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Olivia Beck gönnt sich keine Pause. Gerade ist sie in die Spielwarenfirma ihres Vaters eingestiegen. Im Vorstand muss sie sich als einzige Frau unter Männern durchsetzen - und das ist oft eine große Herausforderung.
Auch in der Freizeit verlangt sie sich alles ab. Sie trainiert für einen Halbmarathon und führt ein Journal, in dem sie akribisch Trainingszeiten, Essgewohnheiten, Schlafrhythmus und körperliche Symptome notiert. In der letzten Zeit ärgert sie sich über ihre nachlassende Leistungsfähigkeit und notiert Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Schmerzen und Infekte.
Eines Tages lässt Olivia ihr Journal in der Bahn liegen, und der Uni-Dozent Dr. Samuel Bergmann nimmt es mit. Er will es zum Fundbüro bringen, doch davor blättert er in dem Notizbuch. Was er zu lesen bekommt, ist alarmierend. Er muss die Besitzerin des Journals unbedingt sprechen ...
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Seitenzahl: 125
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Auf der Überholspur
Vorschau
Impressum
Auf der Überholspur
Emilias Weg in die totale Erschöpfung
Olivia Beck gönnt sich keine Pause. Gerade ist sie in die Spielwarenfirma ihres Vaters eingestiegen. Im Vorstand muss sie sich als einzige Frau unter Männern durchsetzen – und das ist oft eine große Herausforderung.
Auch in der Freizeit verlangt sie sich alles ab. Sie trainiert für einen Halbmarathon und führt ein Journal, in dem sie akribisch Trainingszeiten, Essgewohnheiten, Schlafrhythmus und körperliche Symptome notiert. In der letzten Zeit ärgert sie sich über ihre nachlassende Leistungsfähigkeit und notiert Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Schmerzen und Infekte.
Eines Tages lässt Olivia ihr Journal in der Bahn liegen, und der Uni-Dozent Dr. Samuel Bergmann nimmt es mit. Er will es zum Fundbüro bringen, doch davor blättert er in dem Notizbuch. Was er zu lesen bekommt, ist alarmierend. Er muss die Besitzerin des Journals unbedingt sprechen ...
Windkraftanlagen, Felder, wieder Windkraftanlagen, in der Ferne ein Industriegebiet, dessen hässlich grauweiße Hallen die Aussicht noch trostloser wirken ließen, wieder Windkraftanlagen.
Samuels Lider hatten größte Mühe, nicht herabzufallen, während er auf dem harten Federsitz der Bahn saß und durch die schmutzige und mit Graffiti-beschmierte Scheibe des Fensters nach draußen starrte. Windkraftanlagen, Felder, ein Hund, der einem Stöckchen hinterherjagte, Windkraftanlagen.
Samuel riss sich vom Anblick los und drehte seinen Kopf in die andere Richtung. Er widerstand der Versuchung, dort einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Hätte er es getan, hätte er festgestellt, dass die Aussicht dort auch nicht besser gewesen wäre. Doch sein Blick blieb an der Frau hängen, die vornübergebeugt über einem kleinen Buch saß, in das sie konzentriert etwas hineinkritzelte.
Samuel musterte die Fremde verstohlen. Ihr Aussehen war makellos. Ihre Haare waren blond, der Teint war ebenmäßig gebräunt, der Körper steckte in einem Hosenanzug, der ihre Figur betonte. Für Samuels Geschmack wirkte der ganze Aufzug zu androgyn.
Einmal hob die Frau ihren Kopf, sah genau in seine Richtung, doch auch gleichzeitig durch ihn hindurch, da sie an einer Sache zu überlegen schien. Dabei tippte sie sich mit dem oberen Ende ihres Stifts immer wieder gegen die Unterlippe. Samuel beobachtete das kurze unaufgeregte Spektakel, bis die Frau ihren Kopf wieder senkte und schnell etwas in das kleine Buch schrieb, das vor ihr auf ihrem Schoß lag. Ihre Augenbrauen zogen sich beim Schreiben ein wenig zusammen, was Samuel nur von seinen Studenten kannte, wenn sie innerhalb von anderthalb Stunden ihr gesamtes Wissen aus seiner Vorlesung in Form einer Klausur niederschreiben mussten. Es war ein Ausdruck höchster Konzentration.
Samuel war Doktor der Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die Uni gehörte nicht nur zu den größten, sondern auch zu den forschungsstärksten Universitäten Europas. Das passte zu dem Umstand, dass Samuel in dem reichen Münchner Vorort Grünwald lebte, der bewohnt war von bekannter Prominenz aus Film, Fernsehen und Sport. Samuel lebte in überdimensionierten Erfolgskonzepten. Ohne selbst eines zu sein.
Nach seinem Abitur hatte er zunächst Philosophie studiert und sich darin ein wenig verloren. Die meiste Zeit seines Studiums hatte er damit verbracht, mit seinen Freunden die Vor- und Nachteile von Punkbands zu diskutieren, dabei so viele Kippen zu rauchen, bis er irgendwann davon hatte husten müssen, und seine Zeit in den Studentencafés Berlins zu vertrödeln.
Irgendwann hatte ein Kommilitone ihn damit aufgezogen, dass Samuel sich nur deshalb für Philosophie eingeschrieben hatte, weil das Fach ihm ermöglichte, nichts zu tun und auch noch einen Sinn darin zu sehen. Er hatte dann gewettet, dass er locker einen Abschluss in einem anderen Fach schaffen könnte, wenn er nur wollte, sodass sich Samuel kurzerhand für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben hatte, was ihm auch noch drei Jahre später einen fulminanten Abschluss eingebracht hatte. Eine seiner Dozentinnen war so begeistert von seiner schnellen Auffassungsgabe gewesen, dass er danach seinen Doktor gemacht hatte. Nun war er selbst Dozent. Obwohl er doch eigentlich nur gewettet hatte. Die Wette hatte er also gewonnen. Allerdings konnte sich Samuel nicht mehr daran erinnern, worum sie eigentlich gewettet hatte. Vermutlich um eine Kiste Bier.
Samuel – oder Dr. Bergmann, wie die Studenten ihn nannten, – linste wieder zu der Frau hinüber. Er fragte sich, was sie eigentlich in das Buch schrieb. Er bezweifelte, dass es ein Tagebuch war. Tagebücher waren etwas für Träumerinnen. Diese Frau wirkte zu gehetzt, um eine Träumerin zu sein. Insgeheim empfand er plötzlich Mitleid mit ihr. Er stellte sich vor, wie ihr Leben aussehen würde und kam zu dem Ergebnis, dass sich alles – von ihrer beruflichen Tätigkeit über ihre Freizeit bis hin zu diesem unbequemen Hosenanzug – anfühlen musste wie ein Korsett, das ihr kaum Luft zum Atmen ließ.
Entspannt lehnte er sich zurück und schaute wieder durch die Scheibe nach draußen. Seine Gedanken schweiften kurz zu dem Symposium, das er gerade erst in Berlin besucht hatte, dann konzentrierte er sich wieder auf die Aussicht vor seinem schmutzigen Fenster. Windkraftanlagen, Felder, Windkraftanlagen, ein Hund, Windkraftanlagen.
***
Erste Woche: Dreißig Minuten Dauerlauf, Gymnastik (Tag eins), fünfundvierzig Minuten Cardiotraining, Gymnastik (Tag zwei), vierzig Minuten Dauerlauf, Gymnastik (Tag drei), sechzig Minuten Dauerlauf, Gymnastik (Tag vier). Zweite Woche ...
Emilia Beck versuchte, sich genau daran zu erinnern, wie sie das Training zum Halbmarathon begonnen hatte. Sie befand sich nun in der sechsten von zehn Wochen, hatte also schon einige Trainingseinheiten absolviert. Hinter den einzelnen Trainingstagen, die sie bereits abgeschlossen hatte, schrieb sie Notizen, wie Befindlichkeit oder Infekte, die sie währenddessen gehabt hatte. So behielt sie einen besseren Überblick darüber, wann es gut gelaufen war und wann es Verbesserungspotenzial gegeben hatte. Außerdem versah sie jede Trainingseinheit mit einem bunten Textmarker. Grün dafür, wenn es gut gelaufen war, rot für das Gegenteil. Leider wies ihre letzte Trainingswoche zu viele rote Markierungen auf. Emilia schob es auf die Aufregung und den Stress wegen des Umzugs.
Emilias größtes Ziel war es stets gewesen, ihrem Vater zu imponieren. Das war keine leichte Aufgabe, denn der erfolgreiche Spielzeugfabrikant stellte Erwartungen an seine Mitmenschen, die schlichtweg kaum zu erfüllen waren. Doch seine mittlere Tochter hatte sich nie abschrecken lassen von seinen abfälligen Kommentaren, sondern es als eine Motivation betrachtet, um besser zu werden.
In Berlin hatte sie daher BWL studiert und jede Semesterferien mit Praktika in angesehenen Firmen verbracht, sodass sie sich nun gerüstet fühlte, zumal sie einen Abschluss von eins Komma eins nachweisen konnte. Außerdem hatte sie fünf Jahre lang in einer Firma gearbeitet, dessen Leitung sie sogar zuletzt übernommen hatte. Jetzt wurde es Zeit, dass sie ihrem Vater zeigte, was sie konnte.
Da der zweiundsechzigjährige Friedrich Beck ein Nachwuchstalent suchte, das Beck Spielwaren einmal übernehmen würde, wenn er sich in den Ruhestand zurückzog, zog Emilia nun von Berlin nach München, um sich in die Firma einzuarbeiten. Sie war die Richtige für diesen Job. Und das würde sie ihrem Vater beweisen.
Ihre Mutter war weniger begeistert von der Idee. Als Esoterikerin mit eigener Naturheilpraxis lag Hannes Fokus mehr auf dem Wohlbefinden der Menschen statt auf beruflichem Erfolg. Doch Emilia war anders als ihre Mutter. Sie war auch anders als ihre beiden Schwestern. Anastasia war Sozialpädagogin in einem Frauenhaus, was ihrem fürsorglichen Naturell entgegenkam, und Olivia befand sich gerade in Elternzeit, da sie vor einem Jahr ihre erste Tochter, die kleine Teresa, bekommen hatte. Emilia war weder fürsorglich noch der Muttertyp. Sie strebte nach beruflichem Erfolg. Und den würde sie in der Firma ihres Vaters finden.
Zehnte Woche: Einundzwanzig Kilometer, Halbmarathon, Wettkampftag. Das war ihr Ziel. Zufrieden klickte Emilia mit dem Kugelschreiber und schaute auf die Bank in dem Zug neben sich. Dort saß ein Mann in einem braunen Cordsakko mit Aufnähern an den Ellbogen. Dann hörte sie die Durchsage, dass der Zug in wenigen Minuten München erreichen würde. Schnell packte sie ihr Journal, in das sie alles protokollierte, was ihr Leben ausmachte, und den Kugelschreiber in ihre Handtasche und zog ihren Koffer von der Ablage. Mit einem lauten Rumms fiel er auf den Boden, was ihr einen kritischen Blick von ihrem Sitznachbarn einbrachte. Genau eine Minute später fuhr der Zug in den Hauptbahnhof München ein.
Obwohl es nicht leicht war, auf den hohen Absätzen das Gleichgewicht zu halten, eilte Emilia durch die Menschenmenge in Richtung S-Bahnhof. Ihre Absätze klackten gebieterisch auf dem Asphalt, während die Rollen ihres Koffers laut röhrten. Emilia steckte eine Hand in ihre Handtasche, um ihr Smartphone hervorzuholen. Dort schaute sie noch einmal unter den Notizen, wo sie die bereits recherchierte S-Bahn-Nummer fand. Dann lief sie auf den S-Bahnhof zu, der nur wenige Meter vor ihr lag.
Emilia wartete am Gleis und folgte der Meute, als die Bahn einfuhr, um sich im Inneren einen Sitzplatz auszusuchen. Doch in dem Moment, als sie sich gerade durch die Tür ins Innere der Bahn schieben wollte, hielt eine Hand sie fest. Erschrocken über die unerwartete Berührung an ihrem Ellbogen, fuhr sie herum und sah den schönsten braunen Augen entgegen, die sie je gesehen hatte.
»Hier«, sagte der Mann nur, und erst da sah sie, dass er ihr etwas hinhielt, das sie kurz nicht zuordnen konnte.
Emilia musste sich von den braunen Augen des Mannes lösen, um auf den Gegenstand in seiner Hand zu schauen.
»Mein Portemonnaie«, stieß sie aus, als ihr bewusst wurde, dass sie es aus ihrer Tasche verloren haben musste. Instinktiv langte sie mit ihrer freien Hand nach ihrer Tasche und musste erkennen, dass sie vergessen hatte, den Reißverschluss zu schließen. Jeder Dieb hätte sich ungehindert an ihr bedienen können. »Dankeschön!«
»Kein Ding«, erwiderte der Mann nur und nickte dann an ihr vorbei. Emilia verstand nicht recht, was er damit meinte, doch dann fügte er hinzu: »Sie müssen jetzt trotzdem einsteigen, wenn die Bahn nicht ohne Sie fahren soll.«
»Ach ja, richtig«, erwiderte Emilia verlegen und nahm dem Mann schließlich ihr Portemonnaie aus der Hand. Schnell stieg sie ein, hievte den schweren Koffer hinter sich her und drehte sich dann noch einmal zu dem Fremden um. »Noch mal vielen Dank«, sagte sie.
Doch er nickte nur und ging dann an ihr vorbei. Ein wenig wehmütig schaute sie dem Mann hinterher und erkannte plötzlich an dem braunen Cord und den Ellbogen-Aufnähern, dass es sich um ihren Mitfahrer aus dem Zug gehandelt hatte. Wäre dies hier eine Liebesgeschichte, dachte sie sich, dann würden sie sich nun im Getümmel der Leute unterhalten, sich verstohlen berühren und schließlich den Abend zusammen verbringen. Doch dies war keine Liebesgeschichte, sondern nur eine Fahrt nach Grünwald, wo ein neues Leben auf sie wartete.
***
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtete Samuel die Frau in ihrem Hosenanzug von seinem Sitzplatz in der S-Bahn aus. Sie saß einige Meter weiter vorne und hielt ihren Kopf gebeugt. Vermutlich kritzelte sie wieder etwas in das kleine Buch. Ihr Gesicht hatte nicht so ausgesehen, wie er erwartet hätte. Der Ausdruck darin hatte entgegen seiner Erwartung doch etwas Verträumtes gehabt. In ihren braunen Augen hatte ein Funkeln gelegen. Samuel hätte sie süß gefunden, vielleicht sogar schön, wenn sie nicht diesen Eindruck einer geschäftigen Businessfrau gemacht hätte. Kühle Geschäftsfrauen passten nicht zu ihm, also versuchte er erst gar nicht, irgendeinen Annäherungsversuch zu starten.
Er beobachtete sie eine Weile, bis sie sich dem beschaulichen Ort Grünwald näherten. Samuel raffte sich auf und nahm die Tasche von seinem Nachbarsitz. Die S-Bahn hielt mit dem unverkennbaren Ruck, den nur öffentliche Verkehrsmittel für sich als Alleinstellungsmerkmal beanspruchten. Die Fremde hatte ihren Sitzplatz schon verlassen, sodass Samuel nur noch einen kurzen Blick auf ihren Rücken erhaschen konnte. Doch als er auf ihren nun leeren Sitzplatz sah, hoben sich überrascht seine Augenbrauen. Dort lag ihr Journal.
Samuel machte einen kleinen Schlenker an dem Sitzplatz vorbei, nahm das Notizbuch an sich und stieg schließlich rasch aus. Die Frau hatte sich schon etliche Meter entfernt, sodass sich Rufen nicht lohnte. Also lief er ihr schnell hinterher. Doch dann erspähte er einen auf Hochglanz polierten Geländewagen, der plötzlich neben ihr hielt. Und bevor Samuel sie überhaupt hatte erreichen können, war sie in dem schwarzen Ungetüm mit verdunkelten Scheiben verschwunden.
Samuel stand wie hilflos auf dem Bordstein. In der einen Hand hielt er seine Tasche vom Wochenende in Berlin, in der anderen ein Notizbuch, dessen Seiten ungemein wichtig zu sein schienen.
Nach zwanzig Minuten Fußweg hatte der Dozent sein Haus erreicht. Es war das älteste Haus der Umgebung. Mit seinem spitzen Dach, den blauen Fensterläden, der abgerundeten Tür, dem runden Giebelfenster und dem verwunschenen Vorgarten stand das Gebäude unter Denkmalschutz. Samuel lächelte beim Anblick dieses kleinen urigen Ruhepols inmitten der Grünwalder Prunkbauten. Es passte so gut in diese Wohngegend wie Erbseneintopf auf die Menükarte eines Fünf-Sterne-Restaurants. Wie Fix-und-Foxy-Comics im Regal britischer Klassiker. Wie Samuel nach Grünwald. Irgendwie verschaffte ihm dieses optische Außenseitertum die leise Befriedigung von Genugtuung. Es war sein Ausdruck von Rebellion. Still, aber dennoch da.
Als Samuel die Tür aufstieß, ließ er zuerst seine Tasche auf den Boden fallen. Dann legte er das Notizbuch auf eine Kommode und ging direkt in die Küche, um einen Blick in den Kühlschrank zu werfen, der ihm mit seinem gelben Licht zum Vorwurf machte, das er schon wieder vergessen hatte einzukaufen. Also schaute Samuel in den Brotkorb, wo noch etwas hartes Brot lag, das vom letzten Einkauf übrig geblieben war. Er bestrich es mit Schokocreme und ging zurück in den Flur, die Wangen nun gefüllt mit dem kargen, aber leckeren Mahl, wo er das Notizbuch wieder an sich nahm. Zusammen mit dem Buch schlenderte er in sein Wohnzimmer und ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen. Eher gelangweilt als neugierig schlug er das Notizbuch auf.
Kennwörter. PC-Kennwort. Pin. Finanzamt. Meine Steuernummer. Passwort Bank-App. Pin-Bank-App. Passwort Theater. Benutzername Theater...
Auf einer Doppelseite starrte Samuel eine Vielzahl von Nummern entgegen, die ein Leben ausmachte. Dort, zwischen zwei Buchdeckeln, hatte die Frau sämtliche Benutzerwörter, Kennwörter, Pins und Geheimzahlen notiert, um sich in einer Welt zurechtzufinden, die zunehmend digitalisiert worden war.
Samuel blätterte eine Seite weiter. Wichtige Kontaktdaten. Er schnaubte. Er konnte es nicht glauben. Die Frau hatte tatsächlich ihr gesamtes Leben in Buchstaben und Zahlen auf Papier gebracht. Jetzt tat sie ihm noch mehr leid.
***
Der Chauffeur, ein älterer Mann mit glatten grauen Haaren, hatte sie in der Einfahrt abgesetzt und war dann weitergefahren. Die Villa ihres Vaters ragte vor Emilia auf wie ein Riese, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, allen Ankömmlingen Furcht einzuflößen. Die junge Frau stand vor dem Prachtbau und staunte. Mit jedem Mal, wenn sie ihren Vater besuchte, hatte die Geschäftsfrau das Gefühl, dass das Haus größer geworden war. Auch dieses Mal konnte sie sich des Eindrucks nicht verwehren, dass irgendwas an dessen Fassade noch imposanter wirkte als sonst.
Dann wappnete sie sich auf den bevorstehenden Abend, indem sie ihren Rücken durchdrückte, die Schultern straffte und ihr Gesicht so weit hob, wie es sich für ein Mitglied der Familie Beck geziemte. Erst dann ging sie auf die doppelflügelige Eingangstür zu, die sich just in diesem Moment wie automatisch öffnete.
Als sie an der Tür ankam, wartete bereits eine ältere Dame. Emilia hatte sich Bedienstete immer mit Uniform vorgestellt. Doch die Hausangestellten ihres Vaters trugen keine Uniformen. Hier war Etikette die einzige Uniform, die abverlangt wurde. Die Frau Mitte sechzig lächelte sie aus einem adretten lachsfarbenen Kostüm an, die Haare zu kurzen grauen Wellen frisiert.