Diese Komödie ist eine Tragödie - Christine Rigler - E-Book

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Christine Rigler

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Beschreibung

VOM KLEINEN KÄRNTNER DORF AN DIE SPITZE DER THEATERWELT - SCHAFFEN UND LEBEN DES PETER TURRINI. EIN LEBEN, DAS ZUGLEICH KULTURGESCHICHTE ERZÄHLT Aufwachsend in ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Kärntner Dorf, spürt Peter Turrini früh, wohin es ihn zieht - in die WELT DER KUNST, DER SPRACHE, DES THEATERS. Als Jugendlicher geht er ein und aus am TONHOF IN MARIA SAAL, wird zum Schützling des exaltierten Ehepaars Lampersberg, später bekannt geworden durch THOMAS BERNHARDS SKANDALROMAN "HOLZFÄLLEN". Turrinis erster großer Erfolg am Theater kommt über Nacht: Die "ROZZNJOGD" macht ihn 1971 zum GEÄCHTETEN UND GEFEIERTEN gleichzeitig, sie ist der Grundstein zu einer bis in die Gegenwart währenden Karriere als Dramatiker, Drehbuchautor und Lyriker. Von QUALTINGER bis PEYMANN von BILLY WILDER bis SALMAN RUSHDIE von der "ALPENSAGA" bis zur "PRESSEKONFERENZ DER TIERE" - spannend wie ein Film erzählt Turrinis Leben und Werk österreichische Kulturgeschichte. LEIDENSCHAFTLICH POLITISCH, UNBEIRRT MUTIG, DURCH UND DURCH MENSCHLICH In dieser ERSTEN UND EINZIGEN BIOGRAPHIE zu Peter Turrini folgt man der Autorin Christine Rigler atemlos über die Seiten: Ob am Theater oder im Fernsehen, ob in seinen Reden oder Büchern, ob im Leben oder bei der Arbeit - stets ist Turrini leidenschaftlich politisch, unbeirrt mutig, dabei durch und durch menschlich. Das zeigen auch die VIELEN ZITATE DES AUTORS AUS GESPRÄCHEN mit Rigler, die sich durch die gesamte Biographie ziehen. Ergänzt durch AUFNAHMEN AUS TURRINIS PRIVATARCHIV sowie aus den ARCHIVEN DER THEATER- UND FERNSEHANSTALTEN, lernt man den Schriftsteller von seiner öffentlichen ebenso wie von seiner weniger bekannten, PRIVATEN SEITE kennen.

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1

Peter Turrini, Heimatdichter 1971

2

„Frühe Unbehaustheit“ Kindheit und Jugend im Dorf 1944–1966

3

Wien–Rhodos–Volkstheater 1963–1973

4

Von der Dachkammer des Poeten ins politische Kollektiv 1973–1980

5

Zurück ans Theater 1980–1986

6

Mit Claus Peymann am Burgtheater 1986–1999

7

Theaterbohrungen

8

Peter Turrini, Heimatdichter

 

Anhang

Anmerkungen

Werkübersicht

Bildnachweis

Peter Turrini, 1970

1

Peter Turrini, Heimatdichter 1971

Kärntner.

26 Jahre alt.

184 cm groß.

89 kg schwer.

In Kärnten aufgewachsen.

In Italien gelebt.

In Griechenland gelebt.

In Deutschland gelitten.

In Wien gelandet.

Im Jahr 1968 kehrte der vierundzwanzigjährige Kärntner Peter Turrini von einem längeren Aufenthalt auf der griechischen Insel Rhodos mit einem fertigen Theaterstück nach Österreich zurück. In dem Inseldorf Lindos hatte er in einer Künstlerkommune gelebt: einer Hippiekolonie, der der Ruf vorauseilte, man könne in ihr mit wenig Geld und bei guter Drogenversorgung angenehm leben. Turrini hatte dort ein Haus um umgerechnet 150 Schilling im Monat gemietet und sich dem Schreiben gewidmet. Der Aufenthalt auf Rhodos war für ihn eine Befreiung aus einem Leben gewesen, das er als widersprüchlich empfunden hatte. Er sah sich als Schriftsteller, war als überzeugter Linker auch schon publizistisch aktiv, hatte sein Geld bis dahin aber als Texter in einer großen amerikanischen Werbeagentur mit Sitz in Wien verdient: Am Tag versuchte ich den Kapitalismus weiterzubringen durch Werbesprüche und in der Nacht habe ich ihn verdammt und Polemiken dagegen verfasst.

Turrinis Nachbar in Lindos war der amerikanische Schriftsteller Willard Manus (*1930), der sich dort mit seiner Familie angesiedelt hatte. Unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen wie Haschisch und LSD entstand ein gemeinsames Theaterstück der beiden Schriftsteller. Willard Manus veröffentlichte seine amerikanische Version unter dem Titel „Junk Food“. Peter Turrini nannte seine österreichische Fassung „Rozznjogd. Nach Motiven von Willard Manus“. (Später kam mit der englischen Übersetzung des Turrini-Stücks noch eine zweite englische Fassung mit dem Titel „Rat Hunt“ auf den Markt.) Die Drogen hatten, wenn sie überhaupt etwas geleistet haben, den Mut befördert, diese Explosionen in meinem Kopf, wie sie in der „Rozznjogd“ auch vorkommen, zu beschreiben, erinnert sich Turrini.

Nachdem ihm das Geld ausgegangen war, verließ Turrini die Insel Rhodos, immer auf der Suche nach Einnahmequellen, die mit seiner literarischen Arbeit möglichst vereinbar sein sollten. Auf der Frankfurter Buchmesse 1969 zeigte er sein Manuskript von „Rozznjogd“ einem befreundeten Schriftsteller, H. C. Artmann, der ihn damit an den Wiener Verlag Universal Edition weiterempfahl.

Die Karriere des Theaterschriftstellers Peter Turrini entwickelte sich nicht allmählich wie bei vielen anderen Autoren, sondern begann mit einem Paukenschlag. Die Vorgeschichte zu diesem Ereignis, der Uraufführung seines Stückes „Rozznjogd“, ist ebenfalls kurz. Am 27. Jänner 1970 schrieb Wolfgang Ainberger, Mitarbeiter der Universal Edition, an Peter Turrini eine kurze briefliche Nachricht, in der er sich für die Zusendung eines Theatertextes namens „Rotzenjagd“ bedankt. Die Universal Edition, heute ein reiner Musikverlag, war zu dieser Zeit auch im Bereich Schauspiel tätig. Drei Tage später hatte Ainberger das Stück gelesen und bot Turrini einen Vertrag an: „Ich bin hace [H. C. Artmann] sehr dankbar, dass er Sie zu mir geschickt hat. Ich habe sehr viel Spass bei der Lektüre der rozznjogd gehabt und möchte diesen auch weiterleiten: Zu diesem Zweck bitte ich Sie, mir eine Option (quasi als Vorvertrag) zu geben, dass ich hier in Wien nach einer optimalen Platzierung Ausschau halten kann. Denn meiner Meinung nach sollte es auch hier zunächst herauskommen.“1 Am 10. Februar 1970 schrieb Ainberger an Turrini, er sei dabei, das Stück „von der Wiener Theaterspitze angefangen zu empfehlen“2. Am 24. April 1970 meldete er, das Wiener Volkstheater habe an diesem Tag den Vertrag für die „Rozznjogd“ angefordert, der projektierte Termin für die Uraufführung sei im Jänner 1971. Der bislang unbekannte Autor Peter Turrini, noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahre alt, hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Stadt Neuwied auf. Dort hatte seine damalige Frau Susanne Liebermann als Schauspielerin ein Engagement, er selbst arbeitete in einer Bimssteinfabrik.

„Ten, nine, eight, seven, six, five, four, three, two, one, zero ……. T U R R I N N I ! ! ! ! !“3 – mit dieser Vorahnung eines schnellen und turbulenten Aufstiegs sollte der Turrini-Entdecker Wolfgang Ainberger Recht behalten. Am 27. Jänner 1971, auf den Tag genau ein Jahr nach seiner ersten Kontaktnahme mit Turrini, fand die Uraufführung von „Rozznjogd“ am Wiener Volkstheater statt. In der Inszenierung des Grazer Regisseurs Bernd Fischerauer spielten Dolores Schmidinger und Franz Morak die Hauptrollen. Die Produktion war in mehrerlei Hinsicht skandalträchtig und zumindest für den konservativ eingestellten Teil des Publikums einigermaßen ungemütlich. Das Stück war im Wiener Dialekt geschrieben, die Ausdrucksweise deftig bis obszön, die Inhalte provozierend gesellschaftskritisch. Als Schauplatz hatte Turrini eine Mülldeponie gewählt, die in Form eines riesigen übelriechenden Haufens Abfall auf der Bühne dargestellt war. Als weiteres wesentliches Requisit kam ein Auto auf die Bühne gerollt, die Schauspieler legten ihre Kleider ab und deuteten sexuelle Handlungen an.

„Rozznjogd“ ist ein klares Manifest gegen ein von der Wirtschaft gesteuertes Konsumverhalten und die Deformation des Menschen durch gesellschaftlich-kulturelle Zwänge. Eine Frau („Sie“) und ein Mann („Er“), die nicht mehr voneinander wissen, als dass sie beide im selben Betrieb arbeiten, verbringen ihr erstes Rendezvous an einer Mülldeponie. Dorthin fährt der Mann gelegentlich zum Zeitvertreib, um Ratten zu erschießen. Ihr gegenseitiges Kennenlernen steigert sich in eine Wegwerf-Euphorie, sie vergrößern den Müllhaufen mit all ihren mitgeführten Besitztümern. Konsumartikel, Geld, Ausweise, Kleider – alles wird entsorgt, um dem anderen näher zu kommen. Am Höhepunkt dieses ekstatischen Reinigungsprozesses stehen die beiden seelisch und körperlich entblößt voreinander und verfallen, begleitet von Lichteffekten und immer lauter werdender Beatmusik, in tierisches Triebverhalten. Adam und Eva versuchen ins Paradies zurückzukehren – bis sie plötzlich, von Schüssen getroffen, tot umfallen.

Titelseite und eine Seite des Typoskripts „Rozznjogd“, 1968

Die Symbolik an diesem Point of no Return ist überdeutlich: Zwei weitere gewohnheitsmäßige „Rattenjäger“ haben die beiden mit Tieren verwechselt und schießen danach „wild ins Publikum“.

Die beiden Charaktere verkörpern – wie sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte zeigen wird – ein typisches Turrini-Liebespaar, sie sind sozusagen sein Prototyp. „Der Versuch von zwei Menschen, hinter den Mauern, den Lügen, den Verstellungen hervorzukommen, dem Druck der Verhältnisse für einen Moment, einen Liebesmoment, zu entkommen, das bildet den Kern meiner Dramatik. […] Manchmal denke ich, alle meine Stücke, auch diejenigen, in denen viele Figuren auftreten, sind verkappte Zwei-Personen-Stücke“4, so beschreibt es Turrini 28 Jahre später im Rückblick selbst. In „Rozznjogd“ verstärkt sich die seelische Entblößung im Zuge der Annäherung noch zusätzlich durch die körperliche. Dolores Schmidinger und Franz Morak standen einander allerdings in 70er-Jahre-Unterwäsche gegenüber – auf die vom Autor gewünschte Nacktheit wurde auf Beschluss der Theaterdirektion verzichtet.

Auch scheint es nicht ganz einfach gewesen zu sein, die weibliche Rolle zu besetzen. Dolores Schmidinger erinnert sich daran, dass sie ungewöhnlich kurzfristig eingeladen wurde, den Part zu übernehmen:

Eigentlich hätte ich gar nicht mitspielen sollen. Ziemlich überraschend lässt mich eines Tages der Direktor Manker rufen und gibt mir ein Textbuch: „Geh ins Kaffeehaus und lies es dir durch“, sagt er, „die Proben beginnen heute Abend.“

Ich geh also ins Kaffeehaus und schlage die erste Seite auf. Es gibt zwei Personen: „Er“ und „Sie“. Bei „Er“ steht daneben mit Bleistift geschrieben „Franz Morak“, und bei „Sie“ steht „Kitty Speiser“. Das ist durchgestrichen, daneben steht „Brigitte Swoboda“, auch das ist durchgestrichen. Na servus, das muss ja wahrlich modernes Theater sein, wenn sich meine Kolleginnen weigern, die Rolle zu spielen.5

In seiner Anschaulichkeit und Direktheit traf dieses dramatische Werk sein Publikum nicht gänzlich unvorbereitet. Das Wiener Volkstheater galt als sehr progressiv geführtes Haus und hatte die Uraufführung in einem „Sonderabonnement Konfrontationen“ platziert. Die Reihe verfolgte das Ziel, „die Besucher an die neuesten Entwicklungen der Dramatik heranzuführen und sie damit vertraut zu machen“. Man ging davon aus, „hier ein besonders aufgeschlossenes und intellektuell interessiertes Publikum“ vorzufinden.6 „Rozznjogd“ brachte das Volkstheater in einer Saison heraus, die überaus reich an Ur- und Erstaufführungen mit Konfliktpotential war: Unter der Direktion von Gustav Manker wurde auch Wolfgang Bauers „Sylvester oder Das Massaker im Hotel Sacher“ zum ersten Mal inszeniert, weiters fanden die österreichischen Erstaufführungen von Friedrich Dürrenmatts „König Johann“ und Rolf Hochhuths „Guerrillas“ statt – beides hochpolitische Texte – sowie die deutschsprachige Erstaufführung der Komödie „What The Butler Saw“ des homosexuellen britischen Theaterrebellen Joe Orton. Erstmals in Österreich zu sehen war auch Wilhelm Pevnys Stück „Sprintorgasmik“, das sich mit „Rozznjogd“ einen „Einakterabend“ teilte. Mit Ödon von Horváths „Die Unbekannte aus der Seine“ und Nestroys „Robert der Teixel“ standen in dieser Saison außerdem Stücke zweier österreichischer Dramatiker am Spielplan, die Turrini überaus schätzte und die in seinem literarischen Schaffen deutliche Spuren hinterlassen haben. Das Volkstheater hatte sich als Avantgardebühne etabliert und bemühte sich besonders um die Aufführung zeitgenössischer Dramatiker. Generell bewegte sich die literarische Avantgarde der 60er-Jahre jedoch weniger in Wien als im Umfeld des Grazer Künstlervereins Forum Stadtpark. Dort erschien in Form der Zeitschrift manuskripte die wichtigste Plattform für avancierte Literatur, dort lieferte sich deren Herausgeber Alfred Kolleritsch anhaltende Gefechte mit konservativen Instanzen des kulturellen Geschehens.

Abendplakat „Rozznjogd“ / „Spintorgasmik“, Volkstheater, 1971

Dolores Schmidinger und Franz Morak in der Uraufführungsproduktion von „Rozznjogd“, Volkstheater, 27.1.1971

Auch wenn die Intendanz des Volkstheaters für den Abend des 27. Jänner 1971 von einem eher aufgeschlossenen Publikum ausgegangen war, wurde die „Konfrontation“ zumindest von einem Teil der Zuschauer als solche wahrgenommen und, was damals am Theater noch keineswegs üblich war, diese Empfindung durch Unmutsäußerungen deutlich zum Ausdruck gebracht. Nachdem an diesem Abend zwei provozierende Stücke verschiedener Autoren am Programm standen, verdoppelte sich der Skandalwert. Vielleicht hatte Turrini Glück, weil sein Stück am Beginn des Abends stand und das Publikum aus Neugier auf den zweiten Teil noch länger verweilte. Den Presseberichten zufolge fand der größere Zuschauerschwund jedenfalls in der zweiten Hälfte des Abends statt, während des methodisch sehr unkonventionellen Stücks von Wilhelm Pevny.

Durchaus provokant gemeint waren auch die biographischen Angaben des jungen Autors Turrini im Programmheft, in dem er erstmals als Heimatdichter in Erscheinung trat und sich gleichzeitig als Heimatflüchtling darstellte.

ich komme aus maria saal in kärnten. wer bei uns kalbsbraten ißt stößt zweimal, wer schweinsbraten ißt, dreimal auf. dies brachte mich auf die idee, vom katholizismus zum free jazz zu konvertieren. um dem würgegriff der ländlichen liebenswürdigkeit zu entgehen, ging ich nach wien. hier ist man gegen die umweltverschmutzung und für ein menschliches antlitz. unter solchem einflusse erhob sich meine dichterseele bald aus ihrem langjährigen durchschnitt. heute verfüge ich über eine marktgerechte sensibilität.7

Dass es sich hier eher um eine Form des Anti-Heimattheaters handeln musste, war rasch erkennbar, wenngleich der Autor die österreichische Wirklichkeit im Fokus hatte. Literaturgeschichtlich werden Turrinis frühe Stücke („Rozznjogd“, „Sauschlachten“) auch heute noch als „neue Volksstücke“ eingeordnet und in einem Zusammenhang mit den Werken damals reüssierender Autoren wie Wolfgang Bauer, Harald Sommer, Franz Buchrieser und Peter Handke gesehen. Die Gemeinsamkeit dieser Autoren beschränkte sich jedoch auf eine gesellschaftskritische Haltung und einen progressiven literarischen Ansatz. Als Merkmal eines „Volksstücks“ galt bei Turrini wie auch bei Bauer, Buchrieser und Sommer ein schnörkelloser Realismus, der in „echter“ und lebensnaher Sprache alltägliches Leben auf die Theaterbühnen brachte.

Mit der Uraufführung von „Rozznjogd“ wurde Turrini weit über Österreich hinaus schlagartig bekannt. Die mediale Resonanz zeigt eine enorme Reichweite und Widersprüchlichkeit in der Einschätzung der literarischen Qualität. Die Reaktionen im Publikum und in der Presse erstreckten sich von entrüsteten Protesten gegen den Sittenverfall auf der Bühne bis hin zu freudiger Anerkennung einer neuen, zeitgemäßen Form des Theaters. Bemerkenswert ist vor allem, wie weit über Wien hinaus Uraufführungen in dieser Zeit wahrgenommen wurden. Neben der österreichischen Presse berichteten auch alle führenden deutschsprachigen Medien sowie deutsche Lokalzeitungen. Ältere Schriftstellerkollegen wie Hilde Spiel und Friedrich Torberg, beide als Rezensenten im deutschen Feuilleton tätig, lobten das Talent des jungen Turrini. Torberg nützte die Gelegenheit für einen eleganten Rundumschlag gegen die Wiener Theaterszene im Gesamten:

Man müsste weit in die Wiener Theatervergangenheit zurückgreifen, um eine ähnlich ereignislose Saison zu entdecken, wie die von 1970/71. […] Das Volkstheater […] wie es seine dankenswert avantgardistische Art ist […] präsentierte zwei neue Bühnenwerke aus dem österreichischen Untergrund. Das erste, seiner Herkunft sprachlich getreu, hieß „Rozznjogd“ und stammt von Peter Turrini, einem jungen, trotz spürbarer Beeinflussung durch seinen Graz- und Alterskollegen Wolfgang Bauer eigenständig begabten Dramatiker, dessen Weltsicht skeptisch bis zur Verzweiflung, trotzdem nicht des Humors enträt. (Die Welt, 10.2.1971)

Der Vergleich mit dem Grazer Wolfgang Bauer war für viele Kritiker unumgänglich, durchwegs wurde aber auch auf die Eigenständigkeit der dichterischen Begabung Turrinis hingewiesen. „Der sechsundzwanzigjährige Turrini geht Wolfgang Bauers Weg, jedoch mit einer dramatischen Kraft, einer Beobachtungsschärfe und sprachlichen Könnerschaft, die faszinieren“, erkannte der damals amtierende österreichische „Literaturpapst“ Wolfgang Kraus in seiner Tätigkeit als Kulturkorrespondent für ausländische Zeitungen (Der Kocherbote, Rundschau für den schwäbischen Wald, 4.2.1971). Auch György Sebestyén, ein österreichisch-ungarischer Schriftsteller und zeitweiliger Präsident des PEN-Clubs, wies als Rezensent der Kronen Zeitung auf das vielversprechende Potential dieses Theaterdebuts hin: „Turrinis Stück könnte ein guter, starker, hoffnungsvoller Aufbruch sein, aus einer unbeabsichtigten ‚Heimatdichtung‘ zur Kunst“ (Kronen Zeitung, 29.1.1971). Hilde Spiel ortete in den Stücken Turrinis und seiner Autorenkollegen ein Lebensgefühl, das an die Tradition der Barock-Kultur anschließt: „Je heftiger sie sich von der Vergangenheit distanzieren, desto mehr erweisen sich die neuen österreichischen Autoren dem Weltgefühl ihrer Vorgänger verwandt. Barocker Lebensekel, bei aller Überbetonung der Sinneslust, ein tiefer innerer Degout vor der Leiblichkeit“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1971).

Dolores Schmidinger und Franz Morak in der Uraufführungsproduktion von „Rozznjogd“, Volkstheater, 27.1.1971

An manchen negativen Reaktionen auf das Stück fällt auf, dass sich das reaktionäre Österreich ein Vierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch ungehemmt jener Rhetorik bediente, die im Nationalsozialismus zu mörderischer Perfektion getrieben worden war. Vermeintlich „kranke“ (im Sinne von „schädliche“) Elemente in der Gesellschaft wurden identifiziert, aber es wurden auch Rückschlüsse zwischen den körperlichen Merkmalen des Autors und seiner Persönlichkeit gezogen. „Zur Beifalleinheimsung erschien der Autor, ein wohlgenährter dicklicher junger Mann, der die Gesellschaft verachtet, den Konsum aber sichtlich schätzt. Um ihm das ausgiebig zu ermöglichen, stehen ihm Preise und Prämien ins Haus“, war in einer Kritik zu lesen, die auch gleich die kulturverantwortlichen Entscheidungsträger mit an den Pranger stellte: „Das Volkstheater und der Grillparzer Preis sind gesichert, denn kein Opa in der Direktion oder in der Jury hat den Mut zu sagen, daß diese Exhibition Dreck ist“ (Freiheit, 4.2.1971). Die Kritikerin der konservativen Tageszeitung Die Furche erkannte in dem Stück „eine scharfe Anklage gegen einen Teil der heutigen Jugend. Ein Abfallplatz, auf dem das Stück spielt, wird zum Sinnbild für jene jungen Menschen, die selbst – wohl auch nach Meinung des Autors – nicht mehr als Abfall sind“. (Die Furche, 6.2.1971). Das freiheitliche Organ Neue Front (13.2.1971) übte sich in laienmedizinischer Diagnostik: „Der 26 jährige, 184 cm große, 89 kg schwere Holzfäller, Stahlarbeiter, Werbetexter, Hotelsekretär Peter Turrini aus Kärnten hat alle gängigen sowie ein paar erfundene Zoten zu einem etwa siebzigminütigen ‚Dialog‘ zwischen einem offensichtlich geistesgestörten Pärchen verarbeitet“. Der Rezensent der Wiener Zeitung (die damals bereits mit dem Amtsblatt als Veröffentlichungsorgan der Republik Österreich fungierte) ging noch einen Schritt weiter und brachte seine Auffassung von Genetik ins Spiel (Wiener Zeitung, 20.1.1971):

In dem Dialog des Paares ist die gegenwärtige Mode ordinärsten Argots zu nicht mehr überbietbarer exhibitionistischer Unflätigkeit getrieben. Wahrlich eine „Konfrontation“. Aber was wird uns mit diesem supernaturalistischen Wirklichkeitsabklatsch der zwei „Ratten in Menschenerscheinung“, wie sie ohne Zweifel zahlreich herumlaufen, demonstriert? Doch nur, daß es Leute gibt, die einfach genetisch bedingt seelisch und geistig so power, so kultur- und bildungsunfähig sind, daß sie nur niedrigste Zerstreuungen kennen. Müll der Gesellschaft, in unserer Zeit nur besonders grotesk durch die Vermengung mit dem industrialistischen Konsumlebensstil.

Man sieht an diesen Beispielen konservativer Kritik, wie sich das traditionsbewusste Theaterpublikum mit Vehemenz gegen die Demontage seiner Vorstellung von Theater wehrte. Mit ähnlich großer Leidenschaft versuchten junge Literaten und die wenigen Verbündeten, die sie in Theaterdirektionen, Zeitungsredaktionen und Verlagshäusern hatten, einen Paradigmenwechsel einzuleiten.

Ein kleiner Hinweis, dass dieser Umbruch zu Beginn der 1970er-Jahre kaum mehr aufhaltbar war, ist ein kurzer Zeitungsbericht direkt unter dieser bemerkenswerten Kritik in der Wiener Zeitung. Gerhard Klingenberg, der designierte Direktor des Wiener Burgtheaters (das er von 1971 bis 1976 leiten würde), hatte in einer Pressekonferenz seine Pläne für die kommende Saison präsentiert. Sogar das Wiener Burgtheater, das behäbige Schlachtschiff der traditionellen österreichischen Theaterkultur, war offensichtlich in Aufbruchsstimmung geraten und korrigierte seinen Kurs in Richtung Gegenwart. Klingenberg kündigte an, im – zum Burgtheater gehörigen – Akademietheater wöchentlich ein Programm außerhalb der Abonnements anbieten zu wollen, „das ganz bewußt Zuschauerminoritäten anlocken soll“, da es „eine wichtige und konstruktive Aufgabe sei, das Theater in Inhalt und Form weiter zu entwickeln“ (Wiener Zeitung, 20.1.1971).

Dolores Schmidinger und Franz Morak in der Uraufführungsproduktion von „Rozznjogd“, Volkstheater, 27.1.1971

Turrinis „Rozznjogd“ wurde noch im selben Jahr auf fünf weiteren deutschsprachigen Bühnen nachgespielt. Im März 1972 folgte eine Aufführung in Argentinien. Bis heute gibt es über hundert Produktionen von „Rozznjogd“ in mehr als zehn Sprachen, darunter auch Arabisch und Koreanisch.

Das Stück steht am Beginn eines literarischen Schaffens, das in seinem Umfang und im Ausmaß seiner öffentlichen Wirksamkeit in der österreichischen Gegenwartskultur kaum zu überbieten ist. Die öffentliche Wirksamkeit von Peter Turrinis Werk beruht nicht nur auf „Großereignissen“, die viele Menschen zugleich erreichten. Sie ist auch eine Folge der grundsätzlichen Bereitschaft des Autors, sich auf Einzelne einzulassen, zum Beispiel auf unbekannte Leser, die brieflich mit Fragen oder Protesten an ihn herantraten und ausführliche Antwortschreiben zurückerhielten.

Einige Konstanten, die das Werk und die Arbeitsweise Turrinis prägen, manifestierten sich bereits in der früh entstandenen „Rozznjogd“. Eine davon ist die Bevorzugung der literarischen Form des Dramas und die Liebe zum Theater. Damit verbunden ist auch die Fähigkeit des Autors, sich in kollaborative Arbeitsprozesse einzubringen. Immer wieder betont Turrini in Gesprächen, dass die Theaterkunst ihren Erfolg der gemeinschaftlichen Anstrengung vieler Beteiligter verdanke, während der Romanautor ein Einzelkämpfer sei. Der mit Wilhelm Pevny gemeinsam verursachte Theaterskandal bei der Uraufführung legte den Grundstein für eine langjährige Arbeits- und Freundschaftsbeziehung der beiden Autoren. Das Schreiben für Fernsehen und Film, wo die Notwendigkeit des Zusammenwirkens vieler kreativer Köpfe noch stärker ausgeprägt ist als am Theater, faszinierte Turrini über einen langen Zeitraum. Daraus entstanden die bahnbrechenden Fernsehserien „Alpensaga“ und „Arbeitersaga“. Eben so kann die Bearbeitung literarischer Vorlagenwie Turrinis Nachdichtungen von Stücken Carlo Goldonis insofern als eine Form des kollaborativen Schreibens gesehen werden, als die Auseinandersetzung mit einer anderen schreibenden Person erforderlich ist. Auch die sehr eigenwillige Form der Zusammenarbeit mit Willard Manus bei „Rozznjogd“ wiederholte sich Anfang der 1990er-Jahre in abgewandelter Form mit dem Zweipersonenstück „Grillparzer im Pornoladen“ (nach Manus „Love Boutique“).

Eine weitere Konstante im Gesamtwerk Turrinis ist die Praxis des „Weiterschreibens“ bereits veröffentlichter und aufgeführter Werke. Von fast allen seinen Stücken gibt es – meist anlässlich neuer Produktionen – überarbeitete, aktualisierte Fassungen. Diese Variabilität trägt bereits die „Rozznjogd“ mehrfach in sich: Für Produktionen in Deutschland wurde eine hochdeutsche Version geschrieben. Den in der ersten Fassung publizierten Schluss relativierte Turrini schon 1972 wieder, indem er künftigen Regisseuren einen Freibrief für die Gestaltung ihrer eigenen Variante ausstellt. Das belegt ein „Nachsatz zum Stück“ im Programmheft einer Aufführung im Klagenfurter Stadttheater:

Seit der Uraufführung im Jänner 71 wurde dieses Stück an etlichen deutschen und österreichischen Bühnen inszeniert. Dabei ist es immer wieder zu oft grundlegenden Änderungen des Schlusses gekommen. Ich finde das in Ordnung und stelle es jedem Produktionsteam anheim, seinen eigenen Schluß zu finden.

Folgende Änderungen hat es bisher gegeben: Kürzung des Schlußdialogs, die Schüsse kommen aus dem Lautsprecher. Oder: Das Paar bringt sich zum Schluß selbst um. Oder: Ein Schauspieler, der in irgendeiner der vorderen Reihen sitzt, springt plötzlich auf, schießt auf das Paar und rennt aus dem Raum.8

Für sich selbst hatte er ebenfalls einen neuen, von der ursprünglichen Fassung abweichenden „Lieblingsschluss“ gefunden: „Wenn die beiden nackt sind und ihr sprachloses Spiel treiben, kommt ein Lastwagen und kippt eine Ladung Schutt auf den Haufen. Eine Schuttlawine löst sich und begräbt das Paar unter sich. Aus.“9

In Turrinis früher Dramatik war eine gewisse Schockwirkung bewusst inkludiert. „Meine krassen naturalistischen Stücke waren Versuche, die Rampe zu durchbrechen, das Theater zu einem Ort der Auseinandersetzung, auch der Verletzung zu machen“10, schrieb er Mitte der 70er-Jahre in einem Stipendienansuchen. „Nein, ich will das Publikum nicht schockieren, sondern durch den Schock zu einem Denkvorgang anregen. Ich will die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Kunst in meinem Stück reduzieren“, erklärte er am Vorabend der Uraufführung von „Rozznjogd“ in einem Telefoninterview (Kleine Zeitung, 28.1.1971). Das machte Turrini zu einem rebellischen, aber nicht avantgardistischen oder experimentellen Autor. Eine Literatur zu schaffen, die sich nur einer intellektuellen Leserschaft mit entsprechenden Vorkenntnissen auf Anhieb erschließt, hätte seinen Absichten widersprochen. Die breite Öffentlichkeit lernte mit Peter Turrini schon im Jahr 1971 einen Schriftsteller kennen, der viel über das Leben von Menschen innerhalb gesellschaftlicher Ordnungen zu sagen hat und der darauf Wert legt, es so auszudrücken, dass es auch verstanden werden kann.

Der fünfjährige Peter Turriniauf einem Kärntner Berg, 1949

2

„Frühe Unbehaustheit“ Kindheit und Jugend im Dorf 1944–1966

Nach meiner ersten Uraufführung schrieb eine Zeitung dieser Kärntner Orang-Utan solle in die Wälder zurückgehen aus denen er hervorgebrochen sei.

Überallhin

nur nicht dorthin.1

Ein wesentlicher Anstoß, den Beruf eines Schriftstellers zu ergreifen, war für Peter Turrini die Begegnung mit der Künstlerszene im Umfeld von Maja und Gerhard Lampersberg. Das Künstlerpaar, eine Sängerin aristokratischer Herkunft und ein Komponist, verlegte seinen Wiener Salon vor allem in den Sommermonaten von der Gumpendorfer Straße auf seinen Landsitz in Maria Saal, den „Tonhof“. Maria Saal ist eine Marktgemeinde im Bezirk Klagenfurt-Land und zählte in den 1940er-Jahren etwas über 2000 Einwohner. In diesem Kärntner Dorf verbrachte Peter Turrini seine Kindheit und Jugend vom dritten Lebensjahr bis zum Schulabschluss.

Unweit vom Tonhof lebte die sechsköpfige Familie Turrini – bis zum Einzug in ihr selbstgebautes Haus – auf engstem Raum in einer Mietwohnung. Vater Ernesto Angelo Turrini war Italiener, geboren im Jahr 1909 in Cerea, einer Kleinstadt in Venetien (Provinz Verona). Er gelangte nach Österreich, nachdem er sich als Kunsttischlergeselle in Verona mit dem jungen Klagenfurter Volontär Fritz Prause angefreundet hatte. Die beiden gründeten gemeinsam ein Unternehmen in Italien, übersiedelten aufgrund wirtschaftlicher Probleme dann aber nach Klagenfurt, wo Ernesto Turrini 1933 in der neugegründeten Kunsttischlerei Prause zu arbeiten begann.2 Wegen der hohen Arbeitslosigkeit war der Arbeitsmarkt für Ausländer nur beschränkt zugänglich, deshalb konnte er längere Zeit nicht offiziell als Mitarbeiter gemeldet werden. Sein unehelicher Sohn Valentino (1929–2004) war bei den Großeltern in Italien geblieben. Ernesto Turrini unterstützte seine italienische Familie mit monatlichen Geldbeträgen und fuhr bis 1941, solange das Reisen während des Krieges noch möglich war, einmal im Jahr nach Cerea.