Die Zeitreisende - Ute Lemper - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Zeitreisende E-Book

Ute Lemper

0,0
21,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ute Lemper – Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Künstlerin – Zu ihrem 60sten Geburtstag erlaubt die Grande Dame des Chansons einen überraschenden persönlichen Einblick in ihr Leben vor und hinter dem Vorhang.   Lemper erzählt von den Anfängen ihres Berufes, ihren großen und kleinen Erfolgen, ihren vielen aufregenden Projekten ihrer langen Karriere im ständigen Konflikt mit ihrer wichtigsten Rolle als Mutter von vier Kindern.   Sie berichtet von den wichtigen künstlerischen Begegnungen in ihrem Leben und reflektiert die parallelen zeitgeschichtlichen Ereignisse der sich rapide wandelnden Welt – die literarische Zeitreise einer außergewöhnlichen Frau, ein beeindruckendes Dokument unserer Zeitgeschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 458

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer Edition ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: texthochzwei, Tamara Fromme

Bildredaktion: Nafsika Mylona

Covergestaltung: Ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel

eBook-Herstellung: Chiara Knell

ISBN 978-3-8338-8936-3

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: Guido Harari; Steffen Thalemann

Fotos: Guido Harari; Jacques Beneich; Jean Claude Marouze; Jim Rakete; Lorenzo Agius; Marianne Oischevsky; Max Mara; Ute Lemper privat

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-8936 06_2023_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

Die Tage vergehen

heute so geschwind, dass ich sie nicht mehr zählen kann, meine Geburtstage jagen sich und werden unbedeutend. Im Zeitraffer wachsen die Kinder zu Erwachsenen und meine Hoffnung auf ein gutes Leben für sie wird anstrengend in unserer Welt. Wie frei und liebend ich sie auch erzogen habe, sie gehen auf ihre eigenen schmerzenden Exkursionen und suchen nach Glück, und oft prallen sie an harte Wände. 

Die Zeit legt sich in Falten um mich und bringt mir das Gestern erstaunlich nahe. Das Langzeitgedächtnis ist eine unglaubliche Einrichtung mit seinen farbigen Gefühlsfiltern. Sie sind gewollter Betrug an mir selbst und an der Welt, doch ebenso ist die Wahrheit ein relativer Spiegel. Ich schaue nun in den anderen Flügel des Spiegels und beginne diese Reise … 

Prolog

» Erinnerung ist wie ein Filter und

oft nur in ihr werden Momente

zu Wunden oder Wundern. «

Ich empfinde Melancholie im Angesicht der Vergänglichkeit. Sie ist eine tägliche Stimmung in meinem Gemüt. Alles, was ich um mich herum wahrnehme, beobachte ich in seiner ständigen, raschen Veränderung. Meine Stadt New York, meine Kinder, unsere überdrehte, verletzte Welt, meinen Beruf sowie meinen Körper. Auch mein Lebensgefühl ist hiervon betroffen, aber wenn ich einen Schritt zurücktrete und meine sechzig Jahre, mein Buch in den Händen halte, herrscht Ruhe und Zeitlosigkeit.

Erleichtert bemerke ich, dass diese Wahrheit eine Befreiung von irdischen Faktoren mit sich führt.

In einer Zeitfalte begegne ich hier dem Gestern, als ob es greifbar vor mir liegt, doch mit dem Wissen über die Zukunft kann ich es besser sortieren. Es schmerzt, die Vergangenheit wiederzubeleben.

Man liest in den wissenschaftlichen Gazetten, dass neurologische Prozesse der Grund dafür sind, dass die Zeit sich anscheinend durch die Jahre zunehmend schneller dreht. Die sich verkürzende Zukunft bedingt die wachsende Anhäufung von Erinnerungen. Das Gehirn rollt Schneebälle von Gegenwarten den Berg hinunter, immer schneller in die Vergangenheit. Es formen sich Lawinen, die vieles mit sich reißen, einiges vergraben unter eisigen Schichten der Verdrängung.

Das Rad der Zeit möchte ich niemals zurückdrehen. Dafür fehlt mir die Kraft. Würde ich alles genau so noch einmal entscheiden und erleben wollen? Oder hätte ich mehr Liebe und Ruhe suchen sollen? Alles sollte so geschehen und findet heute seinen Sinn. Ich bin dankbar, aber still. Die Zukunft liegt vor mir wie ein offenes Buch, sein Ende nähert sich aber schneller als gewünscht. Die Strecke zur wundersamen Tür wird wahrhaftiger und lässt sich nicht mehr ignorieren. Das letzte finale Kapitel, wie auch immer ausgesonnen in all seinen Optionen, scheint traurig. Noch spaziere ich nur auf dem letzten Drittel meines Weges und hoffentlich bin ich weiter entfernt als befürchtet vom Endspurt. Mein Vater sagte mir schmunzelnd und weise, als ich fünfzig wurde: „Jetzt bist du in der Jugend des Alters.“ Das bin ich auch mit sechzig noch, denke ich optimistisch. Mein nächstes Kapitel trägt viel zu schnell den Titel „JETZT“. Seine Seiten sind noch offen, doch gefüllt mit den geheimen Schriften meiner Geschichte.

Die Zeit spielt uns immer wieder einen fatalen Streich und lacht über die tickende Uhr.

Marlene Dietrich sagte mir 1987 am Telefon, ich solle meine private Person, mein Leben stets geheim halten. Sie warnte vor den Geiern. Ich habe mich unbewusst durch die vielen Jahrzehnte an ihren Rat gehalten, er schien weise. Ich schreibe dieses Buch mit dem Wissen, dass sich in jeder meiner Erzählungen Hunderte von anderen Menschenschicksalen spiegeln, dort in dem kristallenen, funkelnden Meer, das sich aus salzigen Tränen geformt hat. Ich bin nicht außergewöhnlich, sondern lebe, lache und weine, wie alle anderen.

Im geschriebenen Wort leben tausend Bedeutungen. Der Leser formt und knetet sich sein eigenes Geheimnis, das Wort spricht still weiter, wird vergessen oder wächst zum Begleiter.

Ich fühle sie täglich, die schönen und schmerzvollen Wunder unseres Weges. Wer zwischen den geheimnisvollen Sphären der Welt lebt, ist nie allein oder des Lebens müde.

Im Alltag ist es schwierig, diesen Fokus zu finden, da zu viel Unwesentliches geschieht, überall Worte verschwendet werden und man stets mit den menschlichen Ungepflogenheiten zu tun hat. Überall sind Stürme und ich wandle und eile durch sie, während ich versuche, es allen recht zu machen. Erst am Schluss darf ich leise zu mir sagen, ich brauche Zeit für mich.

Es gibt Augenblicke, in denen ich die Zeit anhalten möchte, da sie viel zu schnell vergeht. Für einen kurzen Moment im Einklang mit dem Sein und seinen Klängen steht die Zeit manchmal still. Der Moment ist sofort Erinnerung und Ewigkeit in einem.

Der Bühnenmoment vergeht, bleibt in Erinnerung, wenn er es wert ist. Am nächsten Tag muss er neu geschaffen werden und dann noch einmal, anders, ähnlich, mal schwächer, mal stärker, doch immer wieder neu geboren. Die Fotografie bleibt als Stillleben.

Gerne möchte ich in diesem zeitlosen Raum verweilen, seine Wände bemalen, mit Bildern aus dem Gestern, Projektionen aus der Zukunft und dem Moment des Jetzt. Eine Sphäre außerhalb der Zeitlinie, in der alles gleichzeitig existiert. Mein Manuskript.

Aus der Ferne

Es ist der 4. Juli, mal wieder. Diesmal das Jahr 2022, ich habe heute Geburtstag und werde 59 Jahre alt.

Das heißt, ich beginne mein 60stes Lebensjahr. Ich bin allein an diesem Geburtstag, ohne Familie. Nun nicht wirklich allein, ich sitze im vollgepackten Flugzeug auf dem Weg von New York nach Amsterdam, dann weiter nach Bologna, Italien, wo ich morgen ein Konzert „Hommage an den argentinischen Tango-Komponisten Astor Piazzolla“ geben werde. Ich blicke aus dem Fenster und sehe das Meer. Wie immer erinnert mich der Anblick an Haut. Haut, gegliedert in Zellen und zerfurcht von Tausenden kleinen Linien, die sie wie ein Netzwerk durchziehen und ein kompliziertes, wunderbares Muster schaffen. Unter der Lupe betrachtet ist die Haut meiner Hand und die Oberfläche des Meeres aus der Ferne fast identisch. Wir sind Natur und wundersamerweise ist alles miteinander verbunden, die Elemente und Moleküle, Schwingungen, elektrische und magnetische Frequenzen, Leben und Tod, Absterben und Neugeburten, alles kommt und geht, manchmal gefühlt im Schnelltempo, manchmal scheint es Ewigkeiten zu brauchen. Liebe und Leid sind in der Natur geborgen, wie in einem filigranen Spinnengewebe aus elektrisch geladenen Blitzen. Glücklicherweise gibt es die gelartigen, reaktiven Buffer zwischen den Bandscheiben des Lebens, dem Rückgrat, die die vielen Schläge und Stolpersteine erträglich machen. Aber zu viel Druck zerstört die Buffer und irgendwann funktionieren sie einfach nicht mehr. Zu viel Trauma und Verluste, und es dauert Jahre, um das Licht zu erblicken, Linderung zu finden oder, vielleicht irgendwann, Heilung.

Etwas geschah im Jahre 2015. Eine Höhle der Dunkelheit öffnete sich unter meinem Tag und die Nacht wurde zum schlaflosen Krater. Abgrundtiefe Enttäuschung verbreitete sich über mein Leben und der Glaube an Liebe verging für immer. Es gab die Zeit davor und dann ist die Zeit danach. Ich kann den Weg nie wieder zurückfinden in das Vertrauen, geschweige denn in einen romantischen Traum. Es ist, als ob die Bäume abgebrannt sind, eine Dürre die Landschaft verödet hat und die Flüsse vertrocknet sind. Als ob eine biblische Apokalypse den Lebensraum zerstört und der Luft den Sauerstoff entzogen hat.

Warum dauert es so lang, Trauer zu überwinden? Kann man den Schmerz jemals hinter sich lassen oder steckt er in jeder Zellstruktur, eingebettet wie DNA, und mutiert das ganze Leben lang. Warum kann ich Wunden im Herzen nicht wegwischen wie eine schlechte Kritik? Menschen verletzen Menschen, besonders wenn sie sich lieben. Die Worte sind gesprochen und die Tat ist geschehen. Bin ich nachtragend und hartnäckig, kann ich einfach nicht vergeben? Pablo Neruda schrieb: „Die Liebe ist kurz, aber das Vergessen dauert Ewigkeiten.“ Gedicht Nummer zwanzig seiner Liebesgedichte, „Das traurigste Gedicht“.

Der Anblick des Meeres da unten lässt meine Gedanken fliegen. So glänzend und schillernd in Farben wie ein silbernes Kleid, das erst noch erfunden werden muss … Apropos Kleid, meine Sorgen sind plötzlich sehr lebensnah, ich hoffe der Koffer mit den Bühnenkleidern ist an Bord. Im Moment gibt es überall Personalmangel an den Flughäfen und am JFK-Airport in New York war, aufgrund von vielen Verspätungen, das totale Chaos ausgebrochen.

Eigentlich sollte es eine lange Reise werden, von Amsterdam über Italien weiter nach Athen, Thessaloniki und Zypern, aber wegen der Pandemie, dem ukrainischen Krieg und der starken Inflation sind diese Konzerte nun zum dritten Mal in Folge um ein Jahr verschoben worden. Mir ist das eigentlich ganz recht, denn ich bleibe tatsächlich lieber zu Hause. Die Pandemie hat mich reisemüde gemacht. Diese erzwungene Pause hat mir eine neue Perspektive als Realität eröffnet, eine alternative Dimension meines Lebens, nach der ich mich eigentlich schon immer gesehnt hatte. Während der letzten Jahrzehnte habe ich mir hunderttausendmal die Frage gestellt, was wäre, wenn ich mich aus diesem Bühnenleben zurückziehe? Einfach aufhören und die Türe schließen. Ich war zu viele Jahre damit beschäftigt gewesen, Geplantes zu absolvieren, ohne die Gegenwart einfach zu genießen. Ich könnte doch weiterhin künstlerisch kreativ bleiben, aber müsste nicht ständig in der großen weiten Welt herumreisen, aus Koffern leben und in den ständigen Zeitverschiebungen mit Jetlag verloren gehen.

Die Antwort auf diese Versuchung war einfach: Da ich die Brotverdienerin bin, kann ich mir dieses Scenario nicht erlauben. Außerdem lebe ich doch einen Traum von Musik im magischen Tempel des Theaters. Es wäre undankbar, dieses Privileg nicht zu schätzen und die Menschen für ihr Interesse und ihre Liebe nicht zu belohnen. Und damit war das Thema erledigt. Nur höhere Gewalt könnte diesen Status quo beeinflussen.

Und dann kam sie, diese „Naturkatastrophe“, deren Eventualität man in jedem Vertrag lächelnd zur Kenntnis nimmt und selbstverständlich unterschreibt, nun geschah es wirklich! Beinah hatte ich heimlich gejauchzt, als meine Konzertpläne für März, April, Mai in Paris im schönen Théâtre du Châtelet und in Mailand im Teatro Piccolo abgesagt wurden. War ich verrückt? Wie konnte ich mich freuen? Dies sind die schönsten Bühnen der Welt! Ich hatte sie in den letzten 30 Jahren schon einige Male bespielt und sie hatten nie an Magie verloren. Am 12. März 2020 hatte ich mein letztes Konzert vor der Pandemie in Brüssel gegeben, es waren „Die 7 Todsünden der Kleinbürger“ von Brecht und Weill, seit Jahrzehnten eines meiner Lieblingswerke mit Orchester. Das Publikum war schon ausgeladen gewesen und man reduzierte das Konzert, wunderbar begleitet vom Brüsseler Philharmonie Orchester, auf eine TV-Ausstrahlung. Somit sang ich vor komplett leerem Haus, die Kameras direkt vor meiner Nase. Es gab keinen Applaus in dem gähnend leeren, großen Auditorium und es war schwierig, Stimmung zu kreieren. Hinzu kam, dass an diesem Abend Donald Trump, damals amtierender Präsident der USA, in einer Pressekonferenz angedroht hatte, die Grenzen zum „verseuchten“ Europa zu schließen. Dabei hatte er vergessen zu erwähnen, dass amerikanische Staatsbürger und Legal Residents vom Einreiseverbot nicht betroffen waren. Meine Familie und ich waren über Facetime verbunden, als wir die Übertragung aus dem Weißen Haus live im Fernsehen verfolgten. Bei mir war es nachts, nach dem Konzert in Brüssel, in New York bei meinem Mann und den zwei Jungens war es später Nachmittag, meine älteren Kinder in San Francisco befanden sich noch in den Mittagsstunden. Wir waren schockiert und beschlossen, schnellstens ein Rückflugticket für mich zu buchen, und zwar schon für den nächsten Morgen.

Ich bin seit mehr als 30 Jahren in Besitz einer Green Card und hätte somit einige Tage später noch nach New York zurückreisen können. Es war dennoch mein Glück gewesen, sofort zurückzufliegen, da in den folgenden Tagen Chaos am Flughafen JFK herrschte, bis Trump die Grenzen nach Europa endgültig schloss. Jeder Einreisende musste sich vor der Kontrolle der Papiere einer Temperaturmessung unterziehen. Menschenmassen drängten sich unmaskiert stundenlang in elendig langen Schlangen, und wer noch nicht mit Corona infiziert war, der sollte es dort am JFK-Flughafen bei der Einreise sicherlich bekommen. Doch davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt, am 12. März, inmitten der Nacht nach meinem Konzert, allein im Hotelzimmer, in der Warteschleife mit dem Delta-Mitarbeiter am Telefon, noch nichts.

Am nächsten Morgen befand ich mich also im Flieger nach Hause, nach New York, meiner geliebten Stadt. Die Schulen meiner Söhne Jonas und Julian, damals 8 und 14 Jahre alt, waren bereits geschlossen. Meine zwei großen, erwachsenen Kinder Max (27) und Stella (25) flogen spontan in Weltuntergangsstimmung aus San Francisco ein. Somit saßen wir am 13. März alle gemeinsam am Abendbrottisch und ich freute mich tatsächlich riesig über dieses unerwartete Familientreffen. Wir waren alle vereint, unter einer Decke in seltsamen Zeiten, wir hatten ein wenig Skepsis und Angst, aber das schweißte uns nur mehr zusammen.

Pinebush

Am nächsten Tag verließen wir die Stadt und quartierten uns in unserem Landhaus in Pinebush, Upstate New York, ein. Das Haus ist ein ganz einfaches hölzernes Paradies, mitten in den Bergen, im Wald verborgen, weit weg von jeder Zivilisation, ein Versteck in der Natur. An jenem Wochenende begann es zu schneien und wir fuhren zum letzten Mal in diesem Jahr Schlitten auf den Hügeln, die das Haus umschmiegen. Hier blieben wir für mehrere Wochen, bis in den Frühling hinein, der dort draußen wunderbar ist. Wir kochten, machten lange Spaziergänge, kümmerten uns um die Gartenarbeiten und reparierten sämtliche morschen Holzbarren auf dem Deck, rund um das Haus.

Das alte Ciderhaus besitzen wir seit 1999 und es war im Laufe der Zeit durch viele Winterschneestürme, die sogenannten „North Eastern“, heruntergekommen. Im Grunde hätte man es jährlich instand halten müssen, aber wir hatten das lange vernachlässigt. Nun rächten sich das Haus und die Zeit. Mein Mann und mein großer Sohn Max fällten kleinere Bäume, die über Jahrzehnte zu schräg in Richtung Haus gewachsen waren, und ironischerweise genossen sie die testosterongeladene, körperliche Macho-Arbeit mit nackten Oberkörpern und seltsamem Gebrüll.

Meine Tochter Stella und ich wunderten uns schmunzelnd und rollten die Augen. Nachdem wir das reparierte Deck mit frischem Holzlack versiegelt hatten, spielten wir stundenlang Karten sowie sämtliche lang vergessene Gesellschaftsspiele aus dem verstaubten Regal. Das Internet war schlecht, die Kinder entdeckten wundersame Beschäftigungen aus dem letzten Jahrhundert, weit entfernt vom Telefon und Computer. Jonas und ich fingen Frösche und Schildkröten, um sie nach kurzem Spiel und einer Namensgebung wieder freizulassen. Wir alle musizierten und genossen verrückte Jam-Sessions. Die großen Jungens spielten Gitarre, Jonas und ich Klavier und Keyboard, Stella und mein Mann Todd machten sich an das Schlagzeug, die Conga-Drums sowie andere exotische Percussion-Instrumente, mit denen wir das Wohnzimmer dekoriert hatten. Wir entfachten jeden Abend in der Dunkelheit ein Lagerfeuer, plauderten oder starrten einfach sprachlos in die Flammen, bewunderten gleichzeitig das unglaubliche Meer von Sternen am Himmel und waren uns unserer Winzigkeit und Vergänglichkeit bewusst. Die Zeit stand hier still und drängte uns nicht weiter. Wir lebten im Einklang mit der Natur und in absoluter Zurückgezogenheit.

Im Essbereich des Hauses hatten wir vor 23 Jahren eine Polaroid-Wand eingerichtet. Mittlerweile war die gesamte Fläche mit Erinnerungen aus vielen Sommern bedeckt, ein fabelhaftes Mosaik an süßen und verrückten Momenten. Die Fotos hingen eng gedrängt nebeneinander. Manche bereits verblichen, aus den anfänglichen Jahren vor der Millenniumwende. Aber die Erinnerungen, die sie wachriefen, waren präzise und klar. Die Wand ist bis heute ein Wahrzeichen unserer Familie, aber auch ein Zeugnis, wie schnell und gnadenlos die Zeit vergeht: Auf einem Bild ist Stella vier Jahre alt und sitzt an unserem großen runden, hölzernen Küchentisch, den ich übrigens damals im Jahre 1988 in Frankfurt erstanden hatte. Daneben hängt ein Bild, auf dem sie als 16-Jährige am selben Ort das Baby Jonas hält, und wiederum daneben steht Jonas mit 10 Jahren stolz und grinsend mit vielen Sommersprossen am gleichen Küchentisch, mit der nun 24-jährigen Stella an seiner Seite. Mein größter Sohn Max, als 7-Jähriger, 15-Jähriger und 27-Jähriger mit den verschiedensten Haarstilen, jedoch stets mit der für ihn typischen, albernen Liebenswürdigkeit. Was vor vielen Jahren mit drei Tupfern auf einer nackten Wand begann, war nun eine Collage von tausend Erinnerungen. Diese Zeitsprünge erstaunen meine Familie immer wieder, hier im Spiegel der chaotischen Fotowand, in unserem Landhaus in Pinebush, in dem wir 25 herrliche Sommer erlebt haben.

Wann immer ich dort bin, vergesse ich viele Sorgen, Druck hebt sich von meiner Brust und verfliegt mit dem Morgendunst. Die Stadt New York mit ihrem Lärm verschwindet, die Bühnen der Welt scheinen unreal und werden zu Hirngespinsten eines anderen Lebens. Jede Spur von Glamour wird überflüssig. Hier, inmitten der Natur, mit Sonnenuntergängen und Nächten, die von Grillenzirpen und Tausenden Glühwürmchen angekündigt werden. Nirgendwo ist das nervenkitzelnde, mir so sehr bekannte Einläuten eines Konzertes zu hören. Vorhänge und Garderoben, Applaus und Lampenfieber, Flughäfen und Stress, all das befindet sich auf einem anderen Planeten, wenn ich hier bin.

Natürlich war die Pandemie eine schreckliche Katastrophe, viel zu viele Menschen starben, die Kinder verloren die Struktur ihres Alltags und die Bildung kam zu kurz, während Einsamkeit über die Bevölkerung der Welt einbrach und sich ins Unerträgliche ausdehnte. Viele Menschen verwandelten sich in der Leere und dem Eingesperrtsein oder durch die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Partner in die schlechteste Version ihrer selbst. Aber einige fanden auch eine neue, glücklichere Version ihrer selbst. Für einige Menschen war es ein aufgezwungenes Experiment, das Leben ohne Arbeit zu erleben. Viele definieren sich durch ihre Arbeit und litten in dem Vakuum. Andere wollten nie wieder zurück in den stressigen, oft sinnlosen Arbeitsalltag. Das führte zu finanziellem Desaster und einer völligen Neuorientierung der Lebensaufgaben. Mein New Yorker Nachbar, seit 35 Jahren ein erfolgreicher Geschäftsmann, schmiss seinen Job, zog auf das Land und wurde ein Bio Farmer. Er war plötzlich glücklich wie nie zuvor.

Meine Tochter Stella und viele ihrer Kollegen arbeiteten für zwanzig Monate nur remote aus dem Wohn- oder Schlafzimmer und litten ungeheuerlich unter dem fehlenden sozialen Kontakt, sodass sie zeitweise Therapie und Medikamente benötigten, um die Vereinsamung zu ertragen.

Ich muss zugeben, dass ich die Bühne nicht vermisst habe. Es war sehr schwierig, Motivation zu finden, um die Stimme täglich weiter zu schulen, damit sich das Instrument nicht verliert. Ich hatte keine Ahnung, wie lange die Singpause dauern würde. Offiziell hatte der Broadway und die Theater der Welt nur für drei Wochen geschlossen und wir Sänger, Musiker und Tänzer mussten täglich trainieren, um jederzeit wieder einsteigen zu können. Wir waren sozusagen auf Abruf bereit. Aber ansonsten liebte ich die Wochen zu Beginn des Pandemie-Lockdowns, zurückgezogen mit meiner Familie zwischen Pinebush und Manhattan.

Die Stadt war stillgelegt, man sah kaum Menschen in den kahlen, verlassenen Straßen, kein Auto fuhr, das übliche Gehupe war verstummt, wie in einem Science-Fiction-Film war das Leben ausgesaugt, vergangen oder versteckt. Nur die regelmäßigen Sirenen der Krankenwagen durchschnitten die Totenstille. Die Spielplätze waren geschlossen, die Basketball Hoops abgeschraubt, sodass niemand in Versuchung kam, zu spielen und Kontaktsport zu betreiben. Aber jeden Abend um sieben Uhr geschah etwas Wundersames. Pünktlich auf die Sekunde erschallte eine perkussive, vokale Symphonie über Manhattan und den anderen Boroughs. Aus allen Fenstern, von allen Dächern schwoll schallender Applaus und lautes verzweifeltes Gejubel, um dem Krankenhauspersonal und Ärzten für ihre endlose Arbeit und Hilfe zu danken. Die New Yorker schlugen mit Kochlöffeln auf Chromtöpfe oder mit Metallstangen auf Blechdeckel, man beschwor alles, was Schallwellen schuf und den Geist über New York anflehte. In diesen fünf Minuten wuchs die Stadt täglich zu einer einzigen Gemeinde zusammen und die Millionen unterschiedlichen Gesichter teilten den gleichen Ausdruck der Zusammengehörigkeit, gemeinsam ertrug man die Einsamkeit … Eine Solidarität, die man zuvor nur am 11. September 2001 erlebt hatte.

Eine alternative Wirklichkeit

Die Vision des anderen, stilleren, alternativen Lebens hatte mich oft verfolgt, wie ein sehnsüchtiger Schatten. Ich beschuldigte mich dann der Feigheit gepaart mit einer preußischen Disziplin.

Je älter die Kinder wurden, desto mehr respektierten sie jedoch meinen Beruf, fanden mein Leben faszinierend und akzeptierten die Tatsache, dass ich teilweise tagelang abwesend war. Vor allem aber wunderten sie sich über meinen endlosen Einsatz und die Leidenschaft für meine Arbeit. Eine nie endende Lebensquelle. Ich versuche ihnen zu erklären, dass je mehr sie ihre Batterie anzapfen, desto stärker wird sie. Das gilt für die Lebenskraft, aber auch für den Geist. Welch ein Glück und Privileg ist es, die Leidenschaft zum Beruf zu machen. Es ist eine Ausnahme und ein seltener Schatz. Ich spüre die Enttäuschung meiner Kinder darüber, dass sie einen anderen schwierigeren Pfad gehen müssen. Sie suchen nach dieser Adrenalinpumpe, diesem Teufelsritt mit Engelsflügeln, aber sie hatten bisher nicht die Gelegenheit, ihren Beruf so zu lieben, wie ich das schon immer tue.

Ich erzähle meiner intelligenten 25-jährigen Tochter Stella, wie mich während Konzerten manchmal Momente von Vollkommenheit überrollen, eine Kanalisierung der tiefen und großen Gefühle in Musik, Wort oder auch der Stille. Ein Augenblick, in dem ein Schimmer von universeller Öffnung der Seele geschieht. Es gibt dann weder Publikum noch Darsteller, sondern nur Menschlichkeit in ihrer Komplexität. Ich empfinde mich in solchen Augenblicken eher als Medium, bin eins mit allen, ermögliche nur den Ausdruck mit meiner Körperlichkeit und Stimme in unserem Raum voller Geschichten. In diesen Minuten, manchmal nur Sekunden, hat alles einen Sinn, auch die existenzielle Nähe zur Dunkelheit und alle Zweifel. Meinen Beruf empfinde ich dann als Berufung.

Die Trennung von den Kindern war durch all die Jahre schmerzvoll, besonders von meiner geliebten Tochter Stella, denn sie war hochsensibel, seltsamerweise nie zu Streichen aufgelegt. Sie war sanft und aufrichtig, anders gestrickt als ich. Ich war eher ein Tiger und mein ganzes Leben war doch ein einziger Streich! Ich musste Stella behüten, unsere Verbindung war so stark während ihrer Kindheit, dass das Reißen in der Brust über verschiedene Kontinente hinweg zu spüren war und bei uns beiden Wunden, vielleicht sogar Narben hinterließ. Heute ist Stella eine starke, attraktive Frau, die mitten in ihrem erfolgreichen Berufsleben steht und mit ihren Freunden in Brooklyn ihr unabhängiges Leben führt. Sie kommt ohne mich aus und das ist gut so. Aber ich spüre ihre Sehnsucht und Suche nach dem inspirierten Pfad in die Tiefe, sie folgt ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, koste es, was es wolle.

Stella hat meinen „Teufelsritt mit Engelsflügeln“ jahrzehntelang verfolgt, ist teilweise auf einem bunten Einhorn mitgeritten, sie kennt nur zu gut die Vehemenz der Reise in die Tiefe und den Flug über die Landschaften des Lebens mit seinen vielen Abstürzen.

Natürlich bekam ich meine Belohnung auf der Bühne, bei Konzerten und in der Verwirklichung meiner künstlerischen Ideen, die oft nur mit einem Funken von Inspiration begannen und sich zu großen Bühnenprojekten entwickelten. Es war weniger der Applaus des Publikums, sondern eher die Momente der Verschmelzung von Musik und Existenz, die sich ins Herz eingruben. Oft waren es die dunklen Geschichten am Abgrund des Lebens, die mich interessierten, Außenseiter, die überlebten, Antihelden und Nonkonformisten in Befreiungskriegen, die es wert waren, gekämpft zu werden. Die Briten beschrieben mich deshalb als: „Black as hell“.

» Lemper wrings expression from her voice,

from a full throated roar to a whisper, she holds back nothing, and ruthlessly exposes herself.

Seamy, seedy, very funny at parts and black as hell.«

Michael Tumelty, The Herald

Zurück zum Konzertleben. Nach einem Auftritt sitze ich in der Garderobe, der Spuk ist vorbei: Abgeschminkt im Tourbus, abgeschlafft mit etwas Alkohol im Blut und schlecht verdauten Sandwiches im Magen, in ein Hotel zurückfahrend, dann bald in der Nacht irgendwann mit Bauchschmerzen und Jetlag aufwachend und nicht mehr wissend, wo das Badezimmer ist. Ist es hier oder dort, gestern war es auf der rechten Seite vom Bett aus, heute ist es irgendwo anders …

Ich versuche verlorener Zeit zu entfliehen, dem Smalltalk mit anstrengenden Menschen und den endlosen Transporten zwischen den Städten. Und nur für diese Zeitverluste soll die Bezahlung sich rechtfertigen. Das Zelebrieren von Musik und Geschichten in meinen Shows kommt ansonsten immer von Herzen und bedürfen keiner finanziellen Belohnung.

Bin ich privat eine völlig andere Person als auf der Bühne, fragt man mich in Interviews. Ich bin ein romantischer Mensch, der gern in einem Nest lebt. Mein Mann Todd bestreitet das und sagt, dass ich im Grunde eine Insel bin, aber genauso verrückt und leidenschaftlich im Leben wie auf der Bühne. In meiner Imagination bin ich grenzenlos, auch ersticke ich ungern Emotionen und vor allen Dingen bin ich voller Empathie für andere.

Todd hat recht, ich bin oft Alleingängerin. Ich kann mit zu vielen Kompromissen schlecht umgehen, will nie konform sein, kann nichts vorlügen und hasse Kitsch. Ich passe in keine Schublade, bin trotzdem bodenständig und unauffällig. Ich kann mich in keine Jacke hineinzwängen, die mich nicht atmen lässt, die mich in Mode und Farbe oder anderen Eigenschaften interpretieren möchte. Ich liebe es schlicht, elegant oder lässig. Sobald eine Zwangskleidung, eine Arbeitssituation, eine erdrückende Bekanntschaft an mir klebt, reiße ich alle Fesseln ab und renne oder falle wieder in die bodenlose Freiheit.

Besessenheit ist sicherlich Teil meiner Existenz, eine Flucht vom langweiligen Bedeutungslosen, eine Neugierde auf das Unerforschte.

Nur wenn man zu weit geht, kann man herausfinden, wie weit man gehen kann. Ich schiebe meine Grenzen weiter nach vorn. Es sollte kein Tabu geben. Nichts bleibt unmöglich, wenn man es möglich macht.

Es gab Phasen der Sinnlosigkeit und Aufgabe. Eine Skulptur, ein Musikstück, etwas, an dem man so intensiv gearbeitet hatte, mit Fleisch und Tränen erfunden und gemeißelt, verwehte in den Händen wie trockene Sandkörner. Die Welt war ein grobes Sieb, das keine Überreste auffangen wollte. Eine Schöpfung verlor jegliche Bedeutung, eine Kreation war erfolglos und unbeachtet und verschwand im Alltag oder einfach im Rad der Zeit.

Jetzt habe ich monatelang eine andere Erfahrung kultiviert. Ein Zurücktreten von dieser Welt, die sich zu schnell dreht. Ich stehe nun mit beiden Füßen in einer anderen Dimension, von der ich jahrelang still geträumt hatte, und setze mir selbst keine Ultimaten mehr oder andere sinnlose Fristen. Ich suche nur nach dem einzig Wichtigen: ein Gefühl von unantastbarem Frieden in mir selbst, denn den Frieden mit der Welt kann ich nicht finden.

Ich verabscheue Lügner, Wegrenner, Mitläufer, Verräter, Intriganten, Narzissten, Angeber, Übertreiber und aggressive, launische, ständig urteilende Besserwisser. Wer bleibt übrig? Die Stillen, die nach geheimen Dingen suchen.

Whip Lash

Gleich hebt der Flieger ab. Obwohl ich ein Diamond Medaillon Member bin und 575.000 Meilen bei Delta besitze, habe ich diesmal wieder nicht mein Upgrade mit Meilen erhalten und sitze eingequetscht in der Economy-Class. Das ist natürlich im Prinzip kein Problem, denn, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen mit echten Problemen, habe ich keinen Grund, mich zu beschweren – trotzdem schmerzt der Rücken. Meine fünf Bandscheibenvorfälle zwischen Lenden- und Halswirbeln drücken auf die Nervenwurzeln und ich möchte an die Decke springen aufgrund der stechenden Schmerzen, die mir durch das rechte Bein in den Fuß fahren. Diese Verletzungen sind akkumulativ, aber die meisten darf ich dem Musical „Chicago“ in die Schuhe schieben. Hier wollte die Choreografie im Bob-Fosse-Stil viele Whiplash-Bewegungen. Ich warf 25 Mal während der Show meinen Kopf in den Nacken, als ob es kein Morgen gäbe. Wo war meine Vorsicht oder mein Selbstschutz? Und genau so habe ich immer schon gelebt, getanzt, gesungen, als ob es kein Morgen gäbe …

Ich habe nie an das Morgen geglaubt. Dachte immer, mein Leben ist kurz. Mit fünfzehn dachte ich, niemals werde ich mein 25stes Lebensjahr erreichen, und dann war ich überrascht, dass es doch kam und wie schnell es kam.

Und so empfand ich jeden Tag. Als ob es tatsächlich kein Morgen für mich gäbe, keine außerirdische Bedeutung noch ein Ziel … Ich war ein seltsamer Existentialist.

Erst an dem Tag, als ich mein erstes Kind bekam. Als Max geboren war, am 10. Mai 1994, da wusste ich, es muss ein Morgen geben, für das ich sorgen muss, seine Zukunft, dann die Zukunft für Stella, noch viel später für Julian, der 2005 das Licht der Welt erblickt hat, und schließlich für Jonas. Für sie muss ich durchhalten, nie aufgeben, härter arbeiten und vorleben, dass das Leben abenteuerlich und herausfordernd ist. Eine anstrengende, aber wunderbare Entdeckungsreise, die lehrt: Je mehr du gibst, desto mehr hast du in dir zu geben – wie ein unglaublicher Vorrat. Ein Gewächs, das mit Sonnenenergie blüht. Das Leben wächst oder schrumpft in Proportion zu deinem Mut.

Ein Misserfolg ist oft nur eine andere Interpretation eines Abenteuers, das seine wundersame Wichtigkeit hat.

Ich stand stets mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, in der großen weiten Welt, mit ihren Rufen und Belohnungen, und in meiner Familie mit meinen Kindern und meinen Männern, die mich unterstützt haben. Inspiration fand ich in den Büchern, die ich lesen durfte, und in den Menschen, die meinen Weg kreuzten, und vor allem in der Liebe.

Meine Ehen sind kompliziert, aber sie sind gleichzeitig das Rückgrat in meinem Leben. Das Tor zu mir möchte sich ein wenig öffnen. Es geht um Momente, in denen meine Erde bebte und sich geheimnisvolle Räume auftaten, in denen ich im Dunkeln kleine Lichter entdeckte, die ins Herz schossen und Vergangenheit mit Zukunft verbanden, Chaos entschlüsselten und das Menschsein beschienen und begründeten.

Sprachlos

Der Verlag bittet um eine Autobiografie, genauso wie es vor 30 Jahren geschah. Ich zögere demütig, doch der Zauber des Wortes klingt verlockend. Ich sehe tausend Geschichten in mir und dann doch nur eine. Geschichten von tausend und einer Nacht, doch in der einen Nacht ging die Sonne tausend Mal auf und unter.

Was also werde ich schreiben, auf diesen Seiten, die mein Leben erzählen sollen? Ich befinde mich in einem Dickicht von Leben und ich schaue eigentlich weder nach vorne in die Zukunft, dies nur, wenn ich mich um unsere Welt sorge, noch in die Vergangenheit mit ihren bizarren Hunderttausenden von Sensationen. Ich lebe im Heute und suche die Ruhe und stille Erfüllung.

Im Großen und Ganzen bin ich ein Nobody, ein kleiner Mensch, der kommt und geht und vier wunderbare Kinder hinterlässt und diesen hoffentlich eine schöne Erinnerung an mich. Aber ich bin auch ein Everybody.

Das Nobody wurde mir zumindest in Deutschland oft genug ins Gesicht gesagt, mit gleichzeitigem Erstaunen über meine internationale Karriere.

Ein wenig Erfolg hatten sie, diese Zerbrechungsversuche. Die Selbstzweifel und Verfluchungen kriechen ab und zu aus den Ritzen der Existenz hervor und spielen ein verteufeltes Spiel mit meiner Selbstsicherheit. Doch sobald ich auf der Bühne stehe, der Atem von Musik geleitet wird und ich auf dem Rücken der filigranen Schwingungen von Harmonieabläufen reite, verziehen sich diese Wolken und ich fühle demütig, wie gern ich singe und manchmal, wenn ich Glück habe, die Musik durch mich hindurchscheint.

1994 ist schon einmal eine Biografie von mir erschienen. Und zwar beim Henschel Verlag, ein ostdeutscher Verlag, der noch einige Jahre nach dem Fall der Mauer im vereinten Deutschland überlebte, bevor er von den großen West-Verlagen erstickt wurde. Diese Biografie hatte den selbst gewählten Titel „Unzensiert“, da sie komplett selbst geschrieben war damals, 1993 in Berlin. Ich lebte noch in meiner Wohnung in Charlottenburg, die ich für die Zeit des „Blauen Engels“ angemietet hatte. Mittlerweile war mein damaliger Freund David Tabatsky mit eingezogen. Ich war im fünften Monat schwanger mit unserem ersten Kind, das dann Max heißen sollte. Ich nahm einige Besuche beim Henschel Verlag wahr und ich erinnere mich noch gut an die Taxifahrten von West- nach Ost-Berlin, bei denen mir im ersten Schwangerschaftstrimester furchtbar übel wurde.

Obwohl der Henschel Verlag mir einen Ghostwriter vorgeschlagen hatte, stand meine Entscheidung fest. Ich wollte mich selbst an die alte Schreibmaschine setzen und tippen. Genug Tipp-Ex hatte ich schon eingekauft!

Somit wurde diese Biografie im Jahre 1994 ein wildes Gewölbe an Erinnerungen und Poesie. Der Henschel Verlag gab mir grünes Licht für alle bizarren Wortspiele und verrückten, unorthodoxen Satzketten, die niemals vorher erfunden waren. Jedoch sammelte ich präzise Erinnerungen meines Lebens und seiner Verflechtungen mit geschichtlichen Begebenheiten der damaligen Welt im Umbruch zwischen 1985 und 1994. Das Buch wurde zudem in Frankreich beim Albin Michel Verlag publiziert. Ein Jahr später hatte ich alles, was ich geschrieben hatte, vergessen und war voll in ein neues Leben eingetaucht, in dem die Existenz des Buches keine Bedeutung mehr hatte. Ich war Mutter geworden. Meine Eltern hatten das Buch jedoch gekauft und gelesen und mir umgehend mitgeteilt, wie schrecklich sie es fanden. Sie fragten, warum ich denn so viel wirres, dummes Zeug erzählen musste. Ich dachte mir nur: Oje, war es wirklich so schlimm? Ich schaute das Buch nie wieder an und packte die wenigen Exemplare, die ich erhielt, in eine Kiste, die zwischen Paris, London und New York irgendwo vergraben war mit anderen Artefakten der Vergangenheit. Als ich vor nicht langer Zeit diese alte Kiste wieder entdeckte, begann ich langsam und neugierig in dem Buch zu lesen.

Die alte, lang vergessene Biografie

Ich stand mir selbst gegenüber. Einer jungen Version von mir. Einer Ute, der vor 30 Jahren 30 Jahre fehlten, um tief durchzuatmen und die Stille festzuhalten. 30 Jahre gefüllt mit harter Arbeit und vielen Wunden, aber vielen Weltwundern. Ich hatte damals noch nicht mein erstes Kind im Arm getragen. Dieses Erdbeben im Herzen durfte ich dann viermal durch drei Jahrzehnte erleben. Von 1994 bis 2011 erlebte ich immer wieder die schönste Stunde Glück im Leben bei der Geburt der Kinder. Und jetzt bin ich in der Lage dieses Glücksgefühl sanft und dankbar über mein Leben auszubreiten. Noch wusste ich damals nicht, was bedingungslose Liebe bedeutete, aber ich ahnte all das. Ich war es leid, mich meinem egozentrischen Künstlerleben zu widmen, tägliche Ängste um die Stimme und den Stress zu durchleben. Schon damals hatte ich zwei Stimmbandknoten abtrainieren müssen, zunächst mit tagelangem totalem Schweigen und dann mit extrem langwierigen Gesangsübungen. Natürlich hatte ich gleichzeitig Angst, mit dem Muttersein die Freiheit und Kreativität, die unbeschränkte Fliegerei in meinen Kopfgeburten aufgeben zu müssen. In meinen Zwanzigern war ich oft nächtelang wach. Trotz Liebschaften war ich ein kompromissloser Single gewesen. Ich hörte die ganze Nacht lang Musik, studierte und konsumierte besessen die großen Jazz-Sängerinnen, vor allem Sarah Vaughan, Ella Fitzgerald und die „Kind of Blue“-Melancholien von Miles Davis, die Chansonniers von der Greco bis Yves Montand, und den „Latino Groove“ von Astrud Gilberto. Die Stille der Nacht öffnete mir die Tore zum Tanz auf dem Drahtseil.

Ich malte bis zum Morgengrauen große Ölbilder und Hirngespinste auf Leinwände. Da war der leere Canvas und ich ließ einfach in absoluter freier Vorstellung Figuren, Farben, Körper und Gegebenheiten entstehen.

Im Jahre 1992 hatte ich mich Hals über Kopf in dieses Abenteuer gestürzt, nachdem ich ein Buch über Maltechnik verschlungen hatte. Wegen eines Stimmbandknotens musste ich drei Wochen schweigen, was mich dazu inspirierte, endlich dieses lang erträumte Experiment zu beginnen. Ich verliebte mich sofort in das wunderbare Spiel mit Pinsel und Farbe und staunte, wie überraschende Bilder entstanden – aus dem freien Raum meiner Imagination. Die Welt um mich herum, der Mensch in ihr gefangen, im Kampf gegen sie. Tanz, Anatomie des Körpers, Erotik und Einsamkeit waren stets Themen. Ich träumte nachts lebendige Bilder des Lebens in Ölfarben, oft pointilistisch. Bald war das Malen eine tägliche Obsession, bis eine scharfe Abbiegung in eine andere Dimension von Leben begann.

Ich lese weiter und fühle diese junge Ute. Sie war kompromisslos und neugierig, wild und befangen, furchtlos, aber voll von Zweifeln. Sie war in jeder Weise ein freier Geist, der sich nicht zähmen lassen wollte. Nicht für einen Mann, nicht für ein Projekt, und nicht für das Image.

Mein damaliger Mann David, den ich 1992 in Berlin kennengelernt hatte, war ein amerikanischer Comedian, der im ersten Cabaret-Club in Ost-Berlin, dem Chamäleon, auftrat. Er gab hier seine New-Yorker-jüdischen Jokes im Stile von Howard Stern zum Besten, die nur sehr wenige in dieser Zeit verstanden, doch war er verrückt genug, dass man schon allein über seine Figur, diesen Kerl mit langen dunklen lockigen Haaren bis zu den Hüften und seine irren Witze “fuck you and fuck your fucking truck“ lachen konnte und neugierig auf ihn war. David stand an meiner Seite während der schwierigen „Blauer-Engel“-Phase und brachte mich Tag ein, Tag aus zum Lachen, sodass Negatives schnell von mir abperlte. Wir hatten schöne Zeiten und waren am Anfang sehr verliebt. Eigentlich war dies die erste Beziehung, der ich freien Lauf ließ und in der ich mir Zeit nahm zu träumen.

Ich hatte viele Liebhaber gehabt, eigentlich in jeder Arbeitssituation, in jeder Bühnenproduktion, bei jeglichen Dreharbeiten zu einem Film. Warum auch nicht? Wenn ich jemanden attraktiv fand, wollte ich ihn ganz und gar erleben. Ich hatte immer absolute Nähe zu Menschen gesucht, die mich interessierten, kurz, aber existenziell, menschlicher Kontakt ohne Schutzkorsett, echt, wahr und vollkommen. Momente, in denen die Zeit stillstand und ein Urgefühl mich übermannte, wenn der Partner nicht zu verkrampft war und sich in meiner Sehnsucht wiederfand. Zu gemeinsamen Plänen oder Versprechungen sollte es nie kommen. Das bedeutete für mich einen zu großen Eingriff in meine Freiheit und Unabhängigkeit, und mich dem männlichen Geschlecht unterzuordnen war undenkbar. Ich war da wie ein wildes Pferd, das sich nicht bändigen ließ.

Doch als ich 1992 David traf, war die Zeit reif, einen Schritt in eine neue Richtung zu wagen und eventuell eine Familie mit ihm zu gründen.

Heute, 30 Jahre später, sehe ich David ab und zu in Manhattan auf der Upper West Side, wo wir nur vier Straßen voneinander entfernt wohnen, und wir haben uns nicht sehr viel zu sagen, abgesehen von der Tatsache, dass wir beide stolze Eltern sind. Nur durch das Herz meiner längst erwachsenen Kinder Max und Stella empfinde ich die Sympathie von damals. Er war immer ein liebender Vater gewesen und ist es bis heute.

David war auf magische Weise, nicht mit Intention, sondern eher zufällig, mein Ticket nach Amerika. Das sollte sich aber erst vier Jahre später herausstellen, als man mich vom Londoner Westend an den Broadway rief und ich schon eine Greencard in der Tasche hatte und einen Mann an meiner Seite, der sofort aufgeregt sagte: „Sure, let‘s go back home to New York!“

Wie in dem gekrümmten Raum von Einstein stehe ich hier in einer Zeitfalte und begegne mir selbst 30 Jahre später. Ich lese also die geschriebenen Zeilen von damals und begegne meinem Sturm und Drang. Das Feuer, das in mir brannte, ist dasselbe Feuer in meinem Herzen heute. Die Flamme trägt eine andere Farbe, sie weht in einem anderen Wind. Sie hat über die Jahre viel altes Holz in meinem Leben verbrannt und immer wieder neues Feuer entfacht. Ihre Quelle aber ist Sehnsucht, nicht Zerstörung. Die junge Ute lässt die alte Ute eintreten und wir lachen zusammen, weinen, brüllen und trinken Wein.

Ich war keine „Ja-Sagerin“ gewesen, niemals, und bin es bis heute nicht. Gehorsam und Zustimmung waren mir schon immer fremd. Ich empfand mich als Querdenkerin und musste dennoch konform denken, um in der geraden Welt existieren zu dürfen.

Der Lohn für den Konformismus ist, dass dich alle lieben, aber du dich selbst nicht!

Ein gesunder Trotz gab mir damals meine Kraft.

Jemand hatte mir zugeflüstert: „Wenn du immer nur versuchst normal zu sein, wirst du niemals herausfinden, ob du außergewöhnlich bist.“ Ich wusste, dass niemand mein Freund war, der mich nicht aussprechen ließ oder mein Wachstum blockierte und verhinderte.

Ich war jedoch eine eifrige Schülerin. Ständig hatte ich versucht meine Grenzen weiter zu öffnen und neue Perspektiven zu erkennen. Nie gab es genug zu lernen. Ich konnte im Ballettsaal gut gehorchen und die strengen Ballettlehrer zufriedenstellen. Jeden Tag trainierte ich meine Instrumente, den Körper, später auch die Stimme, um sie eines Tages virtuos spielen zu können. In diesem Raum lebten meine abgrundtiefe Traurigkeit und der ebenso tiefe Freiheitswunsch. Man redete immer von Träumen. „Berühmt werden“ war auf keinen Fall mein Traum. Und fixe Ideen meiner Zukunft hatte ich ebenfalls nicht. Was möchtest du werden, wenn du groß bist? Mir war klar, dass was ich suchte und wonach ich mich sehnte, nicht in der Form oder Weise kommen würde, die ich erwartete.

Deutsche Gefühle

Vor zwanzig Jahren, als meine beiden großen Kinder zum ersten Mal in der Schule „Die Nacht“ von Elie Wiesel lasen und wir zu Hause über den Holocaust sprachen, schmerzten meine Gedanken:

„Wie soll ich meinen Kindern erklären, dass das Volk ihrer Mutter das Volk ihres Vaters vernichten wollte und es ihm beinah gelungen war?

Dass das Volk der Mutter das Volk des Vaters wie Tiere brutal ermordet hat, und zwar Kinder, Frauen, Männer, alte und junge Menschen, unschuldige, gute, schlaue, liebe Menschen, ihnen das Recht auf Leben versagt hat? Wie soll ich meinen Kindern erklären, dass das Volk der Mutter sich zum Übermenschen erklärt hat und dem Volk des Vaters die Menschenwürde verweigert und genommen hat? Dass das Volk der Mutter mehr als sechs Millionen Menschen des Volkes des Vaters herzlos und kalt getötet hat?”

Dieselben schockierenden Fragen muss ich auch zwanzig Jahre später meinen jüngeren Kindern beantworten.

Ich suche die Antworten, manchmal finde ich sie oder Ansätze davon in meiner Wahrnehmung und Nachforschung, doch dann versagt mir das Verständnis und die Erlösung einer Erklärung tritt nicht ein.

Schon vor 30 Jahren fühlte ich einen schweren Nebel, der über Deutschland haftete und sich nicht lösen wollte. Er bedeckte die schreckliche Geschichte des Nationalsozialismus, die bleierne Wahrheit des Holocaust, das akribische Stillschweigen und das selbstgerechte, teilweise intellektuelle, teilweise primitive, aber immer ungenügende Aufarbeiten dieser Verbrechen. Ich empfand das Grauen dieses Genozids so überwältigend, dass kein Wort, keine Analyse und kein Bitten um Vergebung, geschweige denn Wiedergutmachung angemessen schien. Es gab meines Erachtens nur einen Weg, damit zu leben: tiefste Trauer, dunkelste Stille, abgrundtiefe Scham.

Schmerz, der so überwältigend war, dass kein Wort, kein Atemzug und kein glückliches Aufatmen möglich war. Das Ende jeglichen Stolzes und gnadenloses, brennendes Fegefeuer für immer und ewig. Eine solche Geschichte wird man niemals los und sie darf niemals als vergangene Geschichte weggelegt werden. Diese Trauer soll Grundstein einer deutschen Identität sein.

Mein Land

Ich trage meine eigene, komplizierte Geschichte mit Deutschland. Sie erzählt von Missverständnissen und peinlichen Verletzungen. Ich erinnere mich wörtlich an den Ausspruch von Marlene Dietrich am Telefon 1987, da sagte sie mir: „Die wollen mich doch nicht!“

Gab es hier Ähnlichkeiten zu meiner Beziehung mit dem Heimatland? Die wollten mich doch auch nicht, zumindest damals vor 30 Jahren. Es war schwierig, ein Land zu lieben, das mich verstieß.

In meinem Land sah ich damals nicht wenige missgünstige Menschen, einige trugen gern Kaschmir, fuhren teure Autos und führten sich auf, als hätten sie keine Vergangenheit und nur die Arroganz der Gegenwart als Rechtfertigung. Ich gehörte nicht dazu und habe ebenfalls nie nach Statussymbolen gesucht. Diese Überzeugung ermöglichte und öffnete meine Zukunft. Draußen in der weiten Welt konnte ich atmen, Fehler machen, anonym und frei sein.

Ich wollte meine Kinder damals nicht mit einem deutschen Mann und wollte auch nicht Deutsch mit ihnen sprechen.

So fühlte ich vor 30 Jahren. Ich habe mich mittlerweile wieder in die deutsche Sprache verliebt. Natürlich spreche ich heute gern ihre Worte, fühle ihre Musik und Tiefe und forme gern meine Gedanken in ihren Farben und komplexen Satzgerüsten. Aber damals fand ich nichts entspannt am Deutschsein. Ich fühlte nur eine kantige Härte, die mir die Seele zerschneiden wollte. Es ist erstaunlich, wie diese Emotionen von damals mich beim Lesen überwältigen. Als ob eine Welle von Trotz und Verletzung mich verschlucken will. Hat es lange gedauert, inneren Frieden und Gelassenheit zu finden? Musste ich dem Negativen den Rücken zuwenden? Hat der Atlantik in seiner Macht zwischen unseren Welten große Wassermassen unter der Brücke fließen lassen und alte Wunden wunderbar geheilt?

Somit war der Papa meines ersten und zweiten Kindes kein Deutscher, sondern Amerikaner und der Papa meines dritten und vierten Kindes sollte dies ebenfalls sein. Ein Amerikaner aus New York, ein „super out oft the box“-Typ, ein ungewöhnlicher, intuitiver und kreativer jüdischer New-York-Brooklyn-Kerl, der kein Blatt vor den Mund nahm und der nicht mal den Begriff Anstand kannte. Ja, ich beschreibe wirklich beide Männer auf einmal. Sie ähneln sich unglaublich in Herkunft und Chuzpe. Ein Mensch oder zwei Menschen mit großem Herz und viel Humor, die sich über alles lustig machen können, vor allem über sich selbst, und gleichzeitig mit einer guten Portion Zynismus lieben konnten. Na ja, anstrengend war das, aber nie langweilig.

Heute finde ich es sehr schade, dass ich die Kinder nicht mit der deutschen Sprache vertraut gemacht habe. Gerade die Großen beklagen sich, dass sie nicht zweisprachig aufgewachsen sind, ein Geschenk, welches den Kindern doch einfach in den Schoß gefallen wäre. Aber mein Himmel, den ich den Kindern gezeigt habe, mit den vielen wunderbaren Sternen, war eben nicht in der deutschen Sprache erlebt.

Heute liebe und respektiere ich mein Land, Deutschland. Jedes Mal, auf dem Wege in die Heimat, wenn ich von meinem New Yorker Zuhause einfliege, strömt eine Ruhe durch mich.

Das Land ist in meinem Herzen gewachsen und hat heute einen festen Platz auf der Landkarte meiner Vorlieben, im Mosaik meiner Identität, aber vor allem in meinem Vertrauen. Liebe ist eine komplizierte Angelegenheit, und wie Woody Allen schon sagte, das Herz ist ein flexibler Muskel. Ich bin meinem Publikum tief dankbar, dass es mir durch Jahrzehnte von Abenteuern gefolgt ist, die marginalen außergewöhnlichen Projekte mit Spannung und Interesse miterlebt hat, sie oft enthusiastisch, manchmal zweifelnd angenommen hat, mich stets weiter unterstützt hat. Ich fühle eine jahrzehntelang gewachsene Zuneigung, die lange die Achterbahnfahrten Ende 80ger bis Anfang 90ger Jahre gelassen akzeptiert hat als seltsame Ausschreitungen einer jungen Beziehung. Wir beide haben uns geirrt, ich mich und Deutschland sich, wir haben uns gerauft und beleidigt, uns geliebt und uns betrogen, aber uns mit Reife und Wärme wiedergefunden, nach einer kurzen Auszeit. Wenn ich vor dreißig Jahren gelitten habe, dann hat das Publikum mitgelitten, denn niemand verstand eine Kampagne, die außerhalb des menschlichen Herzens stattfand und irgendeinem Tornado der Zeit und einer Pressekampagne folgte. Es tut weh, jemandem wehzutun, den man ins Herz geschlossen hat. Damit meine ich uns beide, gegenseitig, mich und meine Heimat. Wenn ich in Deutschland Konzerte gebe, dann fühle ich beinah, als ob ich in eine alte Familie zurückkehre und wir gemeinsam über das Leben philosophieren, in Musik und Wort.

Ich schaue der jungen Ute über die Schulter. Es ist viel Zeit vergangen und es liegt ein Lichtjahr von Leben zwischen uns. Ich atme tiefer und mein Bewusstsein definiert sich heute anders, der Tag und die Nacht haben andere Farben und Aufgaben. Viele Träume sind verschwunden, da ich sie nun lebe. Meine Wirklichkeit hat Glück und Zufriedenheit gefunden, teilweise in anderen Dimensionen als erwartet. Die tiefe Sehnsucht von damals erlebt oft täglich Erfüllung und sucht doch weiter. Meine Liebe zu Musik und Kreativität ist unverändert, vielleicht noch existenzieller als vor 30 Jahren.

Die Tage vergehen heut so geschwind, dass ich sie nicht mehr zählen kann, meine Geburtstage jagen sich und werden unbedeutend. Im Zeitraffer wachsen die Kinder zu Erwachsenen und meine Hoffnung auf ein gutes Leben für sie wird anstrengend in unserer Welt. Wie frei und liebend ich sie auch erzogen habe, sie gehen auf ihre eigenen schmerzenden Exkursionen und suchen nach Glück und oft prallen sie an harte Wände. Ihre Träume zerplatzen wie Seifenblasen im Laufe der Zeit, doch neue Träume erwachsen aus diesen Wunden, bis sie schließlich fühlen, dass der Weg das Ziel ist und dieser so intensiv und atemberaubend wie möglich sein soll, koste es, was es wolle.

Mein Weg war und ist es. Selbst in einem jeden normalen aufregenden Tag sehe ich Größe und Erfüllung. In einem Spaziergang, einer gekochten Mahlzeit und einem Glas Wein, das ich allein trinke oder mit meinen Freunden, mit meinen Musikern nach dem Konzert, liegt ein Moment von dankerfüllter Ewigkeit.

Die Zeit legt sich in Falten um mich und bringt mir das Gestern erstaunlich nahe. Das Langzeitgedächtnis ist eine unglaubliche Einrichtung mit seinen farbigen Gefühlsfiltern. Sie sind gewollter Betrug an mir selbst und an der Welt, doch ebenso ist die Wahrheit ein relativer Spiegel. Ich schaue nun in den anderen Flügel des Spiegels und beginne diese Reise.

Zurück zur Sprache

Ich nehme „Unzensiert” mit auf Reisen in diesem Sommer und fürchte mich, längst verschollene Bilder der Vergangenheit plötzlich wieder klar vor meinen Augen zu sehen und die damit verbundenen Gefühlswelten wiederzubeleben. Abgeschlossene Kapitel scheinen verschlossen in einer antiken Holzkiste im Subterrain meiner Existenz.

1992 schrieb ich: „Ich habe keine genaue Vision von meiner Zukunft.“ Doch! Ich höre von ferne ein Wort wie Freiheit, sehe weites Gras, Kinderfragen schwirren in der Luft, Freundschaften schützen und wärmen, und da ist mein offener Raum, voll Spiel, Musik und einigen Zweifeln.

2022: Ich bin in San Remo und erlebe eine der vielen seltsamen Zeitfalten, die mich erstaunen. Für meine erste Orchesterprobe begehe ich die Bühne des Auditoriums, die ich zum ersten Mal vor 31 Jahren betrat, als ich beim renommierten San Remo Festival auftrat. Damals sang ich das Lied „La Fotografia” von Enzo Jannacci, ein überaus beliebter italienischer Chansonnier und Komponist, der mit seiner ungewöhnlichen Intelligenz als Mediziner Eleganz im Showbusiness verbreitete. Er schien eine wunderbare Ausnahme am italienischen Himmel der Stars zu sein, der eigentlich mit schillernden, vulgären Explosionen schien. Gefilmt von sechs rotierenden Kameras des RAI-Fernsehens war ich 1991 eingekleidet in eine rote Minirobe von Gianni Versace, den ich am Nachmittag noch in meinem Hotel getroffen hatte. Gianni Versace liebte die darstellenden Künstler und wir waren seit unserer Zusammenarbeit mit Maurice Bejart 1990 befreundet. Wir trafen uns zu seinen Ausstellungen, begleitet von Liza Minelli, die sich als hervorragende Babysitterin für Max erwies. Ich erinnere mich, wie Max als kleines Baby zwischen ihren kleinen Hunden wie verrückt herumkrabbelte und mit ihnen um die Wette bellte.

Voller Trauer denke ich an Gianni Versace, diesen spektakulären Fashiondesigner, der damals nur noch wenige Jahre leben durfte. Heute lebt auch Enzo Jannacci nicht mehr und der wunderbaren, aber sehr kranken Liza Minelli habe ich vor einem Jahr ein Ständchen zu ihrem 75sten Geburtstag gesungen. Sie erinnert sich nicht mehr an unsere erste Begegnung im Jahre 1987 in Paris, da ihr Gedächtnis nun verschleiert ist. Da hatte sie bei der Premiere des Musicals „Cabaret“ in der ersten Reihe des Mogador Theaters neben ihrem Filmpartner Joel Grey gesessen und meine Interpretation der Sally Bowles in dieser Pariser Produktion verfolgt. Das war 20 Jahre nach ihrer unvergesslichen Interpretation im Film „Cabaret“, der Ende der 60er Jahre in München unter der Regie von Bob Fosse in den Bavaria Film Studios aufgenommen wurde. Dieser Film und Lizas Darbietung sowie Joel Greys fantastisch gespielter androgyner Conférencier hatten mein Leben verändert und für immer das Feuer für das Musical in mir entfacht. Als Zehnjährige hörte ich die zerkratzte Langspielplatte täglich und sang aus voller Kehle „Life is a Cabaret, old chum!“.

Im Jahre 2004 traf ich auch Joel Grey noch einmal, diesmal in Los Angeles, wo ich in der imposanten Open-Air-Konzertmuschel Hollywood Bowl die Lieder der Dietrich mit großem Orchester sang. Sein voller Name lautet übrigens Joel David Katz, er ist das Kind emigrierter jüdischer Eltern. Es war wunderbar, ihn wieder zu treffen, und er betonte, er hätte jede meiner Weill-Aufnahmen bei sich im Regal stehen. Auch Jennifer Grey, seine Tochter, die mit ihrer Darstellung in dem Film „Dirty Dancing“ über Nacht berühmt geworden war, plauderte sympathisch hinter der Bühne mit uns. Plötzlich vertiefte sich Joel Grey in seine Erzählungen über die Filmaufnahmen zu „Cabaret“ 1969 in München. Er war sichtlich erschüttert und schilderte mit zitternder Intensität:

„Unser Flugzeug aus Los Angeles sollte am Münchner Flughafen landen und ich dort zum ersten Mal auf deutschen Boden treten. Was erwartete mich? Wenige Jahre zuvor wurde Marlene hier noch als Verräterin beschimpft, weil man sie beschuldigt hatte, für die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg gekämpft zu haben. Ich erwartete das Schlimmste. Ich war Jude und sah nur den gelben Stern vor meinen Augen. Kannten die Deutschen meinen wirklichen Namen? War ich sicher, war ich erlaubt in diesem Land, in dem man Millionen von uns vor nur 23 Jahren umgebracht hat? Was würde hier mit mir geschehen? Die Rolltreppe wurde zum Flugzeug gefahren, ich stieg langsam und nervös die Treppen hinab. Ich war atemlos und das Herz klopfte und bebte in meinem Brustkorb. Zunächst schüchtern, dann immer lauter, bis die Ironie mein Gesicht zur Fratze verzerrte, und ich sang: „Willkommen, Bienvenue, Welcome! Fremder, Etranger, Stranger … glücklich zu sehen, je suis enchanté, happy to see you, bleibe, reste, stay and … and the show goes on … im Cabaret, im Cabaret, im Cabaret!”

1972 bekam Joel Grey den Oscar für seine Rolle als Conférencier im Film „Cabaret“. Wenige Wochen später starben elf israelische Athleten und Trainer bei den Terrorattacken des „Schwarzen Septembers” während der Olympischen Spiele in München.

Ich steige aus dem Flugzeug nach einem langen Flug und vielen sich zuspitzenden Gedanken. Ich bin in Italien, atme die frische warme mediterrane Luft ein. Das Lebensgefühl ist hier leichter.

Ich führe meine Zeitreise fort.

Unzensiert

Die folgenden Auszüge aus dieser ersten Biografie entführen in die Welt dieser jüngeren Ute. Es sind teilweise Ausschnitte aus den originalen Texten, geschrieben damals auf der tickenden Schreibmaschine in meiner Berliner Wohnung im Jahre 1993. Es ist sozusagen die Zeitreise zu mir selbst.

Ballettschuhe unter Weihnachtsbäumen

Erinnere ich mich an die Kindheit, trete ich seltsamerweise auf die Bremse: die Dunkelheit der Nächte, der große Bruder, die Kirche, die Gebete, autoritäre Ikonen, die kleine Straße, die Nachbarskinder, die Lampenschirme der 60er, die in Albträumen auch heute noch manchmal bedrohlich auf mich zuspringen ….

Eine Normalität des Alltags, die nicht einmal durch das Tagebuch der Anne Frank aufgerüttelt werden konnte: rollende Fahrräder, Ballettschuhe, Weihnachtsbäume, gebetbuchschwere Quacksalberhimmel über Münster, der bodenständigen Holz- und Dickschädelstadt in Westfalen.

Es handelte sich um das Deutschland, das zu dieser Zeit Marlene Dietrich bei ihren Konzerten als Vaterlandsverräterin beschimpfte und sie mit Sprüchen wie „Go home” und „Hau ab” des Landes verwies. Mein Land, das in einem kulturellen Vakuum zwischen gestern und morgen pendelte und fiebernd nach einem neuen Stolz suchte.

Einige Monate nach meiner Geburt wurde JFK erschossen. Seltsamerweise denke ich, dass ich mich an die Szenerie in unserem Wohnzimmer, den alten Fernsehkasten und den Schock meiner Eltern erinnere. Mein Vater sagt, das ist unmöglich.

Als ich ein Jahr alt war, 1964, zogen wir aus dem alten Kreuzviertel in das Neubauviertel am Pötterhoek. Es spukte der Geist der 60er Jahre in Farben, Brillen, Mode, Hüten und Autos. Ich spielte gern Fußball mit dem Bruder und tollte im Sandkasten. Ich schmierte mich und meine kurzen Lederhosen mit jeder mir zur Verfügung stehenden Matsche ein. Auch war ich eine Wasserratte. Wo immer es Seen, Schwimmbäder oder Meere gab, stürzte ich mich in die Fluten. Meistens stanken sie aber mehr nach Chlor als nach echtem Salz.

2022: