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Von der Königin der Nacht bis Lulu Raffiniert und originell sprengt die Oper jedes Genderkorsett. Wie keinem anderen Genre außer der Mode ist es der Oper gegeben, Geschlechtsrollen zu ent-naturalisieren, kunstvoll als Rollen und nicht als Natur aufscheinen zu lassen. Ebenso pansexuell wie nicht binär, ist in der Oper alles im Fluss. Sie ist ein hochpolitisches, subversivses Genre, das die angeblich »natürlichste« aller Oppositionen zersetzt: die von Männern und Frauen. Gerade jetzt, wo »Gender-fluidity«, »Pansexualität« und »non-binary« in aller Munde sind, ist die Oper angesagt wie lange nicht. Der Kult, der in der Oper gefeiert wird, ist ganz sicher nicht der Triumph einer patriarchalen Gesellschaft im Frauenopfer. Beherrscht wird die Bühne von souveränen Frauen, die große Liebende sind. Mit dieser Liebeskraft, der stärksten aller Kräfte, stellen sie alles in den Schatten. Durch die Stimme der Diva, in der die Liebe triumphiert, wird der patriarchale Männerbund übertönt. Weder mit dem Triumph des Männlichen, noch dem des Patriarchalischen sieht es auf der Opernbühne wirklich gut aus; fast kann man sagen, dass Männlichkeit in der Oper ein Schimpfwort ist. Travestie und Transvestie hebeln männliche Herrschaftsansprüche im Zeichen des Weiblichen und geschlechtlich Unbestimmten aus. Eine überraschend aktuelle, andere Geschichte der Moderne.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Barbara Vinken
Diva
Eine etwas andere Opernverführerin
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © Pierre-Louis Pierson
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98456-9
E-Book ISBN 978-3-608-11938-1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
Vorspiel Mozart
Bettgeschichten
Le nozze
di Figaro
Enttäuscht
Così fan
tutte
ossia la scuola degli amanti
»Ein stolzes Weib«?
Die Zau
berflöte
Bel Canto
Liebe siegte
Nor
ma
Erlöst: Dreimal Verdi
Die Lösung des Tragischen im Liebesopfer
Rigo
letto
Liebe stärker als der Tod
La Tra
viata
Verdis Bluthochzeit
Les vêpres
siciliennes
Unerlöst: Puccini, Bizet, Mascagni
Nicht von dieser Welt: Göttliche Stimmen
Tos
ca
Heroisch lieben
Madama
Butterfly
Frei sterben
Car
men
Passion zu Ostern
Cavalleria
rusticana
Nachspiel
Die unmögliche Oper
Lu
lu
Liebe und Vergänglichkeit
Der Rosen
kavalier
Anhang
Dank
Bibliographie
Register
Warum ein Buch zur Oper, das mit Mozarts(1) Königin der Nacht als Antimutter beginnt? In Verkehrung der jahrzehntelang regierenden Übermutter Maria Theresia(1) und Richard Strauss’(1) schöner Feldmarschallin mit dem Namen Marie Theres steht das Buch in einer Maria-Theresia-Klammer und hat etwas von einer »Wiener Maskerad« (Rosenkavalier(1)(1):121). Warum eine Reihe von Opern, denen bestenfalls romantische (Verdi(1)), schlimmstenfalls rokoko-verherrlichende und also eine anti-moderne Rückwärtsgewandtheit (Strauss(2)) nachgesagt wird? Warum überhaupt ein Buch zur Oper, die man als elitär unkritisches Divertissement abgetan hat, in dem hauptsächlich geschmäcklerische Kennerschaft zählt?
Das bildungsbürgerliche Sonnen im Glanz der Operngeschichte mag ein Phänomen diesseits der Alpen sein. In Italien selbst war die Oper immer städtisch populär und mit Lokalkolorit gewürzt. Dieser Tage hat das eine nobilitierte Cavalleria rusticana(1)(1) vor dem Dom von Syracus in Ortigia als Prélude zu einer sizilianischen Haute Couture-Kollektion von Dolce & Gabbana gezeigt. Mit Verdi(2) geht es auch widerständig nationaler zu als nördlich der Alpen, wo man schnell mit dem Kippen ins Deutsch-Nationalistische zu tun hat. Die Opéra Bastille in Paris hat schon durch den Ort, den Namen und das Gründungsjahr 1989, den zweihundertsten Geburtstag der Revolution, dem Ende des Ancien Régime und dem Beginn der modernen Republiken ein Denkmal gesetzt. Ein Opernhaus mit Metroanschluss.
In den letzten Jahrzehnten wurden Opern zunehmend zu Regietheater, und das hieß oft auch, dass sie mit einem Schuss Postmoderne inszeniert wurden. Ihre Sprengkraft, die, unübertroffen schon bei Mozart(2), bis hin zum Rosenkavalier(2)(2) in der Travestie der Geschlechterrollen und der Klassenklischees liegt, wird ins Licht gerückt, zu Gehör gebracht. Sicher ist die Oper als »Kraftwerk der Gefühle« (Kluge(1)) das leidenschaftlichste Genre (Weigel), das am stärksten berührt, rührt, aufwühlt. Mich interessiert sie als raffiniert witzige Reflexion auf Geschlechterkonstellationen. Mit dem Hetero-Normativen sprengt die Oper jedes Genderkorsett. Wie keinem anderen Genre außer der Mode ist es der Oper gegeben, Geschlechtsrollen zu ent-naturalisieren, sie kunstvoll als Rollen und nicht als Natur aufscheinen zu lassen. Das eingängigste Beispiel ist die Kastratenstimme: Die kraftvolle Sopranstimme galt als besonders heroisch (Grünnagel(1)), auch Countertenor und Hosenrollen ent-naturalisieren die Geschlechterrolle. Ebenso pansexuell wie nicht-binär, ist in der Oper alles im Fluss. Sie ist ein hochpolitisches subversives Genre, das die angeblich »natürlichste« aller Oppositionen zersetzt, die aller Politik der Moderne, weil sie Geschlechterpolitik ist, zu Grunde liegt: die Opposition von Männern und Frauen. Oft unter Rückgriff auf eine vormoderne Zeit, das Ancien Régime, spielt in der Oper eine andere Politik. Von den bürgerlichen Ideologen der modernen Republiken wurde das Ancien Régime als »weibisch« diffamiert; dagegen setzen die Republiken eine neue Männlichkeit, eine gesicherte Vaterschaft als zentralen, nicht nur moralischen, sondern politischen Wert. In ihr sollen die Weichlinge des Ancien Régime wieder zu richtigen Männern, in kraftvoll tugendhafter Männlichkeit regeneriert werden. Wagners(1) Opern spielen in diesen Diskurs der Regeneration ganzer, oft deutscher Männlichkeit hinein, und haben deshalb hier keinen Platz.
In dieser Opposition ist die Oper gerade jetzt, wo »gender-fluidity«, »Pansexualität« und »non-binary« in aller Munde sind, angesagt wie lange nicht. Auf wen würde das Pansexuelle, Nicht-Binäre besser zutreffen als auf den Cherubino Mozarts(3) oder den Rosenkavalier(3), engelhafte Jünglinge, noch nicht ganz Mann, die in Frauenkleidern mit ihrem hinreißenden Sopran die Herzen aller verzaubern. Dem Spott preisgegeben wird dort die selbstgerechte Herrlichkeit der Männer. Keinem wird von Bellini(1) über Verdi(3) bis Puccini(1) so übel mitgespielt wie dem Tenor. Flauberts(1) verheerende Abrechnung mit der selbstherrlichen Dummheit des Tenors Lagardy in Madame Bovary(1)(1) ist legendär. Beherrscht wird die Bühne von souveränen Frauen, die große Liebende sind. Mit dieser Liebeskraft, der stärksten aller Kräfte, stellen sie alles in den Schatten.
Opernhäuser sind Kultstätten der Moderne. Den bürgerlichen Gesellschaften hat man vorgeworfen, hier einen Kult des Frauenopfers zu zelebrieren (Clément). »Nicht schon wieder eine tote Frau auf der Bühne«, lautete die Einrede gegen die Oper des 19. Jahrhunderts. Norma(1)(1) geht auf den Scheiterhaufen, Lucia di Lammermoor(1) findet als wahnsinnige Gattenmörderin den Tod, Mimì(1) erliegt der Schwindsucht, Gilda(1) lässt sich erdolchen, Violetta(1) opfert ihre Liebe und stirbt, Manon Lescaut(1)(1) verdurstet in der Wüste, Carmen(1)(1) wird erstochen, Madama Butterfly(1)(1) bringt sich um, Lulu(1) wird von Jack the Ripper abgestochen – nur die Marschallin muss nicht ihr Leben lassen, aber auf sexuelle Erfüllung doch verzichten. Nicht noch ein, nicht schon wieder ein Frauenopfer! Zu wohlfeil seien die Tränen, die über ihren Leichen fließen. Wohlfeil genössen wir, parfümiert in nicht eben billigen Logen, in himmlischen Stimmen die eigene Menschlichkeit: zu Tränen gerührt von auf der Bühne schön Sterbenden. Ist der Kult, der da gefeiert wird, die »Vernichtung der Frauen«, wirklich der Triumph einer patriarchalen Gesellschaft? Ist die Opernbühne, übersät von Frauenleichen, ein Ort der Wiederkehr barbarischer Menschenopfer, wie sie die christlichen und die säkularen, aufgeklärten Gesellschaften gleichermaßen hinter sich zu lassen hofften?
Inhaltlich kann man dagegenhalten, dass es weder mit dem Triumph des Männlichen noch dem des Patriarchats auf der Opernbühne wirklich gut aussieht. Die Männer mögen mit dem Leben davonkommen – aber nicht mit viel mehr. Ihr Ruf ist jedenfalls ruiniert. Fast kann man sagen, dass »Männlichkeit« in der Oper ein Schimpfwort ist. Der aufklingende Konflikt ist nicht so sehr ein Konflikt der Stände oder der Klassen als vielmehr ein Konflikt der Geschlechter (Nussbaum), und in diesem sind es nicht allein die adligen Männer, sondern ganz allgemein Männer – Bürger, Diener, Militärs – die ganz schlecht aussehen. Männlichkeit wird auf der Opernbühne fast durchgehend lächerlich gemacht, und das Liebesopfer der Frauen profiliert die Nichtigkeit der Männer umso schärfer. Das krasseste Beispiel ist Verdis(4) Duca im Rigoletto(1)(1), der trällernd, die berühmteste Tenorarie der Operngeschichte auf den Lippen, die Bühne verlässt. Zum schlechten Schluss diffamiert er die Frauen, ohne einen Schimmer davon zu haben, was für Verheerungen er angerichtet hat. Die tyrannische, frauenverachtende Brüderhorde der Priester-Philosophen kommt in der Zauberflöte(1)(1) mit dem tiefsten Bass nicht gegen die halsbrecherischen, waghalsigen Koloraturen der Königin der Nacht an, die mühelos das hohe F erreicht. Der Graf in der Nozze muss zum guten Ende nach der Pfeife der Frauen tanzen, und auch der nicht weniger besitzergreifende, eifersüchtige Figaro(1)(1)(1)(1)(1) wird von den Frauen eines Besseren belehrt; beide stimmen am Ende in ihren Gesang ein. Die beiden Bräutigame in Così fan tutte(1)(1)werden als eitle, in die eigene Männlichkeit Verliebte enttarnt, die – immerhin, das ist der heiter versöhnliche Mozart(4) eines optimistischeren 18. Jahrhunderts – so wie auch der Graf und Figaro(2)(2)(2)(2)(2) letzten Endes gute Miene zum bösen Spiel machen.
Im 19. Jahrhundert wird aus der Travestie und Transvestie blutiger Ernst. Der Prokonsul Pollione, roh und hochmütig in Liebesdingen, wird erst erträglich, als er die Hochherzigkeit Normas(2)(2) erkannt hat und mit ihr in den Tod geht. Der Hofnarr Rigoletto(2)(2) ist ein tragischer Vater, der sein Ein und Alles umbringt, weil er sich nicht aus der männlichen Rachespirale lösen kann. Procida(1) wird vom Liebhaber der Stadt Palermo, die er in einer hinreißenden Bass-Arie besingt, zum tückischen Verschwörer und Brudermörder. Don José(1) fällt vom wunderbaren, lyrisch betörenden Tenor zum eifersüchtigen Stalker und selbstzerstörerischen Mörder herab. Pinkerton(1) schließlich ist ein imperialistischer Sexprofiteur, der vom ersten Ton seiner Tenorstimme an als aufgeblasener Typ auftrumpft: America first, fuck the rest. Der Baron im Rosenkavalier(4)(3) ist ein bäurischer Dauervögler, der nur durch die Großmütigkeit der Marschallin gerettet wird. Nicht verheerend sind nur die Männer, die geopfert werden oder sich freiwillig opfern. Turridu(1) wird in Verkehrung des christlichen Liebesopfers zu Ostern hingemetzelt, Cavaradossi(1) hinterhältig umgebracht, aber seine wunderbare Tenorstimme überlebt im letzten großen Liebesduett mit Tosca(1). Dem traurigen Schicksal männlicher Selbstherrlichkeit entkommen auch die Crossdresser, die Sopran singen und die Frauen nicht beherrschen wollen, sondern die eigene, sich selbst entrückende Liebe zu unserem Entzücken erklingen lassen. Sie bilden zwischen Mozart(5) und Strauss’(3) Hommage an Mozart(6) die skeptische, heiter-melancholische Klammer um die männliche Selbstherrlichkeit.
Kehren wir zur Frage des Opfers zurück. Im 19. Jahrhundert läuft die Oper als Kultort der Kirche, in der Christi Liebesopfer gefeiert wird, den Rang ab. Seit der Lektüre der Passion von Vergils(1) Dido(1) in den Confessiones(1) des Augustinus(1) ist die Passions- und Opferkonkurrenz für das Verhältnis der schönen Künste und der Liturgie strukturbildend. Der Theoretiker Bossuet(1) hatte in Maximes et réflexions(1) sur la comédie (1674) die Konkurrenz der Opfer während des letzten großen Streits um die Rolle des Theaters im 17. Jahrhundert in einem flammenden Plädoyer gegen das Theater auf den Punkt gebracht. Er setzte das Messopfer gegen die Tragödie, eine Passion gegen die andere. Fürchten und zittern, weinen und mitleiden sollte man Bossuet zufolge in der Messe zum Gedächtnis an Christi reales Liebesopfer statt in der Tragödie, wo fiktive Leidenschaften einen in einen unseligen Bann schlügen. Aber schon Bossuet(2) gelang es nicht mehr, die Opferkonkurrenz für die Kirche zu entscheiden. Die Rezeption hielt es mit Racine(1).
Die Frage des Opfers wird im 19. Jahrhundert, durch die orientalische Renaissance und die Erforschung der antiken Opferkulte befördert, massiv virulent. Die Oper ist im 16. Jahrhundert wie schon die Tragödie aus antiken Opferkulten entstanden (Nietzsche(1), Mehltretter). Carmen(2)(2) hat in ihrer Passion den Zusammenhang von archaischen Stierkulten der Großen Mutter und dem Stierkampf aufgeführt (Macho). Die Frage des Opfers wird zum Dreh- und Angelpunkt der Oper. Leben wir noch oder wieder in Zeiten der antiken Menschenopfer, in babylonisch-barbarischem Grauen von Moloch und Baal? Hat Christi Liebesopfer diese grausamen Kulte nie überwinden können? Sind wir nie christlich geworden? Sind wir aufgeklärt in der Barbarei stecken geblieben? Es scheint, wir befinden uns mit der Oper und der Diskussion ihrer Opferrollen in einer massiven, das Selbstverständnis christlicher und a forteriori aufgeklärter Gesellschaften ins Mark treffenden Krise.
Mozart(7), heiter, ging noch bei allem, was der Fall war, von einer letzten Endes erlösten Welt aus, und daran schließt Strauss(4) mit der Ironie seiner »Wiener Maskerad« an. Travestie und Transvestie hebeln hier männliche Herrschaftsansprüche im Zeichen des Weiblichen und des geschlechtlich Unbestimmten aus. Bei den Opfern des 19. Jahrhunderts handelte es sich in so gut wie allen Fällen – mit der Ausnahme vielleicht von Carmen(3)(3) und Lulu(2) – nicht um Frauenopfer, sondern um Selbstopfer von Frauen. Es sind keine antiken Menschenopfer à la Iphigenie, sondern Opfer, die sich in die Nachfolge des Liebesopfers Christi einschreiben. Sich aus Liebe selbst zu opfern, ist der höchste Wert unserer Kultur. Es gibt nichts Schwereres, Größeres; dieses Heroische konnotiert die Oper des 19. Jahrhunderts weiblich. Norma(3)(3), die Druidenpriesterin eines menschenopfernden Kultes, bekehrt sich und den Römer Pollione, den Vater ihrer Kinder, selbstbestimmt vom heidnisch-keltischen Menschenopfer zum nächstenliebend christlichen Opfer. In der Traviata(1)(1)(1) von Verdi und Piave verlangt Familienvater Germont ausdrücklich ein Opfer, »sacrifizio«, von Violetta(2) und bezeichnet sie in der großen Todesszene als »sublime vittima«. Dieses verklärende Liebesopfer bekehrt den Vater vom patriarchalischen Ehrenkodex zu den Werten einer Liebe ohnegleichen. Das archaisch konnotierte Stieropfer des Mardi Gras wird von dem verklärenden Liebesopfer, das Violetta sublim über alle anderen erhebt, überwunden. Der patriarchalen Gewaltherrschaft hält es den Spiegel vor. So sind es meistens Frauen, die zum Liebesopfer fähig sind. Aber auch ein Mann wie der König Gustavo im Ballo in Maschera ist ein »gelungenes« Selbstopfer, über dem die Gesellschaft, die politischen Parteien und die Geschlechter zur Versöhnung finden. Im Gegenzug zeigt der nach antiken, »orientalischen« Opferriten hingeschlachtete Turridu(2) den Ausfall des christlichen Liebes- und Erlösungsversprechens, das sich zu Ostern erfüllen sollte.
Die Oper arbeitet an der Re-interpretation und Umbesetzung des Opfertodes Christi. Die Umbesetzung kann in einem neuen Liebesopfer gelingen; sie kann auch als Perversion der Eucharistie, als Schwarze Messe auftreten. Sie kann ein ebenso schrecklicher wie faszinierender Rückfall in die antik-orientalischen Opferkulte sein. Indessen unterliegen die Diven der Oper nicht tragisch, sie widerlegen die Tragik. Sie begegnen der Heillosigkeit der Welt in heroischem Erlösungswillen. Sie werden nicht geopfert, sie opfern sich selbst. Sie überwinden damit den Tugendterror des Patriarchats und setzen die Kraft leidenschaftlich selbstloser Nächstenliebe als höchsten Wert. Die Opernhäuser sind Kathedralen der Moderne, aber ihr Erlöser ist weiblich. Durch die Stimme der Diva, in der die Liebe triumphiert, wird der patriarchale Männerbund übertönt; Mozart(8) verlieh dessen Abgesang die schärfsten Töne der Ironie. In der Stimme der Diva, der Königin der Nacht, kündigt sich eine andere, eine weiblich-ironische oder passionierte Geschichte der Moderne an.
»Qui n’a pas vécu dans les années voisines de 1789 ne sait pas ce que c’est le plaisir de vivre.«
(Talleyrand-Périgord in Guizot, »Mémoires Pour Servir À l’Histoire de Mon Temps«)
In Le nozze di Figaro(3)(3)(4)(3) geht es nur ums Eine: wer, wann, wo, mit wem? Alles dreht sich ums Bett; alles kreist um Sex. Und das in komisch gedrängter Form: denn die Oper umschließt fast parodistisch nach der Regel der Einheit von Zeit und Ort nur den Hochzeitstag von Susanna und Figaro(3). Und es geht darum, wer da mit wem schläft, Braut mit Bräutigam, wie es sich gehört? Am Ende kommt es zu einer Massenhochzeit: drei Paare heiraten, ein viertes versöhnt sich. Was zusammengehört, kommt zusammen. Ein Venusfest, eine fast unglaubliche Potenzierung von Glück. Alles arrangiert sich aufs Allerschönste. Alle verzeihen allen; sogar der Graf, der Rache schwört und sich mit seinem fünffach herausgeschrienen »no!« (IV,15:188) der Verzeihung verweigert, zeigt sich zum guten Schluss reuig.
(4)(4)(5)(4)Zu diesem so überaus glücklichen, alle Erwartungen übertreffenden Ende gelangen alle durch die List des Theaters, des Rollenspiels, des Verkleidens, des Täuschens, des Trugs: eine burla. Das Ende erfüllt exemplarisch alle Theaterkonventionen, hebt Figaro(4) hervor. Mit allen Tricks und Finten will er der Regisseur dieses Stückes sein:
Per finirla lietamente
E all’usanza teatrale
Un’azion matrimoniale
Le faremo ora seguir.
Um ihn fröhlich zu beenden,
und nach guter Theatersitte,
lassen wir jetzt
eine Hochzeitsfeier folgen.
(II,9:98 f.)
Die Oper ist eine Ode an Eros:
Ah tutti contenti
Saremo così.
Questo giorno di tormenti,
Di capricci, e di follia,
In contenti e in allegria,
Solo amor può terminar.
Sposi, amici, al ballo, al gioco,
Alle mine date foco!
Ed al suon di lieta marcia
Corriam tutti a festeggiar!
Ach, so sind wir
alle zufrieden.
Diesen Tag der Qualen,
der Launen und der Tollheit
kann nur die Liebe enden
in Zufriedenheit und Freude.
Brautleute, Freunde, auf zum Tanz, zum Spiel,
laßt uns das Feuerwerk explodieren!
Und zu den Tönen eines fröhlichen Marsches
eilen wir alle zum Fest!
(IV,15:190 f.)
Werden bei Beethoven(1) alle Menschen Brüder und im Fidelio(1) eine Frau – treu bis in den Tod, sich mannhaft gegen den Tyrannen stellend – der heldenhafteste Mann, dann bei Mozart(9) alle Menschen dem Eros unterworfene Schwestern. An die Stelle eines republikanischen, tugendhaften Bundes der Freiheit und Gleichheit, der wie ein Mann gegen den mörderisch sadistischen Tyrannen aufsteht, tritt im Zeichen der Weiblichkeit ein neuer unumschränkter Souverän: Eros. Die Oper endet als eine voyage à Cythère, als heiter höfisches Fest.
(5)(5)(6)(5)Dagegen nehmen sich die ständig auf tugendhafte Reform drängenden bürgerlichen Revolutionäre doch ziemlich breitbeinig aus; die tänzerische, im Übrigen aristokratische, Eleganz und die Anzüglichkeit des frivolen Strippenziehers Figaro(5), der den Grafen nach seinem Takt tanzen lassen will, um ihn in einem lasziven Fandango, der noch Casanova(1) entzückte, bloßzustellen, war die Sache dieser aufrechten Reformer, die mit der Revolution siegten, eben nicht. Selbstironie, Ironie überhaupt, mit der tänzerisch-tändelnden Leichtigkeit auch Gnade, Verzeihung und Vergebung ging in ihrer tugendhaft verbissenen Selbstgerechtigkeit den Bach runter.
(6)(6)(7)(6)Am Hochzeitstag herrscht eitel Verwirrung; pausenlos zieht man sich an und aus. Halbnackt stehen die falschen Leute in den falschen Boudoirs und Bosketts. Geschlechter und Geschlechtspartner werden vertauscht. Travestie – Kammerzofen als Komtessen – und Transvestie – Männer als Frauen – machen den Plot aus: quid pro quo. Wer mit wem schläft, bleibt im Dunkeln. Alle werden im falschen Moment von den falschen Leuten überrascht. Dramatischer Höhepunkt ist das flagrant délit: die öffentliche Zurschaustellung des, wie es heute in einer Sprödigkeit heißt, die Witz und Leichtigkeit der Musik Mozarts(10) ganz unangemessen ist, »außerehelichen Geschlechtsverkehrs«. Der alle Höflichkeit vergessende, drohende, beleidigende, rumbrüllende, ja oft brutale Bariton des Grafen – »Her mit dem Schlüssel!« (II,6:89) –, dramatisch untermalt vom Orchester, verkörpert die patriarchale, gewalttätige Bedrohung. Dagegen stehen der leicht schwebende, manchmal auch überwältigend anschwellende Sopran und der Mezzosopran, immer angemessen, die am Ende die Überhand behalten. Zu der dauernd über aller Köpfe schwebenden Katastrophe kommt es nicht; alles löst sich in Witz und Heiterkeit. Einer der Schlüsseltexte des Liberalismus sprüht nur so von erotischem Feuer. Das Bett ist sein Schauplatz. Offenbar ist die sexuelle Frage, die Frage nach der Liebe, zentral für einen politischen Regimewechsel.
Die Hochzeit des Figaro(7)(7)(8)(7) stammt aus der Zeit, als es dem Bürgertum darum ging, in Europa im Namen der Geschlechtermoral gegen die Aristokratie zu siegen. Der Klassenkampf kommt von vornherein als ein moralischer Kampf um das richtige Zusammenleben der Geschlechter daher. Deswegen ergibt es keinen Sinn, den Klassenkampf als eigentlich politischen Kampf gegen eine moralisch-private Geschlechterfrage zu stellen, class gegen gender zu positionieren. Denn der Klassenkampf – Bourgeoisie gegen Aristokratie, Revolution gegen Ancien Régime – wurde im Namen einer anderen Geschlechtermoral geführt. Politik war immer schon Geschlechterpolitik. Das ist im Übrigen keine moderne Konstruktion, sondern ab urbe condita der Fall. Schon im alten Rom siegt die tugendhafte Republik über die tyrannischen Alleinherrscher im Namen einer restaurierten Geschlechtermoral. Man denke an Lukretia und Virginia(1); über ihrer Leiche wird eine neue politische, republikanische Ordnung errichtet. Die patria potestas, in die der Tyrann übergriff, wird in einer Republik gleicher Männer restauriert. Gleichheit der Geschlechter war die Sache der Republiken nie.
Die Revolution argumentiert im Zeichen von Natur, Moral und Ehe. Die Herrschaft des Adels habe die heiligsten und gleichzeitig natürlichsten Bande der Natur pervertiert. Zum einen habe sie die Hierarchie der Geschlechter verkehrt. Adieu, patria potestas – hier regieren die Frauen unumschränkt. Mit der Verkehrung der Geschlechterhierarchie habe sie die Geschlechteridentität zersetzt. Schließlich verorientalisiere sie dekadent den tugendhaften Westen – auch das eine urrömische Geschichte. Ganz Paris sei ein Harem, in dem die Schamlosigkeit der adeligen Frauen durch die Macht der Rhetorik, die Bewegungen ihrer Zunge nämlich, die Männer als Eunuchen zu besonders geeigneten Werkzeugen ihrer Lust beschnitten habe – so Rousseau(1). Männer: Spielzeug, toy boys der adeligen Damen. Nicht eben besser kommen die adeligen Herren davon: als libertine Lüstlinge griffen sie ohne Rücksicht auf den von den Bürgern postulierten Zusammenhang von Liebe, Sex und Ehe auf die Körper der nichtadeligen Frauen über und verführten sie vor und in der Ehe zur flüchtigen Lust. Dabei griffen sie – wie im Figaro(8)(8)(9)(8) – in die Rechte der männlichen Bürger ein. Denn Töchter und Ehefrauen stehen unter dem Schutz der Verlobten, Ehemänner und Väter. Eben dieser Übergriff in die Rechte der anderen männlichen Bürger, der Väter und Ehemänner, ist der klassische Topos der Tyrannei. In der Ehe, die in der Monarchie als Freischein für die freie Liebe begriffen würde, lebten die Geschlechter wie Junggesellen zusammen. Männer würden weibisch – siehe Eunuchen –, Frauen männlich-militärisch dominant. Kurz, in einer Monarchie sei es um Geschlechtsidentität und die daran hängende Geschlechterhierarchie schlecht bestellt. Unter der Herrschaft des Adels steht die Welt Kopf – folgt man Richardson(1) oder Rousseau(2), den beiden zentralen Ideologen einer neuen, republikanischen Ordnung. Pervertiert sind nach Rousseau(3) Geschlechterhierarchie und Geschlechtsidentität; Richardson(2) porträtiert die Herrschaft der männlichen Aristokraten als Tyrannei. In beiden Fällen ist es um das Patriarchat geschehen. Um die Geschlechtsidentität und damit die Geschlechterhierarchie zu restaurieren, war die Revolution gegen die weibische Promiskuität, gegen die ewige Travestie, die Aristokratinnen wie Aristokraten zeichnete, angetreten. Heute würde man dieser bürgerlichen Politik vorwerfen, ein heterosexuelles Zwangskorsett durchgesetzt zu haben. Total binär. Mit dem hinreißenden Cherubino(1) sprengen Da Ponte(1)/Mozart(11) jedes Genderkorsett. Nach Rousseau(4) ständen sie damit klar auf der Seite eines in seinen Augen perversen Ancien Régime.
Die Aufklärer vor allen Dingen protestantischer Prägung stellten gegen die adelige Promiskuität, der an heterosexueller Geschlechtsidentität nie etwas gelegen hatte – siehe die schwulen Mignons des Hofes – das natürlich liebende, verheiratete, treue Paar. Die so standfesten wie tugendhaften Frauen sollten die Männer zu dieser neuen Liebe erziehen. Aus Frauen sollten Ehefrauen und Mütter, aus Männern treusorgende liebende Ehemänner und Familienväter werden. Richardsons(1)Pamela(1) bringt dieses bürgerlich-puritanische Umerziehungsprogramm auf den Punkt. Ihr Pfeiler ist das Nein der Frau, ihre Unverführbarkeit außerhalb der Ehe. Mit der Republik sollte das Patriarchat mit seiner Geschlechtsidentität und einer natürlich-gesunden Heterosexualität gegen Zersetzungen aller Art restauriert werden. Nicht die Gleichheit von Frauen und Männern, sondern der Schutz der selbstredend tugendhaften Frauen vor tyrannischen Übergriffen in einer hierarchischen Ehe war bekanntlich Ziel der Revolution. Nie gab es eine ungleichere und gleichzeitig identitärere Geschlechterordnung, als sie das 19. Jahrhundert im Anschluss an die Revolution hervorbrachte.
Mozarts(9)(9)Figaro(6) liegt in diesem ideologischen Spannungsfeld zwischen Ancien Régime und neuer Bürgerlichkeit; Mozarts(12)Opera buffa situiert sich in der Propagandaschlacht, die das Bürgertum dem Adel im Namen einer neuen Liebesmoral lieferte. Auffälligstes Symptom dafür ist im Figaro der Bezug auf das ius primae noctis: Das Herrenrecht auf die erste Nacht mit der Braut, eine »Naturalabgabe«, die zusätzlich zu den Heiratsabgaben an den Feudalherren gezahlt werden musste, galt fast sprichwörtlich als Inbegriff tyrannischer Übergriffe des Feudalherrn in das Recht des Ehemanns. Falls es nicht sowieso Fiktion war, so war das ius primae noctis im 18. Jahrhundert nicht gesellschaftliche Praxis, sondern Requisit aus der Horrorkiste der Geschichte.
Bemerkenswert, dass bereits in Beaumarchais(1)(1)’ Figaro(7) wie im bürgerlichen Zeitalter Sex und Geld, nicht aber feudal Sex und Privileg zusammengebunden sind: der Graf, modern, pocht nicht auf sein Privileg, sondern bietet der Kammerzofe Susanna einen Vertrag und eine Geldsumme an – nämlich die Summe, die es Figaro erlauben würde, sich aus seinem mit Marcellina eingegangenen Heiratsversprechen zu lösen. Susannas Widerspenstigkeit gegen den Grafen rührt vor allem daher, dass er ihr nicht verführerisch den Hof macht, sondern sie so wenig schätzt, dass er glaubt, sie für Geld haben zu können. Auch Figaro hatte Marcellina Sex gegen Geld versprochen. Sollte er nicht in der Lage sein, ihren Kredit zurückzuzahlen, muss er sie heiraten. Die Rezeption hat es sich trotzdem nicht nehmen lassen, Figaro als einen Aufschrei gegen adelige Privilegien des Ancien Régime und damit als Vorbereiter der Revolution und einer Republik der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu lesen. Das ist, scheint mir, eine Fehllektüre.
(9)(10)(10)(10)Bereits die Zeitgenossen sahen das Skandalöse des Figaro(8) weniger im Politischen – ein Stand gegen den anderen, Figaro gegen den Grafen – als im Sexualpolitischen. Schließlich steht quasi permanent ein flagrant délit, und besonders heikel, ein flagrant délit zwischen der Gräfin und dem Pagen Cherubino(2) im Raum. Nicht die Frage der Stände, sondern die der Ehe als Besitz- und Herrschaftsverhältnis, die Frage der Geschlechtermoral also steht im Zentrum schon des Theaterstücks.
(10)(11)(11)(11)Nun ist Pornographie, die im 18. Jahrhundert die adeligen Damen und die Nonnen der wildesten Promiskuität zieh, ein wichtiges, ja vielleicht das wichtigste Mittel in der Schlacht der Bürger gegen Adelige und Klerus gewesen; in der Pornographiekampagne gegen Marie Antoinette, der man vorwarf, ihren eigenen Sohn missbraucht zu haben, erreichte sie ihren schrecklichen Höhepunkt. Aber die Bloßstellung der adeligen Damen – das war die revolutionäre Waffe – ist ganz sicher nicht die Moral des Figaro(9). Im Gegenteil: solcher infamen Barbarei sind nur der Graf in seinem absurd eitlen Besitzerstolz und Figaro in seiner eifersüchtigen, schwachen Minute fähig, als er alle zusammenruft, um sie zu Zeugen der Untreue seiner Braut Susanna zu machen. Diese tragischen Szenen, in denen eine Frau durch Augenzeugen öffentlich der Untreue überführt wird und damit erledigt ist, verkehrt die Oper im Handstreich und blamiert die, die meinten, auf die nackten Tatsachen bauen zu können. Zur Unzeit trifft der Graf bei Susanna, zur Unzeit in den Zimmern seiner Frau ein. Nach dem ursprünglichen, vom Grafen durch sein Eintreffen zur falschen Zeit durchkreuzten Plan war Cherubino(3) im Ankleidezimmer der Gräfin, weil er als Susanna verkleidet zum Stelldichein mit dem Grafen geschickt werden sollte. Der Graf, der alle zu Augenzeugen des Fehltritts seiner Frau machen will, traut seinen Augen nicht. Genauso verblüfft ist die gerettete Gräfin, denn nicht Cherubino kommt halbnackt aus dem Ankleidezimmer, sondern – Susanna. Noch eines dieser umwerfenden Quidproquos der Oper. Keine ist erledigt, alle sind gerettet.
Alle anderen decken mit allen Mitteln die Schwäche der Damen für das schönere Geschlecht, das hier von Cherubino(4), dem schönsten aller Mädchen, verkörpert wird. Die Moral von der Geschicht’, die hier gepredigt wird, ist nicht: Reform zu sexueller, ehelicher Treue. Der Anfang vom Ende, Wurzel allen Übels, wie es für Rousseau(5) und a fortiori für das 19. Jahrhundert gilt, ist im Figaro(10) auch ganz sicher nicht der Ehebruch – selbst der weibliche nicht. Così fan tutte(2)(2) – vielleicht. Tutti, ganz sicher. Wir sind noch weit entfernt von Pierre-Joseph Proudhons kategorischer Verdammung des Ehebruches als dem Anfang allen Übels: »l’adultère est […] un crime qui contient en soi tous les autres« (Proudhon(1):485).
(11)(12)(12)(12)Nicht Unverführbarkeit, sondern Vergebung und Verzeihung ist die höchste Tugend; darin sind die Frauen den Männern haushoch überlegen: »Vergebung verdient der nicht / wer sie anderen nicht gewährt!«; »Perdono non merta / Chi agli altri non da!« (II,8:94 f.), singen Susanna und Rosina, Kammerzofe und Gräfin, im Duett; dem fünfmaligen Nein des Grafen im letzten Akt setzen sie Vergebung und Verzeihung entgegen. Am Ende müssen alle lernen, dass herrschen nur der kann, der unterworfen ist. Souverän herrscht Eros, verkörpert in der Adonisfigur des Cherubino(5). Er ist auch die Inkarnation der schmelzenden, weichen Musik. Als moderner Troubadour, als Minnesänger dichtet er Liebeslieder, die er als Morgengabe seinen Angebeteten vorsingt. Seine schöne Stimme bezaubert alle Frauen. Hingerissen sagt die Gräfin: »Ich wußte nicht, daß Ihr so schön singen könnt« (II,2:65).
(12)(13)(13)(13)Auch ist es nicht so – und das wäre Bedingung eines republikanisch-bürgerlichen Ideologiestückes –, dass gegen die Libertinage der Frauen des Adels ein tugendhafter, bürgerlicher Stand steht. Im Figaro(11) wimmelt es bei den Bürgerlichen und auch bei den Kammerzofen und Kammerdienern nur so von unehelichen Kindern, Ehebrüchen und Liebesintrigen. Die Frauen sind nicht bloß Objekte des Begehrens, sondern völlig selbstbestimmte begehrende Subjekte. Sie zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie tugendhaft immer nein sagen; sie wissen genau, wen sie in ihrem Bett wollen: Susanna will Figaro, Barbarina will Cherubino(6), Marcellina will Figaro – auf jeden Fall aber einen Mann und warum nicht den Vater ihres Sohnes? –, die Gräfin will ihren Mann zurück. Alle Frauen wollen – eigentlich immer – Cherubino. Aber nicht als Mann.
(13)(14)(14)(14)Gleich zu Beginn insinuiert Bartolo – zu Unrecht, wie ihn Marcellina aufklärt –, dass Susanna, vom Grafen geschwängert, mit einem Kammerdiener verheiratet werden müsse. Bartolo, der Jurist, hat die geschwängerte Gouvernante der Rosina, Marcellina, sitzen lassen; Figaro(12), kein Kind von Traurigkeit, hat dem Bartolo als intriganter Brautwerber für den Grafen das Bürgermädchen Rosina ausgespannt und dem Curzio ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Alle amüsieren sich in diesem Stück ziemlich prächtig und lassen sich auf das Verführungsspiel ein; allein der Graf, der es, wie sich langsam herausstellt, systematisch bei allen Schönen versucht, kommt nicht zum Zug und hat in der Liebe kein Glück. Gegenfigur zum Grafen ist dann auch nicht Figaro, sondern Cherubino(7) – ein Liebesschmetterling.
(14)(15)(15)(15)In dieser Oper voller verblüffender Wendungen ist die Szene, in der die Heirat zwischen Marcellina und Figaro(13) um Haaresbreite verhindert wird, die verblüffendste. Die burleske Restauration der Kleinfamilie macht der bürgerlich-republikanischen Familienmoral, die mit der Revolution triumphieren sollte, komisch den Garaus. Ein Zauberstück – so glücklich ist der Zufall, der die sorgfältig eingefädelte Intrige des Grafen, Marcellinas und Bartolos in Luft auflöst. Ziel dieser Intrige war es, die Hochzeit Figaros mit Susanna zu verhindern. Im allerletzten Moment wird die Heirat zwischen Mutter und Sohn und damit die ödipale Tragödie abgewendet. »Ei suo padre, ella sua madre« (III,5:124), kommentieren alle oft, sehr oft, und können es bass erstaunt gar nicht oft genug wiederholen. Das »madre« wird durch das Stottern des Curzio besonders hervorgehoben. In einem Wimpernschlag verliert Marcellina mit Figaro ihren ersehnten Bräutigam und findet ihren verlorenen Sohn. Aus heiterem Himmel findet Figaro, uneheliches Kind, Mutter Marcellina und Vater Bartolo wieder. Der erkennt seinen Sohn umgehend an und willigt in die Heirat mit Marcellina ein. Post festum wird so aus dem Findelkind Figaro, aus dem unehelichen Kind, ein legitimer Sohn.
(15)(16)(16)(16)Das Pikante an der Szene, die sie zu einer grotesken Verkehrung des bürgerlich-patriarchalen Familienrührstücks macht, ist bloß, dass die Mutter sich eine Sekunde davor noch als Braut ihres Sohnes einklagen wollte. Ihren eigenen Sohn, den einzigen Mann, den sie, wie sie sagt, liebt, wollte sie vor den Traualtar zerren: den von ihr gewährten Kredit kann er nicht zurückzahlen. Entweder zahlen oder heiraten – das, so der Jurist und Vater Bartolo, war der Vertrag zwischen beiden. Mir nichts, dir nichts schlägt die erotische Liebe Marcellinas in zärtlichste Mutterliebe um; Marcellina scheint sich des Horrors ihres inzestuösen Begehrens gar nicht bewusst zu sein, der Schreck fährt ihr nicht in die Knochen; sie ist einfach nur glücklich, ihren Sohn wiedergefunden zu haben. Und der Vater Bartolo, der die von ihm sitzengelassene Mutter seines Sohnes mit der halben Welt verheiraten wollte, um sie bloß nicht selbst zu heiraten, willigt begeistert sofort in die Heirat ein. Dieser verkehrte, so gar nicht mehr tragische Ödipus ist die wohl burleskeste Szene der ganzen Oper. Eine burla schlägt dem patriarchalen Familienszenario ins Gesicht und verkehrt wie nebenbei die Tragödie.
(16)(17)(17)(17)Das ideologische Szenario zwischen bürgerlichem Paar – Figaro(14) und Susanna, die die neue Ehemoral vertreten – und dem Feudalherren, der zwar auf sein Recht verzichtet hat, aber auf die Mädchen im Schloss Jagd macht, ist nur ein Vorwand, um die eigentliche Macht der Liebe in der Figur und in den Arien des Cherubino(8) auf die Bühne zu bringen. Cherubino, unumschränkter Liebling der Frauen, liebt sie alle unterschiedslos: ein farfallone d’amore. Mit Cherubino steht und fällt das Patriarchat und die Geschlechtsidentität. Er/Sie verkehrt die Macht- und Besitzverhältnisse, die das Geschlechterverhältnis bestimmen.
Im Gegensatz zur als revolutionär geltenden Hochzeit des Figaro(18)(18) Beaumarchais(2)(2)’ ist Da Ponte(17)s/Mozarts(13)Figaro(15) oft als schale Kompromissformel mit den powers in place abgetan worden: Beaumarchais’ prärevolutionäres Manifest, das im berühmten Monolog des Figaro gipfelt, reduziere Da Ponte im Dienste Josephs II. auf eine Romanze und stumpfe so die revolutionär-politische, den Instanzen des Ancien Régime satirisch jegliche Autorität entziehende Pointe Beaumarchais’ ab. Als ein solches, die Autorität veräppelndes Stück – »pièce exécrable« – hatte Ludwig XVI. die Komödie eingestuft und die Aufführung unterbunden. Als prärevolutionäres Manifest, in dem das Volk, vertreten von Figaro, die Privilegien der Aristokratie, repräsentiert durch den Grafen Almaviva, als illegitim brandmarkt und die Aristokratie als eine perverse, immoralische oder amoralische Klasse anklagt, hat der Revolutionär Danton(1) den Figaro gesehen und von einem Totschlag der Aristokratie geredet: »Figaro a tué la noblesse!«. Napoleon wird die Sentenz zugeschrieben: »C’est déjà la Révolution en action!«
Martha Nussbaum hat eine andere Opposition als die von Volk und Aristokratie ausgemacht: Indem die Oper Frauen und die Liebe, kurz, das Private in den Fokus rücke, ginge das eigentlich Politische des Theaterstücks keineswegs wie üblich behauptet verloren, sondern entwickele erst seine ganze revolutionäre Kraft. Gleichheit und Brüderlichkeit seien die von den Frauen gegen die Männer vertretenen Werte, die immer in kompetitiven Hierarchien agierten. In der Hochzeit des Figaro(18)(19)(19)(18) stünde die Solidarität und Freundschaft der Frauen gegen Geltungsdrang, Konkurrenzdenken und – salopp gesagt – Potenzgehabe der auf ihrem Egotrip zur Liebe unfähigen Männer, für die die Frauen nichts als Mittel im Kampf um Status seien. Dass die Männer darum kämpfen, der Größte im ganzen Land zu sein, Status und Prestige auf sich zu vereinen, hält sie für ein Erbe des Ancien Régime. Gleich wären die Männer – egal ob Volk oder Aristokratie – in Konkurrenz verbunden. Diese Konkurrenz trügen sie über die Frauen aus: der Graf will Susanna vor Figaro(16) besitzen und gönnt seinem Diener das Glück ihrer Liebe nicht, nach der er sich verzehrt. Figaro hingegen will nicht, dass der Graf bekommt, was ihm gehört. Der Jurist Bartolo verspricht sich, durch seine Rache an Figaro in Sevilla stadtbekannt zu werden: »Ganz Sevilla kennt seinen Bartolo« (I,3:27). An Figaro, der ihm seine Angebetete Rosina für den Grafen ausgespannt hat, will Bartolo sich rächen, indem er Figaro mit der von ihm geschwängerten und dann sitzen gelassenen Gouvernante der Rosina, Marcellina verheiratet. Bartolo betrauert weniger seine verlorene Liebe, die an den Grafen unglücklich verheiratete Rosina, als dass er sich an der Rache an seinem Konkurrenten ergötzt.
(19)(20)(20)(19)Gleich wären die Frauen hingegen in Freundschaft, Teamwork und Gegenseitigkeit, in Lachen und Spiel verbunden. So beförderten sie die Werte der Brüderlichkeit und Gleichheit. Als eigentliche Gegenfigur zu dieser Männlichkeit, wie sie sowohl das Ancien Régime als auch die neuen bürgerlich-revolutionären Regime zeichneten, sieht Nussbaum Cherubino(9). Er stünde für eine Liebe, die kein Egotrip sei und Frauen nicht auf Statussymbole reduziere.
Aber so einfach ist das auch nicht: Susanna und Marcellina sind, bevor sie Schwiegermutter und -tochter werden, in einen ziemlichen Zickenkrieg verbissen; Susanna sei eine Schlampe, insinuiert Marcellina, die es für Geld mit dem Grafen macht und aus Geldgründen von Figaro(17) geheiratet wird; sie ein alter Besen, eine spröde Gelehrte, hält Susanna ihr selbstverständlich perfekt höfisch verschleiert entgegen, die es auf junge Männer abgesehen hat. Die Gräfin beklagt sich bitter, dass die notorische Untreue ihres Mannes sie in die Solidarität mit ihrer Dienerin zwingt: »In welch erniedrigenden, verhängnisvollen Zustand bin ich durch die Grausamkeit meines Gemahls geraten: in einem unerhörten Wirrwarr von Treulosigkeit, von Eifersucht und Vorwürfen hat er mich erst geliebt, dann gekränkt, schließlich betrogen, und jetzt muß ich bei einer Dienerin Hilfe suchen« (III,8:133–135).
Richtig ist allerdings, dass die Frauen angesichts des übermächtigen männlichen Feindes zusammenhalten, um die Männer auszutricksen. Da Pontes/Mozarts(20)(21)(21)(20)Figaro(18) nimmt weniger den tyrannischen Übergriff des promisken, machtmissbrauchenden Feudalherrn in die Rechte der anderen Männer über die Körper der Frauen als den tyrannischen Besitzanspruch aller Männer in der patriarchalischen Ehe aufs Korn. Nicht der Adel unterdrückt die Bürger, die Männer unterdrücken das »arme Geschlecht« (IV,4:159) der Frauen. Marcellina unterstützt Susanna, als sie diese nicht mehr als Konkurrentin sieht, in weiblicher Solidarität gegen die aus Eifersucht und Besitzanspruch erwachsende Grausamkeit ihres eigenen Sohns, der sie vor allen bloßstellen und ihren Ruf ruinieren will:
Presto avvertiam Susanna:
Io la credo innocente: quella faccia,
Quell’aria di modestia … è caso ancora
Ch’ella non fosse … ah quando il cor
non ciurma
Personale interesse,
Ogni donna è portata alla difesa
Del suo povero sesso,
Da questi uomini ingrati a torto oppresso.
Il capro e la capretta
Son sempre in amistà,
L’agnello all’agnellatta
La guerra mai non fa.
Le più feroci belve
Per selve e per campagne
Lascian le lor compagne
In pace e libertà.
Sol noi povere femmine
Che tanto amiam questi uomini,
Trattate siam dai perfidi
Ognor con crudeltà.
Schnell, warnen wir Susanna:
Ich glaube, sie ist unschuldig; dieses Gesicht,
dieses bescheidene Auftreten … es wäre doch Zufall,
wenn sie nicht … ah, wenn das Herz nicht
durch persönliches Interesse betrogen wird,
ist jede Frau bereit,
ihr armes Geschlecht zu verteidigen,
das von diesen undankbaren Männern zu Unrecht unterdrückt wird.
Der Ziegenbock und die Ziege
leben immer in Freundschaft;
das Lamm und sein Lämmchen
bekämpfen sich niemals.
Die wildesten Tiere
in Wäldern und Feldern
lassen ihren Gefährtinnen
Frieden und Freiheit.
Nur uns arme Frauen,
die wir diese Männer so lieben,
behandeln die Treulosen
immer auf grausame Art.
(IV,4:158 f.)
Völlig pervers verhalten sich die Männer: In der freien Natur lassen selbst die Bestien ihre Gefährtinnen in »Frieden und Freiheit« (IV,4:159). Marcellina nimmt das Motiv des wilden Tieres auf, mit dem bereits Basilio, der Musiklehrer und Kuppler, den Grafen kennzeichnete. Der Mann, klagt Marcellina, ist schlimmer als eine Bestie. Dieses Motiv wird zum Topos des Feminismus: die bürgerlich-patriarchalischen Geschlechterverhältnisse reproduzieren die Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Klassen. Wie die Bürger die Arbeiter, so unterdrückten und beuteten die Männer die Frauen aus. Der Topos der Tyrannei, die den Grafen qua Stand trifft, und sich in seinem Übergriff auf die Rechte anderer Männer ausdrückt, wird hier auf das ganze männliche Geschlecht ausgeweitet. Die Männer leben mit den Frauen anders als in den natürlichen Verhältnissen nicht in Freundschaft zusammen; sie unterdrücken das andere Geschlecht und rauben ihm tyrannisch Frieden und Freiheit.
Mit Frieden, vor allen Dingen aber mit der Betonung der Freiheit, libertà, auf der die Kanzone schließt, wird der revolutionäre Wert par excellence hervorgehoben. Nicht von der Tyrannei des Feudaladels will hier das Volk, sondern von der Tyrannei der Männer wollen die Frauen befreit sein. Grausamkeit und Perfidität – die beiden klassischen, gegen die Feudalaristokratie gewendeten Kampfbegriffe, werden gegen die Männer aller Klassen gewandt: »Trattate siam dei perfidi ognor con crudeltà« (IV,4:158). In der grausamen Unterdrückung der Frauen durch die Männer, nicht des Volkes durch die Feudalherren, liegt die widernatürliche Perversion, die der Figaro(19) anprangert. Die Frauen solidarisieren sich mit ihrem Geschlecht und setzen sich über Blutsbande hinweg: Marcellina singt hier gegen ihren Sohn Figaro – und zwar nicht im Namen der unbezweifelbaren Unschuld ihrer Schwiegertochter, sondern aus Prinzip. Die Frauen der Untreue coram publico zu überführen, sie im Akt des Liebemachens vor aller Welt an den Pranger zu stellen, den Ruin einer Dame in Kauf zu nehmen, wird von Susanna als Skandal und Tumult, Aufruhr im Haus, von der Gräfin als skandalöse Ehrabschneidung – »Porreste a repentaglio D’una dama l’onore?« (II,3:78) – gesehen. Die Wörter, die der Graf für die vermutete Untreue seiner Frau findet, sind hart: »infida«, »empia« (II,6:88): treulos, ruchlos. Der Geschlechterkrieg und nicht der Klassenkampf ist das Herz der Oper. Klarstes Indiz dafür ist die von der Oper vorgenommene Ersetzung des berühmten Monologs Figaros durch das Klagelied der Marcellina. (21)(22)(22)(21)
(22)(23)(23)(22)Genau wie Figaro(20), der ansagt, wo es langgeht – »non sarà. Figaro il dice« (I,2:20) –, möchte auch Susanna, dass alles nach ihrer Pfeife tanzt: »perch’io son la Susanna« (I,1:16). Beide definieren sich durch dieses geschickte Können, das die Pläne des Grafen durchkreuzen soll. Der Graf will die Hochzeit hinauszögern, weil er mit Susanna ins Bett will. Figaro will noch an diesem Abend Hochzeit feiern, damit er mit Susanna ins Bett kann. Wie Figaro möchte Susanna die Strippen ziehen und alle andern, vor allen Dingen aber den Grafen austricksen. Auch muss sie Figaro auf die Sprünge helfen und ihn, den perfekten Hofmann und Intriganten, erst über die Absichten des Grafen aufklären, die Figaro bei aller Messgenauigkeit nicht überreißt. Figaro, der bei seinem ersten Auftritt ihr Hochzeitszimmer vermisst, um einen geeigneten Platz für das Bett ausfindig zu machen, schätzt die Situation – wer mit wem wo in welchem Bett? – vollkommen falsch ein.
(23)(24)(24)(23)Susanna befindet sich mit Figaro(21) in einem offenen Wettbewerb darum, wer der erfolgreichere Regisseur ist. Wie in einem Krimi geht es auch in der Oper dauernd um die Manipulation von Indizienbeweisen für die Untreue: das Militärpatent von Cherubino(10) dient dem Grafen, die Hutnadel, die er für Susannas hält, dem Figaro als ein solches Indiz für die Untreue der Frauen. Figaro ist glücklicherweise Manns genug, glänzend mit Susanna zusammenzuspielen und über weite Strecken ihre Überlegenheit einzuräumen – bis er selbst scheinbar Opfer ihrer Intrige wird: Um ihn von seiner besitzergreifenden Eifersucht zu heilen, macht Susanna ihn glauben, sie gäbe dem Grafen ein Stelldichein im Garten; gleich würde sie sich mit ihm im Schutz der Dunkelheit, brennend vor Sehnsucht, in die Büsche schlagen.
Figaro(22), der, wie er in bitterer Selbstironie anmerkt, der »Rolle des Ehemannes« (IV,8:167) nachgeht, trommelt alle zusammen, den Ruin des Rufes seiner Braut zu besiegeln. Die Szene nimmt ein mythologisches Szenario auf. Die berühmteste Darstellung dieses berühmtesten Ehebruchs in olympischen Gefilden verdanken wir Tintoretto(1). Vulcan(1), der Ehemann von Venus(1), fängt seine Frau in einem Netz mit deren Liebhaber Mars(1).
Tutto è tranquillo e placido;
Entrò la bella Venere;
Col vago Marte prendere,
Nuovo Vulcan(2) del secolo
In rete la potrò.
Alles ist ruhig und friedlich,
die schöne Venus(2) ging hinein;
mit dem lüsternen Mars(2) kann ich,
der neue Vulkan der Epoche,
sie in meinem Netz fangen.
(IV,13:182 f.)
(24)(25)(25)(24)Gerade noch rechtzeitig erkennt Figaro(23) Susanna an ihrer Stimme und ist dann so gewitzt, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen und einen wilden Flirt mit ihr alias der Gräfin zu beginnen. Susanna erweist sich im Verbund mit Rosina und Cherubino(11) als die erfolgreichere Regisseurin. Der Graf wird seiner notorischen Untreue, Figaro seines ehemännlichen Besitzanspruches überführt. Barbarina bekommt, was sie will: ihren Cherubino. Er bleibt den Damen des Schlosses erhalten und darf heiraten; dem Grafen gelingt es nicht, ihn zum Militär zu verbannen. Auch der Graf macht seiner Gräfin, die den Verlust der Liebe elegisch besingt, wieder den Hof. Figaro muss lernen, dass die Liebe frei ist, lernen auch, Susanna malgré tout zu vertrauen.
(25)(26)(26)(25)Männern wie Frauen geht es um dasselbe: um Überlegenheit, um phallische Macht, die sich in jedem libertinen Roman des 18. Jahrhundert darin äußert, wer tatsächlich Regie führt. Die liegt eben in der Fähigkeit, durch Geistesgegenwart und Esprit die anderen nach seiner Pfeife tanzen, sie so handeln zu lassen, wie es einem gefällt, um zu bekommen, was man möchte. Der Figaro(24) ist so Theater im Theater, Spiel im Spiel, und eine Studie zur Wirkung des Theaters. Am Ende müssen aber alle diesem Willen zur Macht um der Liebe willen entsagen und um Verzeihung bitten. Die einzige souveräne Kraft, die alle gleich unterwirft, ist nicht phallische Macht, sondern der Eros.
(26)(27)(27)(26)Bestes Beispiel für dieses Theater im Theater ist der von Figaro(25) in Kooperation mit Susanna inszenierte Hochzeitszug, der gleich zweimal jubelnd singend auftritt, um Großmut und Weisheit des Grafen zu loben und ihn zur Verheiratung zu zwingen. Ihr Herr, so der Chor der »Bäuerinnen und Bauern« (I,8:47), fordere sein Recht auf die erste Nacht mit der Braut nicht ein, sondern gebe sie jungfräulich unberührt in die Arme des Bräutigams.
Il suo gran core
Vi serba intatto
D’un più bel fiore
L’almo candor.
Sein Herz voller Großmut
erhält unberührt euch
einer schöneren Blüte
heiliges Weiß.
(I,8: 46 f.)
(27)(28)(28)(27)Vor aller Welt soll der Graf Susanna den weißen Jungfernschleier, Symbol bräutlicher Unberührtheit, aufsetzen. Jeder weiß, dass der Graf ganz offen die Absicht verfolgt, noch vor der Hochzeit mit Susanna zu schlafen. Die unbefleckte, keusche Blume – »D’un più bel fiore l’almo candor« (I,8:47) – hat er gerade noch versucht, ins Bett zu kriegen. Dabei ist er in ihrem Schlafzimmer auf Cherubino(12), versteckt in ihren Röcken, gestoßen. Übrigens vor Zeugen, denn Basilio, der Kuppler, weiß nicht nur, dass Cherubino den Verführungsversuch des Grafen überhört, sondern er weiß auch um die heikle In-flagranti-Situation von Cherubino und Susanna, Page und Kammerzofe. Den Mädchen, die im Chor die Großmut ihres Herrn in höchsten Tönen besingen, die Braut unberührt gelassen zu haben, ist der Graf, wie sich nach und nach herausstellt, auch an die Wäsche gegangen. Kurz, alle sind im Bilde, dass sie hier Theater spielen.
(28)(29)(29)(28)Kein Wunder, dass der auf dem falschen Fuß erwischte Graf sich fragt, was das Theater soll: »Cos’è questa commedia?« (I,8:46) Allein, er wird durch die Inszenierung Figaros gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich coram publico des Preises und Lobes als würdig zu erweisen, selbst Theater zu spielen und sich über die Ehrerbietung seiner Untertanen zu freuen. Das ungerechte Gesetz, »e un dritto ingiusto« (I,8:48), das dem Feudalherrn das Recht auf die erste Nacht mit der Braut gäbe, habe er doch schon abgeschafft. Jetzt kann der Graf nur noch hoffen, dass seine Intrige, Marcellina mit Figaro(26) zu verheiraten, sich gegen Figaros Intrige durchsetzt.
(29)(30)(30)(29)Das überschwängliche Lob des gesamten Hofpersonals für die keusche Braut Susanna und Figaro(27) inszeniert Figaro gleich zweimal. Beim zweiten Mal ist es fast noch komischer, denn jetzt stehen gleich zwei Paare vor dem Grafen. Und immer singt der Hofstaat dasselbe: sie sind voll des Lobes für den Herrn, der eine reine, unberührte Blume verheiratet und auf das Recht der ersten Nacht verzichtet. Und alle wissen, dass er allem, was Röcke trägt, nachstellt.
A un dritto cedendo,
Ch’oltraggia, che offende,
Ei caste vi rende
Ai vostri amator.
Auf ein Recht verzichtet er,
das beleidigt und verletzt,
und keusch gibt er euch
euren Liebhabern zur Frau.
(III,14:150 f.)
Das ist natürlich besonders witzig, weil mit der Mutter des Figaro(28) sicher keine unberührte Blume vor ihm steht.
(30)(31)(31)(30)Als der Graf Susanna die Jungfernhaube mit weißen Federn aufsetzt, steckt sie dem Grafen einen Liebesbrief zu. Susanna hat ihn nach dem Diktat der Gräfin geschrieben. Das weiß der Graf natürlich nicht, der sich glücklich schätzt, mit Susanna doch noch vor deren Hochzeit ein Liebesstelldichein zu erhalten. Besiegelt ist er mit einer Hutnadel, an der der Graf sich sticht, sodass er das Blut von seinem Finger lutscht. Die Intrige des Grafen scheint doch noch überraschend von Erfolg gekrönt. Der Graf versteht nichts: »capisco il gioco« (III,14:150), irrt er sich, denn hier gibt ihm nicht Susanna, sondern undercover seine eigene, vernachlässigte Frau ein Liebesstelldichein, um ihn in die Falle zu locken und ihn als Womanizer zu überführen. Aber auch, um mit ihrem Gatten während eines romantischen Tête-à-Tête im leichten Windhauch unter duftenden Pinien zu tändeln und die verlorengegangenen schönen Stunden der Liebe wiederzufinden. Figaro(29) zieht dazu den Grafen in eine Fandangoszene. Jetzt tanzt der Graf nach seiner Pfeife, ist Figaro siegesgewiss.
(31)(32)(32)(31)In der Metapher des Tanzes hatte Figaro(30) klargemacht, dass er den Takt des Ränkespiels vorgeben will. Das kündigt er gleich zu Beginn an und der Graf wird ihm dabei als sein Schüler im Diminutiv zum »Gräflein«:
Se vuol ballare
Signor Contino,
Il chitarrino
Le suonerò.
Se vuol venire
Nella mia scuola
La capriola
Le insegnerò.
Saprò … ma piano,
Meglio ogni arcano
Dissimulando
Scoprir potrò!
L’arte schermendo,
L’arte adoprando,
Di qua pungendo.
Di là scherzando,
Tutte le macchine
Rovescierò.
Will er tanzen,
der Herr Gräflein,
mit der Gitarre
spiel ich ihm auf.
Will er lernen
in meiner Schule,
die Kapriole
bring ich ihm bei.
Ich find es heraus … aber sachte,
kann jedes Geheimnis
durch Verstellung entdecken,
das ist kein Problem.
Finten wehr ich ab,
Finten wend ich an,
hier stech ich zu,
dort sag ich’s im Scherz.
Alle Machenschaften
bring ich zu Fall.
(I,2:22 f.)
(32)(33)(33)(32)In der Fandangoszene, der schärfsten Konfrontation zwischen Graf und Figaro(31), glaubt sich Figaro am Ziel: er hat den Grafen zu seiner Marionette gemacht und ausgetrickst. Der Figaro inszeniert diese Überlegenheit in der Metapher eines skandalösen, ja eines als obszön geltenden Tanzes, der, wie alles Exotisch-Erotische, ein Import aus einem in den Augen des damaligen Europas nicht wirklich westlichen, sondern maurischen Kulturkreises – Andalusien nämlich – war. Der begeisterte Casanova(2) jedenfalls befand, dass nichts diesen Tanz an erotischer Explizitheit übertreffen könne. Den erotisch aufgeladenen, erregenden Fandango, Gipfel der Laszivität, beschreibt er als eine öffentliche Inszenierung des Liebemachens vor aller Augen.
(33)(34)(34)(33)Figaro(32) – so muss man das damals Implizite explizieren – besorgt es dem Grafen. Er, der strategisch Überlegene, unterwirft diesen sexuell. Der Graf wird, wie eine verharmlosende Metapher pars pro toto andeutet, in seinem vermeintlich süßen Sieg vor aller Augen von Figaro gelegt. Kurz darauf, um das Maß der Andeutungen voll zu machen, sticht er sich an der Hutnadel, die vermeintlich Susanna gehört und lutscht sich – eine bis heute durchsichtige Anspielung – das Blut vom Finger; ein trügerisches Zeichen, weil es ihm auf den ersten Blick den Erfolg signalisiert, Susanna hätte ihm ein Stelldichein gewährt.
(34)(35)(35)(34)Ausgetrickst wird der Graf, dem alles zum Rätsel wird und der nur noch Bahnhof versteht. Mit dem Grafen wird die patria potestas und das Tyrannische der Ehemänner im Allgemeinen ausgehebelt. Der tyrannisch-eifersüchtige Anspruch auf die Treue der Ehefrau, die im Alleinbesitz des Mannes gewähnt wird, ist letzten Endes ein auf den anderen Mann gerichtetes Begehren: er soll nicht genießen dürfen, was ich genießen möchte. In dieser Hinsicht sind der Graf und Figaro(33) nicht entgegengesetzt, sondern gleich.
Die Hochzeit des Figaro(35)(36)(36)(35) ist vehemente Kritik an der Herrschaftsform der patriarchalischen Ehe. Damit kritisiert die Oper weniger das Ancien Régime, sondern das patriarchal-republikanische Bürgertum, das diese Ehe im 18. Jahrhundert entwickelte und sie nach der Revolution zur Norm erheben sollte. Der Graf, der seine Ehefrau nicht mehr begehrt und außerhalb der Ehe Barbarina oder Susanna nachstellt, wird zur »bestia« (I,7:40), wenn ein anderer Mann seine Ehefrau, die Gräfin begehrlich anblickt. Er ist grauenhaft eifersüchtig und der Gedanke, betrogen zu werden, ist ihm aus Selbstliebe unerträglich. Die Eifersucht ist Ausdruck von Homosozialität, Besitzstandswahrung. Nicht Liebe, sondern Eigenliebe bestimmt die »Ehemänner von heute«: »prinzipiell untreu, von Natur launisch, und aus Stolz dann alle eifersüchtig« (II,1:55), weiß die Gräfin.
(36)(37)(37)(36)Die Eifersucht des Grafen Almaviva, aber auch die Frauenschelte des Figaro(34) tun den Frauen unrecht. Die Ehemänner zu rächen, die Frauen als Femmes fatales, als verderblich-gefährlich zu beschimpfen, bricht Figaro auf:
Tutto è disposto: l’ora
Dovrebbe esser vicina; io sento gente.
È dessa … non è alcun … buia è la notte …
Ed io comincio omai,
A fare il scimunito
Mestiero di marito.
Ingrata! Nel momento
Della mia cerimonia
Ei godeva leggendo: e nel verderlo
Io ridevo di me senza saperlo.
Oh Susanna, Susanna,
Quanto pena mi costi,
Con quell’ingenua faccia …
Con quegli occhi innocenti …
Chi creduto l’avria?
Ah che il fidarsi a donna è ognor follia.
Aprite un po’ quegl’occhi,
Uomini incauti e sciocchi,
Alles ist arrangiert: es müßte
bald soweit sein; ich höre Leute.
Sie ist es … es ist gar niemand … schwarz ist die Nacht …
Und ich beginne jetzt
die dämliche Rolle
des Ehemanns zu spielen.
Undankbare! Im Augenblick
meiner Hochzeitsfeier
hatte er seinen Spaß beim Lesen; und als ich’s sah,
da lachte ich – über mich, ohne es zu wissen.
O Susanna, Susanna,
wie tust du mir weh,
mit diesem reinen Gesicht …
mit diesen unschuldsvollen Augen …
Wer hätte das gedacht?
Ach, einer Frau zu trauen ist allemal verrückt.
Guardate queste femmine,
Guardate cosa son!
Queste chiamate Dee
dagli ingannati sensi
A cui tributa incensi
La debole ragion,
Son streghe che incantano
Per farci penar,
Sirene che cantano
Per farci affogar,
Civette che allettano
Per trarci le piume,
Comete che brillano
Per toglierci il lume;
Son rose spinose,
Son volpi vezzose,
Son orse benigne,
Colombe maligne,
Maestre d’inganni,
Amiche d’affanni
Che fingono, mentono,
Amore non senton,
Non senton pietà,
Il resto nol dico,
Già ognuno lo sa!
Öffnet ein wenig die Augen,
ihr unvorsichtigen, dummen Männer,
schaut euch diese Frauen an,
schaut nur, wie sie sind.
Göttinnen heißen sie
die betrogenen Sinne,
Weihrauch opfert ihnen
der schwache Verstand,
doch es sind Hexen, die mit ihrem Zauber
uns leiden lassen;
Sirenen, die mit ihrem Gesang
uns ertrinken lassen;
Käuzchen, die mit ihrem Lockruf
uns die Federn ausreißen,
Kometen, die durch ihren Glanz
uns das Augenlicht rauben.
Dornige Rosen sind’s,
charmante Füchsinnen,
gutmütige Bärinnen,
bösartige Tauben.
Meisterinnen der Täuschung,
Freundinnen des Quälens,
die sich verstellen, lügen,
Liebe nicht fühlen,
Mitleid nicht fühlen.
Den Rest will ich nicht sagen,
den weiß schon ein jeder!
(IV,8:166 ff.)
(37)(38)(38)(37)Eine Ellipse markiert, wie üblich, den Liebesakt. In dieser »Antistrophe«, mit diesem Gegenlied zum Lied seiner Mutter vergleicht auch Figaro(35) die Tier- mit der Menschenwelt.
Zwar sind die Frauen nicht schlimmer als wilde Tiere, aber man weiß einfach nie, woran man bei diesen täuschenden, trügenden Wesen ist. Diese Frauenschelte hat eine lange Tradition. Merkur bezichtigt die Frauen in der Aeneis(1) des Wankelmuts: Aeneas, dem »Weiberknecht« (Vergil(2): Aeneis, IV, V. 266), der Didos Stadt Karthago errichtet, statt sein eigenes Reich zu gründen, sagt Merkur, es sei töricht, auf die Treue der Frauen zu bauen; wie ein Rohr im Wind würden sie schwanken, einmal hierhin, einmal dorthin, in ihrer Zuneigung seien sie nicht stabil, sondern ein buntscheckig Ding, ein geflickter Stoff – eine perfide Verleumdung, um Aeneas in Richtung imperiale Mission auf Kurs nach Rom zu bringen. Die verlassene Dido(2) nimmt sich aus Liebe zu Aeneas das Leben. Dieselbe Diagnose finden wir dann später in der berühmten Arie »La donna è mobile« im Rigoletto(3)(3) – und auch hier stellt sich dies als Verleumdung heraus, denn während der dieses Lied singende König mit allen Frauen schläft, gibt die, die ihn treu bis in den Tod liebt, ihr Leben für ihn hin.
(38)(39)(39)(38)Susanna hingegen wird Figaro(36) enttäuschen: sie spielt ihm die untreue Frau vor, deren Liebesverlangen nicht ihm, sondern einem anderen gilt. Das sinnlich-erotische Liebeslied, eine heimliche Liebeserklärung an Figaro, steht in der Tradition der Anakreontik, Inbegriff einer aristokratischen Gattung, des freien Feierns der Liebe in der Harmonie der Natur. Die Oper richtet sich so nicht gegen das Ancien Régime, sondern im Namen der freien Liebe gegen die Geschlechterhierarchie, wie sie die patriarchalische Ehe in der Monarchie und stärker noch in einer Republik freier und gleicher Ehemänner und Familienväter bestimmt. Es ist dies eine Liebe vor der Revolution. Dem Sollwert der aus den Republiken hervorgegangenen, modernen Demokratien der authentischen, treuen, partnerschaftlichen Liebe auf Augenhöhe wird nicht das Wort geredet.
(39)(40)(40)(39)Da Ponte(2)/Mozart(14) bringen raus, was schon Figaro(37) war: hier lehnen sich nicht die Schwachen gegen vermeintliche, adelige Privilegien, gegen sogenannte Herrenrechte auf. Figaro ist kein bürgerliches Reformstück im Sinne tugendhafter, bürgerlicher Weiblichkeit und reformierter Männlichkeit, sondern eine libertine, karnevaleske Komödie; an diesem »verrückten Tag« wird alle Autorität auf den Kopf gestellt. Da Ponte/Mozart(15) sind keine Parteigänger der neuen bürgerlichen Liebesmoral, nach der gelten soll: »Love and marriage go together like a horse and carriage.« Des frei umherschweifenden Eros galt es Herr zu werden; gebunden werden sollte er an die Ehe und an eine unbezweifelbare Geschlechtsidentität.
(40)(41)(41)(40)Was Mozarts(16) Opern so unwiderstehlich macht, ist das Hereinbrechen einer anderen Macht. Dieser sind die Subjekte unterworfen. Lustvoll hängen sie hingegeben, verletzt in deren süßen Fesseln. Jeder Widerstand ist zwecklos. Diese Macht liegt jenseits der Hierarchie, wie sie konventionell die Heterosexualität bestimmt; sie geht nicht zielführend auf den Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Sie will sich den anderen nicht utilitaristisch zu eigen machen. Sie ist a-ökonomisch. Verkörpert wird sie in Nozze di Figaro(38) in Cherubino(13), dessen Begehren zu süßer Musik, dessen Singen Liebe wird, die quer zur hierarchisch-tyrannischen, auf Besitzrechte am Weiblichen drängenden Heterosexualität steht.
Die hinreißende sinnliche Verführung liegt bei einer Figur, die weder Mann noch Frau ist: der Cherubino(15) d’Amore. Ihn zu bezeichnen, bedarf es einer neuen, zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen gekreuzten Sprache: ein »damerino« (I,7:42), ein »damoiseau« wird er genannt. Ein Knabe, ein Kind fast noch, viel, viel zu jung, um Liebhaber zu sein – verteidigen sich die Frauen. Da seine Stimmlage ein Mezzosopran ist, wird er von einer Sie gesungen. Der Mezzosopran als Stimme der sehnsüchtigen Liebe tritt hier an die Stelle des Tenors. Vielleicht sollte man nicht von einer Hosenrolle sprechen, ist Cherubino doch die weiblichste Figur auf der Bühne, das schönste aller Mädchen. Binäre Geschlechter werden tatsächlich durchkreuzt: Cherubino, als Bühnenfigur ein Junge in Mädchenkleidern, wird de facto von einer Frau in Männerkleidern gesungen, die als Mädchen »verkleidet« wird.
(41)(42)(42)(41)Cherubinos unwiderstehlicher Charme liegt darin, dass er/sie die binäre Geschlechtsidentität durchkreuzt. In dieser karnevalesken Komödie kommt er tändelnd, galant, glänzend in den Farben der Weiblichkeit: weißer sind seine Arme als die der schönsten Frauen, rosiger seine Wangen. Ein Transvestit ist Cherubino(16) tatsächlich meistens in drag: so girly! In der Figur des Cherubino verrücken Da Ponte(3)/Mozart(17) das heterosexuelle Begehren. Ist das Strumpfband Kurzformel dafür, dass man am Ziel seiner Wünsche angekommen ist, so wird das Begehren hier auf das Band, die Schleife, das Verzieren und das Schmücken, das sich Herausputzen selbst verschoben. Möchte der Graf den Frauen an die Wäsche, dann möchte Cherubino die Wäsche der Frauen. Cherubino interessiert sich ganz im Gegensatz zu einem richtigen Mann, der dem Cliché zufolge eine Frau nicht an-, sondern auszieht, fürs Anziehen, fürs Anbändeln. Cherubino ist von Kleidern, Stoffen, Bändern und Schleifen, Spitzen und Federn, Broschen, vom ganzen Tand der Weiblichkeit angezogener als von der weiblichen Nacktheit.
Cherubino(17), sicher kein gestandenes Mannsbild, steht quer zum heterosexuellen Begehren. Grundsätzlich kommt er dem Grafen und damit dem heterosexuellen »Geschlechtsvollzug« in die Quere. Cherubino steht im Weg. Er ist immer da, wo der Graf hinwill. Ständig ist er in einer Situation des flagrant délits. Höchst erregt sind die Frauen, wenn sie vom Grafen in dieser sie kompromittierenden Situation – così fan tutte(3)(3) – überrascht werden. Der sich wie ein Liebhaber versteckende Cherubino überhört so immer und immer wieder die misslingenden Verführungsversuche des Grafen. Der Graf, der etwas von Barbarina will, trifft dort auf – Cherubino. Der Graf, der etwas von Susanna will, trifft dort im Nachspielen des Versteckspiels bei Barbarina an eben derselben Stelle auf – Cherubino: vorsichtig langsam, erzählt der Graf in Susannas Boudoir, hebt er das Tischtuch in Barbarinas Zimmer und findet dort den Pagen versteckt. Und jetzt, in eben dieser, von ihm ja nur zur Anschauung vorgespielten Suche – er traut seinen Augen nicht und kann es kaum fassen: schon wieder Cherubino! Im Boudoir seiner Gattin ist der Graf sicher, auf den halbnackten Cherubino zu treffen. Das Mädchen, das die Gräfin unter den lobend jubelnden jungen Frauen als die Schönste entdeckt und unter den Augen des Grafen küsst, ist – Cherubino. Mittlerweile ist diese Situation so zum Running Gag geworden, dass Barbarina trocken sagt: »Non sarà cosa nuova …« (III,7:132). Das sich prompt, treu bis zum Schluss, »Dauer im Wandel«, ist man versucht zu sagen, wiederholt. Als der Graf Susanna alias seine Frau nachts zum Stelldichein treffen will, wäre ihm Cherubino, der ihm ursprünglich statt Susanna hätte untergeschoben werden sollen, um Haaresbreite wieder in die Quere gekommen.
(42)(43)(43)(42)Von vornherein will der Graf Cherubino(18) aus der weiblichen in die männliche Welt zum Militär verbannen. Figaro(39) stellt die beiden Welten kontrastierend gegeneinander; unversehens gerät ihm der tändelnde Reigen zum Militärmarsch mit schneidiger Blasmusik. Ein ganzer Mann muss der arme Cherubino beim Militär werden, droht Figaro komisch, mit Bart und Schnurrbart, fluchen statt kosen, sein rosiger Teint wird sonnenverbrannt, nicht geschmückt, sondern gerüstet, nicht tänzelnd anbändelnd, sondern im Marschschritt, nicht unter Frauen, sondern unter Männern, nicht drinnen, sondern draußen. Die Natur ist hier keine arkadische Liebeslandschaft, sondern feindlich extrem. Die petrarkistischen Paradoxien der Liebesklage – ich glühe, ich zittere – werden in dieser Kriegslandschaft buchstäblich wahr: eisiger Schnee und glühende Sonne. Nichts ist wohlgeordnet, alles wüst, der Kriegsgott Mars(3) ahmt Jupiter nach: Donner und Blitz sind menschengemacht und werden von den Waffen produziert. Kurz, männlicher Tod statt weiblicher Liebe.
Tra guerrieri poffar Bacco!
Gran mustacchi, stretto sacco.
Schioppo in spalla, sciabla al fianco,
Collo dritto, muso franco,
Un gran casco, o un gran turbante,
Molto onor, poco contante!
Ed invece del fandango
Una marcia per il fango
Per montagne, per valloni
Con le nevi e i sollioni
Al concerto di tromboni
Di bombarde di cannoni
Che palle in tutti i tuoni
All’orecchio fan fischiar.
Unter Soldaten, Donnerwetter,