrekord, wenn man bedenkt, dass ich in den vergangenen Monaten ab fünf Uhr morgens auf den Beinen war. Ich liege da und höre den Vögeln draußen zu, höre aber vor allem meinen Sohn unten lachen, gefolgt von einem enthusiastischen Heulen meiner Tochter.

Plötzlich wird mir klar, dass das das Entscheidende ist. Lustig, dass sich die Frage, mit der ich gerade eingeschlafen bin, zusammen mit der Antwort wieder meldet. Ich hatte mich gestern Abend nach einem nervenaufreibenden Gespräch mit meinem Auftraggeber in Amerika früh hingelegt. Ich hätte nächste Woche nach Minneapolis fliegen sollen, um dort meinen Marketingplan zu präsentieren und Einblick in die Firmenstrategie zu bekommen.

Eigentlich hatte ich wirklich Lust darauf, so kurz nach meiner Entbindung und dem Leben als Mutter zu Hause. Darauf, mich mit den Kollegen in den USA auf einem höheren Niveau auszutauschen und mich nicht nur wie eine Mutter von zwei kleinen Kindern, sondern auch wieder ein wenig wie eine Frau zu fühlen.

Aber mit der Nachricht über den Tumor letzte Woche waren auch meine Zweifel gewachsen. Ob ich überhaupt fahren sollte? Vom Körperlichen her wäre das überhaupt kein Problem. Ich habe vom Krankenhaus Epilepsiemedikamente bekommen, durch deren Einnahme die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls kleiner wird. Auch wenn sie immer noch passieren konnten, wie sich auch letzte Nacht herausgestellt hat.

Gestern Abend hatte ich also eine Entscheidung getroffen und die Geschäftsführerin meines Auftraggebers angerufen, um in meinem besten Englisch zu erklären, dass ich wegen eines »brain tumor« lieber zu Hause bleiben wollte. Kim, die ultraamerikanische Dame und Marketingmanagerin in der Zentrale, reagierte vor allem erschrocken, äußerte Respekt für meine Entscheidung und wünschte mir viel Kraft.

Unterschwellig nahm ich vor allem Erleichterung in ihrer Stimme wahr: Der Gedanke daran, dass eine gerade als unheilbar krank diagnostizierte Freiberuflerin zu ihr ins Büro in Minneapolis kommen würde, sprach sie so gar nicht an. Man stelle sich vor, ich würde mich im Besprechungsraum mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden herumwälzen? Oder mich durch einen Kurzschluss im Schädel plötzlich hemmungslos freizügig verhalten? Der Geschäftsführerin die Wahrheit ins Gesicht sagen? Oder mit einer zu weit aufgeknöpften Bluse dem Chief Financial Officer gegenübertreten, sodass dieser Puritaner mein Dekolleté zu sehen bekäme?

»Noooo dear, you just stay at home with your family.« – Bleiben Sie nur zu Hause bei Ihrer Familie, meine Liebe.

Nach dem Gespräch blieb ein ungutes Bauchgefühl zurück. Ich hätte lieber allen gezeigt, dass ich eine fantastische und professionelle Geschäftsfrau war und allen Schwangerschaftshormonen oder welchem anderen nicht mit der Arbeit verbundenen Übel auch immer zum Trotz glorreiche Erfolge lieferte, als hätte sich nichts geändert.

Aber gut. Die Katze ist aus dem Sack. Ich fahre nicht in die USA, sondern ins VUmc. Dort erfahre ich hoffentlich mehr über mögliche Behandlungen. Ich habe an der Rezeption angerufen und mich erkundigt, ob sie Zeit für mich haben. Meine Woche ist plötzlich schrecklich leer, so ohne Arbeit und mit den Kindern in der Krippe.

Ich schüttele den Kopf, stehe auf und gehe nach unten. Mein Sohn tobt auf seinem Dreirad durchs Zimmer, meine Tochter liegt auf dem Teppich, versucht sich auf die Seite zu rollen und flippt förmlich aus, als sie mich sieht. Meine Brüste reagieren sofort. An meinen Brustwarzen spüre ich, dass meine Milchproduktion ungebremst weiterläuft, obwohl ich wegen der Epilepsiemedikamente nicht mehr stillen darf. Eline scheint das zu merken. Sie rollt sich in meine Richtung und streckt mir die molligen Ärmchen entgegen. Sobald ich sie hochnehme, spüre ich, wie mein Shirt nass wird. Meine Tochter windet sich mir in die Arme und dreht das Gesicht instinktiv in Richtung Brustwarze, wobei sie mich ermutigend anlächelt.

Mir tut das Herz weh. Wie gern würde ich sie anlegen und ihre friedlich schmatzenden Geräusche genießen. Aber das darf ich nicht.

Mir steigen die Tränen in die Augen, ich nicke Peter zu, der mir Eline abnimmt, und laufe schnell in die Küche, um Kaffee zu kochen. Mein Shirt ist inzwischen klatschnass vor Muttermilch. Wieder dieses Prickeln in meinen Augen.

Vor einer Woche habe ich noch die immer wieder unterbrochenen Nächte verflucht, die wunden Brustwarzen und den zügellosen Appetit, die zu einem Neugeborenen gehören. Jetzt würde ich alles dafür geben, zu diesem Augenblick zurückkehren zu können, in dem alles noch einfach und unkompliziert war.

Peter nimmt mich bei der Hand. »Schatz … Was hast du denn?«

Ich versuche ihm zu erklären, dass meine stechenden, leckenden Brüste mich ständig daran erinnern, dass ein bösartiger Besucher in unser Leben eingedrungen ist.

»Ich rufe den Arzt an und frage, ob er mir vielleicht helfen kann«, verkünde ich.

Wie sich herausstellt, gibt es ein Mittel, das die Muttermilchproduktion versiegen lässt. Nach ein paar Dostinex-Tabletten verschwinden die harten Scheiben in meinen Brüsten, und mit ihnen verschwindet sofort auch ein Teil der großen Traurigkeit, die durch das Gefühl entsteht, ich würde als Mutter versagen.

Eline arbeitet gut mit; ohne Murren lässt sie sich auf Fläschchen mit Milchpulver umstellen. Während ich neben ihr liege, dicht an ihren warmen kleinen Körper geschmiegt, dafür sorge, dass ihr Köpfchen auf dem Kissen liegt und sie sich nicht an der Flaschennahrung verschlucken kann, schaut sie mich zufrieden an. Ihr macht das Ganze nicht viel aus. Die Welt dreht sich einfach weiter, und das knurrende Gefühl in ihrem kleinen Magen wird gestillt. Schlafen, essen, spielen, schlafen …

Ich schließe kurz die Augen und lasse zu, dass das Glück hervorkommt. Das Glück in den kleinen Dingen, zum Beispiel, wenn man seiner Tochter ihr Frühstück gibt und sie dabei beobachtet. Wenn man zuschaut, wie sich ihr Köpfchen von links nach rechts bewegt, während sie ihre Umgebung in sich aufnimmt. Wenn man ihre Finger zählt, das warme Gefühl genießt, wenn sie versucht, meine Nase zu packen, und mir dabei aus Versehen fast ein Auge auskratzt. Das Glück ist in diesen Tagen das Glück der kleinen Dinge.

Sobald ich dafür gesorgt habe, dass Eline ihr Bäuerchen macht, und sie in ihr Bettchen gelegt habe, gehe ich in die Küche und nehme mir mein Handy. Das Display leuchtet auf: achtundsechzig neue SMS-Nachrichten. Ich drücke sie weg, ohne sie zu lesen oder zu beantworten.

So kann es nicht weitergehen: Alle wollen etwas von mir, ich werde Tag und Nacht an den Tumor, an Krankheit und Tod erinnert. So finde ich nie Zeit für meine eigenen Gefühle und meinen eigenen Kummer.

Es klingelt. Ein Bote überreicht mir einen großen Blumenstrauß mit einer Karte: Was für furchtbare Neuigkeiten, wir denken an dich. Sag uns Bescheid, wenn wir etwas für dich tun können. Küsschen, Jessie

Jede Nachricht, jeder Blumenstrauß und jede Karte vergrößern mein Schuldgefühl. Ich müsste eigentlich reagieren, ich müsste meinen Schmerz teilen. Stattdessen sauge ich nur wie ein Schwamm den Schmerz der anderen auf. Dabei ist es mein Weg, mein Schicksal. Ich muss mich von den anderen lösen und mir selbst eine Meinung zu dem Todesurteil bilden, das über mich verhängt wurde. Aber wie kann ich das, wenn ich noch nicht einmal selbst weiß, was ich da genau im Kopf habe?

Das Telefon klingelt, und eine freundliche Empfangsdame teilt mir mit, dass ich morgen zu Dr. Deinema kann; es ist ihr gelungen, mich dazwischenzuschieben. Er ist zwar nicht der Spezialist, an den man mich weiterverwiesen hat, aber vielleicht kann er ja unsere drängendsten Fragen beantworten?

4.

Ich stehe in der Küche und nehme meine Epilepsiemedikamente ein. Unbewusst habe ich in der vergangenen Woche eine Routine entwickelt. Ein großes Glas Wasser, eine große Keppra-Tablette runtergeschluckt, noch ein paar Schlucke und dann drei kleine Pillen Carbamazepin. Schlucken. Danach schnell einen Cracker mit Butter beschmieren und aufessen, damit mein Magen nicht gegen die ganzen Medikamente rebelliert.

Nach einer Tasse Kaffee stecke ich meine Tochter in eine saubere Hose und schnalle mir die Babytrage um. Eline findet es herrlich, so dicht an meinen Körper gebunden zu werden und nach draußen zu kommen. Inzwischen überstehen meine Brüste den kurzen Weg zur Kinderkrippe auch, ohne zu lecken.

Tygo läuft an meiner Hand mit. Wir sind sehr pünktlich. Die Krippenleiterin, ein niedliches junges Mädchen Anfang zwanzig, erkundigt sich munter, ob ich jetzt etwas Schönes unternehmen werde, wo doch meine Kinder den ganzen Vormittag nicht zu Hause sind.

»Ich habe einen spannenden Termin im Krankenhaus! Da spreche ich mit dem Arzt, und wir erfahren, wie lange ich noch zu leben habe!«, gebe ich zurück.

Ich freue mich riesig auf diese neue Bekanntschaft.

Aus meinen Google-Recherchen zu Dr. Deinema habe ich erfahren, dass er mit einer Untersuchung zu Virustherapien bei Tumorpatienten promoviert hat. Außerdem äußert er sich auf Twitter zu House-Musik und hat einen Namensvetter, der auch tatsächlich Musik macht.

Aber sobald ich ihm in der Realität gegenüberstehe, zweifle ich daran, auch den richtigen Dr. Deinema gefunden zu haben.

Dieser Mann sieht aus, als würde er den größten Teil seiner Zeit in einer Bibliothek zubringen. Er sprüht nur so vor Intellektualität.

Sobald Peter und ich in seinem Sprechzimmer angekommen sind, legt er los und macht sich an das, was er als »neurologische Tests« bezeichnet. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, mit dem Blick den Bewegungen seiner Finger folgen, und er überprüft mit dem altbekannten Reflexhammer die Funktion meiner Muskeln. So weit, so gut.

Dr. Deinema zeigt nicht die geringste Regung, und daraus schließe ich, dass ich die Prüfung bestanden habe. Aber als wir uns dann hinsetzen, stützt er den Kopf in beide Hände.

»Sie haben zwei kleine Kinder, höre ich?« Seine Stimme zittert ein wenig.

Mir zieht sich der Magen zusammen. Schaffe ich es noch bis zum Parkplatz? Was werden wir dann tun, was wird passieren?

Er kommt zur Sache und sagt, wir werden den nächsten Termin bei seinem Kollegen haben, Dr. van Vleuten van der Zaag.

»Das sind doch aber keine Neuigkeiten«, gebe ich zurück. »Was kann er uns denn sagen, was wir noch nicht wissen?«

Dr. Deinema räuspert sich. »Er ist derjenige, der entscheidet, ob bei Ihnen eine Operation möglich ist. Wahrscheinlich muss der Eingriff im Wachzustand erfolgen, damit der Chirurg Ihre Sprachfunktionen testen kann, während er den Tumor entfernt.«

»Was zur Hölle?!« Es rutscht mir einfach heraus. »Sorry, ich verstehe das nicht, wie kann man denn während einer Operation wach bleiben? Während einer Operation im Kopf?«

Ich wage es nicht, noch mehr Fragen zu stellen, aber an Dr. Deinemas Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass ich etwas Schlimmes im Kopf habe. Und dass ich meinen beiden Kindern mit dieser Erkrankung auch keinen besonders großen Gefallen tue. Ich atme tief ein, doch die Panik wird immer größer. Ich dachte bisher, Ärzte hätten keine Gefühle, und jetzt kann ich sogar etwas wie Kummer im Gesicht dieses Mannes lesen. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich habe keine Zeit, sein Gesicht genauer zu studieren, denn Dr. Deinema setzt nach diesen dürftigen Informationen sein Pokerface auf.

Ich kann die Spannung im Raum förmlich spüren. »Ich bin hart im Nehmen«, sage ich. Das kommt völlig zusammenhanglos, aber ich weiß von einem Freund, der ebenfalls eine Krebserkrankung hat, dass es nie schaden kann, wenn man die Leute im Krankenhaus wissen lässt, dass sie einem wirklich alles sagen dürfen.

»Machen Sie nur alle Behandlungen, die Ihnen einfallen; ich habe verdammt noch mal zwei kleine Kinder, und ich will sehen, wie die zu pickeligen Teenagern heranwachsen. Mindestens!«

»Alles klar«, ruft Dr. Deinema. Es fehlt nicht viel, und er würde Haltung annehmen.

Wir schütteln einander die Hand. Seine ist kühl, meine warm und verschwitzt. Peter und ich verlassen einigermaßen benommen das Zimmer.

Peter zündet sich eine Zigarette an. Ich schaue auf mein Handy und stelle fest, dass ich meinen Termin bei der Maniküre verpasst habe. Diese Entdeckung teile ich mit Peter.

»Ja, Schatz, im Angesicht meines voraussichtlichen frühen Todes beschäftige ich mich mit so trivialen Dingen: mit der Farbe meiner Nägel.«

Wir versuchen zu lachen, aber es gelingt uns nicht.

Schweigend fahren wir nach Hause. Der Rest des Tages verläuft mühsam. Die Vorstellung, dass ich Krebs habe, muss erst mal richtig zu mir durchdringen, allerdings habe ich noch nicht wirklich eine Methode gefunden, wie das geschehen soll.

Ich gehe früh ins Bett und liege stundenlang wach. Ich versuche die Nachricht über den Tumor mit anderen schlimmen Dingen zu vergleichen. Ich denke daran zurück, wie ich im Kindergarten gemobbt wurde; die anderen Kinder zogen mich an den Haaren und nahmen mir die Frühstücksdose weg. Meine Großmutter erscheint vor meinem inneren Auge, hinter einem weißen Vorhang, auf ihrem Bett aufgebahrt. Ich erinnere mich daran, wie ich ihr das Gesicht an die Wange legte. Sie fühlte sich kalt an, aber sie war immer noch die liebe, fürsorgliche Oma, die ich kannte. Ich zittere. Werde ich sie wiedersehen, wenn meine Zeit gekommen ist?