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Kerstin hat es mit Mitte dreißig geschafft: Sie zählt zu den erfolgreichsten Anwältinnen Münchens. Das harte Studium und die vielen Überstunden machen sich nun endlich bezahlt. Doch der Stress und der enorme Druck hinterlassen Spuren. Die Juristin greift immer wieder zum Alkohol, um sich zu entspannen. Ab und zu mal ein Gläschen Rotwein kann schon nicht schaden, denkt sie sich. Aber mit der Zeit verliert sie die Kontrolle. Ihr Alkoholkonsum hat längst die gesunde Grenze überschritten. Als dann auch noch eines Tages ihr alkoholkranker Vater vor der Tür steht und sie um Geld anbettelt, brechen all die mühsam verdrängten Kindheitserinnerungen wieder über sie herein. Nachdem ihr Vater wieder verschwunden ist, trinkt sich Kerstin bis zur Bewusstlosigkeit ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Und jedes Glas ist eins zu viel
Vorschau
Impressum
Und jedes Glas ist eins zu viel
Wie Kerstin in eine Alkoholabhängigkeit rutschte
Kerstin hat es mit Mitte dreißig geschafft: Sie zählt zu den erfolgreichsten Anwältinnen Münchens. Das harte Studium und die vielen Überstunden machen sich nun endlich bezahlt. Doch der Stress und der enorme Druck hinterlassen Spuren. Die Juristin greift immer wieder zum Alkohol, um sich zu entspannen. Ab und zu mal ein Gläschen Rotwein kann schon nicht schaden, denkt sie sich. Aber mit der Zeit verliert sie die Kontrolle. Ihr Alkoholkonsum hat längst die gesunde Grenze überschritten. Als dann auch noch eines Tages ihr alkoholkranker Vater vor der Tür steht und sie um Geld anbettelt, brechen all die mühsam verdrängten Kindheitserinnerungen wieder über sie herein. Nachdem ihr Vater wieder verschwunden ist, trinkt sich Kerstin bis zur Bewusstlosigkeit ...
»Frau Bruckberger, ich habe heute in der Zeitung einen tollen Artikel über Sie gelesen! Münchens Staranwältin, und das direkt nebenan ...«, rief Kerstins Nachbar.
Die Juristin winkte dem 83-jährigen Rentner freundlich von ihrem Fahrrad aus zu und genoss es wieder einmal, in Grünwald zu leben. Hier wusste einfach jeder über alles Bescheid, aber das störte sie keineswegs – im Gegenteil, sie war glücklich, sich in diesem Ort als Teil einer großen Familie zu sehen. Von hier wegzuziehen, käme für sie nie infrage – die Anwältin lebte in einer Idylle, wie sie anderswo nur schwer zu finden war. So liebte sie es beispielsweise, frühmorgens, wenn noch alles schlief, durch den malerischen Ort zu joggen und anschließend fit und erfrischt in den Tag zu starten.
Schnell radelte sie noch das letzte Stück bis zum Marktplatz, wo an diesem Samstag ein gemeinnütziger Bücherflohmarkt stattfand. Als Mitorganisatorin war es ihr natürlich ein besonderes Bedürfnis gewesen, ebenfalls ein paar ihrer Romane beizusteuern, um damit Geld für Kinder in Not zu sammeln.
Schwungvoll stieg Kerstin direkt vor den aufgebauten Tischen ab und zupfte sich ihre haselnussbraunen Locken zurecht, die vom Fahrtwind etwas in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Anschließend schnappte sie sich den Bücherstapel aus ihrem Fahrradkorb.
»Guten Morgen, Frau Bruckberger! Ein herrlicher Tag heute, finden Sie nicht?«
Alexandra Schubert blickte sie strahlend an. Die Freundin von Grünwalds beliebtem Allgemeinmediziner war gerade dabei, eine beachtliche Menge an Büchern für den Verkauf auszubreiten.
Lächelnd erwiderte Kerstin: »Ja, das ist wahr. Wir haben wirklich Glück mit dem Wetter!«
Die Frau genoss es, dass ihre Freizeit in der kleinen Gemeinde eine willkommene Abwechslung zu ihrem sonst so stressigen Berufsalltag bot. Nicht, dass sie sich beschwert hätte – sie hatte immerhin hart für ihre Karriere gearbeitet. Mit Mitte dreißig in der örtlichen Presse als »Münchens Staranwältin« betitelt zu werden, machte sie mächtig stolz. Kerstin war froh darüber, dass sich das harte Studium und die vielen Überstunden nun endlich bezahlt machten.
Auch wenn Kerstin nicht viel Zeit für außerberufliche Aktivitäten blieb, so bemühte sie sich doch stets, sich für die Gemeinde Grünwald zu engagieren und organisierte mit ein paar anderen Frauen aus dem Ort nur zu gerne diverse Festivitäten. Dass sie trotz ihres fordernden Berufs immer noch die Zeit dafür fand, wurde ihr hoch angerechnet, und sie war in Grünwald sehr beliebt.
»Hallo, Frau Bruckberger!« Von Weitem winkte ihr die Nachbarin Rita Thelmann zu.
Die ältere Dame kam gerne hin und wieder zum Kaffeeplausch vorbei und hielt Kerstin unaufgefordert über sämtliche Neuigkeiten auf dem Laufenden – wenn jemand wusste, was die Gerüchteküche gerade zum Brodeln brachte, dann war es Frau Thelmann.
Kerstin grüßte ihre Nachbarin freundlich und schlenderte dann zwischen den Tischreihen hindurch, um zu sehen, wie viele Bücher bereits auslagen. Zufrieden stellte sie fest, dass die Menge an Lesestoff ihre Erwartungen noch übertroffen hatte – bestimmt würde es ihnen auch dieses Mal wieder gelingen, eine beachtliche Summe zusammenzubekommen.
Gedankenversunken blieb sie vor einem Bücherstapel stehen und nahm ein vergilbtes Taschenbuch in die Hand. Es handelte sich um »Dolores«, ein Roman des Fantasy-Horror-Autor Stephen King. Kerstin hatte eine Schwäche für die düsteren Geschichten des Schriftstellers – er hatte sie schon öfters mit seinen Erzählungen das Fürchten gelehrt. Sie bezahlte einen großzügigen Betrag und steckte ihre Errungenschaft ein, wobei sie sich fest vornahm, sich irgendwie Zeit zum Lesen freizuschaufeln. Viel zu selten gelang es ihr, sich mit einem guten Buch in ihre Leseecke zurückzuziehen und vollkommen in die Story abzutauchen.
Eine Zeit lang schlenderte sie noch umher und plauderte mit den Leuten – dann schwang sie sich auf ihr altes, babyblaues Fahrrad und trat widerwillig den Heimweg an. Während alle anderen auch weiterhin einen entspannten Samstag genießen konnten, musste sie am Wochenende noch mehrere Schriftstücke vorbereiten, um für den Beginn der neuen Arbeitswoche gewappnet zu sein. Und da ihre Assistentin am Wochenende nicht zur Verfügung stand, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre eigene Freizeit zu opfern...
***
Zu Hause angekommen, warf sie einen Blick auf ihr Smartphone.
Hallo, Schönheit! Ich vermisse dich schon ...
Bei Konstantins Textnachricht musste Kerstin augenblicklich schmunzeln. Der Mann war ebenfalls Anwalt. Die beiden führten eine eher lockere Beziehung, es gab keine Regeln und keinerlei Verpflichtungen. Wenn die Zeit es erlaubte, dann vereinbarten sie ein Treffen, ansonsten herrschte oft eine ganze Woche lang Funkstille – bis auf ein paar vereinzelte Nachrichten. Genauso wollte Kerstin es auch haben – zumindest redete sie sich das gerne ein. Denn tief in ihrem Inneren wusste sie ganz genau, dass sie mehr für ihn empfand als bloß pure Begierde, und sie hoffte insgeheim, dass es ihm eines Tages genauso ging.
Ich dich auch! Was könnten wir denn dagegen tun?
Grinsend wartete sie auf seine Antwort. Auch jetzt breitete sich schon wieder das altbekannte Kribbeln in ihrer Magengegend aus.
Tut mir echt leid, Süße... Ich bin im Moment auf einer Tagung. Aber ich hoffe, dass wir uns möglichst bald wiedersehen!
Zack, ein Stich ins Herz. So sehr sie auch versuchte, auf diese Information mit Gleichgültigkeit zu reagieren – es wollte ihr einfach nicht gelingen. Kerstin hatte sich schon darauf gefreut, ihm von ihren neuen Klienten zu erzählen und ihn nach seiner Meinung zu fragen ... Und natürlich sehnte sie sich nach seinen Zärtlichkeiten. Denn immer dann, wenn ihr stressiger Tag allmählich dem Ende zuging und wieder Ruhe einkehrte, da lastete die bedrückende Stille ihrer eigenen vier Wände schwer auf ihr. Nur zu gerne hätte sie ihr Zuhause mit Konstantin geteilt und sah sich insgeheim schon als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern. Mit ihm an ihrer Seite wäre der Druck, unter dem sie permanent stand, bestimmt nur noch halb so schwer zu ertragen.
Kerstin schüttelte energisch den Kopf. Nein – sie würde diese beunruhigenden Gefühle keinesfalls zulassen. Sie war eine starke, unabhängige Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und sich den Respekt ihrer Kollegen mühevoll verdient hatte. Sie brauchte definitiv keinen Mann an ihrer Seite, um sich gut zu fühlen. Mit abwesendem Blick griff sie in den Küchenschrank, wo sie die Flasche Cabernet Sauvignon aufbewahrte. Sie stellte ein bauchiges Weinglas auf den Küchentisch und sah zu, wie die rote Flüssigkeit erst den Boden und anschließend das halbe Glas füllte. Ein kräftiger Schluck konnte nicht schaden.
Kerstin schwenkte das Weinglas gekonnt hin und her, sah zu, wie dessen Inhalt Schlieren zog und inhalierte mit einem zufriedenen »Hmmm« den verlockenden Duft des Getränks. Dann benetzte sie erst ihre Lippen, bevor sie den Wein ihre Kehle hinunterlaufen ließ. Das war genau das, was sie gebraucht hatte. Mit geschlossenen Augen stellte sie fest, wie die Unruhe allmählich von ihr abfiel, und sie begrüßte die Wärme, die sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete, wie einen alten Freund.
Um einiges gelassener setzte sich die Anwältin schließlich an den Computer und begann damit, ihre Arbeit zu erledigen. Flink glitten ihre Finger über die Tastatur, und das Dokument war in Rekordzeit fertiggestellt. Zufrieden ging sie schnellen Schrittes noch einmal in die Küche zurück, um sich ein weiteres Glas zu genehmigen – immerhin war sie noch lange nicht fertig damit, ihre To-do-Liste abzuarbeiten.
***
Rita Thelmann nippte genüsslich an ihrem dampfenden Kaffee und bediente sich an den Plätzchen, nachdem Kerstin diese dankend abgelehnt hatte. Nach langem Überreden war es der Dame endlich gelungen, ihre Nachbarin wieder einmal zu einem kleinen Plausch zu sich einzuladen. Sie bedachte die junge Frau mit einem aufmunternden Blick. Seit sie vor etwa einer halben Stunde gekommen war, hatte Kerstin Bruckberger kaum ein Wort mit ihr gewechselt, sondern auf ihre Fragen nur einsilbig – wenn auch höflich – reagiert. Verzweifelt versuchte die Rentnerin, die Anwältin in ein Gespräch zu verwickeln, aber es wollte ihr partout nicht gelingen. Seufzend widmete sie sich wieder ihrer Kaffeetasse und gönnte sich ein weiteres Stück von den Plätzchen, die sie extra für ihren Besuch gebacken hatte.
Besorgt warf sie Kerstin einen verstohlenen Seitenblick zu. Das Verhalten, das sie an den Tag legte, kam ihr merkwürdig vor – und es war äußerst untypisch für die ansonsten so lebenslustige Frau. Rita hatte ihre Nachbarin immer für ihre offene und herzliche Art bewundert, aber davon war im Moment nicht mehr besonders viel zu spüren. Sie schien nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein – abwesend und kränklich, mit blutunterlaufenen Augen und geschwollenen Lidern.
»Meine Liebe, ist alles in Ordnung?«, fragte die alte Dame vorsichtig.
Womit Rita allerdings nicht gerechnet hatte, war der bissige Ton, mit dem Kerstin entgegnete: »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten! Ich brauche weder Ihr Mitleid noch Ihre Neugierde. Ich gehe!«
Mit diesen Worten stand sie auf und ließ ihre völlig perplexe Nachbarin allein zurück. Diese sah ihr noch eine Weile mit offenem Mund hinterher, bevor sie kopfschüttelnd die Terrasse verließ und Kerstin Bruckbergers kaum angerührte Kaffeetasse zurück in die Küche trug. Irgendetwas stimmte nicht mit der jungen Frau – es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, dermaßen ausfallend zu werden.
Rita dachte angestrengt nach. Das alles kam ihr erschreckend bekannt vor, denn so etwas Ähnliches hatte sie schon einmal erlebt – und zwar bei ihrem verstorbenen Großonkel. Bei ihm war damals eine Alkoholsucht der Grund dafür gewesen, dass er sich seiner Familie gegenüber nicht hatte beherrschen können. Sie konnte sich noch genau an die Schrecksekunde erinnern, als der volltrunkene Mann einmal die Hand gegen sie erhoben hatte. Mittlerweile wusste sie, dass es der Alkohol war, der sein Urteilsvermögen getrübt und seine Handlungen bestimmt hatte, aber damals hatte die Unberechenbarkeit ihr wahnsinnige Angst bereitet.
Konnte es tatsächlich sein, dass auch ihre liebe Nachbarin in eine solche Sucht abgerutscht war? Sie hätte es Kerstin Bruckberger niemals zugetraut – andererseits stand sie unter einem enormen Druck, und es konnte schnell passieren, dass man sich ein Gläschen zu viel genehmigte. Rita machte sich Sorgen um die junge Frau und überlegte fieberhaft, wie sie ihr helfen konnte. Was sollte sie bloß unternehmen?