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Ein Flüchtlingsjunge wird Generalbevollmächtiger der bedeutendsten deutschen Tageszeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dietrich Ratzke hat ein bewegtes Leben und eine ungewöhnliche berufliche Karriere hinter sich. Als kleiner Junge abenteuerliche Flucht aus Danzig nach Berlin, dort wegen der Bombenangriffe nach Mecklenburg , von dort nach Ostberlin und Flucht in den Westen. Kaufmännische Lehre, Abitur im Zweiten Bildungsweg, Studium der Rechtswissenschaft, Redakteur, dann Chef vom Dienst der F.A.Z., dann Generalbevollmächtigter der F.A.Z. GmbH. und Professor an der Journalistischen Fakultät der Staatlichen Lomonossow- Universität, Moskau. In diesem Band erzählt er Episoden aus diesem aufregenden Leben, die zugleich historische Spiegelbilder einer unruhigen Epoche zwischen Krieg und Frieden sind.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Impressum Texte: © 2022 Copyright by Dietrich Ratzke, Umschlag:© 2022 Copyright by Dietrich Ratzke
Lektorat: Gerrit Mai, Biografin und Freie Journalistin; Verantwortlich für den Inhalt: Dietrich Ratzke
Moselstraße 8, D-61273 Wehrheim/Taunus, [email protected]; Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Dieses Buch ist gewidmet: Meiner Mutter und Gisela,
meiner liebenswerten Familie
und allen, die Dieterchens (Lebens–)Weg freundschaftlich
und nachsichtig begleitet haben
Warum das?
Am 30.März 1939 wurde das Dieterchen in Danzig geboren. Der Weg, dem sein Leben folgte, war kurvenreich. Ich, das Dieterchen aus Kindertagen, habe lange gezögert, einige Erlebnisse meines an Episoden und überraschenden Ereignissen sehr reichen Daseins aufzuschreiben. All das, woran man sich erinnert, erscheint manchmal sogar in den eigenen Augen unglaubwürdig, übertrieben, eigentlich unvorstellbar. Die nachwachsenden Generationen, die vielleicht irgendwann, mehr oder minder zufällig, ein derartiges Buch in den Händen halten, hier und dort mal ein paar Zeilen lesen werden, und das war meine Befürchtung, werden sagen: „Was der Alte sich da ausgedacht hat. Der hatte offenbar eine sehr lebhafte Phantasie“.
Aber dann dachte ich an die vielen jungen Menschen, die ich als Universitätslehrer begleiten durfte, und an ihre unbändige Neugier, etwas über die Gezeiten eines Krieges, über die nahezu unvorstellbaren menschlichen Schicksale, den Kampf gegen ein feindlich gewordenes Leben, die Verzweiflung und die Überwindung dieses Grauens zu lesen und nicht aufzugeben, wenn das Schicksal oder die eigene Unvollkommenheit einmal nicht so recht das tut, was man sich eigentlich wünschte. Um daraus vielleicht sogar einige Lehren für das eigene Leben und für einen Kampf gegen Krieg und Elend zu ziehen und auch in schweren Zeiten nicht den Mut zu verlieren.
Es gab aber auch einen ganz persönlichen Grund, dieses Lebenspuzzle einmal niederzuschreiben, denn es ist so eine Art Selbsttest: Was bleibt nach einem langen, über acht Jahrzehnte währenden, Leben eigentlich noch in der Erinnerung und warum ausgerechnet das und anderes, vielleicht Wichtigeres, nicht? Was hat man falsch gemacht? Was ist besonders gut gelungen? Wen hat man ungerecht behandelt? Mit wem kam man warum besonders gut aus? Und vor allem: was würde man durch die gewonnene Lebenserfahrung eigentlich anders machen, wenn man es noch einmal könnte?
Eine derartige Erzählung ist immer verwoben mit den persönlichen Erinnerungen, mit den Erzählungen anderer und mit nächtlichen Träumen, die die Erinnerung häufig bis zur Unkenntlichkeit verfälschen, ohne daß man es merkt. Wie also dabei eine möglichst authentische Darstellung finden?
Da hilft eine alte Erfahrung als Journalist: So viele Quellen wie möglich befragen, diese wiederum anhand anderer Aufzeichnungen und Aussagen abgleichen und hierauf die eigenen Erinnerungen projizieren. Da kann immer noch sehr viel schiefgehen, aber der Kern des Geschehens dürfte im Wesentlichen erkennbar werden.
Ich hatte es in dieser Beziehung relativ einfach. Meine Mutter Charlotte hatte zusammen mit meiner Frau Gisela zwei Bände mit ihrer Lebensgeschichte aufgeschrieben. Minutiös, präzise, trotz aller Emotionen nüchtern und klar. Daran konnte ich mich auch in der zeitlichen Abfolge, die ja in der Erinnerung häufig etwas verrutscht, orientieren. Zusätzlich hatte ich meine Schwester Brigitte, drei Jahre älter als ich, an meiner Seite. Sie hatte natürlich viel genauere und sehr lebhafte Erinnerungen an diese Zeiten. Sie korrigierte, ergänzte und glättete die schlimmsten Erinnerungslücken und die manchmal doch überschäumende Phantasie des Autors. Gisela machte sich zudem die große Mühe, den Text zu redigieren und viele Fehler zu korrigieren. Und dann bekam dieses Buch den Endschliff durch Gerrit Mai, Journalistenkollegin und Biografin. Ihnen gilt mein großer Dank! Zur Authentifizierung füge ich zudem Kurzzitate aus der Wikipedia und anderen Quellen hinzu, die Orte, Gestalten und Ereignisse aus einem nüchternen, da lexikalischen, Blickwinkel ergänzen. Wenn bei den Zitaten, die kursiv gedruckt sind, keine Quelle angegeben ist, handelt es sich um Wikipedia. Interessant fand ich auch eine Liste einiger meiner Publikationen aus meiner F.A.Z.-Zeit, ich habe sie ungeordnet angehängt.
DasTitelbildzeigtdasDieterchenmitneunJahren,schonfasteinDieter.Esist einMosaikbild,dasausmehrerentausendEinzelbildernbesteht,dieinder Gesamtheit allewichtigenLebensstationenundMenschenzeigt, dieihnbegleitet haben.MiteinergutenLupekannmansieerkennen.UmdasBild tech-nisch zu komponieren, sind dort einige der Bilder mehrfach benutzt.
Erste Episode: Danzig und die Flucht in eiskalter Nacht
Hier wohnte das Dieterchen
Unser Geburtshaus in Danzig ist die Gralathstraße 9, das im Krieg durch Bombenangriffe zur Hälfte zerstört wurde und auf dem heute ein großes Krankenhaus steht .
Es war das Eckhaus Gralathstraße/Eichenallee und hatte einen großen Garten. Von der großen Allee kommend, die hinaus zur Ostsee führte, (wo in Glettkau unser Sommerhaus am Strand stand) ging man an der „Halben Allee“ links die Dellbrück Allee hinauf und bog die erste Straße links in die Gralathstraße ab. Das Haus lag in der Nähe des „Wäldchens“ . Und viele unserer Spaziergänge führten diese Anhöhe hinauf in den kleinen Wald. Dort Ostereier zu suchen war jährliche „Pflicht“ und natürlich große Freude, wenn auch nicht immer leicht fürs Dieterchen. Der hieß eigentlich Dietrich Hermann, kurz: Dieter, aber das ließ das Danziger Idiom nicht zu, denn dort gehörte an möglichst jedes Wort ein „-chen“ daran. Und so war er eben das „Dieterchen“.
Von dort oben aus dem Wäldchen konnte man auch besonders gut auf das riesige Anwesen des Danziger NSDAP-Gauleiters Albert Forster sehen. Es war mit einer hohen Steinmauer umgeben Und es wurde immer wieder kolportiert, daß sich dessen Chauffeur dort häufig sonnte. Tief beeindruckte uns als Kinder immer wieder die Behauptung eines Nachbarn, dem unbeliebten Chauffeur mit einem Luftgewehr dabei in den Hintern geschossen zu haben. Da war aber wohl mehr der Wunsch Vater des Gedankens...
„Am 29. April 1948 wurde Albert Forster vom Obersten Polnischen Nationalen Gerichtshofzum Tod durch den Strang verurteilt. Am 28. Februar 1952 wurde Forster von Danzig nach Warschau gebracht und dort am selben Tag im Hof des Zentralgefängnissesgehenkt.“
Über den Gartenzaun von Haus Nummer 7, das im Gegensatz zu unserem, von keiner Bombe getroffen wurde, ragte ein Kirschbaum. Dessen Früchte zu pflücken, war uns leider verboten aber nie ganz zu verhindern. Die Bewohnerin, die Witwe Freyer, war streng und noch strenger ihre dort ebenfalls wohnende Tochter, eine Lehrerin von Brigitte. Die hatte ihr eines Tages, als Brigitte den Arm zum Hitlergruß nicht hoch genug streckte, auf der Straße eine Ohrfeige verpasst.
Im Haus Nr. 5 wohnte Dr. Arnold mit Familie. Er war Arzt und hatte dem Gauleiter Forster, die Stimmbänder operiert, weil der "immer so geschrien hat", wie Mutti sagte. Frau Arnold war eine sehr gütige, freundliche Mutter von fünf Kindern, die Brigitte immer „so schön“ fand. Dittchen, das zweitjüngste Kind, war in Brigittes Klasse und ihre beste Freundin. Die Freundschaft überdauerte den Krieg. Brigitte erinnert sich: „Arnolds hatten einen Steingarten vor dem Haus. Der wurde von kriegsgefangenen Russengepflegt. Ich habe mich damals gewundert, daß auf ihren Rücken „CCCP“ gedruckt stand. Die Russenwaren sehr kinderfreundlich, aber es war streng verboten, mit ihnen zu sprechen. Ging auch nicht wegen der Sprache. Da haben sie Holzspielzeug für mich gemacht, so pickende Hühnchen und dergleichen. Ich habe so was später in Russland wieder gesehen. Tante Viktoria, unser Kindermädchen, hat mir manchmal ein Stück Brot zugesteckt, das habe ich ihnen gegeben. Niemand durfte das wissen.“
Das „CCCP“ auf den Rücken der Russenkonnten wir uns erst einige Jahre später erklären, als wir in der Schule als erste Fremdsprache Russisch lernen mussten. Es sind kyrillische Buchstaben, in lateinischen Buchstaben sind es: „SSSR“, «Союз Советских Социалистических Республик, Sojus Sowetskich Sozialistitscheskich Respublik‚“ übersetzt „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken““
Die Parallelstraße zur Gralathstraße war die Lindenstraße. Dort gab es einen niedlichen Krämerladen, der alles hatte, was ein Kinderherz begehrte: vor allem aber Brausepulver für 10 Pfennige das Tütchen. Ein stolzer Preis für die Zeit, aber sehr süchtig machend. „Onkel Moser„ war der Inhaber. Er war ein sehr freundlicher, dicker Mann, der irgendwann nicht mehr da und der Laden plötzlich Verschlossen war. Niemand sprach darüber aber dann wurde doch gemunkelt: Vielleicht war er Jude?
Zitat Digitales Familiennamenwörterbuch Deutschland (DFD):
„Als jüdischer Name wurde Moser (häufig) wegen seiner lautlichen Ähnlichkeit statt Moses angenommen.“
Im Erdgeschoss des Hauses Gralathstraße 9 wohnte Reinhard Groß, zusammen mit seinem Vater, bevor der vor Kriegsende starb. „Onkel Reini“ war unser bester Freund. Er spielte mit uns, schenkte uns dies oder das und war immer fröhlich. Lange Jahre nach dem Krieg tauchte er wieder auf, es hatte ihn nach Süddeutschland verschlagen. Im zweiten Stock wohnte Tante Schulz, Reinis Verwandte, die Buchhalterin war. Sie kam bei dem Bombenangriff 1945 ums Leben.
Zwischen beiden Etagen, im ersten Stock, war unsere Wohnung. Gehen wir mal hinein.
Die Wohnungstür öffnete von außen kommend nach rechts und führte in einen langen Flur. Rechter Hand das Badezimmer, dann das Kinderzimmer, dann die Küche. Geradeaus ein großes, helles Wohnzimmer mit verglastem Wintergarten zum Garten, die gemütliche Sitzecke hinten links zur Gralathstraße hin. Über der Sitzecke ein Bild aus Sylt, dort wo sich die Eltern kennengelernt hatten. Neben der Sitzecke eine Schiebetür, die einen für Dieterchen höchst geheimnisvollen Raum öffnete: das Büro von Vati, dem Rechtsanwalt Dr. Bruno Ratzke, dem Sozius von Erich Willers, einem in Danzig überall bekannten und nicht von allen geschätzten Anwalt. Ein großer Schreibtisch, auf dem ein schwarzes Telefon (Telefonnummer Danzig 26080) stand. Eine weitere Tür führte aus dem Büro zurück in den Korridor. Beide Türen waren stets geschlossen, denn für uns Kinder war es das größte Vergnügen im Kreis herum vom Korridor ins Büro, von dort ins Wohnzimmer und wieder in den Korridor, zu rennen und das, so oft man es konnte und mit großem Geschrei bis zur Erschöpfung.
Das Bild im Wohnzimmer über der Couch hat sich aus einem besonderen Grund eingeprägt: Mutti erzählte viele Jahre später, daß dieses für ihre Beziehung so wichtige Abbild einer Dünenlandschaft auf Sylt zur Todesstunde von Vati von der Wand gefallen sei. Das war für uns eine faszinierende Geschichte, die auch Jahre später immer noch lebhafte Diskussionen auslöste.
Die schreckliche Nachricht
Ein Tag wie jeder andere. Wir spielten an einem schönen Septembertag des insgesamt sehr sonnigen und heißen Sommers des Jahres 1944 auf der kaum befahrenen Gralathstraße vor dem Haus Freyer, Hausnummer 7. Das war das Grundstück mit dem Kirschbaum. Tante Hertha, die Schwester von Vati, kam oben von der Eichenallee rechts in die Gralathstraße und ging direkt auf unser Haus zu ohne uns zu beachten. Das war für die uns sonst sehr zugewandte Tante Hertha sehr ungewöhnlich. Wir ahnten, daß wohl etwas Schlimmes passiert war. Und mochten nicht mehr spielen. Nach einiger Zeit rief uns Tante Viktoria, unser Kindermädchen, ins Haus zu Mutti. Sie weinte. Und dann sagte sie uns, daß Vati nicht mehr wiederkommen werde. Wir hatten ihn immer nur sehr kurz gesehen, weil er nur kurze Urlaube von der Front hatte, deshalb war für Dieter die Nachricht nicht so schrecklich: er kannte ihn ja kaum und konnte mit seinen fünf Jahren und dem tiefen Schmerz der Mutter noch nicht umgehen. Später berichtete Heinz Hoffmann, unser Onkel, der mit der Schwester von Vati verheiratet war, daß Vati in der Ukraine bei einer Patrouillenfahrt von einem sowjetischen Tiefflieger erschossen worden war. Das war im August 1944 und die Sonnenblumen auf den riesigen Sonnenblumenfeldern rund um das ehemalige deutsche Aussiedlerdorf Sofiental (heute: Sorvika) im damaligen Bessarabien ließen schon ihre Köpfe hängen. Er wurde noch in die örtliche Sanitätsstation gebracht, war aber nicht mehr zu retten. Jahrzehnte später konnten wir sein mutmaßliches Grab wiederfinden, etwas Heimaterde mitbringen und eine Rose aufs Grab pflanzen. Es war wieder August. Und die Sonnenblumen auf den unendlichen Feldern der Ukraine ließen wieder die Köpfe hängen.
Flucht in eisiger Nacht
Es ist eine dieser kalten Tage, die es nur im Norden gibt. Trocken, glasklar . Etwa 15 bis 20 Grad minus sagen die Kriegs-und Fluchtberichte dieses Tages über Danzig. Es ist der 25.Januar 1945. Es ist dunkel. Im Haus in der Gralathstraße 9 in Danzig geht in der ersten Etage rundum das Licht an. Das polnisch-deutsche Kindermädchen Viktoria geht in das Kinderzimmer, wo Dieter schläft. Viktoria streichelt Dieter: „Dieterchen, wach auf, es ist Alarmchen!“ Dieter kennt das: fast jeden Abend, fast jede Nacht kommt Tante Viktoria ans Bett und sagt: “Dieterchen, aufwachen es ist Alarmchen“. Die typisch Danziger Verkleinerungsform macht`s ihm nicht leichter: Schlaftrunken steht Dieterchen auf und will sich, wie immer, die stets bereit gelegten Luftschutzsachen anziehen. So müde er ist, aber er findet es doch immer wieder spannend in den Keller zu gehen, dorthin, wo es immer ein wenig muffig riecht, aber wo alle Hausbewohner versammelt sind, vor allem der liebe Reini aus dem Erdgeschoss, wo es, wenn auch in etwas dicker Luft, wohlig warm ist und eine schwache 15 Watt-Glühbirne ein anheimelndes Licht verdämmert, kurzum: wo man schnell weiterschlafen kann.
Aber dieses Mal ist es kein Alarmchen. Dieses Mal zieht Tante Viktoria Dieterchen ganz anders an: lange Strümpfe (diese scheußlichen, kratzenden Dinger, die mit Klammern am „Leibchen“ befestigt werden), dickes Unterhemd, dickes Hemd, den Lieblingspullover mit irgendeinem Tier (Elefant?) drauf. Und Tante Viktoria sagt: “Dieterchen, wir fahren heute weg!“ Dieterchen ist sofort begeistert und hellwach: „Wohin denn?“ „Das wird Dir Mutti nachher erzählen.“ Aber erst kommt der kleine Rucksack auf Dieterchens Rücken an dessen Halterung rechts unten ein silberner Becher, hängt. „Fräulein Viktoria“, wie sie offiziell genannt wurde, hatte eine gute Idee und rollte Daunendecken ganz eng zusammen, die kamen bei den Kindern mit in den Rucksack, bei Schwester Brigitte in ihren Schulranzen. Dieterchen möchte noch seinen Fußball mitnehmen, und Brigitte ihre Käthe-Kruse-Puppe „Anja“, aber das passte nicht mehr hinein. Dieterchen freut sich dennoch auf die Reise.
Inzwischen hat Mutti auch die Kleinste in der Familie angezogen: Bärbel, sie ist fast drei Jahre alt. Dann geht es mit allen die Treppe aus dem ersten Stock herunter zur Haustür. Tante Viktoria bleibt zurück und winkt: “Wir sehen uns ja bald wieder“. Einige Wochen später wird sie bei einem Luftangriff unter den Trümmern des Hauses begraben. Und dann geht die Haustür auf. Der Kälteschock lässt alle Vorfreude auf ein Abenteuer bei Dieterchen erlöschen: aus dem warmen Haus hinaus geht die kleine, zerbrechliche Gruppe hinaus in den eisigen Abend. Mutti in ihren Erinnerungen: “Brigitte mit Dieter Hand in Hand vorneweg, ich mit Bärbel auf dem Arm und Koffer in der anderen Hand hinterher. An der Ecke Gralathstraße-Eichenstraße drehte ich mich noch einmal um und blickte zurück. Frau Viktoria stand am dunklen Fenster und winkte, die Tannen im Vorgarten waren dick verschneit, alles sah so friedlich aus - ich hielt krampfhaft an meiner Hoffnung wiederzukommen fest.“
„Januar1945. Der letzte Akt des Krieges beginnt. Nahezu zweihundertfünfzig sowjetische Divisionen sind zum Sturm auf das Deutsche Reich angetreten. Es kann nur noch Tage dauern, bis sie die deutsche Grenze überrennen. Doch schon seit den ersten Januartagen gibt es kein Halten mehr. Keine Partei, kein Funktionär, kein Landrat und kein Bürgermeister kann die Menschen an der Flucht hindern, als .. die Front immer näher rückt. Spätestens am 22. Januar 1945, ist der Zugverkehr von Ostpreußen/Danzig nach dem Reich auf allen Strecken gesperrt.“
Wohinnun?TanteViktoriawardieRettung.SiehattepolnischeVerwandteinderNähevonDanzig,diewirfrüheraucheinmalbesuchthatten.DerSchwagerwarLokomotivführer. ErhattedieKindereinmalmitaufseineLokgenommenundDieterchendurfteKohleindenheißenSchlundderLokomotive werfen.ErdurfteauchdieDampfpfeifeziehen.Daswaraberzuschwerfür ihnunderwarsehrenttäuscht.DerLokomotivführerwusste,dasses,obwohl alleBahnstreckeninRichtungWestenbereitsgesperrtwaren, es aber dennoch nocheinzelne Zügegab,diedennochfuhren.Muttihatteihmgesagt,dasssieversuchthatte, fürunsaufdemFlüchtlings-
schiff„WilhelmGustloff“mitgenommenzuwerden, aberdasSchiff,dasletzte,dasDanzigverließ,warvölligausgebucht.Die „Wilhelm Gustloff“,aufderwirsogernemitgefahrenwären,wurdeversenkt.
„Bei ihrer Versenkungdurch das sowjetische U-Boot S-13vor der Küste Pommernsam 30. Januar 1945 kamen zwischen 4.000 und mehr als 9.000 Menschen ums Leben. Bezogen auf ein einzelnes Schiff gilt ihr Untergang als eine der verlustreichstenSchiffskatastrophender Menschheitsgeschichte.“
Und so wussten alle, daß ein Zug die wohl letzte Gelegenheit für die Familie war, Danzig vor der herannahenden Sowjetischen Armee zu verlassen. Der Lokführer wusste aber auch, daß es in einem dieser wohl letzten Züge aus Danzig heraus, für eine Familie mit kleinen Kindern keine Chance gab, den Zug im völlig überfüllten Danziger Hauptbahnhof besteigen zu können .
Soempfahler,wirsolltennachSaspe,einemVorortvonDanzig,mitder Kleinbahnfahren.DortwurdendieZügezusammengestelltdieindenWesten fuhrenundMuttisollteversuchenmitdenKindern,indendortstehenden,noch leerenZug,hineinzukommen.Eswürdevermutlichderletzteseindervon DanzignachWestenfahrenwürde.UndsogingdiekleineGruppedie Lindenstraßehinunter,stieganderHalbenAlleeindieStraßenbahn.Hinterder EisenbahnbrückelagderkleineBahnhof,vondemausdieKleinbahnins Hinterlandfuhr.TanteHertha,dieSchwestervonVati,diesichuns angeschlossenhatte,mitInes,gerademaleinJahralt,aufdemArm,stand schondaundfuhrmit.InSaspewartetederLokomotivführeraufuns,langund dunkelstandderZugda,zudemerunsführte.Wirgingendurchdentiefen SchneeüberdieGleiseundstiegenvorsichtigüberdieSchienen,dieFüße versuchten,aufdemeisigenSchotterHaltzufinden.EtwainderMittedieser unheimlichenZugschlangeklettertederLokführeraufdashoheTrittbrettund nahmKofferundKinderinEmpfang.Dannverschwander eilig inderdunklenNacht, wissend,daßerinLebensgefahrwar.Dennhättemanihnbeobachtet,wäreer sofortverhaftet, vermutlich nach Kriegsrecht erschossenworden.DerWaggonwareiskalt.Wirnahmendaszweiteoder dritteAbteillinks.Undkonntenunsnichthinsetzen,weildiemitKunststoff bezogenen Sitzplätze sokalt waren, als wäre es reales Eis.
„Wir haben nichts gesehen“
Die Zeit schlich dahin, an Schlafen war nicht zu denken, es war zu kalt. Wir wagten kaum zu atmen. Alles war totenstill. Dann laute Stimmen und das Poltern von Militärstiefeln. Die Abteiltür wurde aufgerissen. Drei Uniformierte herrschten uns an: „Was macht ihr hier, sofort raus aus dem Waggon“. Mutti und Hertha sah die drei flehend an: „Das sind unsere Kinder, die Kleinen sind eins und drei. Die können Sie doch nicht raus in die eiskalte Nacht schicken“. „Ja, wir müssen leider unsere Pflicht tun“. „Ja, tun Sie doch bitte ihre menschliche Pflicht und lassen uns hier.“ Und dann der erlösende Satz: “Verhalten Sie sich ruhig, wir haben nichts gesehen“. Mit polternden Stiefeln zogen sie weiter .
Kaum sind die Bahnpolizisten weg, beginnt der Zug plötzlich zu rollen. Mutti atmet auf. Wir fühlen, wie sie erleichtert ist. Jetzt möchte sie erzählen, wohin es eigentlich geht. Aber dazu kommt sie nicht, denn der Zug rollt im Danziger Hauptbahnhof ein.
Die Menschenmenge, die sich auf dem Bahnsteig drängt, ist ungeheuerlich. Ja, es war wohl einer der letzten Züge, der von Danzig in den Westen fuhr. Auf dem Bahnhof standen überwiegend Flüchtlinge aus Ostpreußen, die weiter nach Westen kommen wollten. Wie sollen diese vielen Menschen in den Zug kommen? Das war unsere Frage und wir hatten wieder Angst. Wird der Zug überhaupt fahren können? Werden wir erdrückt von der Menschenmaße die in unser Abteil drängen wird? Und dann wurde der Zug regelrecht gestürmt. Ein wirres Durcheinander, Gebrüll, Kindergeschrei, schreiende Frauen, schimpfende Männer. Und dann wurde die Abteiltür aufgerissen. Die Menschen kamen nicht herein, sie wurden regelrecht hineingedrückt. Einer der ersten Männer rannte sofort zum Fenster und schob es auf. Draußen stand seine Frau, die ihm ein Gepäckstück durch das Fenster reichte. Das sahen andere und taten es ihr gleich. Im Nu war das Abteil gefüllt mit Menschen und Gepäckstücken. Und der Waggon war in Minutenschnelle komplett gefüllt. Draußen standen aber immer noch hunderte, vielleicht tausende, Menschen die mitfahren wollten. Ein Mann, der noch auf dem Bahnsteig stand, hob sein kleines Kind, es war fast noch ein Baby, ein kleiner Junge, hoch und reicht es uns durch das Fenster. Hilfsbereit wie Mutti immer war, nahm sie es an. Nun hatten wir im völlig überfüllten Abteil auch noch ein Baby, aber nicht die dazugehörigen Eltern, denn die waren noch draußen. Was machen wir mit dem Kind? Vielleicht schaffen es die Eltern doch noch, in den Zug einzusteigen. Die Mitreisenden versuchten, den Mann, der das Kind hineingereicht hatte, in der Menge draußen zu erkennen, aber das war unmöglich. Dann fuhr der Zug ab. Und wir hatten ein schreiendes Baby im Abteil, dessen Eltern verschwunden waren. Wer sollte sich nun um das Baby kümmern? Mutti: „Ich übergab ihn auf dem Stettiner Bahnhof an eine Rote-Kreuz-Schwester. Es war eines der tausenden von Flüchtlingskindern, das nicht mehr wußte, wer es ist, wo es herkommt und keinen Namen hat. An das Leid der Mutter um ihr verlorenes Kind darf man gar nicht denken.“ Ob sie jemals wieder zusammengefunden haben?
Der Zug fuhr und fuhr Und er blieb immer wieder stehen dann fuhr er wieder ein Stück, dann blieb er wieder stehen „Tieffliegerangriffe“, mutmaßten die Männer im Abteil. Dieterchen hatte eine Idee: Da alle Sitzplätze mehr als besetzt waren, kletterte er mit Hilfe eines freundlichen Mannes in eines der Gepäcknetze ganz oben wo noch ein kleines Fleckchen frei war. Dort war es warm und außerordentlich bequem. Und er schlief und schlief und schlief .
Alle aufs Töpfchen
Als er wieder aufwachte, hatte Mutti schon aus dem Rucksack etwas zu Essen herausgenommen. Sie nahm die kleinen silbernen Becherchen von den Rucksäcken der Kinder und füllte sie mit einem Schluck Rotwein, den sie auch mitgenommen hatte. „Hier Dieterchen, trink das, Du kannst dann besser weiterschlafen bis wir ankommen“. Dieterchen roch an dem Silberbecher mit dem roten Zeug darin und beschied: „Nein, das trinke ich nicht.“ Alle Erwachsenen im Abteil, denen das Wasser im Munde zusammenlief, und die gerne einen Schluck vom „roten Zeug“ abbekommen hätten, redeten nun auf Dieterchen ein:„Trink das, das wird Dir gut tun, das ist gesund“. So musste er doch „das Zeug“ trinken, einen Schluck nur. Ihm wurde sofort übel und er verkroch sich wieder in seinem gemütlichen Gepäcknetz. Aber dann geschah, was nach jeglichem Alkoholgenuss alsbald passiert: Dieterchen musste mal. Und jetzt kam die geniale Idee von Tante Hertha, die ja mit Ines mit im Abteil war, ins Spiel. Sie hatte im Gepäck einen Nachttopf mitgebracht. Und der wurde zum Segen im Abteil. Erst Dieterchen, dann fremdes Babychen, dann Ines, dann die Erwachsenen. Und dann: Fenster auf und raus damit!
Immer wieder blieb der Zug stehen. Vor Stettin gefühlte Stunden, denn dort ging gerade ein Bombenhagel nieder, der die Stadt in Schutt und Asche legte. Dann ging es wieder weiter. An einem Bahnhof wurde uns Tee hereingereicht. Ein Geschenk des Himmels.
Zweite Episode: Die Ruinenstadt
26.Januar 1945. Mutti: „Es war heller Mittag als wir in Berlin ankamen. Nun mussten wir sehen, wie wir durch die grauenhafte Ruinenstadt bis nach Spandau kamen, zu unserem Ziel bei den Großeltern. Entgegen der Erwartung ging das doch ganz gut, denn die Verkehrsverhältnisse: U-Bahn, Buße waren noch einigermaßen intakt. Und dann stand unser trauriges Häuflein vor der Korridortür im ersten Stock der Marschallstraße 9. Opa Haase öffnete die Tür: „Gott sei Dank, daß Ihr da seid!!“ Wir waren wieder zuhause angekommen.“ Und alles war gut. Zumindest für den Moment. „Denn gerade, als wir angekommen waren, Ende Januar/Anfang Februar 1945 verstärkten die Alliierten die Bombenangriffe auf Berlin.“
Zitat Tagesspiegel „Das Erlebnis dieser Stunden hat sich tief in die Erinnerung gegraben. Am 3. Februar 1945, später Vormittag, begann daswohl größte Bombardement aufBerlin der Tod, der aus den Bomberschächten kam, war über die Mitte Berlins gerast, das Stadtzentrum versank in Schutt und Asche, in den Luftschutzkellern saßen Frauen und Kinder – die Männer kämpften an immer näher rückenden Fronten, Plötzlich flackert das Licht, dann erlischt es, der Strahl einer Taschenlampe gleitet über die Gesichter verängstigter Menschen und gefaltete Hände, „wir haben uns aneinandergeschmiegt und gedacht: Jetzt geht es zu Ende“. Kaum kamen sie lebend aus den Kellern und nagelten notdürftig Pappen in die Fensterhöhlen ihrer beschädigten Wohnungen, da heulten schon wieder die Sirenen. Das Brummen von fast 1000 Bombern und 600 Jagdfliegern der United States Army Air Forces (USAAF) erfüllte die Luft, 1854,5 Tonnen Spreng- und 539,5 Tonnen Brandbomben fielen auf das Zentrum, 2296 Gebäude wurden total, 909 schwer und 1188 mittelschwer beschädigt. 2500 Tote wurden gezählt. Noch Jahre später wurden beim Ausschachten von Kellerräumen für Neubaufundamente Skelette geborgen. Mit mindestens 2541 Toten, 714 Vermissten, 1688 Verwundeten und 119057 Obdachlosen war dies der schwerste Schlag gegen Berlin. Aber ihren Sarkasmus verloren sie nicht. Charlottenburg wurde im Volksmund zu „Klamottenburg“, Steglitz zu „Stehtnix“ und Lichterfelde zu Trichterfelde. Und man verabschiedete sich mit der Hoffnung „Bleib übrig!““
Meistens behielten wir nachts die Luftschutzsachen an, weil wir jede Nacht in den Keller mussten. Es waren keine „Alarmchen“, die wir erlebten, es waren brutale, heftige Attacken, die uns große Angst machten. Im großen Luftschutzkeller in der Marschallstraße war es auch nicht so gemütlich, wie im Keller in Danzig. Hier hörte man in unmittelbarer Nähe die Bomben niedergehen, die Kellerwände zitterten und sogar als Kind spürte man die ungeheure Anspannung der Menschen: Kommen wir hier wieder lebend heraus? In einer der Nächte gab es eine besonders schwere Erschütterung. Als wir am nächsten Morgen aus der Haustür traten und nach links sahen, fehlte die ganz Häuserreihe ab Marschallstraße 9 bis zur Fehrbelliner Straße. Es war ein gigantischer Trümmerhaufen mit einigen stehengeblieben Fassaden. Wie viele Menschen mögen dort unter den Trümmern begraben worden sein? Einige Jahre später, als es uns wieder nach Berlin verschlug und wir Kinder älter waren, spielten wir trotz strengem Verbot in diesen dann noch vorhandenen Hausskeletten. Das war richtig schön.
Kein Alarmchen mehr
Jetzt aber stand fest: hier in Berlin können wir nicht bleiben. Mutti nahm Kontakt mit der Familie Waterstraat in Rothenmoor/Mecklenburg auf. Waterstraat war Förster in Rothenmoor und im Krieg bei Vati in der Kompanie. Sie verstanden sich gut und Vati hat auch immer mal wieder etwas Gutes für ihn tun können. Daher hatte Waterstraat Vati angeboten, daß wir nach Rothenmoor kommen könnten, wenn es nötig werden sollte. Das Angebot war nicht ganz eigennützig, denn Waterstraat hätte sowieso Flüchtlinge aufnehmen müssen. Und da waren wir ihm lieber.
Dritte Episode: Mecklenburg. Hilfe und Hass. Die Russen kommen. Die Kleinste stirbt. Gefährliches Spiel.
Also packte Mutti wieder einmal die Kleinigkeiten zusammen, die wir aus Danzig hatten mitnehmen können. Und schon ging es wieder los: erst mit dem Zug nach Waren an der Müritz, dort Umstieg in den Bummelzug auf der uralten Eisenbahnstrecke, der sogenannten Lloyd-Bahn aus dem Jahre 1886 (Neustrelitz-Warnemünde). Manchmal fuhr der Zug, dann blieb er lange irgendwo stehen. Das monotone Klopfen der ausgeleierten Räder auf die Schienenstöße machten schläfrig. Dieterchen schlief wieder ein.
Er wachte erst wieder auf, als es schon dunkel war. Der Zug, der sich in einigen Haltestationen schon etwas geleert hatte, hielt an. Dieterchen buchstabierte das Stationsschild: V O L L R A T S R U H E. Komischer Name. Wie kann man denn so heißen? Dann ging es hinaus und es war immer noch bitterkalt. Wir waren die einzigen, die hier ausstiegen und gingen auf den Bahnhofsvorplatz. Dort stand eine offene Kutsche mit zwei Pferden bespannt. Auf beiden Seiten der Kutsche leuchteten zwei silberne Karbidlampen. Der Kutscher begrüßte uns freundlich, wir stiegen ein und er hüllte uns in die vorbereiteten, dicken Decken, die außen aus Leder waren und innen mit Wolle gefüttert. Mit „Hühh!“ ging es los und in der wohligen Wärme der schweren Decken schliefen alle sofort wieder ein. Nur Mutti blieb wach, sie hatte schreckliche Migräne und zermarterte sich den Kopf, wie es wohl weitergehen sollte. Später sagte sie uns, wir Kinder hätten sie immer wieder von ihren schweren Gedanken erlöst: “Ihr habt Euch auf der ganzen großen Reise, schon ab Danzig, unter all den wirklich schwierigen Umständen lieb und vernünftig verhalten. Kein Jammern, kein Weinen, keine Bockigkeit. Ihr habt Euch brav in Alles geschickt, das ganze aufregende Unternehmen wohl auch ein wenig als Abenteuer erlebt.“ Ja, so war es. Es war ein Abenteuer unter dem steten Gefühl durch die Mutter beschützt zu sein. Da konnte einem ja auch nichts passieren.
Nach zwei Stunden, war die Fahrt zu Ende und die Kutsche hielt vor einem stattlichen Anwesen im Wald. Wir stiegen aus, gingen durch ein kleines Gartentor einige Schritte nach links ein Treppchen hoch und wurden von den dortigen Bewohnern freundlich begrüßt. Wir kamen in ein warmes Haus, das Nachtessen stand schon auf dem Tisch im Esszimmer links der Diele. Dann gingen wir von der Diele aus gesehen, rechts, die Treppe hoch und links in ein geräumiges Zimmer unter dem Dach mit einem Doppelbett und zwei kleineren Bettchen. Wir fühlten uns sofort geborgen, Und so schliefen wir ruhig die ganze restliche Nacht bis morgens helles Licht durch die hohen Scheiben fiel. Was würde uns erwarten?
Es war ein Friede, wie wir ihn uns in seit Monaten gewünscht hatten: kein Alarm, kein Bombengeheul, die absolute Ruhe, der Wald vor der Tür, eine, zunächst, sehr liebevolle Familie die uns betreute. Sie bestand aus dem Ehepaar Waterstraats und deren Sohn Egon (2) sowie aus Oma und Opa Brinkmann und Peter (8), einem Vetter der Waterstraats. Peter war für Dieterchen ein prima Spielkamerad, aber ein Draufgänger und Taugenichts. Kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit: er schaffte alles. Leider hätte er Dieterchen später beinahe umgebracht.
„Rothenmoor wurde 1414 erstmals genannt. Bei Rothenmoor befindet sich das Burgtal mit einem wendischen Burgwall. Das Gutshaus wurde im 17. Jahrhundert gebaut und seitdem mehrfach umgebaut. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Familie von Maltzahn Besitzer des Gutes, anschließend war es bis 1945 im Besitz der Familie von Tiele-Winckler.“
Das Forsthaus war sehr geräumig. Neben dem großen Esszimmer, in dem allerdings nur am Sonntag und zu besonderen Anlässen gegessen wurde, gab es eine Küche, die genau so groß war wie das Esszimmer. Das war das Reich von Oma Brinkmann, die eine gelernte Köchin war und früher auf einem Gutshof das Personal und die Herrschaft bekocht hatte. Mutti, als gelernte Hauswirtschaftslehrerin, war hier genau die richtige Partnerin. Gekocht wurde auf einem riesigen, mit Holz befeuerten Herd. Wir Kinder mussten das dafür nötige Brennmaterial heranschleppen aus einer Holzmiete am Stall hinter dem Haus, in dem auch die Plumpsklos waren. Die Hintertür der Küche führte auf den Hof, der von einem riesigen Misthaufen dominiert wurde, denn es gab Tiere auf dem Hof: eine Kuh, ein Schwein, viele Hühner. Sie lieferten schmackhafte Mahlzeiten in einer Zeit, in der es sonst kaum etwas zu Eßen gab. Alle aßen gemeinsam an einem großen Tisch in der Küche. Als es zum Sommer hin immer wärmer wurde, war die Fliegenplage unerträglich. Diese grünlich schimmernden Tiere kamen direkt vom Misthaufen durch die ständig geöffneten Fenster in die Küche. Es gab keine Fliegenfänger, nur Fliegenklatschen. Uns Kindern wurde gezeigt wie man ohne Fliegenklatschen, die ja stets einen unappetitlichen Fleck hinterließen, die Fliegen fangen konnte. Man musste die rechte Faust halb öffnen, dann mit einer blitzschnellen Bewegung nach links die Fliege fangen und schnell die Faust schließen. Alsdann musste die gefangene Fliege mit Wucht aus der Faust auf die Tischplatte geschleudert werden, sie war dann besinnungslos oder tot. Die getöteten Fliegen wurden säuberlich auf der Tischplatte aufgereiht, jeder seine Beute für sich. Und dann wurde gezählt. 30 Stück am Tag war das von den Großeltern vorgegebene Soll an getöteten Fliegen für jeden.
Hass gegen die Flüchtlingsfrau
Mutti bemühte sich, ihre Verzweiflung und ihr Leid uns Kindern gegenüber zu verbergen. Auch wenn es uns leiblich zunächst gut ging in Rothenmoor, so wurde sie doch ständig von den Ereignissen der letzten Monate wieder eingeholt. Manchmal sagte sie, ich gehe in den Wald spazieren, und wenn wir Kinder begeistert sagten, wir kommen mit, wehrte sie ab: „Ach, bleibt mal hier, ich komme gleich wieder“. Dann ging sie alleine in den Wald und weinte, wie sie später schrieb, still vor sich hin. Einmal gingen die Kinder mit ihr zusammen in den Wald zum Spielen. Mutti hatte wieder eine schwere depressive Phase. „Ach Kinder“, sagte sie „wie schön wäre es, wenn jetzt eine Bombe käme und wir wären alle tot.“ Die Kinder waren zutiefst erschrocken und haben diesen Ausbruch ihrer Verzweiflung ihr Leben lang nicht vergessen. Denn für sie, für die die jüngeren Kinder, Dieterchen vor allem, hatte ja eine schöne Zeit begonnen: Spielen den ganzen Tag, Spielkameraden, gut zu Essen. Was will man mehr?
Die depressiven Phasen der Mutter wurden auch dadurch verstärkt, daß sich das Verhältnis zu der Gastfamilie Waterstraat verschlechterte. Es gab immer häufiger Schikanen gegen Mutti und Brigitte. Sie kumulierten in dem Augenblick, als Mutti von der vormaligen Gutsbesitzerin Tiele-Winkler zum Bridge eingeladen wurde. Von da an begann reiner Hass, denn die Brinkmanns hatten ihr ganzes Leben um die Gunst der ehemaligen Gutsherrin vergeblich gebuhlt. Und nun kam diese Flüchtlingsfrau und wurde sofort in der ersehnten Gesellschaft aufgenommen.
Die Cowboys
Das Forsthaus stand in unmittelbarer Nähe des Waldes. Wenn man aus dem Gartentor trat, sich links hielt, konnte man geradeaus einen Waldweg entlang gehen. Rechts und links davon ein untergründiges Moor, das eisenhaltig war und daher einen rötlichen Schimmer hatte: das rote Moor. Alles drumherum war sumpfige Landschaft. Uns Kindern war streng verboten in dieses Sumpfgebiet hinein zu gehen, da man darin versunken und nicht wieder heraus gekommen wäre. Einige 100 Meter weiter auf der linken Seite öffnete sich eine geräumige Wiese, auch dort war der Boden weich. Dennoch wurden dort die Kühegeweidet .
„Kühe wiegen etwa 500 bis 800kg. Die natürliche Lebenserwartung eines Rinds beträgt maximal 20 Jahre. Im Regelfall haben Rinder Hörner, hornlose Rinderrassen sind die Ausnahme.“
Die Kinder hatten die Aufgabe, diese in dieser Zeit besonders wertvollen, eigentlich unbezahlbaren, Besitztümer zu hüten. Den Kindern war die ganze Sache natürlich furchtbar langweilig. Aber sie dynamisierten die ungeliebte Aufgabe, natürlich animiert durch Peter. Wenn die Kühe nach dem Fressen faul auf der Wiese lagen, pirschten sie sich von hinten an die ahnungslos wiederkäuend ruhenden Tiere heran. Mit einem kühnen Satz sprangen sie auf deren Rücken. Die Kühe rannten in panischer Angst los, die Kinder flogen herunter in den weichen Boden und hatten ihren Spass. Dieterchen machte das besonders viel Freude. Er fühlte sich wie ein Cowboy und hatte eine Technik entwickelt, wie man möglichst lange auf der Kuh blieb, ohne herunterzufallen von dem breiten runden, rutschig-glatten Kuhrücken: man mußte sich weit genug vorbeugen und versuchen, sich im oberen Teil des Rumpfes im Fell, möglichst aber an den Hörnern, festzuklammern. Auf diese Weise konnte man sich im panischen Galopp ein Weilchen oben halten.
Und dann geschah es. Genauer gesagt: es wurde geschehen. Dieterchen folgte wieder einmal seinem bewährten Parcours-Plan: von hinten angepirscht, blitzartig aufgesprungen und das Tier rannte in wilder Panik los, Dieterchen obendrauf, am Widerrist, also dem Fell zwischen Kopf und Rücken gut festgehalten, und ungebremst hinein in das sumpfige Moor neben der Wiese. Dort sank das kostbare Tier sofort bis zur Brust ein und je mehr es strampelte, desto tiefer versank es. Voller Schrecken rannten die Kinder zurück zum Forsthaus. Von dort kamen sofort mehrere Männer, die dann mit Seilen und Brettern das Tier mühselig aus dem Sumpf zogen. Die Kinder erzählten natürlich nicht, daß Dieterchen die Kuh in den Sumpf geritten hatte, sondern sagten, es sei da von selbst reingerannt und alle Versuche, das Tier zurückzuhalten, seien vergebens gewesen. Dennoch bekamen alle ausreichend Prügel, weil sie ja darauf aufpassen sollten, damit gerade das nicht passiert. daß niemand Dieterchen als den eigentlichen Täter verpetzte, um der Strafe zu entgehen, erfüllt den kühnen Reitersmann und reuigen Täter noch heute mit Dank und Hochachtung.
Schwer verletzt
Die dunklen Seiten des Lebens prägen sich besonders ein. So auch eine andere unerfreuliche Episode, die Dieter im friedlichen Rothenmoor beinahe das Leben gekostet hätte.
Er war wieder einmal mit Peter zusammen unterwegs im Wald. Besonders verlockend für die Jungs war dort in der Nähe des Forsthauses eine große, etwas versteckte, überwucherte Remise, in der landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Geräte abgestellt waren. Peter und Dieterchen kletterten auf den Geräten und Maschinen herum bis Peter ihm ein Gerät zeigte, das ihm völlig unbekannt war. Wie Dieter später erfuhr, handelte es sich um eine Tontauben-Abschuss-Maschine. Sie diente dazu, Jägern das Schießen auf Vögel beizubringen. Dazu wurde eine etwa untertass