... doch helfen musste ich mir selbst - Silvia K. - E-Book

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Silvia K.

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Beschreibung

Silvia ist 16 Jahre alt, als sie Opfer eines scheinbar gutbürgerlichen, begüterten, aber sadistischen Ehepaares wird. 15 Monate wird sie in einem fensterlosen Verlies gefangen gehalten und gequält. Es gelingt ihr, diesem Horror zu entfliehen. Doch ihre Leiden nehmen kein Ende: Die Polizei glaubt ihr erst nicht, die Boulevardpresse diffamiert sie und ihr neuer Ehemann verprügelt sie. Aber Silvia verzweifelt nicht, auch wenn sie sich immer selbst helfen muss ...

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Seitenzahl: 331

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweis1 Bei den Großeltern2 – Im Erziehungsheim3 – Auf Irrwegen4 – Hoffnung5 – Enttäuschung6 – In der Gewalt von Sadisten7 – Zwischen Wahnvorstellungen und Todessehnsucht8 – Die letzten Wochen in Gefangenschaft9 – Rückkehr in die Freiheit10 – Zwischen Misstrauen und Entsetzen11 – Frei – aber vogelfrei12 – Mein erstes Kind13 – Prozess mit Presserummel14 – Das Urteil15 – Ein Ehedrama16 – Resignation17 – Der Kampf gegen die DrogeNachwort

Über dieses Buch

Silvia ist 16 Jahre alt, als sie Opfer eines scheinbar gutbürgerlichen, begüterten, aber sadistischen Ehepaares wird. 15 Monate wird sie in einem fensterlosen Verlies gefangen gehalten und gequält. Es gelingt ihr, diesem Horror zu entfliehen. Doch ihre Leiden nehmen kein Ende: Die Polizei glaubt ihr erst nicht, die Boulevardpresse diffamiert sie und ihr neuer Ehemann verprügelt sie. Aber Silvia verzweifelt nicht, auch wenn sie sich immer selbst helfen muss …

Über die Autorin

Silvia K. ist ein Pseudonym. Die Autorin erzählt in diesem Buch ihre eigene Leidensgeschichte.

SILVIA K.

… doch helfen musste ich mir selbst

Opfer eines sadistischen Ehepaares. Doch niemand glaubt ihr …

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

© Copyright 1994 by Bastei Lübbe AG

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung eines Motives © shutterstock: Evannovostro

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7311-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Namen und Orte der Handlung wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen geändert. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.

1Bei den Großeltern

Ein Wunschkind war ich nicht. Eher ein Unglücksfall, ein Patzer, den sich meine Mutter wohl bis heute nicht verziehen hat. Sie war und ist ein Arbeitstier, eine, die ohne aufzugucken von morgens früh bis abends spät schuften kann. Hauptsache, Geld kommt ins Haus. Bloß nicht andere um etwas bitten müssen. »Ich wollte nicht von der Sozialhilfe leben müssen«, war immer ihre Antwort, wenn ich mal wieder wissen wollte, warum sie mich damals nicht bei sich behalten hat.

Schon vor meiner Geburt am 26. April 1965 muss sich meine Mutter entschlossen haben, mich zu den Großeltern zu geben, die ebenfalls in Krefeld wohnten. Gleich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus trennten sich unsere Wege. Meine Mutter, gerade erst zwanzig Jahre alt, kehrte allein in ihre Wohnung zurück. Mich trug meine Großmutter zu sich nach Hause.

Als ich anfing, nach meinem Vater zu fragen, bekam ich zunächst nur ausweichende Antworten. Nicht nur von meiner Mutter, sondern auch von allen anderen Familienmitgliedern. Ich konnte mir das nicht erklären. Mein Halbbruder Mischa, der zwei Jahre nach mir geboren worden war, hatte doch auch einen Vater, wie die vielen Fotos in der Wohnung meiner Mutter bewiesen.

»Mischas Vater hätte dich auch verlassen, wenn er nicht so früh gestorben wäre«, warf ich meiner Mutter einmal viel später im Streit hasserfüllt an den Kopf.

Sie schrie nicht zurück wie sonst immer, sondern starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und fing leise an zu schluchzen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich sie richtig weinen sah. Tatsächlich war Mischas Vater vor der Geburt seines Sohnes an einem Herzinfarkt gestorben. Meine Mutter blieb unverheiratet, behielt ihr zweites Kind aber bei sich.

Von meinem Vater existiert kein Foto, kein Andenken. Ich hatte nichts, mit dessen Hilfe ich ihn mir hätte vorstellen und von ihm träumen können.

Erst viele Jahre später, während der Gerichtsverhandlung gegen meine Peiniger, erfuhr ich, wer mein Erzeuger war: ein türkischer Gastarbeiter, der in der Nachbarschaft zur Untermiete gewohnt hatte. Das hatten die Journalisten recherchiert, die während des Prozesses auch die Vergangenheit meiner Mutter an die Öffentlichkeit zerrten.

»Reingefallen ist deine Mutter auf den Kerl, auf seine Locken und seinen Schnurrbart.« Großvater meinte, wenn ich es jetzt schon wüsste, könnte ich auch gleich die ganze Wahrheit erfahren:

»Überhaupt nichts hat der getaugt, das habe ich gleich gesehen. Als er deine Mutter geschwängert hat, war seine Aufenthaltserlaubnis schon abgelaufen, und er musste zurück in seine Heimat.«

Auch seinen Namen weiß ich jetzt und wo er in der Türkei lebt. Natürlich habe ich manchmal daran gedacht, einfach hinzufliegen und unangemeldet vor seiner Tür zu stehen. Aber richtig ernst war es mir nicht damit. Wenn ich ehrlich bin, hat mich seine Person nie richtig interessiert. Und eigentlich habe ich auch keinen Vater vermisst. Mein Vater war mein Großvater, obwohl er selten zu Hause war. Er hat damals als Lastkraftwagenfahrer gearbeitet.

Und Großmutter war meine eigentliche »Mama«, auch wenn ich meine Mutter ebenfalls als »Mama« bezeichnete.

»Aber jeder hat nur eine Mama!«, wurde mir erklärt.

Lehrer, Verwandte und Nachbarn tolerierten anfangs nachsichtig die Verwirrung eines Kindes, um das sich die Mutter zu wenig kümmerte, reagierten aber zusehends strenger, wenn ich darauf beharrte, dass meine Großmutter auch meine Mama sei.

Sie war es wirklich und ist es bis heute geblieben. Bei Großmutter war mein Zuhause: Sie ging mit mir zum Zahnarzt, zankte sich mit den Nachbarn, wenn ich die Blumenbeete zertrampelt haben sollte, und schmierte die Butterbrote, die ich morgens mit in den Kindergarten nahm. Sie gab mir den Gutenachtkuss und nahm mich in ihre Arme, wenn mir zum Heulen zumute war.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich von meiner Mutter einmal herzlich liebkost worden bin. Bei ihr fühlte ich mich immer fremd. Die regelmäßigen Besuche an den Wochenenden waren eine lästige Pflichtübung. »Nun stell dich nicht so an«, sagte Großmutter jedes Mal, wenn ich samstagmorgens maulend aus dem Bett kroch. Ich wusste, gleich würde Mutter mich abholen kommen. Nur widerspenstig ließ ich mir dann die kurzen Zöpfe flechten und kaute lustlos auf meinem Frühstücksbrot herum. Wenn Mutter mit meinem kleinen Bruder an der Hand schließlich in der Tür stand, war ich meist noch nicht angezogen. Und fast jedes Mal gab es dann Streit.

»Silvia, nun zieh doch einmal das rosa geblümte Kleid an, das ich dir zu Ostern gekauft habe!« Mutter wollte mich immer als niedliches Mädchen herausputzen, mit weißen Söckchen und schwarzen Lackschuhen. Und ich hasste Kleider und Röcke. Die ganze Woche über rannte ich wie ein Junge in Hosen herum, am liebsten in der kurzen, speckigen Lederhose, die mir Großvater einmal mitgebracht hatte.

Nur weil Wochenende war und Mutter es so wollte, ließ ich mich noch lange nicht als Mädchen verkleiden. Meist griff Großmutter schlichtend ein, oder Großvater sprach ein lautes Machtwort. Schließlich behielt ich meine Hosen an und Mutter murmelte etwas wie »verwöhntes Balg, das immer seinen Willen bekommt«.

Man kann sich denken, dass das kein Auftakt für ein harmonisches Wochenende war.

Ich habe es immer genossen, Heiligabend bei meinen Großeltern zu feiern, ohne Mutter und Bruder. Vor der Bescherung schloss Großvater mich in meinem Zimmer ein und ließ mich erst heraus, wenn alle Kerzen am Weihnachtsbaum brannten. Auf dem Gabentisch lag dann immer fast alles, was ich mir gewünscht hatte. Auch wenn es vorher immer hieß: »Gibt es nicht, ist zu teuer, du warst nicht artig genug.« Mutter und Bruder kamen meistens erst am ersten Weihnachtstag zu Besuch.

Harmonische Augenblicke im Zusammensein mit den beiden gab es nur selten. Vielleicht auch, weil meine Mutter und ich uns zu ähnlich sind, nicht nur äußerlich. Beide sind wir stur und unnachgiebig, wenn wir meinen, im Recht zu sein. Dann werde ich auch heute noch schnell laut und manchmal sogar handgreiflich; egal, was für Konsequenzen das für mich hat.

Das bekam auch mein Bruder zu spüren, der im Laufe der Jahre mir gegenüber immer aggressiver wurde. »Hau doch ab! Du störst uns nur!«, bekam ich oft genug von ihm zu hören. Er war eifersüchtig auf mich, wenn ich mit meinen Stippvisiten die traute Zweisamkeit störte. Und ich war eifersüchtig auf ihn, weil ich spürte, dass ich störte.

Die seltenen Momente, in denen wir uns vertrugen, endeten meistens im Chaos. Einmal, als Mutter uns für ein paar Stunden allein ließ, machten wir auf dem Herd Milch warm. Das durften wir natürlich nicht. Allerdings hätte Mutter nichts gemerkt, wenn Mischa den heißen Topf nicht ausgerechnet auf den hölzernen Küchenstuhl gestellt hätte. Zurück blieb ein kreisrunder Brandfleck. Ich legte ein Kissen drüber und versteckte den Topf unter dem Bett. Doch der Vertuschungsversuch war nicht von Erfolg gekrönt. Mit eisiger Miene präsentierte uns Mutter am nächsten Morgen alle Beweismittel. Das Donnerwetter konnte ich noch hinnehmen. Nicht aber den gestrichenen Kirmesbesuch. Und schuld war in meinen Augen einzig und allein Mischa.

Später hat sich das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir etwas gebessert. Wir sind nicht mehr wie Hund und Katze, haben gelernt, miteinander auszukommen und uns gegenseitig zu helfen, wenn Not am Mann ist. Schließlich sind wir ja Geschwister.

Schwesterliche Gefühle hatte ich damals schon eher für meine drei Onkel, von denen Kalle, der älteste, nur sieben Jahre älter ist als ich. In der großelterlichen Dreieinhalbzimmerwohnung lebten wir wie Geschwister zusammen. Ich war das Nesthäkchen, ihre Prinzessin, die sich eine Menge herausnehmen konnte. Das war wohl auch der Grund, warum ich mich nicht scheute, Streit mit größeren Kindern aus der Nachbarschaft anzufangen. Wenn’s brenzlig wurde und man mir den Hintern versohlen wollte, drohte ich mit meinen Onkeln, die garantiert jeden windelweich prügelten, der mir etwas angetan hatte.

Auch meine Großeltern konnte ich leicht um den Finger wickeln, insbesondere meine Großmutter, die mir einmal sogar gegen meinen Großvater half, als ich seine Pfeife im Sandkasten vergraben hatte. Heute bedaure ich, dass ich die beiden häufig gegeneinander ausgespielt habe. Wenn sie sich in den Haaren lagen, steckte nicht selten ich dahinter.

»Silvia ist ein sehr schwieriges Kind.« Diese Beschwerde der Kindergärtnerin bekam meine Großmutter noch oft zu hören. Mit drei Jahren war ich in einen katholischen Hort gekommen. Nach jeder handfesten Prügelei wurde Großmutter in den Kindergarten zitiert. Jedes Mal wieder versprach ich hoch und heilig, mich zu bessern. Doch die guten Vorsätze hielten nie lange vor. »Wer nicht hören will, muss fühlen«, meinte mitleidlos Schwester Ursula, als ich verbotenerweise mit der Papierschneidemaschine hantiert und mir dabei kräftig in den Daumen geschnitten hatte.

Eher vor Schreck wegen der Blutspritzer als vor Schmerz bekam ich einen Schreikrampf, den auch meine Großmutter nicht stoppen konnte, als ich mit provisorischem Verband zu Hause abgeliefert wurde. Erst beim Arzt schluckte ich die Tränen hinunter und ließ die klaffende Wunde, ohne mit der Wimper zu zucken, nähen. Die Spritzen und die sonstigen angsteinflößenden medizinischen Instrumente hatten mich anscheinend ziemlich beeindruckt.

Aus Schaden bin ich als Kind nie klüger geworden, geschweige denn gehorsamer. Alles, was ich nicht durfte, übte einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Und immer wieder verletzte ich mich bei meinen waghalsigen Unternehmungen, ob beim Klettern über scharfkantige Zäune oder beim Spielen mit Streichhölzern.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis den Kindergärtnerinnen endlich der Geduldsfaden riss. Eines Tages konnte mich meine Großmutter nach einem längeren Gespräch mit der Leiterin des Kindergartens gleich mit nach Hause nehmen: Zwangsurlaub, Kindergartenverbot für eine ganze Woche. Das war eine harte Strafe für mich, weil ich vormittags keinen mehr hatte, mit dem ich spielen konnte. Die meisten Kinder waren entweder im Hort oder schon in der Schule.

Im Alter von fünf Jahren kam ich für sechs Wochen in ein Kinderheim. Meine Großmutter musste zur Kur, und mein Großvater sah sich außerstande, ein kleines wildes Mädchen zu versorgen. Die sechs Wochen waren für mich das reinste Martyrium, so plagte mich das Heimweh. Meine einzige Freundin in dieser Zeit war eine Krankenschwester, die oben unter dem Dach des Heims wohnte und mir immer Schokolade und Bonbons schenkte. Doch zu ihr und den Süßigkeiten konnte ich mich schließlich nur noch heimlich hinaufschleichen, nachdem man im Heim mitbekommen hatte, woher mein fehlender Appetit bei den Mahlzeiten kam. Damals konnte ich nicht ahnen, dass dies nicht mein letzter und beileibe nicht mein schlimmster Heimaufenthalt gewesen sein sollte.

Wenn meine Großmutter gehofft hatte, dass sich mit der Einschulung mein aufsässiges Verhalten zum Guten wenden würde, wurde sie böse enttäuscht. Bereits am ersten Tag, mit der prall gefüllten Schultüte im Arm, boykottierte ich den Unterricht. Jedes Kind sollte auf einem Blatt Papier das malen, was es am liebsten hatte. »Ich bin zu müde zum Malen«, antwortete ich auf die Frage der Lehrerin, ob mir denn nichts einfiele. Ich blieb dabei und schloss sogar theatralisch die Augen.

Meine Großmutter musste schließlich vom Schuldirektor hören, dass man meine Einschulung um ein Jahr verschieben würde und ich bis dahin den Vorschulkindergarten zu besuchen hätte. Abends, ich lag noch wach im Bett, bekam sie auch noch die Vorwürfe meiner Mutter zu hören. Sie meinte, ich wäre verhätschelt worden, und mehr Strenge hätte mir besser getan als die ständige Nachsichtigkeit.

»Und warum hast du dein Kind nicht selbst erzogen, wenn du so gut Bescheid weißt?«, unterbrach Großmutter endlich lautstark die Tirade ihrer Tochter.

Eine Antwort war nicht zu hören, nur der Knall, als die Wohnungstür zugeschlagen wurde. Natürlich von meiner Mutter, die wohl wusste, dass sie mit ihren Anschuldigungen zu weit gegangen war.

In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. »Warum hast du dein Kind nicht selbst erzogen?« – die Frage verwirrte mich. Sollte Großmutter mich schließlich nur aufgenommen haben, weil kein anderer mich wollte?

Nein, dazu hatte sie mich zu lieb, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich war wie hin- und hergerissen, bis ich mir sagte, dass meine Mutter an allem schuld war und nur Unfrieden in unsere Familie brachte. Doch eine Unsicherheit blieb, die Ahnung nämlich, dass in meiner Familie irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte.

Nimmt man die Unfälle, die ich als Kind hatte und bei denen ich mich immer ziemlich schwer verletzte, war ich in der Tat ein Unglücksrabe. Selbst Rollschuhlaufen blieb nicht ohne schlimme Folgen. Ich stürzte einmal auf einen Stein und quetschte mir den Finger so arg, dass wieder ein Arzt helfen musste. Heute erinnere ich mich weniger an die Schmerzen als an die Streicheleinheiten, die ich anschließend daheim bekam. So war das auch nach meiner Blinddarmoperation, die mich tagelang von zu Hause fernhielt.

Mit sieben Jahren wurde ich dann endgültig eingeschult. Es gab so viele junge nette Lehrerinnen und Lehrer an der Schule, aber ausgerechnet die älteste Pädagogin übernahm diesmal die Erstklässler. Von Anfang an kamen wir nicht miteinander zurecht. Gegen ihre strengen Verhaltensregeln rebellierte ich wie gewohnt mit Ungehorsam. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Als ich mich nach einer Prügelei zur Strafe in die Ecke setzen sollte, trat ich der Lehrerin vors Schienbein. Ein unverzeihliches Verhalten. Wieder musste Großmutter den Büßergang zur Schule antreten, sich anhören, dass es so nicht weitergehen könne und mich heulendes Häufchen Unglück anschließend trösten, weil ich es doch gar nicht so böse gemeint hatte.

Meine Leistungen in der Grundschule waren meistens befriedigend bis ausreichend. Sicher hätte ich bessere Noten nach Hause bringen können, wenn ich mich mehr angestrengt hätte. Ich hätte dann auch nicht ein Schuljahr wiederholen müssen. Mathematik und Sport waren meine Lieblingsfächer. In der Turnhalle über Kästen springen und Völkerball spielen, das war eine wohltuende Abwechslung zum stundenlangen Sitzen während des sonstigen Schulalltags.

Einmal habe ich versucht, den Unterricht zu schwänzen. Ich hatte an diesem Morgen einfach keine Lust und versteckte mich, ausgerüstet mit einem Mickymaus-Heft, unter dem Balkon des Nachbarn. Gerade wollte ich herzhaft in mein Pausenbrot beißen, als meine Großmutter laut schimpfend um die Ecke kam. »Komm sofort aus deinem Versteck«, fauchte sie mich an. »Muss man sich von fremden Leuten sagen lassen, dass einem die eigene Enkelin auf dem Kopf herumtanzt!« Großmutter war sehr wütend auf mich, vor allem, weil eine Nachbarin aus dem Haus gegenüber mich unter dem Balkon beobachtet und flugs bei uns angerufen hatte mit der scheinheiligen Frage: »Hallo, Luise, weißt du eigentlich, wo sich Silvia zurzeit aufhält?«

Kaum war ich unter dem niedrigen Balkon hervorgekrochen, packte Großmutter meinen Arm und schleifte mich zur Schule. Natürlich kam ich zu spät. Aber das war nicht die einzige Peinlichkeit, die mein Schuleschwänzen zur Folge hatte. An den nächsten Tagen schleppte Großmutter mich jedes Mal an der Hand bis zur Klassentür. Sie wollte kein Risiko mehr eingehen.

Immer dann, wenn ich traurig oder mit mir und der Welt uneins war, was übrigens häufig vorkam, ging ich mutterseelenallein am Rheinufer spazieren. Ich fand das sehr idyllisch, wenn die schwer beladenen Schiffe träge auf dem breiten Fluss dahinzogen. Dazu der dichte gelbliche Qualm aus den hohen Schornsteinen des Hüttenwerks im Hintergrund. Stundenlang konnte ich hier im Gras sitzen, auf einem Grashalm herumkauen und über Gott und die Welt nachdenken oder einfach am Ufer entlangtrödeln und Steine in den Rhein werfen.

Den Mann in dem grünen Parka auf der Holzbank hatte ich vorher noch nie hier gesehen. Nur wenige Erwachsene verirrten sich wochentags hierhin, und die kannte ich in der Regel, zumindest vom Sehen her. Der Mann hatte sein Fahrrad hinter sich an die Bank gelehnt. Er saß wie reglos da und starrte mich unverhohlen an. Mir war nicht wohl in meiner Haut, aber Angst hatte ich keine, wovor auch? Ich beschloss, zügig an der Bank vorbeizugehen, ohne den komischen Fremden eines Blickes zu würdigen. Aber irgendetwas ließ mich dann doch den Kopf zur Seite drehen und den Blick heben. Der Parka des Mannes war weit geöffnet. Und ich sah, wie er, den Hosenschlitz ebenfalls weit offen, sein großes Glied in beiden Händen hielt. Panik ergriff mich. Wie vom Teufel gejagt, rannte ich nach Hause, hinauf in mein Zimmer, und steckte den Kopf unter die Bettdecke.

Acht Jahre war ich damals alt. Aufgeklärt hatte mich noch keiner. Auch in späteren Jahren tat dies weder meine Mutter noch meine Großmutter. Über sexuelle Dinge zu reden war in unserer Familie tabu. Nie hätte ich mich getraut, Großmutter zu fragen, wie Kinder gemacht werden. Instinktiv wusste ich, dass ihr die Beantwortung solcher Fragen peinlich sein würde.

Ich war damals eben so naiv und unschuldig wie fast alle Kinder in dem Alter. Schon gar nichts wusste ich von sexuellen Abartigkeiten wie Exhibitionismus. Mir war überhaupt nicht klar, was der Mann da auf der Bank am Rhein genau getan hatte. Ich ahnte nur, dass es etwas Schmutziges, Verbotenes war, und fürchtete, dass man vielleicht auch mir Vorwürfe machen oder erst gar keinen Glauben schenken würde. Mit keinem Wort erwähnte ich den Vorfall zu Hause. Auch meinen Freundinnen erzählte ich nichts. Den Mann im grünen Parka sah ich nie wieder in unserer Gegend. Und ich wagte mich in den folgenden Monaten nicht mehr allein ans Rheinufer.

Wie sollte ich wissen, dass einem kleinen Mädchen wie mir noch viel Schlimmeres passieren konnte, dass es Männer gibt, deren Sexualität so krank ist, dass sie sich an einem Kinderkörper vergehen.

An einem heißen Sommertag während der Ferien – neun Jahre alt war ich geworden – wollte meine Freundin Biene mit mir schwimmen gehen. Unser bevorzugtes Schwimmbad war das Baggerloch, das ungefähr eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt lag. »Wenn wir doch schon da wären«, maulte Biene, als wir in Shorts und mit bloßen Füßen, die Tasche mit den Badesachen in der Hand, über die heißen Steine des Bürgersteigs liefen.

Den dunkelroten Kombi mit der weißen Aufschrift, der uns überholt hatte, plötzlich stoppte und dann ein paar Meter zurückfuhr, kannte ich. Der gehörte zur Bäckerei Schwarze, wo Onkel Kurt samstags morgens immer frische Brötchen zum Frühstück holte; auch wenn Großmutter immer mäkelte, die Brötchen würden wie aufgebacken schmecken.

Mutter mochte Frau Schwarze nicht, die meist hinter der Theke stand und verkaufte. »Der guckt die Geldgier aus den Augen«, behauptete sie immer und betrat den Laden, der gleich bei uns um die Ecke war, nur selten.

Ich mochte Bernd nicht, der bei Schwarze als Bäckergeselle beschäftigt war. Und ausgerechnet der steckte den Kopf aus dem offenen Seitenfenster der Fahrertür und grinste uns an, sodass sein gerötetes Zahnfleisch zu sehen war.

»Wo soll’s denn hingehen?« Seine hohe Fistelstimme passte überhaupt nicht zu dem massigen, schwabbeligen Körper, der in einer schwarz-weiß karierten Bäckerhose und einer angeschmuddelten Baumwolljacke steckte.

»Silvia und ich sind auf dem Weg zum Baggerloch.« Biene war neben dem Auto stehen geblieben. Ich ging noch ein paar Schritte weiter, blieb dann aber auch stehen.

»Mensch, Biene, nun komm schon, ich hole mir auf den heißen Steinen Brandblasen.« Ich wollte weg von dem Auto und diesem Fettkloß, der noch immer dämlich grinste.

»Kommt, steigt ein ihr beiden, ich fahr euch zum Baggerloch. Liegt sowieso auf meinem Weg.«

Der Fettkloß stinkt bei der Hitze doch bestimmt zum Himmel, war das Erste, was mir durch den Kopf schoss, als Biene hocherfreut auf die Beifahrerseite rannte, die Tür aufriss und sich auf den Sitz schmiss.

»Setz dich hinter mich, Silvia, denn hinter dem Beifahrersitz steht ein Korb mit Stangenbrot.« Bernds hohe Fistelstimme tat so, als würde sie meine ablehnende Haltung gar nicht bemerken.

»Nee, ich mag nicht.« Richtig sauer war ich auf Biene, die mich da auf dem Gehsteig allein stehen ließ.

Doch Bernd ließ nicht locker: »Stell dich doch nicht so an, ihr könnt euch auch zwei Plunderteilchen hinten aus der großen Tüte nehmen.«

Stopf dir Deine Plunderteilchen doch sonst wohin, dachte ich wütend. Ich kam mir aber inzwischen auch ziemlich albern vor, wie ich da schmollend auf dem heißen Pflaster von einem Fuß auf den anderen trat.

»Mensch, Silvia, du bist doch sonst nicht so zickig.« Biene war wieder lachend aus dem Auto gesprungen und zog mich an der Hand zum Beifahrersitz. »Setz dich vorne hin«, sagte sie bestimmt, »ich gehe auf die Rückbank.«

Ohne weitere Widerworte setzte ich mich ins Auto und nahm mit gesenktem Blick Platz. Gott sei Dank roch es im Wageninnern nicht nach Schweiß, sondern duftete angenehm nach ofenfrischen Backwaren, die auf ihre Auslieferung an die Kunden warteten. Dieser Duft ist aber auch wirklich das einzig Angenehme, das mir von diesem Sommernachmittag in Erinnerung geblieben ist.

Bernd war damals um die zwanzig, auf jeden Fall älter als alle meine Onkel. Er wurde belächelt, aber auch bemitleidet wegen seiner plumpen Gestalt.

»Der soll sich die Sahnetorten verkneifen und mehr Sport treiben«, spotteten die einen.

»Die Veranlagung zum Übergewicht hat er bestimmt geerbt, und der Beruf macht Diäten auch nicht leichter«, meinten verständnisvoll die anderen.

Unter Gleichaltrigen spielte Bernd klar die Außenseiterrolle. Um überhaupt beachtet zu werden, beispielsweise beim Schützenfest, spielte er sich auf als der große Spendiermax, schmiss an der Theke mit Runden nur so um sich und kaufte allen möglichen jungen Mädchen Lebkuchenherzen.

Ohne Appetit kaute ich auf dem Plunderteilchen herum, das Biene mir von hinten gereicht hatte.

»Ihr könnt noch mehr haben, ist genug da.« Bernd redete mit halbvollem Mund und steuerte den Wagen nur mit der linken Hand auf den holperigen Anfahrtsweg zum Baggerloch. Dabei leckte er sich genüsslich die fleischigen Finger der rechten Hand ab, nachdem er einen Berliner Ballen mit drei Bissen verschlungen hatte.

Der Weg führte zwar direkt ans Ufer des Baggerlochs, war aber auf den letzten fünfzig Metern nur für Fußgänger zugänglich. Autos wurden zum Parken auf eine abseits hinter einem Erdwall gelegene Wiese geleitet.

»Stopp, Bernd«, rief Biene, »lass uns hier raus! Hier ist es nicht mehr weit zum Wasser.« Sie hatte schon die hintere Wagentür aufgestoßen und sprang behände aus dem nur im Schritttempo dahinrollenden Auto. Nichts wie hinterher!

Ich suchte mit der rechten Hand nach dem Türgriff, als ich einen schweren Arm in meinem Nacken spürte und gleich darauf ein kurzes »Klick« hörte. Bernd hatte den Knopf im Türrahmen heruntergedrückt und so die Beifahrertür verschlossen. Ich war gefangen. Angst kroch in mir hoch. Ich begann zu schreien. Doch sofort verschloss seine große, fleischige Hand meinen Mund wie ein Knebel. Ich riss an den Fingern, krallte meine Nägel in Bernds Arme, versuchte, sein Gesicht zu treffen, und zerrte an seiner Jacke. Vergebens! Dieses schwitzende Untier neben mir hatte Gas gegeben und den Wagen hinter den Erdwall gesteuert.

Was dann geschah, haftet nur bruchstückhaft in meinem Gedächtnis. Das Monster riss mir die Shorts vom Körper, schob dabei noch irgendwie den Beifahrersitz ganz nach hinten und drückte mich wie eine Puppe gegen seinen massigen Unterleib. Ich weiß nicht mehr, was widerlicher war: das schmerzhafte Gefummel seiner Finger oder sein feuchter, keuchender Atem, der mir ständig ins Gesicht blies. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der Scheide. Ich hörte auf, mich zu wehren, und fing an, laut und verzweifelt zu schluchzen.

Wie lange dauert die Vergewaltigung eines neunjährigen Kindes in einem Auto? Ich weiß es nicht mehr. Vermutlich waren es nur wenige Minuten. Mir kommen sie auch heute noch wie Stunden vor. Der Kinderschänder hatte mich mit meinen Sachen und einer Handvoll Geldstücke am Schluss aus dem Auto gestoßen und war davongerast.

Ich saß hilflos im Gras und entdeckte plötzlich das Blut zwischen meinen Beinen. Mein Unterleib schmerzte furchtbar. Irgendwann nahm ich das Badetuch aus der Plastiktüte, um mich, so gut es ging, zu säubern. Unter Schmerzen schleppte ich mich nach Hause und war erleichtert, dass keiner in der Wohnung war. Ich ließ heißes Wasser in die Badewanne ein und schrubbte mir die Haut fast wund. Ich wollte wieder sauber sein, so wie vorher. Doch der Schmutz saß zu tief, haftete zu fest. Dass ich diesen Dreck nie mehr ganz loswerden würde, wusste ich damals noch nicht.

Schon bald kamen Schuldgefühle und Fragen auf. Hatte ich irgendetwas getan oder gesagt, was diese unglaubliche Schandtat provozierte? Konnte der dicke Bäcker vielleicht behaupten, ich wäre einverstanden gewesen? Und Biene? Was hatte meine Freundin von all dem, was auf dem Parkplatz geschehen war, mitbekommen? Wie ein Jahr zuvor, bei der schockierenden Begegnung mit dem Exhibitionisten, beschloss ich, keinem etwas zu erzählen und alles abzustreiten, wenn jemand Verdacht schöpfen sollte.

Wochen später erzählte mir Biene, dass der Bäckersohn auch sie einmal begrapscht habe. Als sie damals am Baggerloch auf mich gewartet habe und ich nicht nachgekommen sei, habe sie schon geahnt, dass der Fettwanst wieder einmal seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Ich war sprachlos!

Was ich damals noch nicht begriff: Der Kinderschänder hatte mich zwar entjungfert, aber zu einer Ejakulation war es nicht gekommen.

Ein paar Monate später hat er sich erneut an einem kleinen Mädchen vergangen. Diesmal wurde er von der Polizei geschnappt. Und im Rahmen ihrer Ermittlungen wurden auch Biene und ich verhört. Aus Angst leugnete ich zunächst, missbraucht worden zu sein. Doch schließlich war ich froh, loswerden zu können, was sich am Baggerloch ereignet hatte. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und Bernd Schwarze wurde zu einer Haftstrafe mit Bewährung verurteilt.

Mit zehn Jahren änderte sich mein Leben total. An einem dunklen Wintermorgen, Großvater war bereits zur Arbeit gegangen, kam Großmutter wortlos in mein Zimmer, gefolgt von zwei Fremden: einem Mann im grauen Stoffmantel, der seinen Hut zwischen den Händen hin- und herdrehte, und einer schlanken großen Frau, die ihren Pelz über dem Arm trug und einen Aktenordner in der Hand hielt.

»Guten Morgen, Silvia«, sagte die große Frau freundlich, »Herr Moorburg und ich kommen vom Jugendamt und wollen dich zu einer kleinen Spazierfahrt einladen, um ein paar Sachen zu besprechen.«

»Wann?«, fragte ich wie aus der Pistole geschossen. Ich ahnte nichts Gutes.

»Nun, jetzt gleich oder in einer halben Stunde, wir können auch draußen im Treppenhaus warten.«

Frau Wiehmer, so hieß die Dame, fühlte sich irgendwie nicht wohl in ihrer Haut, auch ihr Kollege wirkte unsicher.

»Bleiben Sie ruhig hier, Silvia ist gleich fertig.« Großmutters Stimme klang brüchig. Sie wich meinem Blick aus. Jetzt sah ich auch, dass ihre Augen gerötet waren. Mein Gott, was war bloß los? Hatte ich wieder etwas angestellt, was Großmutter mir übel nahm?

Ob es vielleicht mit dem Vorfall am Baggerloch zu tun hatte, von dem Großmutter durch die Polizei erfahren hatte? Seitdem alle möglichen Leute Bescheid wussten, war mir die Sache furchtbar peinlich, und ich mochte mit keinem mehr darüber reden. Ich hatte das ungute Gefühl, dass man mir eine Mitschuld gab an dem, was dieser Bernd getan hatte.

Großmutter und Mutter hatten sich jedoch schon Wochen vor der Vernehmung bei der Polizei an das Jugendamt gewandt, weil sie, wie es in solchen Fällen heißt, mit mir nicht mehr fertigwurden. Auch die Schule hatte sich eingeschaltet, nachdem ich immer häufiger unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben war.

Heute muss ich ehrlich zugeben, dass ich damals ziemlich frech, ungehorsam und kaum zu bändigen war, einfach ein unausstehliches Kind. Doch die zehnjährige Silvia hielt sich nur für ein bisschen wild und vorlaut. Wenn sie morgens durch die Fußgängerzone der Innenstadt bummelte, anstatt zur Schule zu gehen, war das doch ihre Sache, oder? Zwar hatte es zu Hause immer häufiger Ärger gegeben, wenn ich zum Beispiel mal wieder spät im Dunkeln heimgekommen war. Und ich erinnere mich an wiederholte Drohungen meiner Großmutter, mich in ein Erziehungsheim zu stecken. Sogar mein Großvater hatte beim letzten Krach gebrüllt, er sei mit seiner Geduld am Ende und habe ein Anrecht auf Ruhe, wenn er nach der Arbeit nach Hause komme. Aber all das hatte ich nicht für ein Anzeichen dafür gehalten, dass meine Familie sich mit meiner Erziehung überfordert fühlte und Hilfe beim Jugendamt suchen würde.

Schließlich war alles ganz schnell gegangen. Die Großeltern, als meine Erziehungsberechtigten, hatten eine Einverständniserklärung unterschrieben. Danach sollte ich so lange in einem Heim untergebracht werden, wie es »aus erzieherischen Gründen« erforderlich sei. Man musste nur noch nach einem freien und für mich geeigneten Platz suchen – natürlich hinter meinem Rücken.

Von alledem ahnte ich noch nichts, als Großmutter mich fest an sich drückte und mir ungewöhnlich innig »Auf Wiedersehen« sagte. Herr Moorburg hatte den Hut bereits wieder auf den Kopf gesetzt. Frau Wiehmer und er waren die ganze Zeit recht schweigsam gewesen. Ich schaute der Frau zum ersten Mal richtig ins Gesicht. Sie lächelte mich aufmunternd an. Ich dachte nicht daran zurückzulächeln, obwohl Frau Wiehmer anscheinend zu dem Typ Erwachsener gehörte, mit dem ich sonst ganz gut zurechtkam: groß, jung, sportlich und ernst. Keine, die ihren Muttertrieb an mir ausleben wollte.

Ich nahm mir vor, mit ihr vielleicht doch über den Vorfall am Baggerloch zu reden. Sie musste mir einfach glauben, dass mich keine Schuld traf.

Großmutter nahm mich noch einmal in den Arm und drückte mir einen ihrer nassen Küsse auf die Stirn. Ich ließ mich in den etwas zu engen dunkelblauen Wintermantel zwängen, bekam den roten Wollschal umgebunden und die gleichfarbige Strickmütze aufgesetzt.

Frau Wiehmer, Herr Moorburg und ich verließen die Wohnung und gingen die Treppe hinunter. Langsam, Schritt für Schritt und nicht polternd wie sonst, nahm ich jede einzelne Stufe. Ich hatte das Gefühl, mich besonders gut benehmen zu müssen. Als Frau Wiehmer unten die schwere Haustür aufriss, fegte uns ein eisiger Wind ins Gesicht. Es wurde langsam hell. Doch zu mehr als einem dieser diesigen, feucht-kalten Januartage würde es nicht reichen, das war klar.

Herr Moorburg hatte seinen weißen Opel Rekord genau vor dem Haus geparkt. Er öffnete die Beifahrertür und ließ mich auf der Rückbank Platz nehmen. Frau Wiehmer setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Motor wollte nicht gleich anspringen, doch beim vierten Versuch und nach längerem Orgeln begann die Maschine zu laufen.

»Silvia« – Frau Wiehmer hatte sich umgedreht – »wenn die Heizung richtig läuft und es im Wagen warm genug ist, solltest du den Mantel ausziehen, damit du später draußen nicht frierst. Denn dort, wo wir hinfahren, ist es kälter als hier.«

Schlagartig wurde mir klar, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo es hingehen sollte.

»Wo fahren wir denn hin?« Meine Neugierde war erwacht.

»Zum Haus Maihagen«, antwortete Frau Wiehmer, als sei das die normalste Sache der Welt. Doch dann sah sie wohl meine ratlose Miene. »Wir sollten es ihr jetzt erzählen«, sagte sie zu Herrn Moorburg gewandt.

Der zuckte wortlos mit den Schultern, und dann bekam ich die ganze Wahrheit zu hören, die mir Großmutter und alle anderen seit Wochen verheimlicht hatten. Ich war zu geschockt, um weinen zu können. Belogen hatten sie mich, auch Großmutter, die mich noch zum Abschied geküsst hatte, so als hätte sie mich richtig lieb.

»Pass auf, Silvia«, Frau Wiehmer schaute mich aufmunternd an, »Haus Maihagen ist in der Eifel, in einer herrlichen Landschaft mit Hügeln und Wäldern. Ich glaube, da ist in den letzten Tagen auch etwas Schnee gefallen. Ich bin sicher, dass es dir dort gefallen wird.«

Sie kam richtig ins Schwärmen. Ich muss sie dabei fassungslos angestarrt haben. Denn plötzlich geriet sie ins Stocken.

»Silvia«, sagte sie leise, »das Beste wird sein, du überzeugst dich selbst.«

Ich hatte im Auto Wintermantel, Mütze und Schal ausgezogen und meistens teilnahmslos aus dem Fenster gestarrt. Irgendwann hatte Frau Wiehmer das Autoradio angeschaltet und einen Sender mit Popmusik gesucht, wahrscheinlich um mir etwas Gutes zu tun. Später, nachdem wir die Autobahn verlassen hatten und auf der Landstraße unterwegs waren, war aus dem Radio nur noch ein Rauschen zu hören, und Herr Moorburg hatte es abgeschaltet.

Dafür war die Landschaft interessanter geworden, mit den dunklen Nadelwäldern im Nebel und den vielen Hügeln. Und etwas Schnee lag auch auf den Bäumen und Wiesen. In diesem Punkt hatte Frau Wiehmer die Wahrheit gesagt.

Die Fahrt dauerte etwas mehr als drei Stunden. Als vor uns das gelbe Ortsschild mit der Aufschrift »Maihagen« auftauchte, war es kurz vor zwölf.

Langsam steuerte Herr Moorburg den Wagen durch die engen Kurven von Maihagen. Ich hatte mich inzwischen einigermaßen beruhigt und schaute interessiert rechts und links durch die Seitenscheiben. Die schwarz-weißen Fachwerkhäuser sahen hübsch aus. Grauer Rauch stieg aus den Schornsteinen der Häuser mit ihren spitzen Schieferdächern. Frauen mit schweren Einkaufskörben und -taschen eilten auf den schmalen Bürgersteigen nach Hause. Lachende Schulkinder mit Tornistern und dicken Stiefeln kamen uns entgegen. Wir passierten die kleine Backsteinkirche mitten im Dorf gerade in dem Moment, in dem die Turmuhr anfing, zwölfmal zu schlagen.