Dr. Stefan Frank Großband 16 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 16 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2350 bis 2359 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1245

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 16

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covermotiv von © shutterstock/S_L

ISBN 978-3-7517-2956-7

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 16

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2350

Der unehrliche Freund

Dr. Stefan Frank 2351

Sie dachte, es wäre ein verstauchter Knöchel

Dr. Stefan Frank 2352

Blumen für einen traurigen Mann

Dr. Stefan Frank 2353

Sie war ein bezauberndes Mädchen

Dr. Stefan Frank 2354

Nur Freunde, oder mehr?

Dr. Stefan Frank 2355

Das Glück eines süßen Engels

Dr. Stefan Frank 2356

Ihre Fröhlichkeit war nur gespielt …

Dr. Stefan Frank 2357

Sarah hatte diesen Tag herbeigesehnt

Dr. Stefan Frank 2358

Ein Fahrradunfall mit schönen Folgen

Dr. Stefan Frank 2359

Wünsch dir was, Geburtstagskind!

Guide

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Contents

Der unehrliche Freund

Erkennt die verliebte Daniela, was Gerds wahre Absichten sind?

D aniela Flechner ist fest entschlossen, ihren Freund Gerd zu heiraten. Dass ihre Eltern immer wieder versuchen, ihren Freund schlechtzumachen, ändert daran nichts. Weshalb unterstellen sie ihm ständig irgendwelche Gemeinheiten? Warum gönnen sie ihr nicht einfach ihr Glück?

Nach dem Abschluss ihres Studiums überraschen die Flechners ihre Tochter mit einer dreimonatigen Reise nach Australien. Insgeheim hoffen sie, dass Daniela Gerd während dieser Auszeit vergessen wird.

Tatsächlich lernt Daniela in Australien einen anderen deutschen Touristen kennen, der ihr Herz schneller schlagen lässt. Aber die junge Frau wehrt sich gegen ihre Gefühle. Nein, sie wird sich nicht auf den charmanten Benjamin einlassen; sie muss Gerd die Treue halten!

Als sie wieder zurück in Grünwald ist, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse: Daniela leidet unter seltsamen Krankheitssymptomen, während sie sich nach Benjamin sehnt, der nichts mehr von sich hören lässt. Gerd verhält sich zunehmend verdächtig, und ihre Eltern weihen sie zögernd in ein lange gehütetes Familiengeheimnis ein, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellt. Und dann teilt ihr Dr. Frank auch noch eine Neuigkeit mit, die Daniela wohl für immer an Gerd binden wird …

„Komm rein, mein Schatz“, rief Joachim Flechner, als seine Tochter den Kopf vorsichtig durch den Türspalt steckte.

„Hallo, Papi“, begrüßte ihn Daniela mit einem Kuss auf die Wange.

„Es tut mir leid, dass ich nicht bei der Zeugnisvergabe sein konnte“, entschuldigte sich Herr Flechner. „Du siehst ja, was hier alles auf mich wartet.“

Entschuldigend deutete er mit dem Kopf auf mehrere Stapel Papier, die vor ihm auf dem riesigen Glasschreibtisch lagen.

„Ist schon gut. So besonders feierlich war die Übergabe sowieso nicht. Man hat uns einfach die Zeugnisse in die Hand gedrückt und fertig“, entgegnete Daniela.

„Das war zu meiner Zeit noch anders“, sinnierte Danielas Vater. „Aber gut, die Zeiten ändern sich. Lass mal sehen!“

Erwartungsvoll streckte er seiner Tochter die Hand entgegen. Daniela holte eine Plastikmappe aus ihrer Tasche und reichte sie ihrem Vater. Langsam und feierlich holte Herr Flechner ein Blatt aus der Hülle und betrachtete es wohlwollend.

„Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz. Meine Tochter ist jetzt Im- und Exportkauffrau. Ich bin sehr stolz auf dich. Dann können wir ja jetzt so langsam beginnen, die Übergabe der Firma vorzubereiten“, scherzte er mit einem Augenzwinkern.

„Ach, Papi, du weißt doch …“

„Ich weiß“, unterbrach sie Herr Flechner. „Ich weiß, dass du davon träumst, Künstlerin zu werden. Kunst ist ein schönes Hobby, mein Kind, aber doch kein Beruf!“

„Papa, wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich gern Museumspädagogin werden möchte. Das ist ein anerkannter Beruf! Mein Traum ist es, mit Kindern und Kunst zu arbeiten. Was ist denn daran so verkehrt?“

„Nichts, Dani. Daran ist nichts verkehrt. Aber ich brauche dich hier in der Firma. Komm, jetzt freuen wir uns über deinen Erfolg, und über die Zukunft reden wir später.“

Daniela nickte, aber sie war sich im Klaren darüber, dass ihr Vater sie als Nachfolgerin in seiner Firma sah, die er mit viel Fleiß und Geschick aus dem Nichts aufgebaut hatte.

Ihr Blick fiel auf das Foto auf dem Schreibtisch. Sie saß als kleines Mädchen mit zwei dicken Zöpfen auf dem Schoß ihres Vaters. Aufgenommen hatte man das Bild hier im Büro. Die beiden saßen hinter dem imposanten Schreibtisch, und Herr Flechner lächelte glücklich zu seiner Tochter herunter.

Daniela war mit der Bürde aufgewachsen, dass die Firma einmal von ihr geleitet werden sollte.

„Ich weiß, Papi, was dir die Firma bedeutet. Aber ich glaube, ich bin nicht die Richtige, um sie weiterzuführen“, machte sie vorsichtig einen erneuten Vorstoß.

„Na klar bist du die Richtige! Dein ausgezeichnetes Abschlusszeugnis zeigt doch, dass du eine gute Nachfolgerin werden wirst. Außerdem hast du ja noch einige Jahre Zeit, in die Firma hineinzuwachsen. In den nächsten Jahren durchläufst du alle Abteilungen, und dann bist du fit für die Übernahme. Mama und ich genießen dann unseren verdienten Ruhestand.“

Herr Flechner lächelte.

„Wenn du weiter lernen willst, dann solltest du über ein Studium der Wirtschaftswissenschaften nachdenken.“

„Wenn du meinst“, murmelte Daniela resigniert.

Sie liebte ihre Eltern über alles und wollte sie nicht enttäuschen. Sie hatten so viel für sie getan und waren immer für sie da gewesen. Daniela kam sich undankbar und schlecht vor, weil sie im Grunde ihres Herzens kein Interesse an dem Im- und Exportgeschäft hatte.

„Mama und ich würden heute Abend gern mit dir essen gehen, um deinen Abschluss zu feiern. Wir haben einen Tisch im Chez Jacques reserviert.“

„Im Chez Jacques ? Das ist doch der Franzose, der neulich einen Stern bekommen hat, oder?“, fragte Daniela.

„Ja, mein Schatz. Für dich ist mir eben nichts zu teuer!“, scherzte Herr Flechner. „Außerdem haben wir noch eine Überraschung für dich.“

„Was denn?“, fragte Daniela neugierig.

„Ich kann dir nur sagen, dass es etwas ist, was du dir schon lange gewünscht hast“, sagte er geheimnisvoll. „Aber wenn ich dir mehr verrate, wäre es keine Überraschung mehr, oder?“

„Stimmt. Sag mal, ich würde mich freuen, wenn Gerd mit uns essen geht, denn eigentlich bin ich heute Abend schon mit ihm verabredet“, sagte Daniela möglichst beiläufig.

Das eben noch aufgeschlossene und freundliche Gesicht von Herrn Flechner verdüsterte sich.

„Nein, das passt gar nicht. Wir wollten den heutigen Abend nur mit der Familie verbringen“, antwortete er kühl.

„Aber bald gehört Gerd auch zur Familie, schließlich werde ich ihn heiraten“, erwiderte Daniela betont lässig.

„Was?“, fragte Herr Flechner aufgeschreckt und starrte seine Tochter ungläubig an. „Ihr wollt heiraten? Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Du weißt eben nicht alles, Papa. Ich werde Gerd heiraten – auch, wenn du dich auf den Kopf stellst.“

Auf der Stirn von Joachim Flechner erschien eine tiefe Zornesfalte, aber er versuchte, sich zu beherrschen.

„Darüber reden wir noch“, sagte er knapp.

„Das können wir gerne tun, aber es wird an der Tatsache nichts ändern. Auch wenn du Gerd heute Abend nicht dabeihaben willst, bleibt er doch mein zukünftiger Ehemann“, erwiderte Daniela trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich muss jetzt auch los. Ich hole Eva aus der EDV ab; wir gehen einen Kaffee trinken.“

Als seine Tochter das Büro verlassen hatte, sah Herr Flechner ihr noch lange nach. Seine kleine Dani, sein Ein und Alles. Warum hatte sie sich gerade in diesen Gerd Grabbe verlieben müssen? Er war zwar ein hervorragender Buchhalter, das musste Herr Flechner zugestehen, aber mehr Positives fiel ihm zu Herrn Grabbe nicht ein.

Er wirkte arrogant und eitel, war bei seinen engen Mitarbeitern wegen seiner aufbrausenden Art nicht gerade beliebt und hatte den Ruf eines Frauenhelden. Man munkelte, dass er schon mit mindestens der halben weiblichen Belegschaft der Firma Flechner Impex eine Affäre gehabt hatte.

Aber es gab noch einen anderen Grund, warum Danielas Vater große Angst vor dem Tag hatte, an dem seine Tochter das Aufgebot bestellen würde.

Während ihr Vater seinen trüben Gedanken nachhing, ging Daniela in die EDV-Abteilung, um ihre Freundin Eva Speitel abzuholen. Die erste Hälfte der Ausbildung hatte Daniela in der väterlichen Firma absolviert und in der Zeit sowohl Gerd als auch Eva näher kennengelernt.

Obwohl die beiden Frauen von ihren Interessen her nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren sie gute Freundinnen geworden. Eva war ein echter Zahlenmensch, sie liebte alles, was man berechnen konnte. Für Daniela war Mathematik ein Buch mit sieben Siegeln; sie liebte die Kunst.

„Na, Dani, wie fühlt sich das an, wenn man das Abschlusszeugnis in der Tasche hat?“, fragte Eva Speitel ihre Freundin.

„Gut. Super gut!“ Daniela lachte. „Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein. Kannst du schon los?“

„Ich brauche noch zehn Minuten, dann kann ich Pause machen“, antwortete Eva und wandte sich wieder den Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm zu.

Kurz darauf gingen die beiden Freundinnen in ein nahegelegenes Café mit einem wunderschönen Wintergarten.

„Ich bin so froh, dass ich die Ausbildung endlich abgeschlossen habe“, seufzte Daniela erleichtert. „Ich hoffe, Papa ist jetzt zufrieden und stimmt zu, dass ich Museumspädagogin werde.“

Eva blickte skeptisch.

„Meinst du, dein alter Herr wird das unterstützen? Er will doch, dass du später mal die Firma übernimmst.“

„Ja, schon. Papa sähe es lieber, wenn ich Wirtschaft oder so was Langweiliges studierte. Aber er muss doch begreifen, dass das nichts für mich ist. Meine Eltern gehen heute Abend schick mit mir essen. Papa hat mir gesteckt, dass sie eine große Überraschung für mich haben – als Belohnung für die bestandene Prüfung“, sagte Daniela und rieb sich voll Vorfreude die Hände.

„Und du denkst, die Belohnung ist die Zustimmung zu einer Ausbildung zur Museumspädagogin?“, fragte Eva und runzelte ungläubig die Stirn.

„Ich hoffe es.“ Daniela nickte zuversichtlich und hielt ihre beiden Fäuste mit gedrückten Daumen vor die Brust. „Aber vielleicht fällt die Überraschung auch aus. Ich habe meinem Vater gerade gesteckt, dass Gerd und ich heiraten werden. Das hat ihm gar nicht gepasst.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Eva nickte. „Willst du das denn wirklich, oder wolltest du deinen alten Herrn nur schockieren?“

„Ich weiß überhaupt nicht, was ihr alle gegen Gerd habt. Ich liebe ihn eben“, brauste Daniela auf. „Und wir haben tatsächlich darüber gesprochen, zu heiraten.“

„Du weißt, dass Gerd und ich nicht besonders harmonieren, aber ich werde dir nicht die Freundschaft kündigen, wenn du ihn heiratest. Mein Eindruck ist allerdings, dass er mehr Interesse an der Frau hat, die eine millionenschwere Firma übernehmen wird, als an meiner lieben Freundin Daniela. Und ich denke, das sieht dein Vater genauso.“

„Ihr schätzt Gerd alle völlig falsch ein. Papa hat ihm noch nicht einmal eine richtige Chance gegeben, ihn kennenzulernen. Wenn er merkt, wie Gerd in Wirklichkeit ist, wird er sich schon beruhigen.“

„Na, ich weiß nicht. Gerd hat sich spätestens mit der Aktion im Kopierraum als Schwiegersohn des Firmenchefs komplett unmöglich gemacht.“

„Meine Güte! Was hat Gerd denn schon groß gemacht? Die blöde Schnalle aus dem Import wollte ihn anmachen und hat sich die Bluse aufgeknöpft und sich an ihn heran geschmissen. Dafür ist doch Gerd nicht verantwortlich“, empörte sich Daniela.

„Das ist Gerds Version. So, wie ich es gehört habe, war Gerd kurz davor, über die Schnalle herzufallen. Und wie man weiter hört, hatte dein Gerd seine Hose schon fast auf den Füßen liegen“, fuhr Eva stirnrunzelnd fort.

„Das sind doch alles böse Gerüchte. Der Einzige, der die beiden gesehen hat, ist der Klausen, und der lässt keine Gelegenheit aus, über andere zu lästern. Deshalb ist er ja auch als Erstes zu meinem Vater gerannt und hat ihm brühwarm erzählt, was er gesehen hat – natürlich mit riesigen Ausschmückungen.“

„Du glaubst also Gerd?“, fragte Eva.

„Natürlich glaube ich ihm! Wenn es anders wäre, dann hätte ihn die Schnalle vom Import doch wegen sexueller Belästigung angezeigt, oder?“

„Na ja, es ist keine sexuelle Belästigung, wenn die beiden einvernehmlich …“

„Rede nicht so ein dummes Zeug. Ich habe gedacht, dass wenigstens du meine Beziehung zu Gerd akzeptierst, aber jetzt stößt du schon in das gleiche Horn wie meine Eltern.“

„Akzeptieren ja, aber gut finden tue ich das nicht“, grummelte Eva.

***

„Grüß Gott, mein Name ist Benjamin Neubauer. Ich hatte um vier einen Termin. Sorry, bin etwas spät“, sagte der junge Mann atemlos und lächelte Martha Giesecke, die altgediente Sprechstundenhilfe von Dr. Frank, entwaffnend an. Er strich sich die verwuschelten dunklen Haare zurück und blickte mit seinen großen Kinderaugen so zerknirscht, dass Martha lächeln musste.

„Tja, junger Mann, det war vor einer Viertelstunde. Icke würde mal sagen, det ist ein bisschen spät“, sagte sie streng mit ihrem Berliner Dialekt, den sie auch nach vielen Jahren in München nicht ganz abgelegt hatte. Auf gar keinen Fall wollte sie sich von Benjamins Charme einwickeln lassen.

„Es tut mir schrecklich leid. Ich bin mit dem Rad gekommen und habe einfach unterschätzt, wie lange ich von Schwabing bis Grünwald brauche. Kann ich denn trotzdem noch zum Doktor?“, fragte Benjamin und hielt ihr zum Beweis seiner Geschichte einen Fahrradhelm vor die Nase.

„Na, Sie haben Glück, junger Mann. Wir hatten einen Notfall und sind leicht verzögert. Nehmen Sie mal Platz im Wartezimmer. Aber vorher brauche ich noch Ihre Krankenkassenkarte.“

Benjamin schenkte ihr ein dankbares Lächeln, fischt seine Karte aus dem Portemonnaie und nahm dann gehorsam Platz im Warteraum.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis Martha Giesecke ihn zu Dr. Frank ins Behandlungszimmer brachte.

„Herr Neubauer“, begrüßte ihn der Arzt freundlich. „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Seit sie aus Grünwald fortgezogen sind, waren Sie nicht mehr bei mir.“

„Servus, Dr. Frank. Das stimmt. Zum Glück hatte ich in den letzten Jahren keinen Grund, zum Arzt zu gehen“, erwiderte Benjamin lächelnd.

„Und was haben Sie heute für einen Grund? Haben Sie Beschwerden?“

„Nein, mir geht es gut. Aber in sechs Wochen mache ich eine dreimonatige Reise nach Australien. Wissen Sie, ich studiere Ethnologie, und meine Bachelorarbeit schreibe ich über die Songlines der Aborigines.“

„Was ist denn det?“, fragte Martha Giesecke, die noch im Raum stand.

„Die Ureinwohner Australiens hatten keine Schriftsprache. Trotzdem haben sie so eine Art Landkarte von ihren Stammesgebieten entwickelt, die allerdings nicht aufgezeichnet ist. Stattdessen finden die Aborigines ihre Wege durch das Gebiet anhand von Gesängen. Gesänge, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.“

Martha sah ihn fragend an.

„Wie? Die singen und finden damit den Weg?“

„Ja, das beschreibt es ganz gut.“ Benjamin lächelte und strich sich über seinen Dreitagebart. „Die Aborigines waren – und sind es zum Teil noch heute – Nomaden. Sie durchwandern ihr Land auf festen Routen, die sie an heiligen Stätten vorbeiführen, an Wasserstellen und anderen, für ihre Kultur wichtigen Plätzen. Der Gesang ist dabei so etwas wie ein Navigationsgerät“, erklärte Benjamin eifrig.

„Wat es nicht alles gibt auf Gottes großer Erde“, staunte Martha Giesecke.

„Wirklich interessant“, sagte Dr. Frank, der aufmerksam zugehört hatte. „Meine Lebensgefährtin träumt auch davon, dass wir eine Reise nach Australien machen. Sie hat mir schon von den Songlines erzählt. Spannende Geschichte. Werden Sie denn mit den Aborigines wandern?“

„Das lässt sich von Deutschland aus schwer organisieren. Man kann zwar so touristische Wanderungen buchen, aber das ist nicht echt. Ich werde vor Ort versuchen, Kontakt zu bekommen. Ich habe gehört, dass die Aborigines nur selten Nicht-Stammesangehörige mitnehmen. Sie müssen großes Vertrauen zu den Menschen haben, schließlich sind die Songlines eine heilige Sache.“

„Wenn Sie von der Reise zurück sind, würde ich mich freuen, wenn Sie noch mal vorbeikämen und mir von Ihren Erfahrungen berichten“, schlug Dr. Stefan Frank vor.

„Sehr gern. Ich hoffe, ich habe auch etwas zu erzählen. Wie gesagt, es ist nicht einfach, eine echte Wanderung mitzumachen.“

„Ich drücke die Daumen“, sagte Dr. Frank. „Was führt Sie denn nun genau zu mir?“

„Ich werde mich vermutlich in Gegenden aufhalten, in denen medizinische Versorgung nicht schnell zu erreichen ist. Ich wollte Sie bitten, mir Tipps für eine Reiseapotheke zu geben.“

„Eine Reiseapotheke kann ich Ihnen gern zusammenstellen, aber ich bin kein Tropenmediziner. Haben Sie sich erkundigt, ob bestimmte Impfungen vorgeschrieben sind?“

„Wer von Deutschland aus einreist, muss nichts nachweisen. Empfohlen werden natürlich die üblichen Impfungen, wie Tetanus, Diphtherie, Polio und so weiter. Aber da bin ich laut Impfpass noch geschützt.“

„Haben Sie Ihren Impfpass mitgebracht? Ich würde gern einen Blick darauf werfen“, bat Dr. Stefan Frank.

„Klar. Hier ist er.“

Der Arzt blätterte durch das Dokument und nickte zufrieden.

„Sie haben recht. Das sieht alles bestens aus. Was eine vernünftige Reiseapotheke anbelangt, kann ich Ihnen nur bedingt helfen. Tipps können Sie von mir bekommen, aber die meisten Sachen kann ich Ihnen nicht verschreiben, die müssen Sie sich auf eigene Kosten besorgen“, erklärte Dr. Stefan Frank.

„Das weiß ich“, bestätigte Benjamin. „Ich habe nur gedacht, dass Sie mir vielleicht für alle Fälle ein Antibiotikum verschreiben können. Falls ich mir eine Entzündung zuziehe.“

„Hmm. Ich gehe mal davon aus, dass Sie keine medizinische Ausbildung haben, oder?“

Benjamin nickte.

„Dann sollten Sie sehr vorsichtig sein, wenn Sie sich selbst medikamentieren. Es ist immer besser, einen Mediziner um Rat zu fragen, ehe man einfach ein Antibiotikum schluckt.“

„Ich mache das bestimmt nicht leichtfertig. Aber ich hatte in den letzten Jahren schon zweimal im Urlaub eine dicke Entzündung nach einem Insektenstich. Offensichtlich reagiere ich ein bisschen allergisch. Die Ärzte in meinem Urlaubsland haben mir jedes Mal ein Antibiotikum verschrieben. Das hat auch immer schnell geholfen.“

„Verstehe“, sagte der Arzt. „Für einen solchen Fall verschreibe ich Ihnen ein Breitbandantibiotikum. Aber bitte, wenn Sie die Möglichkeit haben, zu einem Arzt zu gehen, machen Sie das, ehe Sie auf die mitgebrachten Mittel zurückgreifen.“

„Versprochen“, sagte Benjamin. „Was ist denn sinnvoll für eine Reiseapotheke, mal abgesehen von den üblichen Sachen wie Schmerztabletten, Mullbinden, Pflaster, Durchfallmittel und natürlich Sonnenschutz und etwas gegen Sonnenbrand?“

„Da haben Sie schon wichtige Dinge aufgezählt. Nicht schaden kann es, wenn Sie eine Pinzette dabeihaben, um Splitter entfernen zu können. Außerdem gehören in eine Reiseapotheke eine jodhaltige Salbe und Desinfektionsspray.“

Dr. Frank musterte seinen Patienten aufmerksam.

„Und gerade Sie, wenn Sie überempfindlich auf Insektenstiche reagieren, sollten einen guten Mückenschutz und ein Mittel gegen Mückenstiche dabeihaben. Auch nicht schaden können ein paar Einmalhandschuhe und Wasseraufbereitungstabletten, wenn Sie in Regionen unterwegs sind, in denen Sie über die Trinkwasserqualität nichts in Erfahrung bringen können.“

Benjamin holte ein kleines Heftchen aus der Tasche und notierte sich die Tipps von Dr. Frank.

„Danke“, sagte er. „Dann muss ich wohl noch einen Einkauf machen.“

„Von mir können Sie leider nur das Rezept für ein Antibiotikum bekommen. Das holen Sie sich bitte gleich am Tresen ab. Denken Sie daran, dass in Australien eine große Gesundheitsgefahr von der Sonne ausgeht. Cremen Sie sich immer gut ein, und nehmen Sie eine Sonnenmilch mit hohem Lichtschutzfaktor.“

„Ich weiß, die dünne Ozonschicht über Australien macht die Sonne dort sehr gefährlich. Dagegen kann ich mich schützen. Ein bisschen Sorge habe ich wegen der vielen giftigen Kleintiere: Schlangen, Spinnen und diese giftige Würfelqualle. Kann ich prophylaktisch etwas mitnehmen, falls mich eins von den Viechern erwischt?“

„Offen gestanden bin ich da überfragt. Rufen Sie beim Münchner Tropeninstitut an. Dort sitzen Fachleute für diese Spezialfragen“, sagte Dr. Frank.

„Das mache ich. Und wenn ich zurück bin, melde ich mich bestimmt wieder bei Ihnen“, versprach Benjamin und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.

Fünf Minuten später brachte Martha Giesecke die nächste Patientin zu ihrem Chef.

„Grüß Gott, Frau Flechner, wie geht es Ihnen? Was macht der Rücken?“, fragte Dr. Frank.

„Mit meinem Rücken ist alles in Ordnung. Seit ich wieder regelmäßig Sport treibe, sind die Schmerzen verschwunden“, antwortete Bettina Flechner. „Ich komme heute aber wegen unserer Tochter.“

„Wegen Daniela? Warum kommt sie nicht selbst?“, fragte Dr. Frank irritiert.

„Sie ist nicht krank. Mein Mann und ich haben uns überlegt, dass wir ihr zur bestandenen Prüfung eine Reise nach Australien schenken. Daniela weiß noch gar nichts davon. Ich wollte mich erkundigen, ob da im Voraus Impfungen nötig sind was man als Reiseapotheke mitnehmen sollte.“

„Na, das ist ja ein Ding!“ Dr. Stefan Frank lachte.

„Wieso? Was ist denn?“, fragte Frau Flechner verunsichert.

„Der junge Mann, der vor Ihnen bei mir war, fliegt auch nach Australien und hatte genau die gleichen Fragen.“

„Die Welt ist wirklich klein.“ Jetzt lachte auch Bettina Flechner. „Dann wissen Sie also bestens Bescheid, oder?“

Dr. Stefan Frank nickte und erzählte Danielas Mutter, was er von Benjamin über Impfungen erfahren hatte, und beriet sie, was die Zusammenstellung einer Reiseapotheke anging.

„Soweit ich das hier sehe“, sagte Dr. Frank und schaute in seinen Computer, „haben Nachimpfungen bei Daniela immer regelmäßig stattgefunden. Der Schutz ist also ausreichend. Aber wie ich auch schon dem anderen Patienten sagte – ein Anruf beim Münchner Tropeninstitut kann nicht schaden. Vielleicht gibt es im Augenblick besondere Risiken, wie zum Beispiel den Ausbruch von Dengue-Fieber oder anderen Infektionskrankheiten. Darüber können Sie nur die Fachleute beraten.“

„Dann werde ich dort natürlich anrufen“, sagte Frau Flechner.

Dr. Frank rechnete damit, dass sie sich jetzt verabschieden würde, aber sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her und knetete sich verlegen die Hände.

„Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“, fragte Dr. Stefan Frank freundlich.

„Ja, Herr Doktor. Ich würde gern noch etwas mit Ihnen besprechen, Ihren Rat hören. Aber es ist eine etwas delikate Angelegenheit“, sagte Frau Flechner und blickte konzentriert auf ihren Schoß.

„Nur zu. Was bedrückt Sie?“, ermunterte sie der Arzt.

„Also, unsere Dani hat meinem Mann heute erzählt, dass sie heiraten will.“ Danielas Mutter sah auf, und Dr. Frank las Angst in ihren Augen.

„Aber das ist doch eigentlich ein schönes Ereignis“, sagte er und blickte sie verständnislos an.

„Eigentlich vielleicht, aber in diesem speziellen Fall nicht. Erstens sind mein Mann und ich nicht mit der Wahl unseres zukünftigen Schwiegersohnes einverstanden. Wir glauben, dass er sich nur an Dani herangemacht hat, weil sie einmal die Firma übernehmen wird. Ein Mitgiftjäger eben. Gerd ist ein ganz unangenehmer Typ, hat ständig Frauengeschichten und tut unserer Dani bestimmt nicht gut.“

Dr. Stefan Frank lächelte.

„Wissen Sie, Frau Flechner, es kommt häufig vor, dass Eltern Probleme mit der Partnerwahl ihrer Kinder haben. Wir wünschen uns für die Kinder immer einen idealen Partner. Aber oft gehen die Vorstellungen, was ideal ist, bei Eltern und Kindern auseinander. Vertrauen Sie in dieser Frage auf Danielas Urteilsvermögen; sie wird sich schon den richtigen Mann fürs Leben ausgesucht haben.“

„Gerd ist bestimmt nicht der richtige Mann für sie“, beharrte Danielas Mutter. „Mein Mann und ich hoffen sehr, dass Dani nach der Australienreise kein Interesse mehr an Gerd hat.“

„Nun ja, was soll ich dazu sagen?“, fragte Dr. Stefan Frank. „Ich kann Ihnen nur eines raten: Wenn Daniela ihren Gerd nach der Reise noch heiraten will, dann freunden Sie sich damit an. Setzen Sie nicht die gute Beziehung zu Ihrer Tochter aufs Spiel, weil Sie ihren Ehemann nicht akzeptieren!“

Frau Flechner schwieg und starrte auf einen Punkt hinter dem Kopf des Arztes. Zögernd begann sie, wieder zu sprechen.

„Gerd ist zwar ein Problem, aber das größere Problem ist das Heiraten an sich.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Dr. Stefan Frank stirnrunzelnd nach.

„Ich erzähle Ihnen jetzt ein Geheimnis, das bisher nur mein Mann und ich kennen. Sie haben doch Schweigepflicht, nicht?“

„Seien Sie ohne Sorge. Bei mir sind Ihre Geheimnisse sicher“, versprach der Grünwalder Arzt und machte mit der Hand eine Geste, die zeigte, wie er sich mit einem imaginären Schlüssel den Mund verschloss.

Frau Flechner räusperte sich zweimal, ehe ihr die Stimme wieder gehorchte.

„Daniela ist ein adoptiertes Kind. Sie war fünf Tage alt, als sie zu uns kam. Die leibliche Mutter hatte sie einfach in der Babyklappe abgelegt.“

Während sie sprach, waren ihr Tränen in die Augen geschossen. Obwohl seit der Adoption schon dreiundzwanzig Jahre verstrichen waren, ging es ihr immer noch nahe, dass die leibliche Mutter ihre süße Dani verstoßen hatte.

Dr. Frank sah seine Patientin ernst an.

„Ich nehme an, Daniela weiß nichts davon?“

Frau Flechner nickte stumm.

„Warum haben Sie denn nicht längst mit ihrer Tochter darüber gesprochen?“

„Wir wollten es, aber dann passte es doch immer nicht. Und je älter Dani wurde, desto mehr Angst hatten wir, dass sie es uns übelnimmt, dass wir sie nicht früher über ihre Herkunft aufgeklärt haben. Außerdem kennen wir doch weder den Namen der Mutter noch den des Vaters, was hätten wir ihr denn sagen sollen?“

„Auch wenn die leiblichen Eltern nicht bekannt sind, hat Daniela ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie adoptiert ist.“

„Dani ist doch unser Kind! Dass eine andere Frau sie geboren hat, spielt gar keine Rolle“, unterbrach ihn Bettina Flechner.

„Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Für Daniela spielt das eine Rolle“, widersprach Dr. Frank streng.

„Es wird ja sowieso herauskommen, wenn sie heiratet. Sie muss dann einen Auszug aus dem Geburtsregister beim Standesamt einreichen, und darin steht, dass Dani nicht unser leibliches Kind ist“, sagte Frau Flechner verzweifelt. „Was sollen wir denn nur machen?“

„Es tut mir leid, Ihnen das so hart sagen zu müssen, aber Sie haben einen großen Fehler gemacht, Ihrer Tochter die Adoption zu verschweigen.“

Der Grünwalder Arzt seufzte.

„Wenn Daniela erst durch die Urkunde erfährt, dass sie nicht Ihre leibliche Tochter ist, wird Sie Ihnen mit Sicherheit einen tiefgreifenden Vertrauensbruch vorwerfen. Sie können jetzt nur noch versuchen, die Situation einigermaßen zu retten, indem Sie Daniela die Wahrheit sagen, bevor ihr das Dokument ihrer Abstammung in die Hände fällt.“

***

„Du sollst zu Herrn Grabbe kommen“, sagte Gerti Schöne zu der jungen Praktikantin Helena. Gerti grinste dabei so vielsagend, dass Helena sofort überlegte, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war erst seit vier Tagen bei Flechner Impex und machte ein Praktikum in der Buchhaltung. Aber bisher hatte sie doch noch gar keine eigenständigen Aufgaben übernommen. Was wollte der Chef von ihr?

„Weißt du, was er von mir will?“, fragte sie ängstlich.

„Er will dir etwas erklären“, sagte Gerti mit süffisantem Unterton.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Nein, bestimmt nicht. Herr Grabbe ist bekannt dafür, dass er gern persönlichen Kontakt zu weiblichen Beschäftigten hat“, sagte Gerti und sah die hübsche junge Frau jetzt mitleidig an. Es rührte sie, dass die unerfahrene Helena so viel Respekt vor dem Chef der Buchhaltung hatte. „Hast du noch nichts von seinem Ruf gehört? Wir nennen den Grabbe hier nur Herr Grabscher “, erklärte sie kichernd.

Helena blickte irritiert.

„Was meinst du damit? Will er was von mir?“

„Vermutlich“, sagte Gerti knapp. „Du wärst nicht die erste Praktikantin, bei der er sein Glück versucht.“

„Aber er ist doch der Verlobte der zukünftigen Juniorchefin, wie ich gehört habe. Stimmt das denn nicht?“

„Doch. Die beiden sind ein Paar. Aber das hält ihn nicht davon ab, seine Finger nach anderen Frauen auszustrecken. Sehr zum Ärger vom großen Boss. Ich denke, der hat sich einen anderen Schwiegersohn gewünscht.“

„Soll ich lieber nicht hingehen?“, fragte Helena eingeschüchtert.

„Das wird schwierig, schließlich ist der Grabbe für dein Praktikum verantwortlich. Lass dich nur nicht von ihm einwickeln, wenn du meinen Rat hören willst.“

Mit bangen Gefühlen näherte sich Helena dem Büro von Gerd Grabbe. Schon zweimal hatte sie die Hand gehoben, um zu klopfen, doch jedes Mal ließ sie sie mutlos wieder sinken. Aber dann riss sie sich zusammen.

Das war doch bestimmt alles nur Büroklatsch. Wieso sollte Herr Grabbe Interesse an ihr haben? Gegen die wunderschöne und lebendige Daniela Flechner, die ihr gestern vorgestellt worden war, war sie doch nur eine graue Maus.

Helena klopfte und öffnete vorsichtig die Tür, nachdem sie ein leises ‚Herein‘ gehört hatte.

„Die schöne Helena!“, rief Gerd und lachte sie an. „Kommen Sie, und schließen Sie die Tür.“

Schüchtern näherte sich Helena dem Schreibtisch und nahm, nach einem kurzen Kopfnicken von Gerd in Richtung der Besprechungsecke, in einem der kleinen Ledersessel Platz. Sie schlug ihre Beine eng übereinander, saß kerzengerade und sah ihren Chef mit fragenden Augen und ängstlichem Blick an.

Gerd sagte nichts, sondern betrachtete sie nur wohlwollend. Schließlich stand er auf und kam zu ihr herüber.

„Warum so schüchtern, schöne Helena? Ich beiße nicht“, sagte er fröhlich.

„Worum geht es denn?“, fragte Helena mit gepresster Stimme.

„Ich will mit Ihnen ein bisschen über das Praktikum sprechen, Ihre Fragen zu unserer Firma beantworten und Sie besser kennenlernen“, sagte Gerd unschuldig lächelnd.

Helena entspannte sich. Es war also doch nur ein normales Praktikumsgespräch. Sie ärgerte sich, dass sie auf die Einflüsterungen der Kollegin gehört hatte. Kein Wunder, dachte sie, dass sich um Herrn Grabbe Gerüchte rankten, denn er war ein ausgesprochen attraktiver Mann und entsprach überhaupt nicht den Klischeevorstellungen von einem Buchhalter.

Sein pechschwarzes Haar war nach hinten gekämmt, wodurch seine scharf geschnittenen Gesichtszüge betont wurden. Beim Lächeln blitzten perfekte Zähne auf. Unter seinem teuren weißen Hemd zeichneten sich kräftige Muskeln und breite Schultern ab.

„So, schöne Helena, jetzt erzählen Sie mal ein bisschen von sich“, forderte Gerd die Praktikantin auf.

„Ich bin einundzwanzig Jahre alt und habe eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen. Um meine Chancen auf eine gute Stelle zu verbessern, habe ich mich entschieden, verschiedene Praktika zu machen, um mal in die unterschiedlichsten Firmen hineinzuschnuppern, ehe ich mich entscheide, in welche Richtung …“

„Ja, ja, das steht ja alles in Ihrer Praktikumsbewerbung. Gehen Sie gern gut essen?“, fragte Gerd so unvermittelt, dass Helena im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben.

„Ja, schon“, stammelte sie unsicher.

„Das passt ja gut. Ich nämlich auch. Was hältst du davon, wenn wir beide den morgigen Abend zusammen verbringen? Du kannst mir dann noch mehr über dich erzählen. Ich denke da an ein schnuckeliges Restaurant, danach gehen wir in eine Bar, und dann könnte ich dir noch meine Briefmarkensammlung zeigen.“ Gerd grinste anzüglich.

Während er gesprochen hatte, war er mit seinem Sessel näher an Helena herangerückt und hatte ihr die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Mit kreisenden Bewegungen wanderte seine Hand langsam unter ihren Rock. Helena erstarrte.

Doch nicht nur Büroklatsch, dachte sie. Sie schob seine Hand energisch zurück und rückte von ihm ab.

„Mein Freund sähe es bestimmt nicht gern, wenn ich mit Ihnen essen gehe“, sagte sie mit rauer Stimme.

„Er braucht ja nichts davon zu wissen, schöne Helena. Was ist denn schon dabei? Außerdem habe ich hier eine einflussreiche Position. Ich könnte vieles für dich tun …“

Diesmal legte er eine Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich heran. Mit der anderen Hand fingerte er an den Knöpfen ihrer Bluse. Er schloss die Augen, öffnete leicht den Mund und näherte sich dem ihren.

„Ich will das nicht“, platzte es aus Helena heraus, und sie riss sich energisch los.

Sie stand noch mitten im Raum und schloss die beiden Knöpfe ihrer Bluse, die Gerd mit geschickten Fingern geöffnet hatte, als die Tür aufging.

Daniela platzte mit einem fröhlichen „Hallo“ herein und erstarrte mitten in der Bewegung.

„Hallo, mein Engel“, sagte Gerd unschuldig. „Wie schön, dass du kommst.“ Er machte zwei Schritte auf Daniela zu und nahm seine verdatterte Freundin in den Arm. Dann drehte er sich zu Helena um und sah sie kühl an. „Wir beide sind ja auch fertig.“

Helena zwängte sich an Daniela vorbei, ohne sie anzusehen, und huschte mit einem Seufzer der Erleichterung aus dem Büro.

„Was war das denn?“, fragte Daniela, die ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„Ach, die junge Praktikantin.“ Gerd seufzte. „Sie hat gehofft, dass ich ihre Bewerbung unterstütze, wenn sie ihre weiblichen Reize spielen lässt.“

„Wie bitte? Sie hat dir eindeutige Avancen gemacht?“, fragte Daniela baff.

„Nun ja, heutzutage ist es nicht leicht, eine vernünftige Stelle zu finden, und Flechner Impex ist ein beliebter Arbeitgeber“, sagte Gerd achselzuckend.

„Aber deshalb reißt man sich doch nicht die Bluse auf. Wie lange geht denn ihr Praktikum noch?“

„Keine Ahnung, aber ich werde dafür sorgen, dass es ganz schnell beendet ist. Ein solches Verhalten darf nicht ungestraft bleiben“, sagte Gerd mit so gut gespielter Empörung, dass auch der letzte Zweifel Danielas ausgeräumt wurde.

„Ich glaube, ich muss gut auf dich aufpassen“, scherzte sie und lachte erleichtert.

„Das solltest du, mein Engel“, erwiderte Gerd und küsste sie auf die Wange. „Wohin gehen wir beiden Hübschen denn heute Abend?“

„Darüber wollte ich gerade mit dir reden“, antwortete Daniela verlegen. „Ich kann heute Abend nicht. Weißt du, Papa und Mama wollen mit mir essen gehen, um meinen Abschluss zu feiern. Nur wie drei.“

„Dein alter Herr hat mich also ausgeladen“, fasste Gerd das Gehörte zusammen.

„Ich habe gesagt, dass ich will, dass du dabei bist. Aber du kennst ja Papa. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht umzustimmen. Er will unbedingt einen reinen Familienabend machen“, sagte Daniela entschuldigend. „Aber wenn du willst, dann sage ich meinen Eltern ab.“

„Nein, mein Engel. Das sollst du nicht. Ich weiß, dass dein alter Herr Schwierigkeiten damit hat, dass ich ihm seine Tochter wegnehme. Wir sollten ihm Zeit lassen, sich mit dem Gedanken anzufreunden“, sagte Gerd jovial und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn wurmte, dass er bei Herrn Flechner keinen Fuß auf den Boden bekam.

„Ach, Gerd, ich bin ja so froh, dass du so viel Verständnis hast“, sagte Daniela dankbar und gab Gerd einen Kuss. „Dabei sollte Papa doch froh sein, dass ich mich in seinen kompetenten Buchhalter verliebt habe und nicht in einen Lagerarbeiter. Wenn er mir die Firma überträgt, dann sind wir beide doch ein unschlagbares Team.“

„Wie? Willst du jetzt doch in der Leitung der Firma mitarbeiten?“, fragte Gerd schärfer als beabsichtigt. „Ich dachte, ich soll die Firma allein übernehmen, und du kümmerst dich um deine Kunst.“

„Schon, aber das sollten wir Papa nicht erzählen. Wenn es so weit ist, dann schaffen wir einfach Fakten. Ist doch besser, oder?“ Daniela grinste verschwörerisch.

„Da hast du recht, mein Engel. Wenn dein Vater merkt, dass du dich den Anforderungen einer Firmenchefin nicht gewachsen fühlst, dann überlegt er sich das vielleicht noch anders.“

„Ich fühle mich dem schon gewachsen, aber es interessiert mich nicht“, wandte Daniela leicht eingeschnappt ein.

„Ach, mein Herz, ich traue dir sehr viel zu, aber eine Firma zu führen, gehört nicht zu deinen Fähigkeiten. Das solltest du besser mir überlassen“, sagte Gerd lachend und küsste sie gönnerhaft auf die Nasenspitze.

„Will ich ja auch“, murmelte Daniela. Im Innersten ärgerte sie sich, dass Gerd ihr nicht zutraute, die Firma zu übernehmen. Aber wahrscheinlich hatte er recht. Sie war nicht geschaffen für die harte Welt des Im- und Exportgeschäfts.

„Sag mal, Dani, wann willst du deinen Eltern eigentlich erzählen, dass wir beide heiraten?“, fragte Gerd.

„Ich habe es Papa heute Vormittag gesagt.“

„Und? Wie war seine Reaktion?“

„Na ja, wie soll ich das sagen? Also, so spontan war er nicht begeistert, aber ich habe ihm ganz deutlich gemacht, dass er sich damit abfinden muss. Weißt du, spätestens wenn das erste Enkelkind da ist, haben wir Papa und Mama komplett überzeugt.“

***

„Servus, Beni. Ich kann nicht schlafen“, sagte Hans-Peter Kramer stöhnend, als er mitten in der Nacht bei seinem Freund Benjamin an der Tür klingelte.

„Was ist denn los? Bist du krank?“, fragte Beni verschlafen und rieb sich die Augen.

„Ich bin so aufgeregt“, erklärte Hans.

„Wegen unserer Reise?“

Hans nickte. „Ich weiß, du findest das albern, aber ich kann nichts dafür.“

„Komm erst mal rein.“ Benjamin lachte und hielt seinem Freund die Wohnungstür auf.

Die beiden gingen ins Wohnzimmer. Während Hans es sich auf dem Sofa bequem machte, ging Benjamin in die Küche und kochte einen Tee.

„So, du aufgeregtes Hühnchen, hier ist ein Baldriantee. Den trinkt meine Mitbewohnerin immer, wenn sie vor Liebeskummer nicht schlafen kann.“

„Ich habe aber keinen Liebeskummer.“

„Hilft trotzdem. Trink!“, forderte Beni den Freund auf.

„Sorry, dass ich dich aufgeweckt habe. Aber mir ging so viel durch den Kopf, was ich noch mit dir besprechen will. Ich musste einfach kommen“, entschuldigte sich Hans, der sich plötzlich sehr dumm vorkam, weil er seinen Freund wegen Nichts aus dem Bett geklingelt hatte. Schließlich flogen sie erst in einer Woche, da hätte er auch zu einer passenderen Zeit kommen können.

„Lass gut sein. Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte Beni grinsend.

„Ich habe hier meine Liste von den Sachen, die ich mitnehmen will. Aber als ich vorhin versucht habe, alles in den Rucksack zu packen, habe ich gemerkt, dass es viel zu viel ist. Ich weiß nicht, was ich hierlassen soll“, sagte Hans verzweifelt und raufte sich die kurzgeschnittenen Haare.

Benjamin griff nach der Liste und studierte sie aufmerksam. Je mehr er las, desto breiter wurde sein Grinsen.

„Man merkt, dass du noch nie eine große Reise gemacht hast“, neckte er seinen Freund lachend. „Wir sind zwar drei Monate unterwegs, aber wenn du für jeden Tag eine neue Unterhose einpackst, dann passt in den Rucksack höchstens noch eine Zahnbürste.“

„Das stimmt doch gar nicht“, protestierte Hans. „Auf meiner Liste stehen nur zwanzig Unterhosen!“

„Ja, zwanzig Unterhosen, zwanzig T-Shirts, zehn Paar Socken, drei Pullover, zehn Hemden, drei Schlafanzüge …“, las Benjamin belustig vor. „Willst du in Australien einen Klamottenladen aufmachen?“

„Quatsch, aber ich will auch nicht als stinkender Tourist durch die Gegend laufen. Wenn wir im Outback unterwegs sind, gibt es doch bestimmt keine Waschsalons.“

„Du sollst ja auch nicht stinken, daran habe ich selbst ein großes Interesse“, lachte Benjamin. „Was würdest du denn davon halten, wenn du eine Tube Handwaschmittel einsteckst statt für jeden der neunzig Tage frische Wäsche?“

Hans sah ihn erstaunt an und fasst sich dann an den Kopf.

„Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen“, sagte er und zog die Mundwinkel runter und die Schultern hoch, um zu zeigen, wie peinlich es ihm war. Sein Gesicht nahm einen hilflosen Ausdruck an, als er leicht beschämt weitersprach. „Aber ich habe noch nie Wäsche ohne Maschine gewaschen. Kannst du das mit der Hand? Ich meine – kannst du mir zeigen wie das geht?“

„Mein lieber Scholli.“ Benjamin stöhnte. „Die Frau, die dich mal nimmt, hat es wirklich nicht leicht! Ich frage mich, wie du es schaffst, allein zu wohnen, ohne zu verlottern.“

„Mama kommt halt einmal die Woche und kümmert sich um alles“, sagte Hans achselzuckend. „Ich bin eben eher der Kopfmensch – aber trotzdem ein netter Typ, oder?“

„Das bist du, Hansi.“

„Bitte, bitte, nicht Hansi , das hört sich an wie ein Teddybär.“

„Du bist ein netter Typ, Hans-Peter“, verbesserte sich Benjamin grinsend.

„Du alter Mistkerl“, rief Hans und warf ein Sofakissen nach seinem Freund. „Hans-Peter ist noch schlimmer!“

„Lass uns an die Arbeit gehen. Wir streichen jetzt deine Liste so zusammen, dass du alles in einen Rucksack bekommst. Einverstanden?“

Hans nickte. „Danke, dass du mir hilfst. In praktischen Dingen bin ich halt eine Null. Aber falls du jemals ein juristisches Problem hast, löse ich das für dich.“

„Es kann nie schaden, einen zukünftigen Staranwalt zum Freund zu haben“ sagte Beni lächelnd.

Eine halbe Stunde später war die Liste fertig. Skeptisch las Hans die wenigen Stichworte durch, die es in die engere Wahl geschafft hatten.

„Und du meinst, das reicht?“, fragte er. „Soll ich nicht doch lieber noch ein zweites Paar Sandalen mitnehmen?“

„Nein, mein Bester. Denk immer daran, dass du den Rucksack über viele Kilometer tragen musst. Irgendwann zählt jedes Gramm!“

„Bist du eigentlich gar nicht aufgeregt?“, fragte Hans.

„Ein bisschen schon“, gab Benjamin zu. „Für mich hängt ja auch einiges von der Reise ab. Ich hoffe, dass ich genug Material sammeln kann, um meine Abschlussarbeit zu schreiben.“

„Das kriegen wir schon hin“, tröstete ihn Hans.

„Mit einem so perfekten Organisator an meiner Seite sehe ich dem Ganzen auch sehr gelassen entgegen“, spottete Benjamin.

***

„Was meinst du, Mami, soll ich das Buch über die Kunst der Aborigines mitnehmen?“, fragte Daniela und zeigte ihrer Mutter einen dicken, gebundenen Kunstband.

„Ich würde das hierlassen, du musst doch alles schleppen, Kind. Außerdem kannst du die Originale sehen.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, seufzte ihre Tochter. „Ach, Mami, ich bin so aufgeregt! Das ist das schönste Geschenk, das ihr mir machen konntet: drei Monate Australien.“

Daniela nahm ihre Mutter in den Arm und wirbelte mehrmals mit ihr herum.

„Stopp, mein Engel. Mir wird ganz schwindelig“, rief Frau Flechner lachend.

Danielas Vater gesellte sich zu seinen beiden Frauen. In der Hand hielt er eine in Geschenkpapier verpackte Kiste.

„Dies gibst du bitte Mr. Gelding mit den besten Grüßen von mir“, sagte er und reichte das Päckchen seiner Tochter. „Ich hoffe, du hast noch Platz dafür.“

„Was ist denn da drin? Du missbrauchst mich doch nicht als Drogenkurier, Papi?“, fragte Daniela mit einem Augenzwinkern.

„Das sind Zigarren. Ich weiß, dass Mr. Gelding ein großer Fan dieser Marke ist. Die sind in Australien schwer zu bekommen.“

„Gut, nehme ich mit. Ich finde es total nett, dass mich die Geldings in Sydney am Flughafen abholen und dass ich die ersten Tage bei ihnen wohnen kann.“

„Du solltest dir aber auf jeden Fall die Zeit nehmen, ein paar Tage in der Firma zu verbringen. Schließlich ist Gelding einer unserer wichtigsten Geschäftspartner. Es kann nicht schaden, wenn du als zukünftige Chefin von Flechner Impex Kontakte pflegst“, ermahnte sie ihr Vater.

„Natürlich werde ich mir die Firma mal anschauen. Aber doch nicht gleich ein paar Tage, Papa“, protestierte Daniela.

Ehe ihr Mann etwas erwidern konnte, mischte sich Bettina Flechner ein.

„Nun lass unsere Dani das mal selbst entscheiden. Wir haben ihr drei Monate Auszeit geschenkt. Dir wäre es am liebsten, wenn sie gleich übermorgen bei Gelding mitarbeiten würde, nicht?“

„Nein, sie soll schon Urlaub machen. Aber die Gelegenheit, unseren Partner vor Ort in Australien zu besuchen, wird sich so schnell nicht wieder ergeben …“

„Ja, sie geht ja auch hin, außerdem wohnt sie doch einige Tage bei den Geldings, da lernt man sich doch gut kennen“, sagte Frau Flechner in einem Ton, der deutlich machte, dass für sie das Thema damit beendet war. „So, mein Kind, jetzt lass uns noch mal durchgehen, ob du auch alles eingepackt hast.“

„Mami“, stöhnte Daniela genervt. „Wir haben schon zweimal alles überprüft. Ich habe nichts vergessen.“

„Ich glaube, ich bin aufgeregter als du“, stellte Bettina fest. „Meine kleine Dani für drei Monate in die Fremde zu schicken – das fällt mir schwer.“ Sie umarmte ihre Tochter und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Du meldest dich aber sofort, wenn du gut angekommen bist.“

„Mami! Auch das habe ich dir schon hundert Mal versprochen.“

„Und du passt immer gut auf dich auf!“, ermahnte Danielas Mutter sie ungerührt weiter.

Die Haustürklingel ersparte Daniela eine Antwort.

„Das wird Eva sein. Sie will sich noch von mir verabschieden“, rief sie und rannte zur Tür.

Kurze Zeit später kam Daniela Arm in Arm mit Eva ins Wohnzimmer zurück.

„Servus, Eva. Können Sie nicht noch einmal mit unserer Tochter reden?“, fragte Frau Flechner und sah Eva auffordernd an. „Wir möchten sie so gern zum Flughafen bringen, aber sie will unbedingt mit Gerd allein hinfahren.“

„Ich darf auch nicht mit“, sagte Eva lachend. „Ich glaube, da kann ich nichts tun.“

„Ich will darüber nicht schon wieder diskutieren“, brummte Daniela ärgerlich. „Ich möchte noch ein bisschen mit Gerd alleine sein. Schließlich sehen wir uns drei ganze Monate nicht. Das müsst ihr doch verstehen!“

„Ist ja gut, Kind“, lenkte Frau Flechner ein.

Danielas Vater klopfte sich innerlich auf die Schulter. Er hatte alles dafür getan, dass seine Dani den ungeliebten zukünftigen Schwiegersohn tatsächlich drei Monate nicht sehen würde. Drei aufregende Monate, die hoffentlich reichten, um sie von ihrer Verliebtheit zu heilen.

„Ich koche uns einen Tee“, schlug Bettina Flechner vor. „So viel Zeit ist doch noch, oder? Gerd holt dich ja erst in einer Stunde ab.“

Als Bettina mit dem Tee zurückkam, setzten sich die vier an den Wohnzimmertisch und plauderten über Danielas große Reise – über die Touren, die sie machen wollte, über die Museen, die sie besichtigen wollte, und über Kängurus, Wombats und andere Tiere, die Daniela in freier Wildbahn sehen würde.

„Nimm dich aber in Acht vor den giftigen Schlangen, und erkundige dich gut, ob du im Meer wirklich baden kannst – wegen der Quallen“, ermahnte ihre Mutter sie.

„Ja, Mami, ich bin ganz vorsichtig. Ich creme mich immer gut ein, trinke kein Leitungswasser und steige nicht zu fremden Männern ins Auto“, versprach Daniela.

„Und du musst mindestens ein Mal in der Woche anrufen, damit wir wissen, dass es dir gut geht.“

„Ja, Mami.“

Es klingelte wieder an der Haustür. Gerd kam, um Daniela abzuholen. Sie küsste ihn überschwänglich auf den Mund, aber seine Begrüßung durch die anderen fiel eher kühl aus.

„So, meine lieben Eltern und meine liebe Freundin: Daniela fliegt jetzt nach Australien! Wir sehen uns in drei Monaten!“, rief sie und hüpfte vor Vorfreude ein paarmal auf der Stelle.

„Viel Spaß, mein Engel“, sagte ihre Mutter und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Hier, das ist noch für dich. Ein Notgroschen.“ Sie schob einen Briefumschlag in Danielas Handtasche. „Und pass wirklich gut auf dich auf.“ Sie umarmte ihre Tochter und wollte sie gar nicht mehr loslassen.

Mit sanfter Gewalt löste Herr Flechner die Arme seiner Frau, um seinerseits die Tochter in den Arm zu nehmen.

„Ich wünsche dir auch viel Spaß, Schatz.“

„Ich auch“, schloss Eva sich den guten Wünschen an.

Gerd nahm Danielas Koffer, und die beiden gingen zu seinem Wagen. Das Ehepaar Flechner und Eva blieben in der geöffneten Haustür stehen und winkten dem Auto so lange nach, bis es um die Straßenecke verschwunden war.

Während der Fahrt zum Flughafen war Gerd einsilbig. Finster blickte er vor sich hin.

„Du bist doch nicht sauer, weil ich so lange weg sein werde?“, fragte Daniela vorsichtig.

„Nun ja, schön finde ich das nicht, aber mehr ärgere ich mich über deinen Vater“, brummte Gerd. „Ist diese Aktion mit dir abgesprochen?“

Daniela schluckte. Was meinte er? Welche Aktion? Hatte ihr Vater Gerd gekündigt?

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Ich habe letzte Woche einen Urlaubsantrag eingereicht, weil ich dich in Australien besuchen wollte. Er ist abgelehnt worden – auf allerhöchste Anordnung vom Chef“, berichtete Gerd finster.

„Davon hat Papa mir nichts gesagt. Was war denn die Begründung? Er kann doch nicht einfach sagen, der Grabbe soll meine Tochter nicht treffen, deshalb gewähre ich ihm keinen Urlaub.“

„Oh, dein Vater ist viel raffinierter! Die gesamte Buchhaltung hat drei Monate Urlaubssperre, weil wir eine Zwischenbilanz für Flechner Impex erstellen sollen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass mein Vater so was macht“, empörte sich Daniela. „Bist du sicher, dass die Zwischenbilanz nicht doch zwingend gemacht werden muss?“

„Hör mal, Kleines. Ich bin der Chefbuchhalter. Ich weiß, wann eine Bilanz fällig ist. Das hat sich dein Vater nur überlegt, um mich von dir fernzuhalten.“

„Aber das wird ihm nicht gelingen“, sagte Daniela und legte den Arm um Gerd. Sie küsste ihn auf die Wange und schmiegte sich an ihn. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass du nach Australien kommen wolltest. Wie süß von dir.“

„Es sollte eine Überraschung werden“, sagte Gerd. „Die hat mir dein Vater jetzt gründlich versaut.“

„Sei nicht böse. Ich verspreche dir, dass Papa es nicht schaffen wird, uns auseinanderzubringen. Drei Monate sind schnell um, und dann heiraten wir – egal, was meine Eltern dazu meinen.“

„Ich will nicht hoffen, dass du auf dumme Gedanken kommst und mit einem Känguru durchbrennst“, scherzte Gerd bemüht.

„Ach, bei so einem kuscheligen Känguru könnte ich schon schwach werden“, erwiderte Daniela lachend.

Gerd fuhr in das Parkhaus des Flughafens, zog ein Ticket und stellte seinen Wagen ab.

„Wir haben noch über zwei Stunden“, sagte Daniela nach einem Blick auf die Uhr. „Hoffentlich kann ich schon mein Gepäck loswerden und einchecken. Dann können wir ganz in Ruhe einen Kaffee trinken.“

Am Flugschalter ging alles ganz schnell. Es gab nur eine sehr kurze Schlange, und schon eine Viertelstunde später befanden sich Daniela und Gerd in einem Bistro. Gerd war zum Selbstbedienungstresen gegangen, um zwei Milchkaffees zu holen.

Daniela hatte bereits Platz genommen und ihre Bordkarte vor sich gelegt. Ein Mann schob sich an ihrem Tisch vorbei und fegte mit seinem Ärmel die Bordkarte von der Tischplatte. Er schien das nicht bemerkt zu haben, denn er schritt unbeirrt auf einen freien Tisch zu, wobei er noch einmal über seine eigenen Füße stolperte.

Daniela blickte ihm freundlich kopfschüttelnd nach und wollte sich gerade nach dem Boardingpass bücken, als sich eine zweite Hand nach der Karte ausstreckte.

„Du musst entschuldigen“, sagte ein junger Mann. „Mein Freund ist manchmal ein bisschen tapsig.“ Dabei lächelte er Daniela so offen und freundlich an, dass sie ihn auf den ersten Blick sympathisch fand.

Ist ja nichts passiert“, entgegnete sie und lächelte zurück.

Als ihr der junge Mann die Bordkarte reichte, fiel sein Blick darauf.

„Na, das ist ja ein Zufall. Wir sitzen im gleichen Flieger. Mein Freund und ich fliegen auch nach Sydney. Warst du schon häufiger in Australien?“

„Nein, es ist meine erste große Reise“, sagte Daniela. „Und du und dein Freund? Seid ihr schon mal da gewesen?“

„Ich war vor zwei Jahren dort und habe mich in Australien verliebt. Es ist ein wunderbares Land.“

„Oh, vielleicht haben wir während des Fluges Gelegenheit, noch ein wenig zu sprechen“, sagte Daniela. „Ich würde gern ein paar Tipps bekommen, was ich unbedingt unternehmen sollte.“

„Sehr gern. Ich heiße übrigens Benjamin, oder einfach nur Beni. Mein Freund ist der Hans.

„Ich bin Daniela, oder Dani.“

„Du reist allein?“, wunderte sich Benjamin.

Daniela wollte gerade antworten, als mit einem lauten Scheppern ein Tablett so heftig auf den Tisch gestellt wurde, dass der Kaffee aus den Tassen schwappte.

Gerd legte besitzergreifend seine Hand auf Danielas Schulter und sah Benjamin funkelnd an.

„Kennt ihr euch?“, fragte er.

„Du wirst es nicht glauben, Beni und sein Freund sitzen in der gleichen Maschine wie ich! Sie fliegen auch nach Sydney“, antwortete Dani strahlend, die gar nicht gemerkt hatte, dass Gerds Blicke Beni am liebsten an die Wand genagelt hätten.

„Na, so was, der Beni sitzt im gleichen Flieger“, spottete Gerd. „Da ich nicht nach Sydney fliege, würde ich jetzt gern noch ein paar Minuten mit meiner Verlobten allein haben. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist“, fügte er ironisch und mit einem kalten Blick auf Benjamin hinzu.

„Sicher“, sagte Beni, der sich über die zur Schau gestellte Feindschaft wunderte. Er hatte doch gerade mal drei harmlose Sätze mit der schönen Dani gewechselt. Warum war ihr Verlobter so eifersüchtig? Ganz offensichtlich war er nicht damit einverstanden, dass sie die Reise allein antrat.

„Dein Glück möchte ich haben“, grinste Hans, als Beni sich zu ihm an den Tisch setzte. „Wie schaffst du das nur, immer mit den schönsten Frauen ins Gespräch zu kommen?“

„Mit deiner Hilfe, mein Lieber. Du hast im Vorbeigehen Danis Bordkarte heruntergerissen, und ich habe sie aufgehoben.“

„Das habe ich gar nicht gemerkt“, sagte Hans betroffen. „Na, wunderbar, ich bin mal wieder der Trottel und du der Gentleman!“

„Du wirst noch Gelegenheit haben, dich bei ihr zu entschuldigen. Sie fliegt auch nach Sidney. Und wenn ich das richtig gesehen habe, sitzt die schöne Dame in der Reihe vor uns.“

„Aber wie ich unschwer erkennen kann, ist deine Schönheit nicht solo“, sagte Hans grinsend und deutete mit dem Kopf zu Danielas Tisch herüber.

„Leider nicht. Dieser Lackaffe ist ihr Verlobter. Aber er muss zu Hause bleiben. Dani macht allein Urlaub.“

„Ich warne dich!“, sagte Hans streng und drohte seinem Freund mit dem Zeigefinger. „Wir beide sind zusammen unterwegs. Ich hoffe, dass du nicht planst, deine Reise lieber mit dieser Dani zu machen.“

„Natürlich nicht! Wie soll das denn gehen? Meinst du, sie vergisst ihren Verlobten sofort nach dem Einsteigen ins Flugzeug, um mit mir durchzubrennen?“, erwiderte Benjamin lachend. Für einen kurzen Moment gönnte er sich aber doch den schönen Traum, dass Daniela mit ihm Hand in Hand auf den Songlines wanderte.

***

„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Hans genervt und verscheuchte die dicken schwarzen Fliegen, die sich auf seinem Gesicht niedergelassen hatten. „Romantisches Outback Australiens! Was für ein Quatsch! Die Hitze, der Staub und diese Viecher machen mich fertig. Ich gehe ins Zelt und pflege meine Füße. Obwohl – Füße kann man das schon gar nicht mehr nennen. Das da unten ist nur noch eine einzige Blase“, stöhnte er mit einem Blick auf seine geschundenen Füße.

„Du bist ein echtes Weichei“, neckte Benjamin seinen Freund, aber auch er wischte sich unwirsch übers Gesicht, um wenigstens für einen Moment die lästigen Fliegen loszuwerden.

„Die Fliegen sind eine echte Plage“, sagte nun auch Daniela, wild mit den Händen wedelnd. „Ich verstehe gar nicht, wie unsere Führer das aushalten, sie nicht zu verscheuchen.“

Sie blickte zu den drei Männern, die die Tour begleiteten und fröhlich entspannt, in einer unverständlichen Sprache plaudernd, in der Nähe am Lagerfeuer saßen.

„Sie sind daran gewöhnt. Die Aborigines haben von klein auf gelernt, dass es nur unnötig Kraft kostet, sich ständig vor dem Gesicht herumzufuchteln. Kaum hast du die Biester verscheucht, sitzen sie sowieso schon wieder da“, erklärte Beni mit einem Achselzucken.

„Aber warum müssen sich diese Monster immer an die Augen, die Nasenlöcher und den Mund setzten?“, stöhnte Hans. „Ich habe einen so schönen breiten Rücken, da hätten sie alle Platz!“

„Sie sind halt auf der Suche nach Flüssigkeit. Auch für die Fliegen ist die Trockenheit eine Qual“, erklärte Benjamin.

„Mir kommen die Tränen! Die armen Fliegen! Warum wandern sie nicht aus, wenn es ihnen hier zu trocken ist?“

„Das ist eine gute Idee. Du solltest ihnen mal den Vorschlag machen“, sagte Daniela lachend.

„Ich werde im Zelt darüber nachdenken, wie ich mit ihnen kommunizieren kann“, murmelte Hans. „Und ihr beide wollt wirklich noch draußen bleiben?“

„Ich möchte mir gern den Sonnenuntergang anschauen. Wenn es dunkel wird, lässt doch die Fliegenplage nach“, meinte Benjamin.

„Das stimmt“, bestätigte Hans. „Aber sie machen nur Platz für andere Monster, die man dann noch nicht einmal mehr sieht, weil es dunkel ist. Mich hält hier draußen nichts mehr. Zum Glück ist morgen der letzte Tag, viel länger würde ich nicht durchhalten.“

Mit einem Ruck stand Hans auf und schüttelte sich noch einmal, um möglichst kein lästiges Insekt mit in das kleine Zelt zu nehmen.

Daniela und Benjamin blickten ihm nach.

„Er hält sich tapfer“, sagte Benjamin anerkennend. „Für einen Schreibtischtäter wie Hans ist das hier draußen eine echte Herausforderung.“

Daniela lächelte schweigend. Auch für sie war diese Tour eine Herausforderung. Sie konnte Hans sehr gut verstehen. Die Wanderung durch das Outback war viel anstrengender, als sie gedacht hatte. Aber auf der anderen Seite war ihr bewusst, dass sie ein wunderbares Abenteuer erlebte, von dem sie noch lange zehren würde.

Die drei Reisenden hatten sich den ganzen Flug über unterhalten und dabei festgestellt, dass sie sich gut verstanden. Daniela hatte sofort eingewilligt, als Benjamin ihr vorschlug, die Tour durch das Outback gemeinsam zu machen.

Zwar war es Beni nicht gelungen, eine ganz echte Songline-Wanderung zu organisieren, aber immerhin hatte er ein Reisebüro gefunden, das von Aborigines betrieben wurde. Dort hatte er eine fünftägige Tour gebucht. Die Reisegruppe war sehr klein, außer ihnen gab es nur noch ein Pärchen aus der Schweiz und einen wortkargen Engländer.

Tagsüber wurden sie von einem Eingeborenen geführt, der sehr bemüht war, die Touristen in die Geheimnisse des Walkabouts – der Wanderung auf den Songlines – einzuführen. Für ein bisschen Komfort sorgten zwei weitere Reisebegleiter, die mit einem Jeep voranfuhren, das Gepäck transportierten und an den Übernachtungsorten veranlassten, dass dort bereits die Zelte für die Nacht aufgebaut wurden und ein Abendessen vorbereitet war.

Obwohl Benjamin zuerst unglücklich darüber war, dass er doch auf eine eher touristische Tour hatte zurückgreifen müssen, hatte er schon am ersten Tag schätzen gelernt, welche Erleichterung es mit sich brachte, in der mörderischen Hitze nicht das ganze Gepäck schleppen und nach einem erschöpfenden Wandertag nicht noch ein Zelt aufbauen zu müssen.

„Was meinst du? Gehen wir ein paar Schritte?“, fragte Beni Daniela.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie unsicher. „Wir sollen uns doch nicht vom Lagerplatz entfernen – wegen der giftigen Schlangen und so.“

„Ich will mir ja auch nur ein bisschen die Beine vertreten. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir dort drüben von dem kleinen Felsen aus einen wunderbaren Blick auf den Sonnenuntergang haben werden.“

Benjamin war aufgestanden und reichte Daniela auffordernd die Hand, um sie aus dem Sand hochzuziehen. Sie streckte ihre Arme aus und ließ sich auf die müden Beine helfen.

„Ohh“, stöhnte sie. „Ich habe Muskelkater an Stellen, von denen ich gar nicht wusste, dass dort Muskeln sitzen – und das nur vom Wandern und über Steine klettern. Ich glaube, ich bin auch ein Weichei.“

„Aber ein nicht ganz so weiches wie Hans. Immerhin bleibst du noch mit mir draußen“, lachte Beni und küsste sie spontan auf die Wange.

„Bilde dir nur nichts ein“, neckte Daniela ihn. „Ich bleibe nur bei dir, weil es mir im Zelt zu stickig ist.“

„Schade“, sagte Beni und strahlte sie verliebt an. „Ich dachte, es hätte etwas mit mir zu tun.“

Daniela machte einen schnellen Schritt zur Seite, um sich aus Beni allzu großer Nähe zu entfernen. Schon als sie sich nach ein paar Tagen in Sydney wiedergetroffen hatten, hatte sie gemerkt, dass Benjamin sie nicht kalt ließ. Er war so anders als Gerd. So fröhlich und positiv. Und er liebte die Kunst, genau wie sie.

Sie hatten ein Museum mit alter und neuer Kunst der Aborigines besucht. Beide waren sie von den gleichen Bildern fasziniert und fühlten sich in die Kreise, Linien und Tierzeichnungen aus warmen, erdigen Farben wie hineingezogen. Für die mythische Kraft, die von diesen Kunstwerken ausging, hatten beide ein Gespür. Benjamin war ein Seelenverwandter.

Als sie nach dem Museumsbesuch durch die Straßen gegangen waren, hatte sich Daniela kaum beherrschen können, nicht nach Benis Hand zu greifen. Gern hätte sie seine Wärme und Energie gespürt, den Zauber der Verbundenheit noch etwas länger bewahrt. Ihr Körper sehnte sich nach dem seinen.

Auch ihm schien es nicht anders zu gehen, denn er hatte einige zaghafte Versuche gemacht, sie zu berühren. Aber Daniela versagte sich jede zärtliche Geste. Wie ein Mantra wiederholte sie im Geiste: Du heiratest Gerd. Du heiratest Gerd. Du heiratest …

Schließlich hatte Benjamin seine Annäherungsversuche aufgegeben. An dem Abend hatten sie sich mit einem flüchtigen, scheuen Wangenkuss voneinander verabschiedet. Sie war zu ihren Gastgebern gegangen, der Familie Gelding, und er in das Hotel zu seinem Freund Hans, der kein Interesse an dem Museumsbesuch gehabt hatte.

In der nächsten Woche hatten sie sich nicht getroffen, denn Daniela war von den Geldings zu einem mehrtägigen Ausflug eingeladen worden. Sie hatte gehofft, dass ihre Gefühle für Benjamin verfliegen würden, denn schließlich waren sie ja nur für einen Moment aufgeflammt – hervorgerufen durch das gemeinsame Erleben der wunderbaren Kunst. Das hatte sich Daniela zumindest eingeredet.

Trotzdem hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen, als Frau Gelding sie kurz nach der Rückkehr vom Ausflug ans Telefon geholt und mit einem wissenden Lächeln gesagt hatte, dass ein gewisser Mr. Benjamin sie sprechen wollte.

Beni hatte ihr mitgeteilt, dass er die Tour durch das Outback gebucht hatte. Drei Wochen später sollte es losgehen.

Nun wanderten sie schon seit drei Tagen nebeneinander, und die Spannung zwischen ihnen stieg von Tag zu Tag. Alle Mitreisenden spürten, dass Daniela und Benjamin ein unsichtbares Band verband, nur die beiden schienen die gegenseitige Anziehung stoisch zu ignorierten.

So war auch der frühe Rückzug von Hans nicht nur den lästigen Insekten geschuldet. Er wollte es seinem Freund ermöglichen, eine Zeit mit Daniela allein zu sein. Obwohl Hans nicht unbedingt derjenige war, der in Liebesdingen die Flöhe husten hörte, hatte er doch gesehen, wie Beni sich nach der schönen Daniela verzehrte.

„Ich hole uns noch ein Bier“, sagte Benjamin und ging zu den drei Männern am Lagerfeuer.

Mit zwei beschlagenen Flaschen aus der Kühlbox, die die fleißigen Helfer mitführten, holte er kurz darauf Daniela ein, die schon ein paar Schritte in Richtung Felsen vorgegangen war. Der Felsblock war oben flach, sodass sich die beiden nebeneinandersetzen konnten. Sie stießen mit den Flaschen an und genossen die ersten Schlucke des kalten Bieres.

„Die Sonne geht hier so rasend schnell unter, dass man kaum Zeit hat, den Sonnenuntergang zu bewundern“, bemerkte Daniela, die ihre Kamera schussbereit in der Hand hielt.

„In der Nähe des Äquators ist das leider so. Es wird früh dunkel, und die Dämmerung fällt mehr oder weniger aus“, sagte Benjamin.

„Ich weiß“, erwiderte Daniela. „Trotzdem erstaunt es mich immer wieder.“

Daniela hob ihre Kamera und drehte am Zoom. Während sie konzentriert auf den richtigen Moment für ein Foto wartete, konnte Benjamin sie betrachten, ohne dass es auffiel.

Sie war eine wunderschöne Frau. Ihr dunkelblondes langes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jeder Bewegung lustig über ihren Rücken wippte. Ihr fein geschwungener Nacken und ihre makellose Haut waren gebräunt.

Die langärmelige blumenbestickte Bluse, die sie trotz der Hitze als Schutz gegen die Insekten trug, schmiegte sich eng an ihren schlanken Körper. Die wohlgeformten langen Beine steckten in roten Shorts, während sie an ihren Füßen noch die klobigen Wanderschuhe trug.

„Was starrst du mich so an? Stimmt was nicht mit mir?“

Danielas Frage holte Benjamin in die Realität zurück. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Kamera beiseitegelegt hatte.

„Ich war ganz in Gedanken“, murmelte er verlegen.