Dr. Hope – Schicksal einer Ärztin - Torsten Dewi - E-Book

Dr. Hope – Schicksal einer Ärztin E-Book

Torsten Dewi

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Beschreibung

Eine große Liebe, ein faszinierendes Leben, eine starke Frau – die wahre Geschichte der ersten Ärztin Deutschlands. Für alle Leser:innen von Romanbiographien einzigartiger Frauen Hope strich sich aufgeregt eine Strähne ihrer glatten, dunkelblonden Haare hinter das Ohr. »Ehrlich?« Erst jetzt fiel ihr auf, wie unhöflich die Frage war. »Ich meine: Dieses College ist hier in London? Und es dürfen alle Frauen dorthin? Wo haben Sie denn Ihre Praxis? Behandeln Sie auch Männer? Was sagt Ihr Mann dazu – oder haben Sie vielleicht gar keinen Mann?« Deutschland, Ende des 19. Jahrhunderts: Ein Skandal bahnt sich in der Familie Bridges an. Hope, die ungewöhnlich intelligente und lebhafte Tochter, studiert gegen den Willen ihrer Familie – mit dem Ziel, die erste praktizierende Ärztin Deutschlands zu werden! Bald darauf eröffnet sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Praxis, um den Armen und Schwachen zu helfen. Doch als Hope im hitzköpfigen Revolutionär Carl Lehmann die Liebe ihres Lebens findet, zerbricht ihre Ehe.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Dieses Werk wurde vermittelt von der Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim "A&K Buchcover"

Covermotiv: depositphotos.com (Serg64; ViktoriaSapataBO; PHOTOLOGY1971); shutterstock.com (KathySG); PNGTree

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Dresden, 1874

London, 1871

Dresden, 1874

London, 1873

Dresden, 1874

Leipzig, 1876

Leipzig, 1878

London, 1881

Frankfurt, 1884

Frankfurt, 1886

Frankfurt, 1887

Nordrach, 1889

Offenburg, 1889

Schönwald, 1895

Nordrach, 1896

Karwendel, 1897

München, 1899

München, 1899

München, 1903

München, 1904

München, 1909

München, 1914

München, 1915

München, 1916

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dresden, 1874

»Was ist denn da drin? Steine?« Der rotgesichtige Mann hob ächzend den abgeschabten Koffer an.

»Meine Bücher«, erklärte Hope. »Ich habe auf dem Bedford College …«

»Für solchen Kinderkram ist keine Zeit mehr«, unterbrach er sie. »Jetzt musst du wirklich arbeiten.«

Hope holte tief Luft, um ihm eine passende Antwort zu geben. Was bildete sich dieser Sachse nur ein? Noch bestimmte sie selber, was sie mit ihrer Zeit anfing. Und Bücher ließ sie sich auf gar keinen Fall verbieten! Schon gar nicht von einem angeheirateten Cousin. Bevor sie jedoch den Mund öffnen konnte, spürte sie den spitzen Ellbogen ihrer Mutter Ellen Bridges in ihrer Seite. Überrascht sah Hope sie an.

»Nicht jetzt!«, deutete Ellen mit lautlosen Lippenbewegungen an. Hope runzelte die Stirn. Sie sollte diese Beleidigung ihrer Bildung einfach dulden? Insgeheim schwor sie sich, dass Gregor ihre Meinung schon noch hören würde.

Erst einmal wollten sie sich allerdings einrichten. Seit Tagen war sie mit ihrer Mutter unterwegs, spätestens seit der rauen Überfahrt auf dem Kanal hatte sie von dieser Reise genug. Und jetzt dieses Land, in dem sie eine neue Heimat finden sollte. Obwohl ihre Mutter seit Hopes Kindheit darauf bestanden hatte, dass sie Deutsch lernte, klang das, was sie von dem Schaffner und den Mitreisenden gehört hatte, fremd und hart. Vor allem, seitdem sie im Königreich Sachsen angekommen waren. Das sollte Deutsch sein? Es klang eher wie eine merkwürdige, eigene Sprache.

Hier würde sie mit ihrer Mutter bei Gregor und Lisbeth leben. Lisbeth war Ellens Cousine und damit wohl so etwas wie eine Großcousine für Hope. Seit einem »Missgeschick« – niemand hatte Hope erklären können, was damit gemeint war – konnte Lisbeth den Alltag nicht mehr ohne Hilfe bewältigen. Diese Hilfe kam ab heute von Ellen. Hope war sich nicht sicher, was das für sie bedeutete.

Die Droschke vor dem Dresdner Bahnhof verdiente kaum diesen Namen. Karren traf es viel genauer. Die eisenbeschlagenen Räder hingen schief an der Nabe, die Sitze waren ungepolsterte Holzbänke. Und die beiden Gäule wurden wohl nur von der Deichsel am Umfallen gehindert. Gregor stapelte die Koffer und Taschen auf der Ladefläche und setzte sich zu dem Kutscher auf den Bock. Mit einer herrischen Handbewegung wies er Ellen und Hope ihren Platz zu. Kaum hatten sie Platz genommen, setzte sich das Gefährt schaukelnd in Bewegung.

Während sie über das holprige Pflaster ratterten, hing Hope ihren Gedanken nach. Es schien ihr noch nicht lange her, dass sie mit ihrer Mutter und ihrem Vater in einem schönen Haus in London gelebt hatte. Aber dann war der Husten gekommen, der ihrem Vater die Gesundheit geraubt hatte. Sie erinnerte sich noch genau: In diesem Winter hatte es genauso geregnet …

London, 1871

»Und beste Grüße zur Genesung an den Herrn Papa!« Der Apotheker zwinkerte, und Hope fragte sich, ob er damit eine verschlüsselte Botschaft loswerden wollte – oder ob er lediglich eine merkwürdige Marotte hatte. Ihre Finger schlossen sich um das kleine Glasfläschchen, das er ihr reichte. »Das werde ich ihm gerne ausrichten«, entgegnete sie ernst. »Aber es geht ihm nicht gut. Seine Lunge …«

Sie sah durch die trüben Scheiben der Schaufenster hinaus. Der Regen vermischte sich mit dem Dreck auf dem Kopfsteinpflaster zu einem schmierigen Film. Es dämmerte schon wieder, obwohl doch eben erst Mittagszeit gewesen war. Höchste Zeit, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Sie nickte dem Apotheker zu, zog den Schal fester über ihre Zöpfe, und schon stand sie auf dem Bürgersteig. Die Londoner drängten sich dicht an dicht, der kalte Geruch nach ungewaschenen Menschen und feuchter Wolle drang in ihre Nase. Obwohl die neue Untergrundlinie jetzt schon einige Zeit in Betrieb war, wurden die Menschenmengen nicht weniger. Ihr schien es fast, als ob die ganze Welt ihr Glück in London suchte. Oder wenigstens eine Arbeitsstelle. Sie schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg. So schnell es ging, lief sie an den Hauswänden entlang nach Hause.

»Victoria!«

Der Schrei einer Frau ein paar Meter entfernt. Eine junge Stimme. Hope hob ihren Blick – und entdeckte ein pausbäckiges kleines Mädchen, das mit weit ausgebreiteten Armen über die Straße rannte. Sie sah aus wie ein kleiner Engel, mit blonden Locken und großen, dunklen Augen. Was immer sie auf der anderen Seite entdeckt haben mochte – Hope hatte nur Augen für die elegante Droschke, die um die Ecke bog. Auf dem Kopfsteinpflaster schlingerte sie kurz, dann nahm sie wieder Fahrt auf. Das blonde Mädchen entdeckte die Gefahr erst jetzt. Sie hielt mitten auf der Straße an und sah mit offen stehendem Mund den beiden Pferden entgegen. Der Klang der eisenbeschlagenen Hufe mischte sich mit dem Ruf des Kindermädchens. »Victoria! Komm sofort zurück.«

»Jetzt haltet doch an!«, schrie jetzt auch Hope, während sie auf die Straße rannte. Sie packte das Mädchen und zerrte es weiter. Das Rad der Kutsche verfing sich einen Augenblick in ihrem weiten Rock, bis es sich mit dem scharfen Geräusch von reißendem Stoff löste. Hope strauchelte und fiel mit dem Mädchen im Arm auf das Kopfsteinpflaster. Während sie noch die glatten Sohlen der Schnürstiefel verfluchte, blieb ihr die Luft weg. Das eng geschnürte Korsett war einfach nicht für solche Übungen gedacht. Kurz verschwammen der Regen, das Kopfsteinpflaster und das zappelnde Mädchen in ihrem Arm zu einem fernen Traum, dann drangen die Geräusche allmählich wieder klar an ihre Ohren.

Vorsichtig richtete sie sich auf und sah sich um. Die Droschke verschwand am Ende der Straße. Der Fahrer hielt es für überflüssig, sich nach den Mädchen umzusehen, die ihm da vor die Pferde gesprungen waren. Wenigstens beugte sich ein verängstigtes Gesicht besorgt über Hope. Die Sorge galt allerdings nicht ihrer Gesundheit. Offensichtlich war es das Kindermädchen, ungefähr im gleichen Alter wie Hope. Sie griff nach dem rundlichen Kinderarm des kleinen Mädchens, das jetzt angefangen hatte, schrill zu heulen und sich aus Hopes festem Griff zu winden.

»Das ist deine eigene Schuld! Ich habe dir doch gesagt, dass du immer bei mir bleiben sollst! Ich werde es deiner Mutter sagen, dass du wieder ungehorsam warst – sie wird sich schon um deine Strafe kümmern!«, schimpfte das Kindermädchen, während sie das Mädchen auf die Beine zog. Ohne einen weiteren Blick auf Hope zu werfen, nahm sie das Mädchen auf den Arm und verschwand in der gaffenden Menge auf dem Bürgersteig.

Hope kam ächzend auf die Beine. Wenigstens ein kleines Dankeschön wäre nett gewesen. Ihr Knöchel tat weh, das Kleid hatte einen langen Riss und war mit dem Dreck der Straße verschmiert. Hastig fingerte sie nach dem Glasfläschchen in ihrer Tasche. Es war noch ganz, das war das Wichtigste. Sehr viel langsamer als vorher humpelte sie nach Hause.

Als sie schließlich die schwere Tür zum Haus ihrer Eltern aufdrückte, war sie völlig durchnässt. Sie setzte sich auf die Treppe und machte sich an ihrem klammen Schnürstiefel zu schaffen. Mit steifen Fingern öffnete sie vorsichtig die Schnürsenkel. Langsam zog sie den Fuß heraus, bewegte vorsichtig den Knöchel und zog eine Grimasse. Dafür hatte sie eigentlich ewige Dankbarkeit von diesem Kindermädchen verdient! Sie hörte die leise Stimme ihrer Mutter im Salon und humpelte schnell durch die Tür – sie musste unbedingt ihre Empörung loswerden.

»Stell dir vor …«, begann sie, als sie in der Tür wie vom Donner gerührt stehen blieb. Ihre Eltern hatten Besuch – und sie tauchte ausgerechnet jetzt in diesem nassen, zerrissenen Kleid auf. Auf dem Sofa saß eine schmale Frau, die sie neugierig aus ihren ernsten Augen musterte.

William Bridges hob eine Augenbraue in die Höhe. »Hope, du siehst aus, als ob du in einen Krieg geraten wärst – dabei solltest du doch nur meine Medizin abholen.« Er lächelte sie warm an. »Hat sich der Apotheker etwa geweigert, meine Tropfen herauszugeben?«

Hope griff in ihre Manteltasche und reichte ihm das Glasfläschchen. »Der Apotheker war kein Problem – ich habe mich nur auf dem Heimweg vor eine Kutsche geworfen …« Mit wenigen Worten erzählte sie von ihrem Abenteuer.

Die Besucherin richtete sich auf. »Kann ich deinen Knöchel sehen?« Fragend sah Hope ihre Eltern an. Sie sollte einer wildfremden Frau ihr Bein entgegenstrecken?

»Beth ist Ärztin, sie kann dir sicher sagen, ob du dich ernsthaft verletzt hast!«, ermunterte ihre Mutter sie. Zögernd raffte Hope ihre Röcke nach oben. Mit erstaunlich festem Griff packte die Besucherin ihr Bein und verdrehte den Knöchel etwas. Hope entwich ein überraschter Schmerzenslaut. Mit einem zufriedenen Nicken ließ die Frau ihren Knöchel wieder los. »Der ist wirklich nur verstaucht, mach dir keine Sorgen!«

»Sind Sie wirklich Ärztin?«, platzte es aus Hope heraus. »Ich meine – es gibt doch gar keine Ärztinnen! Das können doch nur Männer!« Sie musterte die Frau kurz. Das lange dunkle Haar trug sie in einem eleganten Knoten im Nacken, das graue Kleid ließ ihre Haut noch heller wirken, als sie ohnehin war. Die dunklen Augen waren von einem kleinen Kranz feiner Fältchen umgeben – ansonsten wirkte sie erstaunlich jung. »Vielleicht sind Sie ja Krankenschwester, so wie Florence Nightingale?«, schlug Hope verlegen vor.

»Du hast recht: Es gibt nicht viele wie mich«, nickte die Frau freundlich und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich habe mich auch noch nicht vorgestellt: Mein Name ist Elizabeth Garrett. Und seit letztem Jahr bin ich Ärztin. Mit Florence habe ich zusammen ein College gegründet, an dem Frauen Medizin studieren können.«

Hope strich sich aufgeregt eine Strähne ihrer glatten, dunkelblonden Haare hinter das Ohr. »Ehrlich?« Erst jetzt fiel ihr auf, wie unhöflich die Frage war. »Ich meine: Dieses College ist hier in London? Und es dürfen alle Frauen dorthin? Wo haben Sie denn Ihre Praxis? Behandeln Sie auch Männer? Was sagt Ihr Mann dazu – oder haben Sie vielleicht gar keinen Mann?«

»Halt, halt«, unterbrach sie ihr Vater. »Du kannst unseren Besuch nicht mit all deinen Fragen gleichzeitig bombardieren. Du musst Beth schon Zeit geben, dir zu antworten …«

»Verzeihen Sie«, murmelte Hope verlegen. »Aber ich hätte so gerne gewusst …«

Beth hob die Hände. »Du musst dich nicht entschuldigen. Die Antwort ist kompliziert: Ja, ich durfte in England Medizin studieren. Aber ein Studienabschluss wurde mit verwehrt, den habe ich letztes Jahr erst an der Sorbonne in Paris gemacht. Aber jetzt bin ich hier – und ich habe meinen Traumberuf!«

»Können Sie meinen Vater gesund machen?«, platzte Hope heraus und biss sich sofort wieder auf die Unterlippe. Sie musste endlich aufhören, sich wie ein kleines Mädchen zu benehmen. Für eine junge Dame geziemte es sich nicht, immer das zu sagen, was ihr gerade durch den Kopf ging.

Elizabeth Garrett sah verwirrt zu dem stattlichen, weißhaarigen Mann in dem Lehnstuhl hin. »Dein Vater?« Sie runzelte die Stirn. »Fehlt ihm denn etwas?«

»Nein, nein«, antwortete William Bridges hastig. »Wir unterhalten uns mit Beth, um sie für einen Vortrag für die Emanzipationsbewegung zu gewinnen. Unsere Mitglieder würden von einem Bericht über ihren Werdegang sicher profitieren.«

Ellen Bridges strich ihrem Mann liebevoll über den Rücken. Sie war fast vierzig Jahre jünger als ihr Mann, aber ihrer Zuneigung tat das keinen Abbruch. »Wer weiß. Vielleicht hätte Beth ja eine Idee, wie sie deine Krankheit bekämpfen könnte. Hast du sie denn schon befragt?«

Unwirsch schüttelte Hopes Vater den Kopf. »Ich habe einen schlimmen Husten. Das ist alles. Wenn ich richtig informiert bin, dann ist Beths Spezialgebiet die weibliche Gesundheit. Das hat wohl kaum etwas mit meinem Leiden zu tun! Ich wollte von ihr auch keinen kostenlosen Rat einholen, bloß weil ich sie um einen Vortrag bei der Emanzipationsbewegung bitte.«

Mit hellwachen Blicken folgte Beth dem kurzen Austausch, bevor sie sich einmischte. »Mit Verlaub, lieber William, ich musste zuerst die ganze Medizin studieren, bevor ich mich auf den weiblichen Körper spezialisiert habe. Und diese Spezialisierung entsprang nicht meiner ureigenen Neigung, sondern den Normen, die mir die Gesellschaft aufzwang. Von mir erwartet jeder, dass ich mich lediglich mit Geburten oder Frauenkrankheiten auskenne. Das ist allerdings kaum der Fall. Ich bin enttäuscht, dass sogar du das so siehst.«

William Bridges errötete leicht und sah verlegen auf seine Hände. »Du hast recht, Beth. Ich bin genauso verbohrt wie alle anderen, die von einem weiblichen Arzt nichts wissen wollen. Aber glaube mir: Bei diesem Husten werden die Tropfen von Dr. Pierce sicher ihre Wirkung tun. Ich will dich mit solchen Kleinigkeiten nicht von deinen wichtigen Patienten abhalten.«

Beth Garrett musterte ihn noch einmal eindringlich und zeigte dann mit einem Finger anklagend auf das Glasfläschchen, das Hope gerade erst besorgt hatte. »Dann lassen wir es doch dabei bewenden. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass diese Tropfen, die Dr. Pierce so gerne verschreibt, wirklich nur in den seltensten und harmlosesten Fällen Wirkung zeigen. Ansonsten unterstützt du lediglich die Kasse des Apothekers. Wenn du doch noch Wert auf meine Meinung legst, dann tu dir keinen Zwang an, ich helfe gerne.« Sie machte eine kurze Pause und griff zu der Teetasse, die vor ihr stand. »Bis dahin können wir uns gerne über den Vortrag unterhalten.«

Hope stellte schnell fest, dass ihre vielen Fragen, die sie gerne an diese Besucherin gestellt hätte, keine Rolle spielten. Es ging – wieder einmal – nur um die Politik. Sie bemühte sich zwar, interessiert zu lauschen – aber nach einer Weile war es ihr in dem nassen Kleid kalt. Sie erhob sich, deutete einen Knicks an und bat um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen.

Als sie die dunkle Treppe mit den ausgetretenen Stufen zu ihrem Zimmer nach oben lief, kreisten ihre Gedanken trotzdem weiter um diese außergewöhnliche Besucherin, die da in dem Salon ihrer Eltern saß. Wenn es wirklich für eine Frau möglich war, Ärztin zu werden – dann könnte vielleicht sogar sie einen solchen Weg einschlagen? In ihrer Phantasie konnte sie die Stimmen schon genau hören. Sie würde dereinst die Straße entlanggehen, und die Menschen würden sich zuwispern: »Das ist Hope Bridges. Sie ist Ärztin und rettet regelmäßig Menschenleben …«

Lächelnd streifte sie ihr Kleid ab und schnürte das feuchte Korsett auf, das ihr am Leib klebte. Ja, das war ganz genau, was sie wollte … Nachdem sie sich ein warmes Hauskleid übergezogen hatte, lauschte sie noch ein Weilchen auf die Stimmen im Salon. Die Ärztin verabschiedete sich erst kurz vor dem Abendessen.

Wenig später löffelte Hope gemeinsam mit ihren Eltern eine kräftige Suppe im Salon. »Ich habe mich jetzt entschieden, was ich machen möchte!«, verkündete sie triumphierend.

Ihr Vater sah sie nachsichtig an. »Was ist dieses Mal dein Begehr? Wenn ich es richtig erinnere, dann waren es zuletzt Biologin, Dichterin, Schauspielerin und Erfinderin. Habe ich etwas vergessen? Oder die Reihenfolge durcheinandergebracht?«

Hope warf ihrem Vater einen wütenden Blick zu. »Das waren doch Kinderträume. Dieses Mal ist es ernst. Ich will Ärztin werden! So wie Elizabeth Garrett!«

William Bridges fuhr sich mit seinen knotigen Fingern durch seine weißen Haare. »Hast du auch gut zugehört? Beth hat dir doch gesagt, dass es ihr verwehrt war, einen Abschluss hier in England zu machen. Sie musste sehr viel auf sich nehmen, um als Ärztin hier in London arbeiten zu dürfen. Bist du bereit, auch diese Opfer zu bringen?«

»Bis ich studieren kann, vergehen doch noch ein paar Jahre«, belehrte Hope ihren Vater. »Bis dahin wird sich noch so viel ändern. Dafür kämpft ihr doch schließlich mit deinem Emanzipationsverein! Außerdem kann ich sicher problemlos in Beths Schule gehen, die sie gemeinsam mit Florence Nightingale gegründet hat.«

»Ein paar Jahre sind nichts, wenn man an die Unterdrückung der Frau denkt, die schon Jahrtausende währt«, murmelte William Bridges. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jetzt so schnell gehen soll. Aber vielleicht hast du ja recht, und das nächste Jahrhundert bringt den Frauen alle Rechte, die ihnen bisher verwehrt blieben …« Seine Rede wurde von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen. Ellen Bridges sprang auf und reichte ihm die Tropfen aus der Apotheke, von denen er schnell ein paar auf einen Löffel gab und hastig herunterschluckte. Der Husten ging unvermindert weiter. Hope dachte an die Worte von Beth Garrett. Was, wenn sie recht hatte und die Tropfen des Dr. Pierce nichts gegen den Husten ausrichten konnten? Mit Schweißtropfen auf der Stirn kam ihr Vater nur langsam wieder zur Ruhe. Er musterte seine Tochter nachdenklich.

»Aber wenn es dir wirklich ernst ist mit diesem Plan, dann musst du auch eine entsprechende Schulbildung haben. Du musst auf eine andere Schule! Bist du dazu bereit? Es wird dich sicher keine deiner Freundinnen auf diesem Weg begleiten.«

Auf keinen Fall wollte Hope jetzt noch einen Rückzieher machen. Sie nickte entschlossen. »Welche Schule schwebt dir denn vor?«

»Das Bedford College. Ein Internat. Du könntest uns immer noch am Wochenende besuchen. Die Direktorin ist eine gute Bekannte, ich kenne sie über den Emanzipationsverein. Sie wird dich sicher aufnehmen. Soll ich sie fragen?«

Hope nickte noch einmal. »Ja, Vater.«

»Wenn es dein Wunsch ist, Ärztin zu werden, dann werde ich dich unterstützen. Aber glaube mir … der Weg ist lang und hart, und eine Frau muss sich den Weg erst bahnen. Es gibt noch keine ausgetretenen Pfade, denen du folgen kannst.« Er sah sie aus seinen hellblauen Augen an. »Aber ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Das verspreche ich dir.«

Ellen Bridges folgte der Unterhaltung schweigend. Erst jetzt mischte sie sich zögernd ein. »William – können wir uns das Bedford College wirklich leisten? Ich weiß, es ist das beste College für Frauen, aber deine Medizin und Dr. Pierce …«

»Der alte Quacksalber«, lächelte William Bridges. »Da lege ich mein letztes Geld doch lieber in etwas Vernünftigem an. Nämlich in der Bildung meiner Tochter! Das wäre hiermit beschlossene Sache!« Seine Stimme ließ erkennen, dass er keinen Widerspruch mehr duldete.

Dresden, 1874

Hope wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie vor einem einfachen, gedrungenen Haus aus grauem Stein hielten.

Gregor zerrte den ersten Koffer von der Kutsche und bedeutete den beiden Frauen mit einer unwirschen Kopfbewegung, dass sie vor ihm eintreten sollten. Sie gehorchten zögernd.

Durch einen breiten Gang mit einem dunklen, abgetretenen Holzboden kamen Ellen und Hope in die Küche. An einem groben Eichentisch saß eine Frau mit strähnigen grauen Haaren und einem bitteren Zug um den Mund. Sie schälte Kartoffeln und sah kurz auf. »Da seid ihr ja.«

Der Ton grenzte an Unhöflichkeit. Mutter und Tochter zogen ihre nassen Mäntel aus und sahen sich verlegen an. Gregor betrat hinter ihnen den Gang und ging mit zwei Koffern sofort zur Treppe. »Ich bring die Sachen nach oben.«

Ellen machte dem unbehaglichen Schweigen ein Ende. Sie legte Hope entschlossen ihren Mantel über den Arm, machte ein paar Schritte nach vorne und umarmte Lisbeth. Ihre Stimme klang angestrengt fröhlich. »Cousine Lisbeth. Ich habe dich vermisst. Ich hätte dir so gerne London gezeigt.«

Durch diese Bemerkung besserte sich Lisbeths Laune nicht im Geringsten. Ihre Mundwinkel sanken noch tiefer. »Seit dem Missgeschick komme ich nicht mehr so viel heraus.« Sie schob sich ein wenig zurück – und zum ersten Mal konnte Hope erkennen, was es mit diesem Missgeschick auf sich hatte. Die großen Räder an dem einfachen Stuhl machten deutlich, dass Lisbeth ihre Beine nicht mehr benutzen konnte. Lisbeth musterte Hope, ohne eine Miene zu verziehen. Schließlich streckte sie die Hand aus. »Du musst Hope sein.«

Unsicher deutete Hope einen Knicks an. »Guten Tag, Tante Lisbeth.« Sie spürte den mahnenden Blick ihrer Mutter und redete weiter. »Danke, dass ihr uns aufnehmt.«

Lisbeth hob die Schultern ein wenig. »Familie ist Familie. Und seit meinem Missgeschick können wir jede Hilfe brauchen.«

»Wir gehen euch gerne zur Hand«, versicherte Ellen hastig. Unwillkürlich machte Hope einen Schritt zurück. Ihre unabhängige Mutter machte sich so klein in ihrer Dankbarkeit. Sie war froh, dass ihr Vater das nicht sehen musste.

Gregor nahm Ellens Versicherungen mit einem Achselzucken hin. »Ist nicht viel Platz unterm Dach. Aber ist ja auch nur für ein Weilchen.« Er griff nach seiner speckigen Jacke. »Ich gehe ins Wirtshaus. Essen dauert ja wohl noch.« Damit verschwand er durch die Haustür. Die drei Frauen blieben zurück, es herrschte unbehagliches Schweigen. Ellen nahm schließlich Lisbeth den Kochtopf mit den Kartoffeln ab und wuchtete ihn auf den altmodischen Herd. »Was meint Gregor denn mit ›nur ein Weilchen‹?«, fragte sie, und ein Fünkchen der alten, freimütigen Ellen blitzte dabei auf.

Lisbeth merkte nichts. »Sobald deine Hope sich eingelebt hat, werden die Galane Schlange stehen – ist ja ein frisches und gesundes Ding. So was verheiratet sich schnell.«

Hope wollte auf diesen Blödsinn eine erboste Bemerkung machen. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Ellen ihre Hand und drückte sie fest. Als Hope sie überrascht ansah, schüttelte Ellen fast unmerklich den Kopf. Gleichzeitig antwortete sie: »Wenn der rechte Mann kommt, wird es sich ergeben.«

An Lisbeth war der stumme Dialog zwischen Mutter und Tochter unbemerkt vorübergegangen. »Dresden hat viele stramme Junggesellen«, erklärte sie. »Vielleicht erbarmt sich sogar ein Offizier. Oder ein Beamter. Witwer. Mit Pension.« Zum ersten Mal verzog sich ihr Mund zu einem leichten Lächeln, während sie Daumen und Zeigefinger aneinanderrieb. Hope hielt diese altmodische Verlogenheit nicht mehr aus. Sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Ich glaube, ich möchte meine Sachen auspacken!« Damit verschwand sie zu der Treppe und machte sich auf die Suche nach ihrem neuen Zimmer. Sie musste nicht lange suchen. Eine weitere Treppe führte zu einer winzigen Kammer direkt unter dem Dach. Niedrige Balken sorgten dafür, dass sie sich ducken musste. Zwei schmale Betten mit dünnen Decken füllten fast den gesamten Raum. Ein kleiner Tisch, zwei einfache Stühle, eine schlichte Kommode und ein fadenscheiniger Teppich vervollständigten die Einrichtung. Hope sah die Waschschüssel auf dem Tisch und kräuselte verächtlich die Nase. Hatten sie hier in Dresden etwa keine Waschzimmer? Barbaren.

Achtlos warf sie ihre wenige Wäsche in die Kommode. Ellen kam herein und räumte ihre Kleidung schweigend ein. Aber anders als vorher in der Küche war dieses Schweigen vertraut und voller Verständnis. Schließlich murmelte Ellen: »Sie hat es nicht so gemeint.«

»Man hat uns nicht als Familie aufgenommen«, entgegnete Hope. »Sondern als Hausmägde eingestellt. Wir arbeiten gegen Kost und Logis. Das heißt: Du arbeitest gegen Kost und Logis, und ich werde so schnell wie möglich verheiratet. Wenn Papa das gesehen hätte …« Sie brach mitten im Satz ab.

»Du siehst doch, wie das Schicksal Lisbeth geschlagen hat. Wie kann ich es da ablehnen, ihr zur Hand zu gehen?«

»Und ich?« Hope spürte den Zorn trotz ihrer Erschöpfung nach der langen Reise. »Soll ich mich auf dem Markt feilbieten, zwischen Hühnern und Kühen? Junges Gemüse für einen alten Sack?«

»Sprich nicht so! Dein Vater war beträchtlich älter als ich – doch das hat der Liebe keinen Abbruch getan.«

»Ich will aber nicht heiraten!« Hope klang trotzig.

Ellen legte den Arm um ihre unglückliche Tochter. »Und niemand verlangt das von dir.« Sie lächelte leise. »Mit offenen Augen sollst du durch die Gegend laufen. Und nicht gar so dickköpfig sein, wenn ein Kavalier dich nach deinem Namen fragt.«

Hope musterte ihre Mutter. »Hast du es so eilig, mich loszuwerden?«

»Nein.« Ellen schüttelte müde den Kopf. »Ich habe fürwahr schon genug verloren.«

Mit einem Schlag kam Hope sich selbstsüchtig vor. Sie jammerte über ihre Zukunft – und die Zukunft ihrer Mutter lag schon hinter ihr. Was jetzt noch kommen sollte, konnte nur dunkler sein als alles, was sie bisher erlebt hatte. Welch düstere Aussichten mit noch nicht einmal vierzig Jahren! Sie umarmte ihre Mutter.

»Es tut mir leid. Das habe ich nicht gemeint. Wirklich nicht.«

»Eine Ehe ist eine gute Sache«, flüsterte Ellen leise. »Sie nimmt das flatterhafte Herz in die Pflicht. Daran kannst du dich auch in schweren Stunden halten. Wie Lisbeth jetzt bei Gregor.«

»Glücklich scheinen sie nicht zu sein«, beobachtete Hope. »Nicht so wie du und Papa.«

»Dein Vater und ich – das war eine andere Welt. Seine Liebe war so groß wie sein Respekt. Doch das zu erwarten, hieße, im Meer einen einzelnen Tropfen zu suchen.«

Hope ließ sich auf ihr Bett fallen, das unter ihrem Gewicht quietschend nachgab. Sie seufzte. »Dann muss ich fleißig ins Wasser starren, scheint mir.«

Ellen sah ihre Tochter mit einem tapferen Lächeln an. Dann begann sie langsam, ihr Kleid aufzuknöpfen. »Es war eine lange Reise. Lass uns erst einmal schlafen. Morgen ist ein neuer Tag.« Sie strich mit dem Finger über die staubige Kommode und verzog den Mund mit unterdrücktem Ekel. »Dann können wir auch unser neues Zuhause ein wenig behaglicher gestalten.«

Müde ließ Hope sich auf ihre Pritsche fallen. Aber so schwer ihre Augenlider auch waren, sie konnte nicht einschlafen. Sie lauschte den Atemzügen ihrer Mutter, während ihre Gedanken langsam wieder in die Vergangenheit rutschten.

London, 1873

»Öffnet die Hefte!«, schnarrte der kleine, schwarzhaarige Französischlehrer des Bedford College. Hope griff zu ihrer Schreibfeder und wartete auf seine Weisungen, als die Tür zu dem kleinen Zimmer aufflog. Ein Dutzend Mädchenköpfe hob sich und sahen gespannt die Rektorin an, die ihren strengen Blick über die Schülerinnen gleiten ließ. Als sie Hope sah, nickte sie fast unmerklich. »Du kommst mit mir!«

Ohne einen weiteren Blick an Hope zu verschwenden, wandte sie sich um und ging den dunklen Gang entlang zu ihrem Büro. Hope folgte ihr, so schnell es ging. Was sie wohl dieses Mal angestellt hatte? Sie war sich überhaupt keiner Schuld bewusst. Sie war nicht einmal nach dem Löschen der Lampen bei Esther im Zimmer gewesen.

Erst in ihrem Büro drehte sich die Rektorin um und musterte Hope. Die fing schon an, das Schweigen als unangenehm zu empfinden, als sich die Rektorin endlich räusperte.

»Deine Mutter hat heute Morgen Nachricht geschickt. Deinem Vater geht es nicht gut. Es scheint …«, die Frau zögerte einen kurzen Moment, bevor sie fortfuhr, »… dem Ende entgegenzugehen.«

Die Zeit schien mit einem Schlag stillzustehen. Hope hörte vor dem Fenster einen Vogel singen, in dem Licht des Spätnachmittags tanzten ein paar Staubkörnchen, der Stuhl der Rektorin quietschte leise, als sie sich nach vorne beugte.

»Du kannst gerne nach Hause gehen. Du solltest dich von ihm verabschieden.«

Hope saß wie angewurzelt auf dem harten Holzstuhl. Ihr Vater? Es war doch nur ein harmloser Husten. Das hatte er doch immer gesagt.

Die Rektorin stand auf und sah auf Hope herab. Ihre sonst so strengen Gesichtszüge wirkten fast weich, als sie die Schülerin musterte. »Geh jetzt. Ich gebe deinem Klassenlehrer Bescheid, dass du wegen einer dringenden Familienangelegenheit beurlaubt bist.«

Hope erhob sich langsam und ging zur Tür. Ihre Beine fühlten sich steif und merkwürdig schwach an, bis ihr ein neuer Gedanke kam. Dieser Dr. Pierce hatte sich vielleicht geirrt. Beth Garrett hatte doch auch nichts von ihm gehalten, und sogar ihr Vater hatte ihn schon häufiger einen Quacksalber geheißen. Hope atmete tief durch. Das musste es sein. Ein Versehen, das war alles. Wahrscheinlich hatte ihr Vater nur wieder einen schweren Hustenanfall, und alle sahen viel zu schwarz. Sie musste nur schnell nach Hause und sagen, dass sie einen besseren Arzt rufen sollten. Dann würde William Bridges sicher geheilt werden können. So ein Mann starb doch nicht an einem Husten. Sie nickte der Rektorin noch einmal zu und rang sich ein Lächeln ab. »Vielen Dank für Ihr Verständnis. Ich werde sofort nach Hause gehen. Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm …«

Die Rektorin nickte nur. Doch das Mitleid verschwand nicht aus ihren Augen, als Hope den Raum verließ.

Die Untergrundbahn brachte Hope schnell in ihr Elternhaus zurück. Als sie die Haustür aufdrückte, wirkte alles unendlich vertraut. Der lange Gang, die ausgetretenen Stufen, der Geruch nach Büchern und dem Lavendelparfum ihrer Mutter. Hope stürzte in den Salon, in dem sie ihre Mutter und Dr. Pierce bei einer Tasse Tee fand.

»Mutter!« Hope umarmte die schmale Frau. »Wie geht es ihm? Im College hat die Rektorin mir gesagt, dass es bald mit ihm zu Ende gehen würde. Aber das ist doch sicher ein Irrtum?!« Flehend sah sie ihre Mutter an, die ihrem Blick auswich und damit beschäftigt war, ein Taschentuch in ihren Händen zu zerknüllen. Hopes Augen füllten sich mit Tränen. »Sag mir, dass es ein Irrtum ist, bitte!«

Dr. Pierce räusperte sich. »Mr. Bridges wird vermutlich nicht mehr aufwachen. Ihrer eigenen Gesundheit zuliebe rate ich Ihnen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, bevor Sie in sein Zimmer treten.« Er zögerte, bevor er an Hopes Mutter gewandt fortfuhr. »Die Rechnung lasse ich Ihnen in den nächsten Tagen von meinem Boten bringen.«

Dr. Pierce erhob sich, setzte seinen Hut auf und nickte Ellen Bridges zu, bevor er ohne einen weiteren Gruß das Zimmer verließ.

Hope sah ihm fassungslos hinterher. »Der hat doch noch gar nicht alles ausprobiert. Ich habe erst neulich von Dr. Malcotts Lungentropfen gelesen, die sollen …«

»Lass gut sein.« Die Stimme ihrer Mutter klang merkwürdig brüchig. »Du hast Dr. Pierce doch gehört. Lass es gut sein.«

»Dann muss ich zu Vater!« Noch bevor Hope sich umdrehen konnte, stand ihre Mutter vor ihr.

»Damit du auch noch krank wirst? Das werde ich nicht zulassen. Du gehst auf dein Zimmer. Und dieses Mal dulde ich keine Widerrede!«

Langsam stieg Hope die Treppe nach oben. Etwas später war es sicher möglich, sich zu ihrem Vater zu schleichen. Bis dahin gab sie besser vor, eine gefügige Tochter zu sein.

Es dauerte lange an diesem Abend, bis Hope hörte, wie ihre Mutter langsam über den Gang zu ihrem Schlafzimmer ging. Ihre Schritte schienen zögerlich, fast so, als ob der Lebenswille aus Ellen Bridges entwichen wäre. Leise schlug die Tür zum elterlichen Schlafzimmer zu.

Hope schlüpfte unter den dicken Decken hervor und schlich sich zu ihrer Tür. Nach kurzem Lauschen griff sie an die Klinke und öffnete sie einen Spaltbreit. Ein kurzer Blick beruhigte sie: Offensichtlich hatte Mutter sich wirklich zur Ruhe gelegt. Schnell legte sie sich noch eine Stola um die Schultern, dann huschte sie die Treppen hinunter. Die knarrende Stufe ließ sie geschickt aus – zu oft hatte sie das Geräusch in ihrer Kindheit verraten, wenn sie heimlich die Gespräche ihrer Eltern belauscht hatte.

Augenblicke später öffnete sie die Tür zur Bibliothek ihres Vaters. Sie atmete tief den Geruch ein: die leicht muffigen Bücher, Druckerschwärze und der süßliche Pfeifentabak würden für immer mit diesem Ort verbunden sein. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ihr Vater sein Bett in dieses Zimmer verlegt, um den Schlaf seiner Frau nicht zu stören. Hope wurde bewusst, dass sie von dieser Veränderung nichts erfahren hatte. Die neuen Eindrücke und Erlebnisse in Bedford waren mehr als genug für sie gewesen, die Gesundheit ihres Vaters erschien ihr nebensächlich – er hatte schließlich immer nur von dem lästigen Husten geredet. Jetzt war sein Wohlergehen das Wichtigste der Welt. Hope hörte ein leise rasselndes, regelmäßiges Atmen aus der Ecke, in der das Sofa stand, das für ihren Vater nach Meinung von Dr. Pierce zur letzten Ruhestätte werden sollte.

In einer Ecke sah sie den Ohrensessel ihres Vaters. In ihm saß der jugendliche Assistent von Dr. Pierce. Er schlief mit weit offenem Mund, ein leeres Whiskyglas zeugte noch von seinem Zeitvertreib an diesem Abend. Hope wandte ihren Blick ab.

Sie lief zum Bett ihres Vaters und griff nach seiner Hand, die auf dem Laken lag. Sie fühlte sich kalt und leblos an. Gerade als sie schon das Schlimmste befürchtete, flatterten seine Augenlider etwas und öffneten sich ein wenig. »Hope. Mein Kind.«

»Papa! Dr. Pierce meinte, du würdest nicht mehr aufwachen!«

William Bridges schnaubte verächtlich durch die Nase – und krümmte sich sofort bei einem quälenden Hustenanfall. Langsam beruhigte sich seine Atmung wieder. »Dummer Quacksalber!«, keuchte er. »Möchte wissen, was der wieder kostet.«

»Streng dich nicht an«, flüsterte Hope erschrocken.

»Jetzt ist es auch schon egal!«, knurrte er und zeigte dabei ein wenig von seinem Kampfgeist, der ihn früher ausgezeichnet hatte.

»Sprich nicht so!«, meinte Hope streng. »Ich hole Mama!«

Ihr Vater griff nach ihrer Hand. »Lass gut sein. Ellen soll sich nicht unnötig grämen. Bleib nur ein wenig bei mir sitzen.«

»Sie wollten es mir verbieten«, gestand Hope.

»Bist halt meine Tochter. Du hast schon als kleines Mädchen kein ›Nein‹ akzeptiert.«

Hope lächelte. Sie erinnerte sich an die vielen kleinen Streitigkeiten mit ihrem Vater. Immer ging es um Kleinigkeiten. Ein neues Kleid, das zu teuer war. Eine Stunde zu lange im Park. Ein abfälliger Spruch über dümmliche Mitmenschen. Was für eine Vergeudung, so viel Zeit mit solch sinnlosen Diskussionen um Nichtigkeiten zu vertun, dachte sie bei sich. Ihre Stimme war nur ein leises Wispern. »Es tut mir alles so leid.«

»Ach was!«, unterbrach er sie. »Es war eine Freude, dich als Tochter zu haben. Du musst dich immer erinnern: Was wirklich zählt, das muss man sich erkämpfen. Es wird einem nichts geschenkt.« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Danach rang er nach Atem. Hope rechnete schon nicht mehr damit, dass er noch einmal das Wort an sie richten würde, als sie sein heiseres Flüstern hörte. »Vergiss es nie, Hope. Dein Name … dein Name ist ein Versprechen. Hoffnung.«

Hope küsste seine Hand. Sie konnte nicht reden, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Langsam legte sie den Kopf an seine Seite und lauschte dem rasselnden Atem. So schlief sie ein, Hand in Hand mit ihrem alten Vater, der die letzten schweren Atemzüge seines Lebens tat.

»Was machen Sie denn hier?«

Die aufgeregte Stimme weckte Hope aus ihren wirren Träumen. Als sie die Augen öffnete, brauchte sie einen Moment, um sich wieder zu erinnern, wo sie eigentlich war. Im Bett ihres Vaters. Das erste Morgenlicht fiel bereits durch die zugezogenen, schweren Vorhänge. Dr. Pierces Assistent stand über sie und ihren Vater gebeugt. Er hielt dessen Handgelenk und schloss seine Augen. Dann schüttelte er den Kopf. »Sein Leiden hat endlich ein Ende.«

Hope richtete sich mühsam auf. »Ein Ende? Das kann nicht sein. Eben hat er noch mit mir geredet.«

Der Assistent sah Hope aus seinen blassen blauen Augen einen Moment lang ausdruckslos an. Dann versuchte er ein kleines Lächeln, das seine Augen allerdings nicht erreichte. »Mit Verlaub, Miss Hope. Ihr Vater hat seit Tagen kein Wort mehr gesprochen. Sie müssen geträumt haben. Das kann passieren. Immerhin sind Sie ja sehr aufgewühlt. Aber jetzt wird es Zeit, endgültig Abschied zu nehmen.«

Hope spürte, wie sich schon wieder Tränen in ihren Augen sammelten. Mit erstickter Stimme widersprach sie. »Er hat gesagt, ich muss kämpfen …«

»Das haben Sie geträumt!« Die Stimme klang ungeduldig. »Und jetzt muss jemand Ihre Mutter holen. Könnten Sie …?«

Wie in Trance erhob Hope sich von dem Bett. Sie warf noch einen langen Blick auf den Mann, der ihr ein so guter Vater gewesen war. Der Assistent zog bereits ein Laken über sein stilles Gesicht mit den tief eingegrabenen Falten. Langsam erklomm Hope die Treppe. Es war ihre Pflicht. Sie musste ihrer Mutter die traurige Botschaft überbringen.

Als ihre Hand auf der Türklinke lag, hielt sie inne. Was sollte sie ihrer Mutter nur sagen? Wenn sie an ihre Eltern dachte, dann fielen ihr unendlich viele Bilder ein, die das große Vertrauen und die Liebe dieser beiden Menschen zeigten. Ein Blick, eine Berührung, ein Wort. Alles Dinge, auf die ihre Mutter künftig verzichten musste. Was für ein hartes Los. Vorsichtig schob Hope die Tür zum Schlafzimmer auf. Zu ihrer Überraschung war ihre Mutter nicht im Bett, sondern saß vollständig angezogen am Fenster. Hope erkannte das gleiche dunkle Kleid mit dem schmalen Spitzenkragen, das ihre Mutter schon gestern getragen hatte. War sie womöglich gar nicht ins Bett gegangen? Ellen Bridges sah regungslos auf die Straße. Ohne Hope anzusehen, fing sie an zu sprechen. »Er hat mich heute Nacht verlassen, nicht wahr?«

Hope konnte nur nicken.

Ellen Bridges nickte, so als ob Hope ihr etwas Selbstverständliches mitgeteilt hätte. Etwas, das sie schon lange gewusst hatte. »Ich habe es gespürt. Ich habe immer gewusst, dass er vor mir gehen wird. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben, wenn der eigene Mann vierzig Jahre älter ist. Aber wenn es dann wirklich eintritt … Ich habe mir den Moment so oft vorgestellt in den letzten Monaten. Und doch – vorbereitet ist man eigentlich nie …«

Gedankenverloren strich sie über eine Taschenuhr, die sie in der Hand hielt. Hope hatte das Schmuckstück mit der auffallenden Perle schon Hunderte Male gesehen. »Die gemeinsame Zeit. Sie ist zu kurz. Sie wäre immer zu kurz gewesen, egal, wie viel Zeit uns der Allmächtige gelassen hätte …«

Im sanften Morgenlicht wirkte Ellen Bridges unendlich jung und zerbrechlich. Sie ist doch erst Mitte dreißig, ermahnte Hope sich selber. Vielleicht fand sie in ihrem Leben ja noch einmal einen Mann, der sich um sie kümmerte. Aber ob sie ein zweites Mal die Liebe erleben durfte, das wagte auch Hope zu bezweifeln. Einen Mann wie ihren Vater gab es ganz sicher kein zweites Mal. Vorsichtig legte sie ihrer Mutter die Hand auf den Arm.

»Mama – wir müssen jetzt nach unten gehen. Du musst Anweisungen für die Beerdigung geben. Einen Priester rufen. Papas Freunden von seinem Tod Nachricht geben …«

»Ich weiß, mein Kind.« Ellen Bridges lächelte nachsichtig. »Man lässt mir keine Zeit für eitles Selbstmitleid. Ich muss sofort wieder organisieren, funktionieren und alles richtig machen.« Erst jetzt wandte sie ihren Blick von der Straße ab. Sie sah ihre Tochter mit ihren tiefblauen Augen an – die gleichen Augen, die sie unverwandt ansahen. Sie streckte ihre Hand aus. »Komm. Wir wollen uns um alles kümmern.«

Die Glocke läutete. Immer wieder der gleiche Ton, der ohne Unterlass das immer Gleiche verkündete. Er ist tot, tot, tot. Hope schauderte trotz des warmen Sommerwetters. Ein strahlend blauer Himmel, an dem hoch oben die Schwalben durch die Luft tauchten – die heitere Szene schien ihr wie ein Hohn, während ihre eigene Welt zusammenbrach. Freunde und Verwandte erwiesen dem Verstorbenen am Grab die letzte Ehre, bevor sie Ellen und Hope die Hand gaben.

Hope sah beschämt auf den Boden. Sie erinnerte sich noch gut an das Gespräch mit ihrer Mutter am Vorabend. Ellen Bridges hatte frei heraus erklärt, dass sie das Haus aufgeben müssten. Und das Bedford College sei ebenfalls jenseits der Möglichkeiten der Familie ohne den Ernährer. Hope meinte noch immer die Stimme ihrer Mutter zu hören.

»Wie du weißt, haben wir wenig Geld …«

Arglos zuckte Hope mit den Achseln: »Dann werden wir uns eben einschränken. Vielleicht eine kleinere Wohnung nehmen – Athelstan sagt, dass man in Kensington …«

Ellen schüttelte den Kopf. »Nein. Wir gehen nach Deutschland.«

Hope blinzelte vor Überraschung. »Deutschland? Aber wieso …?«

»Du weißt, dass ich in Dresden Familie habe.«

»Aber unsere Familie ist doch hier! In London! Hier lebt Athelstan …«

Ellen sah Hope bittend an. »Versteh doch. Es ist die Familie deines Vaters. Sie haben uns seit Williams Erkrankung unterstützt. Zum Dank hast du diese unglückselige Verbindung mit Athelstan angefangen. Seine Eltern sind alles andere als erfreut. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr bereit sind, mir Geld zu geben.«

»Das ist Erpressung!« Hope war fassungslos.

»Nein«, entgegnete ihr Mutter trocken. »Das ist die Realität. Ich habe es bisher versucht, vor dir zu verbergen. Aber jetzt kann ich es nicht mehr geheim halten.«

»Das kann nicht wahr sein. Sag, dass es nicht stimmt. Du erlaubst dir einen Scherz mit mir!« Hope sah sich suchend um. »Und überhaupt – wo ist Athelstan? Er wollte doch heute Abend kommen!«

Ellen Bridges nahm ihre Tochter in die Arme. »Mein armer Liebling. Er wird nicht kommen. Seine Eltern haben ihm angedroht, dass sie ihm sein Erbe entziehen, wenn er hier auftauchen sollte. Er hat sich entschieden. Du wirst ihn nicht mehr sehen.« Sie nestelte einen Briefumschlag aus ihrer kleinen Handtasche und reichte ihn Hope. »Das soll ich dir geben.«

Hastig riss Hope den Umschlag auf und zog den Zettel heraus. Es war kein langer Brief. Nur ein einziger Satz, offensichtlich in großer Eile geschrieben. »Es tut mir leid! A.«

Ellen nahm ihre Tochter in den Arm. »Wenn du Menschen helfen willst, dann kannst du doch auch Krankenschwester werden. Oder noch besser: Werde Lehrerin. Das ist ein ehrbarer Beruf, der für Frauen anerkannt ist …«

Hope hatte es nicht gewagt zu widersprechen. Was sollte sie auch sagen? Das Geld für Bedford fehlte, da half auch kein Wehklagen. Die kleinen Ersparnisse der Familie waren von der Behandlung durch Dr. Pierce völlig aufgezehrt worden. Hope wusste: sie waren nicht reich. Ihre hochfliegenden Pläne waren durch William Bridges Tod sehr plötzlich wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet.

Dresden, 1874

Der massive Bau aus dunklen Steinen sah wenig einladend aus. Eine weit geschwungene Treppe führte zu den schweren Eingangstüren aus dunklem Holz. Hope sah sich zögernd um, bevor sie die Stufen erklomm, die nass im ewigen Dresdner Regen glänzten. Hope fand sich in einer geräumigen Vorhalle wieder, in der es nach Bohnerwachs und dem Schweiß von halbwüchsigen Männern roch. Sie sah an sich herunter. Hoffentlich war das schlichte dunkelblaue Kleid passend für ihr Anliegen. Langsam ging sie einen Gang hinunter und fühlte in sich ein Gefühl wie einst im Bedford College aufsteigen. Irgendwie beobachtet und sicher schuldig. Es würde sich schon eine Schulregel finden, die man nicht eingehalten hatte. Sie ermahnte sich selbst. Schließlich wollte sie hier nicht als Schülerin antreten, sondern Sprachen lehren. Eine Bekannte von Lisbeth hatte ihr anvertraut, dass in der Kreuzschule ein Sprachlehrer erkrankt sei. »Der wird wohl nicht mehr«, hatte sie gewispert. Der Rektor sei sicher schon auf der Suche nach einer Vertretung.

Neugierig spähte Hope in ein Klassenzimmer, dessen Tür nur halb geschlossen war. Anfangs sah sie nur die gleichgültig-entsetzten Gesichter der Schüler, dann den erhobenen Arm des Lehrers. Ein schmaler, biegsamer Stock zischte durch die Luft, traf klatschend sein Opfer. Hope unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Der Lehrer hob wieder den Stock, erneut zischte es. Hope machte angeekelt einen Schritt nach hinten – und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der in diesem Augenblick den Gang entlanggestürmt war. Ihre Unterlagen, die sie die ganze Zeit unter den Arm geklemmt hatte, flogen in hohem Bogen auf den Holzboden.

»Hoppsala, das tut mir leid!«, meinte eine tiefe Stimme, während Hope sich auf die Knie fallen ließ, um die Blätter zusammenzusammeln. »Ist schon in Ordnung!«, stammelte sie.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihr Opfer sie belustigt betrachtete. »Wo hatte ich nur meine Augen?«, meinte er. »Ich habe Sie nie in unserer Schule bemerkt.« Dabei bückte er sich, um ebenfalls ein paar Blätter aufzuheben.

Hope zupfte sie ihm entschlossen aus der Hand. »Ich muss zum Rektor!«, erklärte sie.

»Haben Sie denn etwas ausgefressen?« Die Stimme klang immer noch amüsiert. Offensichtlich schien der Mann sich prächtig auf Hopes Kosten zu unterhalten.

»Nein, wieso?« Ohne einen weiteren Gruß machte sie sich auf den Weg.

Verblüfft sah er ihr nach. »Na ja … wenn Sie zum Rektor müssen …« Aber Hope war schon um die Ecke verschwunden.

Sie hatte Glück und fand sich direkt vor dem Büro des Rektors wieder. Eine spitznasige Sekretärin sah sie im Vorzimmer über ihren Kneifer hinweg an. »In welcher Angelegenheit wollen Sie Rektor Meissner sprechen?«

»Ich habe gehört, der Englischlehrer der Schule sei erkrankt. Da kann ich helfen. Englisch ist meine Muttersprache …«

»Was man ohne Zweifel an Ihrem Akzent erkennen kann!« Die Sekretärin musterte sie. »Aber Sie haben recht. Wen darf ich melden?«

»Hope Bridges ist mein Name – hier sind meine Unterlagen. Ich kann auch zu einem anderen Zeitpunkt …«

»Nein, nein«, tönte es aus dem Nachbarzimmer. »Schicken Sie die junge Dame doch sofort zu mir, Fräulein Sophia. Vielleicht kann sie uns aus unserem Engpass helfen.«

Fräulein Sophia nickte Hope etwas säuerlich zu. »Wenn Herr Rektor das Nichterlernen der englischen Sprache denn wirklich als einen Mangel sehen will … Gehen Sie in Gottes Namen zu ihm.«

Hinter dem Schreibtisch thronte ein beleibter, älterer Mann. Er streckte die Hand nach Hopes Unterlagen aus. »Geben Sie mir das. Und erklären Sie mir doch bitte, was Sie für mich tun können, Fräulein Bridges.«

»Ich könnte Unterricht geben. In Englisch, Latein oder auch in Chemie. Sie sehen, ich habe ein exzellentes Zeugnis aus London.«

Meissner wiegte seinen schweren Schädel. »Englisch also. Das könnte ein Problem sein.«

»Warum?« Hope war hörbar überrascht. »Lehrt man denn hier kein Englisch mehr?«

»Lehren schon«, seufzte Meissner. »Allein, das Interesse hat seit der Reichsgründung nachgelassen. Einige Eltern haben ihre Söhne bereits aus dem fremdsprachlichen Unterricht herausgenommen. Das Deutsche und das Militär haben im Moment stärkere Konjunktur.«

»Aber wie soll man denn in Frieden leben, wenn man einander nicht versteht?« Hope verstand nicht, warum man plötzlich nicht mehr ihre Heimatsprache lernen wollte. Ein Lächeln flog über Meissners Gesicht. »Es zeugt von Ihrem gutem Charakter, dass Sie glauben, jemand sei ernsthaft am Frieden interessiert. Oder von Ihrer Jugend. Sie haben noch keine Erfahrung mit den Dingen, die die Welt bewegen …«

»Geben Sie mir doch eine Chance!« Hope verlegte sich aufs Bitten. Wenn sie diese Arbeit machte, dann konnten Lisbeth und Gregor ihr nicht mehr ständig vorwerfen, dass sie ihnen nur auf der Tasche liegen würde.

»Meinetwegen«, willigte Meissner ein. »Ich werde es im Kollegium der Lehrer besprechen. Wenn wir uns entschieden haben, dann lassen wir es Sie wissen. Wir haben ja Ihre Adresse.«

Zufrieden erhob Hope sich und reichte dem Schulrektor die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns in nächster Zeit noch häufig. Ich verspreche Ihnen: Sie werden es nicht bereuen.«

»Das werde ich sicher«, lächelte Meissner. »Wenn ich eine Engländerin anstelle … Aber ich kann Sie und Ihre Art gut leiden. Sie werden unsere Schule bereichern …«

Mit sich und dem Gespräch überaus zufrieden verließ Hope das Direktorium mit schnellen Schritten auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war. Nach den Geräuschen zu urteilen, war inzwischen Pause. Die Rufe der Schüler drangen aus dem Pausenhof nach innen, während die Flure leer und verlassen lagen. Erst als Hope an dem Klassenzimmer vorbeikam, in dem noch vor wenigen Minuten ein Schüler gezüchtigt worden war, wurden ihre Schritte langsamer.

Konnte sie die Schüler vor den Schmerzen bewahren? Sie hatte noch nie daran geglaubt, dass man eine bessere Leistung durch Schläge erreichen konnte. Wenn ein Schüler nicht aus Spaß am Wissen lernen wollte, dann würde er es auch nicht aus Angst vor den Schlägen tun. Nur Begeisterung brachte Schüler freiwillig an ihre Schreibtische und in die Bibliotheken.

Aber was, wenn sie jetzt erwischt würde? Dann konnte Meissner nicht einmal mehr daran denken, ihre Bewerbung dem Kollegium der Lehrer vorzuschlagen – und der gute Eindruck, den sie bei ihm hinterlassen hatte, war sicher dahin. Sie sah noch einmal den Gang entlang in beide Richtungen. Immer noch keine Menschenseele in Sicht.

Ohne einen weiteren Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, huschte sie mit wippenden Zöpfen in das Klassenzimmer. Der Stock lehnte hinter dem Pult an der Wand, eine beständige Mahnung an die Schüler, welche Strafe ihnen drohte, wenn sie sich ungehörig zeigten. Hope griff ohne Zögern nach dem Holz und verbarg es unter ihrem langen Mantel. Nur Augenblicke später war sie wieder auf dem Gang – keinen Moment zu spät. Um die Ecke kam der gut aussehende Lehrer, mit dem sie noch vor wenigen Minuten zusammengestoßen war. Er schien hocherfreut, sie noch einmal zu sehen. Sein Gesicht leuchtete auf.

»Junge Frau!«

Hope presste den Stock unter dem Mantel an sich und täuschte vor, dass sie ihn weder gesehen noch gehört hatte. Sie strebte weiter dem Ausgang zu. Er ließ sich aber leider nicht so leicht abschütteln. Hinter ihr rief er mit einem drängenden Unterton. »So warten Sie doch einen Moment!«

Wenn sie irgendwann einmal in einem Kollegium mit ihm zusammenarbeiten sollte, dann konnte sie es sich kaum leisten, ihn weiter zu ignorieren. Hope zwang sich zu ihrem verbindlichsten Lächeln, als sie sich vorsichtig umdrehte. »Es tut mir leid. Mir drängt die Zeit!«

Sein Blick bekam etwas von einem Hund, der am Mittagstisch um einen Brocken Fleisch bettelte. »Dann verraten Sie mir doch wenigstens Ihren Namen!«