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Luise Schreiber genießt ihren Auslandsaufenthalt in Italien, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Schwester erreicht. Sie kann nicht begreifen, dass ausgerechnet Sandra sich das Leben genommen haben soll. Niemals hat sie Anzeichen für Probleme oder Sorgen gezeigt. Ihr Abschiedsbrief verdeutlicht, dass sie verzweifelt war, aber die Ursache dafür bleibt weiter im Dunkeln. Sandra ist verzweifelt und wütend. Warum hat sie nichts davon mitbekommen? Und warum ist der Brief nicht an sie, sondern an einen David adressiert? Hals über Kopf reist Luise nach Deutschland zurück, um mehr über plötzlichen Tod ihrer Schwester zu erfahren.
Als Luise einen Schwächeanfall erleidet, landet sie zufällig an Sandras Arbeitsplatz in der Waldner-Klinik und trifft dort sowohl auf den aushelfenden Arzt Dr. Stefan Frank als auch auf den hilfsbereiten Krankenpfleger David, an den Sandras Abschiedsbrief ging.
Luise wittert ihre Chance und spricht ihn auf den Tod ihrer Schwester an. David weicht ihr aus oder verstrickt sich in Lügen. Luise kann ihm nicht vertrauen. Und das, obwohl ihr Herz ausgerechnet in seiner Nähe so stark schlägt ...
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Viel zu früh gegangen
Vorschau
Impressum
Viel zu früh gegangen
Luise will den plötzlichen Tod ihrer Schwester aufklären
Luise Schreiber genießt ihren Auslandsaufenthalt in Italien, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Schwester erreicht. Sie kann nicht begreifen, dass ausgerechnet Sandra sich das Leben genommen haben soll. Niemals hat sie Anzeichen für Probleme oder Sorgen gezeigt. Ihr Abschiedsbrief verdeutlicht, dass sie verzweifelt war, aber die Ursache dafür bleibt weiter im Dunkeln. Sandra ist verzweifelt und wütend. Warum hat sie nichts davon mitbekommen? Und warum ist der Brief nicht an sie, sondern an einen David adressiert? Hals über Kopf reist Luise nach Deutschland zurück, um mehr über plötzlichen Tod ihrer Schwester zu erfahren.
Als Luise einen Schwächeanfall erleidet, landet sie zufällig an Sandras Arbeitsplatz in der Waldner-Klinik und trifft dort sowohl auf den aushelfenden Arzt Dr. Stefan Frank als auch auf den hilfsbereiten Krankenpfleger David, an den Sandras Abschiedsbrief ging.
Luise wittert ihre Chance und spricht ihn auf den Tod ihrer Schwester an. David weicht ihr aus oder verstrickt sich in Lügen. Luise kann ihm nicht vertrauen. Und das, obwohl ihr Herz ausgerechnet in seiner Nähe so stark schlägt ...
Luise Schreiber kehrte spät abends aus dem Nationalpark »Cinque Terre« in ihre Wohnung mitten im Herzen Genuas zurück. Liguriens Haupt- und Hafenstadt empfing sie freundlich, wie sie es seit einem halben Jahr gewohnt war. Man grüßte oder bot ihr ein Eis aufs Haus an. Der Sommer war früher gekommen, als sie alle gedacht hatten. Selbst am Wasser hielt man es kaum eine Stunde am Stück aus, sondern suchte den Schatten der zahlreichen Cafés und Museen.
Die Touristen zog es zumeist zum Aquarium oder zur Kathedrale San Lorenzo. Luise wusste mittlerweile, wie sie den Menschentrauben am besten ausweichen konnte. Sie kannte die vielen Gassen, Nebenstraßen und Geheimwege quer durch Genua in- und auswendig.
Sie schloss die Wohnung im zweiten Stock eines Altbaus auf und schlüpfte aus den Schuhen.
»Buona sera, Alfredo«, begrüßte sie ihren Mitbewohner, der in der Küche an einem Modell saß und kurz aufsah, als sie ihren Kopf durch die Tür steckte.
»Buon giorno, Lulu«, antwortete er. »Du kommst spät. Warst du etwa endlich mit einem Mann aus?« Seine Augenbrauen hoben und senkten sich vielsagend.
Luise knuffte ihm spielerisch gegen die Schulter.
»Du weißt doch, dass ich meinen privaten Kreis klein halte. Bis auf ...«
»Bis auf deine Schwester gibt es da niemanden, ich weiß«, beendete er ihren Satz augenrollend. »Meinst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, nicht nur für deine Arbeit als Architektin zu leben?« Er wischte sich seine klebrigen Hände an einem Tuch trocken.
»Ach, weißt du ...«, begann sie und wollte nicht schon wieder antworten, dass ihr der Richtige einfach noch nicht begegnet war.
Luise suchte weder nach einer neuen Liebe, noch wollte sie ihren Kopf und ihr Herz dafür verschwenden, eine Beziehung aufzubauen, die sowieso wieder in die Brüche ging. Nein, davon hatte sie genug!
»Ich konzentriere mich lieber auf meine Karriere hier in Italien. Dieses Jahr wird mir sicher einen Vorteil bringen, wenn ich wieder in München bin. Ich vermisse Weißwurst, Bier und Brezeln.«
Alfredo verzog angewidert das Gesicht.
»Wie du so etwas runterbekommst, ist mir schleierhaft. Gib ruhig zu, dass du deine kleine Schwester vermisst.«
Luise lächelt ertappt. Sandra war mehr wie eine Zwillingsschwester für sie, obwohl die beiden zwei Jahre trennten. Sie freute sich darauf, irgendwann nicht nur über Facetime und Chatrooms mit Sandra zu kommunizieren. Auch das war mit der Zeit immer seltener geworden.
»Noch ein halbes Jahr, dann bin ich ja wieder zu Hause. Obwohl ich Genua und dich ebenso vermissen werde.« Sie wollte ihrem Freund durch das schwarze Haar wuscheln, aber er wich ihr geschickt aus.
»Wie findest du mein Modell?«, lenkte Alfredo ihre Aufmerksamkeit auf den Tisch. »Ich habe den halben Tag für die Berechnungen gebraucht. Es muss einfach perfekt werden.«
»Ist das der neue Funkturm? Du nimmst also doch an diesem Wettbewerb teil? Ich dachte, das sei nichts für den großen Alfredo Chiavelli.«
Sie malte Gänsefüßchen in die Luft und setzte sich. Luise schob das frisch geklebte Modell vorsichtig beiseite, um ihre Arme auf die Tischplatte zu legen.
Alfredo erwiderte ihr Schmunzeln. »Ich habe meine Meinung eben geändert.«
»Und welcher schöne Mann ist dieses Mal schuld?«
Zuerst wollte ihr Freund protestieren, schloss den Mund aber sofort wieder und nickte.
»Du hast mich erwischt. Es gibt da diesen Kommilitonen an der Uni, Cristiano. Er hat mich erst auf das Projekt gebracht. Wir treffen uns nächste Woche auf einen Kaffee und sehen dann weiter.«
Luise sah ihm die Aufregung deutlich an und lächelte warm.
»Du wirst ihn von dir überzeugen, da bin ich mir sicher«, sagte sie und suchte seinen Blick. »Cristiano wird dich umwerfend finden, kaum dass du durch die Tür kommst. Du musst ihn nicht mit irgendeinem Modell für einen Turm beeindrucken.«
Alfredos Lächeln wurde melancholisch.
»Im Gegensatz zu dir möchte ich irgendwann aber mehr als eine Mitbewohnerin an meiner Seite haben. Zumal du bald wieder weg bist. Ich möchte alles geben und ihm zeigen, was in mir steckt.«
»Du bist gut, so wie du bist«, erinnerte sie ihn liebevoll. »Das wird auch Cristiano merken, wenn er dich trifft. Ansonsten ist er es nicht wert.«
»Danke, Lulu. Es steht noch Pasta auf dem Herd«, sagte er. »Bei einem guten Abendessen kannst du mir gern alles von deinem Tag erzählen.« Alfredos Grinsen wurde unverschämt.
»Es gibt keinen Mann!«, rief Luise lachend aus und warf das Küchenhandtuch nach ihm.
Er fing es mit Leichtigkeit und tat ihr einen Teller Nudeln mit Basilikumpesto auf.
Während sie aßen, berichtete Luise von ihrem freien Tag im Nationalpark. Sie hatte die Zeit allein genossen und die Seele baumeln lassen. Natürlich waren ihr die unzähligen verliebten Pärchen ins Auge gesprungen, aber sie wollte sich nicht drängen. Seit ihrer letzten gescheiterten Beziehung vor drei Jahren hatte es keinen Mann mehr in ihrem Leben gegeben. Mehr als ein paar Flirts waren nicht dabei herausgesprungen. Nicht, weil Luise mit ihren langen braunen Haaren, den großen dunklen Augen und ihrem herzförmigen Gesicht nicht auf Männer wirkte, sondern vielmehr, weil sie sich selbst den nächsten Schritt nicht mehr zutraute.
Sie genoss das Leben ohne eine feste Bindung in vollen Zügen, hatte zunächst ihr Studium beendet und arbeitete nun als erfolgreiche Architektin in einem Münchner Bürokomplex hoch über der Stadt. Ihr Auslandsaufenthalt im Süden sollte Luise neue Eindrücke und ein wenig Aufwind bringen.
Spät am Abend rief sie ihre Schwester Sandra auf dem Handy an, aber die Mailbox sprang an. Seltsam, dachte Luise. Schon seit drei Tagen erreichte sie ihre Schwester nicht mehr, weder mit Anrufen noch über ihre Chats.
Luise legte sich schlafen, konnte aber kein Auge zu tun. Sie machte sich Sorgen. Es war ungewöhnlich, dass Sandra sich nicht zurückmeldete. Die Architektin überlegte, ob sie wichtige Termine ihrer Schwester vergessen hatte. War Sandra etwa im Urlaub? Die Krankenschwester nahm so gut wie nie welchen. Sie liebte ihre Arbeit mit den Patienten und hatte immer davon geschwärmt. Sandra war eine Frau, die gern gebraucht wurde, und aushalf, wo sie konnte. Luise war nie ein aufopferungsvollerer, liebenswerterer und empathischerer Mensch begegnet.
Irgendwann fielen ihre Augenlider zu, und sie landete in einem wirren Traum von Sandra und Alfredo mitten in Genua.
***
Luise bemerkte das Schütteln erst spät. Sie schlief so tief und fest, dass sie eine Weile brauchte, um zu realisieren, dass jemand an ihrer Schulter rüttelte.
»Lulu, wach auf«, raunte jemand ganz nah an ihrem Ohr.
»Was willst du, Alfredo?«, fragte sie nuschelnd und schielte mit einem Auge auf den Wecker. »Es ist fast noch mitten in der Nacht.«
»Erstens ist es schon neun Uhr morgens, und zweitens ist Post aus Deutschland für dich angekommen. Wichtige Post ...«
Luise richtete sich mühsam auf und streckte sich ausgiebig, ehe sie den Brief entgegennahm, den er ihr hinhielt.
Alfredo setzte sich neben sie aufs Bett und zog die Beine zum Schneidersitz heran. Seine Miene sprach Bände. Fast wirkte er traurig. Erst als Luise genauer auf den Umschlag achtete, verstand sie sein eigenartiges Verhalten.
Sie sog zischartig die Luft ein und atmete danach eine Weile nicht mehr. Angespannt starrte sie auf das schwarze Kreuz. »In tiefer Trauer« stand darüber.
»O nein, nein, nein ...«, sagte sie immer wieder und machte keine Anstalten, das Kuvert zu öffnen.
Alfredo fasste Luise an ihrem bebenden Arm. »Soll ich dich allein lassen?«
»Nein, bleib bitte«, hauchte sie und schluckte fest. Wortlos streckte sie ihm den Brief hin.
Alfredo begriff und öffnete ihn vorsichtig. Luises zittrige Finger wären nicht einmal mehr dazu in der Lage gewesen.
»Soll ich ihn dir vorlesen?«
»Ja, bitte«, antwortete sie kehlig.
Luise erwartete die Todesnachricht ihrer Mutter, zu der sie seit einer halben Ewigkeit keinen Kontakt mehr hatte, oder einer entfernten Cousine, vielleicht sogar die einer Grundschulfreundin, aber das, was dann folgte, riss ihr den Boden unter den Füßen weg.
Alfredo räusperte sich. »Mein Deutsch ist etwas eingerostet.«
Dann begann er zu lesen. Vorsichtig und mit Blick auf Luise, deren Körper sich erst versteifte und dann vollkommen in sich zusammenbrach. Ihre Haut wurde bleich, aber die Tränen wollten noch nicht folgen. Zum Weinen war sie viel zu geschockt.
Luise sprang vom Bett und öffnete den Laptop auf ihrem Schreibtisch.
»Ich rufe sie an. Das ist sicher nur ein Missverständnis. Ich habe doch erst letzte Woche mit ihr gesprochen. Sandra wird bestimmt gleich abheben und gemeinsam mit mir über diesen Unsinn lachen«, stammelte sie aufgebracht.
Alfredo schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. Er sagte nichts, während Luise vergeblich auf das Gesicht ihrer Schwester wartete. Nichts tat sich.
»Sie ist bestimmt in der Klinik und schiebt Überstunden. Du weißt ja, wie viel sie zu tun hat.« Luise lachte künstlich. Ihre Bewegungen wurden fahriger, als sie nicht mehr weiterwusste.
Alfredo war mit einem großen Schritt bei ihr und zog seine Mitbewohnerin in die Arme. Der Brief fiel zu Boden. Auch auf dem Schreiben prangte ein dickes, fettes Kreuz, das man gar nicht übersehen konnte. Alfredo sagte kein Wort, sondern hielt sie nur fest, damit Luise zur Ruhe kam.
Innerlich wusste sie es bereits. Sie hatte es insgeheim geahnt und befürchtet, als sie das Kreuz auf dem Umschlag gesehen hatte. Weshalb sollte man ihr sonst extra nach Italien schreiben? Alles passte zusammen: Sandra ging weder ans Telefon, noch war sie seit letzter Woche online gewesen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
»Bitte nicht ...«, wisperte Luise, bevor es endgültig aus ihr herausbrach.
Sie fiel in Alfredos Armen in sich zusammen und jaulte auf vor Schmerz. Es fühlte sich an, als würde man ihr das Herz zerreißen.
Sandra war tot, und nichts und niemand würde ihre kleine Schwester je zurückbringen.
***
Luise packte noch am selben Tag ihren Koffer. Parallel dazu suchte sie bereits nach Flügen in die Heimat, doch vor morgen früh würde sie sicher nicht fliegen können.
»Möchtest du nicht noch etwas darüber schlafen?«, fragte Alfredo besorgt und hielt ihr eine Tasse Tee hin. Als Luise nicht darauf reagierte, stellte er sie beiseite. »Du kannst nichts mehr tun, es ist keine Hektik gefragt. Bitte bewahre Ruhe und komm erst einmal zu dir.«
»Ruhe bewahren? Ruhe bewahren?!«, schrie sie ihn an und warf die Hose in ihrer Hand lieblos Richtung Koffer. »Meine Schwester ist tot! Wie soll ich da bitte Ruhe bewahren? Wir hatten nur einander, seit wir vor unserer einengenden Mutter geflohen sind, und nun ist sie nicht mehr da!« Wieder heulte sie auf und weinte bittere Tränen. »Man hat sie mir genommen! Sie war so jung und unschuldig! Wieso holt Gott immer die liebsten Menschen zuerst? Hätte er mal mich gewählt!«
»Sag so etwas nicht!«, rief Alfredo erschrocken. »Ich bin sehr froh, dass ich dich habe. Es tut mir so leid, was mit Sandra passiert ist. Aber bitte vergiss nicht, dass sie nicht wollen würde, dass du so denkst und an deinem Leben zweifelst.«
Er hatte recht, aber momentan war Luise kaum zu einem klaren Gedanken in der Lage. Sie fand es ungerecht, dass es ihre kleine Schwester getroffen hatte und nicht sie. Wenn sie die Macht hätte, würde sie den Platz mit Sandra tauschen.
»Ich muss sofort nach Deutschland und herausfinden, was passiert ist. Der Brief gibt mir keine Auskunft über die Umstände, und beim Bestatter hüllt man sich in Schweigen, bis ich persönlich erscheine.«
»Was ist mit Sandras Arbeitsplatz?«
»Am Telefon geben sie keine Informationen über ihre Mitarbeiter heraus.«
»Ich verstehe. Soll ich dich begleiten? Du wirst Unterstützung gebrauchen können.«
Luise berührte ihn am Arm und suchte seinen Blick aus dunklen Augen.
»Das ist lieb von dir, aber du hast erstens ein wichtiges Date und zweitens einen Wettbewerb vor dir. Ich schaffe das schon. Sobald ich angekommen bin, melde ich mich und halte dich auf dem Laufenden.«
Sie war ihm unendlich dankbar. Luise hätte nicht gewusst, wie sie reagiert hätte, wenn sie allein gewesen wäre, als das grausame Schreiben eingetroffen war. Vielleicht wäre sie durchgedreht und hätte das Mobiliar auseinandergenommen. Auf jeden Fall wäre sie völlig kopflos durch die Wohnung gerannt und hätte bis in die Nacht hinein Sandra angerufen.
Jedes Mal, wenn der Anrufbeantworter angesprungen war und niemand abgehoben hatte, war die Gewissheit erdrückender für sie geworden. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ihre Mutter anzurufen, die Idee aber verworfen. Zwischen ihnen herrschte schon lange Funkstille, was gut war.
»Ich schaffe das«, versicherte Luise und umarmte ihn eine Weile. Es tat gut, dass sie jemand hielt.
»Wenn du etwas brauchst oder einfach nur reden willst, dann ruf mich sofort an. Kein Cristiano dieser Welt kann mich davon abhalten, für dich da zu sein.«
»Danke, Alfredo. Das bedeutet mir viel.« Luise schniefte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ihre Lider waren geschwollen, ihre Wangen gerötet. Sie hatte gestern kaum geschlafen. Falls doch, war sie aus schrecklichen Träumen aufgewacht. An die Arbeit war erst recht nicht zu denken.
Seit der Kindheit waren Sandra und sie ein Herz und eine Seele, seit dem Tod ihres Vaters sogar noch unzertrennlicher gewesen. Ihre Mutter hatte die beiden regelrecht zerdrückt mit ihrer Obhut. Hätten sie sich nicht aus ihrem Klammergriff befreit und endlich eigene Erfahrungen gemacht, würden sie wohl noch heute unter ihrem Dach leben. Die Schwestern hatten sich zeitlebens gegenseitig gestärkt und unterstützt, während ihre Mutter sie hatte bremsen wollen, um über sie zu verfügen. Der Kontakt zu Agnes Schreiber war daraufhin eingebrochen. Seit Jahren hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Vielleicht hatte sie längst eine neue Familie gefunden, die sie verhätscheln und überwachen konnte. Luise hatte sich selten so frei gefühlt wie nach ihrem Weggang, jenen Zustand aber nur durch Sandra genießen können. Allein hätte sie diesen Schritt wohl nie gewagt.
Sie schickte Alfredo hinaus und trank von dem mittlerweile lauwarmen Tee. Ihr Magen knurrte, aber Luise war nicht nach Essen zumute. Sie wusste, dass sie jetzt keinen Bissen herunterbekam.
Als Luise allein war, brach sie in stille Tränen der Verzweiflung aus. Selbst das Kofferpacken überforderte sie, aber nach ihrem Mitbewohner wollte sie nicht noch einmal rufen. Stattdessen blieb sie auf dem Boden sitzen und lehnte sich an ihr Bett. Sie griff zum Handy und scrollte durch den letzten Chat mit Sandra. Sie hatte ihrer Schwester von ihrem Aufenthalt in Genua erzählt, von den Leuten, die sie getroffen hatte, von den Sehenswürdigkeiten. Fast klang sie wie eine gewöhnliche Touristin. Sandra hatte hingegen von ihrer Arbeit gesprochen. Sie war seit einem Jahr auf einer neuen Station und freute sich auf alles, was kam. Beim Foto ihrer breitlächelnden Schwester verschwamm Luises Sicht erneut. Wie konnte es sein, dass ein junger, gesunder, lebensfroher Mensch so überraschend starb? Fragen über Fragen türmten sich in Luise auf, deren Antworten sie nur in Deutschland finden würde. Auch aus diesem Grund beeilte sie sich, einen Direktflug für den folgenden Tag zu buchen.
Jemand musste sich um die Beerdigung kümmern. Da sich Agnes nicht um sie scherte und Luise auch keinen Wert auf ihr Erscheinen legte, würde sie diese Aufgabe selbst übernehmen.
Schaffe ich das alles?, dachte sie und brachte es nicht mehr übers Herz, den Koffer zu füllen. Stattdessen legte sie sich ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und weinte.
***
Dr. Stefan Frank eilte mit wehendem Arztkittel über den Gang.
»Wie kann ich helfen?«, fragte er Dr. Ulrich Waldner, den Leiter der gleichnamigen Klinik am Englischen Garten.