Dr. Stefan Frank Großband 20 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 20 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2390 bis 2399 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1215

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 20

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Ground Picture / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4668-7

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 20

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2390

Nur einen Kuss will ich dir stehlen

Dr. Stefan Frank 2391

Ich bin zerrissen in mir selbst

Dr. Stefan Frank 2392

Bleib bei mir, kleine Emily

Dr. Stefan Frank 2393

Ein folgenreicher Zusammenstoß

Dr. Stefan Frank 2394

Heute soll für immer sein

Dr. Stefan Frank 2395

Endlich frei für die Liebe

Dr. Stefan Frank 2396

Nur eine Erkältung – oder?

Dr. Stefan Frank 2397

Ein letzter Kuss, bevor ich gehe

Dr. Stefan Frank 2398

Reitunfall mit ungeahnten Folgen

Dr. Stefan Frank 2399

Unverhoffte Vaterfreuden

Guide

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Contents

Nur einen Kuss will ich dir stehlen

Roman um eine verbotene Liebe

D ie junge Tierärztin Sarah ist verzweifelt. Ihre Tierklinik steht kurz vor dem finanziellen Aus. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird sie die Praxis schließen müssen.

Das erhoffte Wunder scheint tatsächlich einzutreten, als eines Abends ihr Nachbar Patrick vor der Tür steht und Sarah darum bittet, ihn zu heiraten. Ihm wurde gerade ein großes Vermögen hinterlassen, allerdings gibt es in dem Testament eine ungewöhnliche Klausel – der attraktive Notarzt erbt nur dann, wenn er innerhalb eines Jahres verheiratet ist. Mit einer Ehe wäre also beiden geholfen: Patrick käme an sein Vermögen, und Sarah erhielte im Gegenzug genug Geld, um die Tierklinik zu retten.

Zunächst reagiert die Tierärztin ablehnend. Sie mag ihren Nachbarn ja nicht einmal, er ist ein gewissenloser Casanova, der an jedem Finger eine andere Verehrerin hat. Schweren Herzens entschließt sie sich in ihrer Not dann aber doch, auf seinen Vorschlag einzugehen. Allerdings nur unter einer Bedingung: Es dürfen keine Gefühle ins Spiel kommen, die Ehe besteht einzig und allein auf dem Papier. Jegliche Zärtlichkeiten sind verboten! So will Sarah ihr Herz davor schützen, verletzt zu werden.

Doch im Alltag fällt es den beiden zunehmend schwer, sich an dieses Verbot zu halten, denn immer wieder fühlen sie sich wie magisch zueinander hingezogen …

„Auf dem Röntgenbild kann man deutlich die Verschmälerung des Gelenkspalts erkennen.“ Sarah von Neuburg deutete auf die Aufnahme, die an der Leuchttafel ihres Behandlungszimmers klemmte. „Und sehen Sie diese Flecken hier? Das sind Verkalkungen im Gelenk.“

„Was bedeutet das, Frau Doktor?“ Die Besucherin schlang schützend einen Arm um ihren Hund.

„Peppys Arthrose ist vorangeschritten. Er verweigert es, Treppen zu steigen, weil es ihm Schmerzen bereitet. Der Knorpel dient als Puffer in den Gelenken. Bei Peppy baut er sich ab, deshalb reiben seine Knochen aneinander, und das tut ihm weh. Besonders bei bestimmten Bewegungen, wie Treppensteigen oder Springen.“

„Können Sie ihm nicht etwas verschreiben, damit es ihm besser geht?“ Hoffnung lag in den Augen der Seniorin.

Sarah nickte. Der kleine Terrier mit dem weißen, gelockten Fell und den pfiffigen schwarzen Augen war in einem ebenso fortgeschrittenen Alter wie seine Besitzerin. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt und war ihr ein treuer Begleiter. Das fiel ihm in letzter Zeit jedoch zunehmend schwerer. Er bewegte sich so bedächtig, als würde er über Reißnägel laufen. Eine rasche Schmerzlinderung tat daher dringend not.

„Wir werden zwei Medikamente kombinieren, die ihm helfen sollten.“

„Vielen Dank.“ Frau Seibold stieß den Atem aus.

Sarah nahm zwei Schachteln aus dem Schrank mit den Medikamenten und zog einen Kugelschreiber aus ihrer Kitteltasche, um die Dosierung zu notieren.

„Die Tabletten mischen Sie in sein Futter. Wenn die Erkrankung schlimmer wird, müssen wir an eine Gelenkversteifung denken.“

„Eine Operation?“ Frau Seibold wurde ganz blass. „Mein Mann hat mir den Peppy geschenkt. Kurz danach ist er gestorben. Nun sind wir beide schon so lange allein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einmal nicht mehr da ist.“

„So weit ist es auch noch nicht. Peppys Herz ist gesund und kräftig. Und seine Arthrose überwachen wir sorgfältig.“

„Daheim weiß man bald nicht mehr, ob mehr Tabletten von ihm oder von mir im Schrank stehen.“ Die Rentnerin vergrub eine Hand im gelockten Fell des Terriers.

„Peppy wiegt zu viel, Frau Seibold. Er sollte dringend abnehmen, um seine Gelenke zu entlasten.“

„Aber er mag seine Leckerlis so sehr.“

„Es spricht nichts dagegen, ihm hin und wieder eines zu geben, nur nicht ständig. Durch die Arthritis hat er weniger Bewegung als früher, deshalb sollten Sie sein Futter reduzieren.“

„Na gut.“ Seufzend nickte die Besucherin. „Dr. Frank rät mir auch immer, ein bisschen abzunehmen. Essen wir halt beide etwas weniger, was Peppy?“

Der Terrier wedelte sacht.

Sarah gab ihr eine Visitenkarte.

„Das ist die Adresse einer Tiertherapeutin. Bringen Sie Peppy zu ihr. Die Behandlung wird ihm guttun. Wir sehen uns dann in vier Wochen wieder, ja?“

„Ist gut. Vielen Dank, Frau Doktor.“ Frau Seibold hob ihren Hund vom Behandlungstisch und reichte Sarah zum Abschied die Hand. Wenig später fiel die Tür hinter ihr zu.

Peppy war der letzte Patient für diesen Nachmittag gewesen. Sarah schaltete die Leuchttafel aus und gab ihre Untersuchungsergebnisse in den Computer ein. Sie arbeitete seit zwei Jahren in der Tierklinik ihres Vaters. Schon als Kind hatte sie einen guten Draht zu Tieren gehabt und kranke oder verletzte Tiere mit heimgebracht, um sie zu versorgen.

Es hatte früh festgestanden, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und Veterinärmedizin studieren würde. Sarah liebte ihren Beruf und hätte sich keinen anderen vorstellen können.

Während sich ihre Sprechstundenhilfe nun daranmachte, den metallenen Behandlungstisch zu desinfizieren, ging Sarah ins Vorzimmer. Hier kümmerte sich die Tierarzthelferin um die Verwaltung.

„Gibt es heute noch etwas zu erledigen?“

„Nur die Post.“ Beate deutete mit einem Finger auf einen Stapel Briefe, dabei zog sie ein Gesicht, als wäre es eine aggressive Kornnatter, die jede Sekunde zuschnappen konnte. Der Absender des obersten Kuverts war zu sehen: Inkassobüro.

Sarah unterdrückte einen Stoßseufzer. Die übrigen Briefe würden – der Miene ihres Gegenübers nach zu urteilen – nicht erfreulicher aussehen.

„Hat mein Vater die schon gesehen?“

„Gesehen und ignoriert.“

„Ich verstehe. Am besten spreche ich gleich mit ihm.“ Sarah lenkte ihre Schritte zum Behandlungsraum II. Nach einem kurzen Klopfen betrat sie das Praxiszimmer, in dem ihr Vater im grünen OP-Kittel und mit einem Mundschutz vor dem Gesicht ein oranges Fellbündel operierte. Seine Helferin assistierte ihm.

Offenbar war dies kein guter Zeitpunkt für ein Gespräch.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Eine angefahrene Katze“, gab ihr Vater Auskunft. Seine Stimme drang gedämpft durch den Mundschutz. „Noch kein halbes Jahr alt. Sie wurde vor unserer Tür abgelegt.“

„Oh nein. Wie schlimm ist es?“

„Ziemlich schlimm. Sie hat innere Blutungen. Immer, wenn ich glaube, sie stabilisiert zu haben, schlägt ihr Kreislauf Purzelbäume.“

„Kann ich dir helfen?“

„Das ist lieb, aber ich habe es hoffentlich gleich.“ Ihr Vater blickte kurz hoch. „Der Fahrer hat sich aus dem Staub gemacht. Kannst du dir das vorstellen?“

Sarah biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, dass jemand ein Tier verletzte und dann nicht zu seiner Verantwortung stand. Zu allem Überfluss würde das für ihre Tierklinik einen weiteren Verlust bedeuten: eine Operation, für deren Kosten niemand aufkommen würde.

„Ist die Kleine gechipt?“

„Nein, leider nicht. Das haben wir schon überprüft.“

Sarah grub die Zähne in die Unterlippe. Damit hatten sie keinen Anhaltspunkt, wem das Jungtier gehörte. Ihr Vater hätte niemals ein Tier in Not im Stich gelassen. Das bewunderte sie an ihm. Allerdings stellte es ihre Tierklinik vor ein gewaltiges Problem. Und dieses Problem trug den Namen „unbezahlte Rechnungen“.

Seit einiger Zeit kam es öfter vor, dass Menschen ihre Tiere herbrachten und die Behandlungskosten entweder zu spät oder gar nicht bezahlten. Sarahs Vater scheute sich davor, Mahnungen zu verschicken oder sein Geld gerichtlich eintreiben zu lassen. Lieber verzichtete er darauf. Zudem behandelte er Tiere in Not gratis, deshalb fehlten ihnen Einkünfte. Einkünfte, die sie dringend brauchten!

Hin und wieder trudelte eine Spende ein, aber das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Inzwischen hatte sich ein Schuldenberg angesammelt, der ihnen über den Kopf zu wachsen drohte und das Aus für die Tierklinik bedeuten konnte, wenn ihnen nicht bald ein Ausweg einfiel.

Sarah kannte die Zahlen, die der Buchhalter ihnen monatlich vor Augen führte, und mit den sinkenden Einnahmen wuchs ihre Verzweiflung. Sie hatten hohe monatliche Kosten: für das Personal, die Unterhaltung der Klinik, die Medikamente … All das verschlang hohe Summen. Arbeit hatten sie genug, aber die Einnahmen reichten dennoch nicht aus.

Jetzt war jedoch nicht der geeignete Zeitpunkt, um mit ihrem Vater darüber zu sprechen. Er hatte sich wieder in seine Operation vertieft und durfte nicht abgelenkt werden. Es war besser, heute Abend mit ihm zu reden.

„Fahr ruhig schon heim“, schlug er vor. „Ich komme nach, sobald ich mich draußen um die Post gekümmert habe.“

Also hatte er den Stapel Briefe doch nicht verdrängt. Sarah nickte.

„Dann mache ich jetzt Feierabend“, sagte sie und verließ den Behandlungsraum.

In ihrem Büro hängte sie ihren Kittel in den Spind und strich ihr Frühlingskleid glatt. Der hellgrüne Stoff war mit Schmetterlingen bedruckt, deren fröhlicher Anblick in krassem Gegensatz zu der sorgenvollen Wolke stand, die über ihrem Kopf zu schweben schien.

Was sollen wir machen, wenn jemand ein verletztes Tier zu uns bringt und nicht bezahlen kann?, grübelte sie. Dann müssen wir helfen, ganz egal, ob es uns etwas einbringt oder nicht. Aber woher sollen wir das viele Geld nehmen, das für die Rettung der Klinik nötig ist?

Nachdenklich verließ sie das Gebäude und lenkte ihre Schritte zu ihrem Auto hinüber, das unter einem blühenden Fliederbusch stand. Der süße Duft munterte sie ein wenig auf.

Ich werde heimfahren und ein Bad nehmen, entschied sie. Vielleicht fällt mir dabei ein Ausweg ein.

Sie stieg in ihr Auto. Es war ein Kombi, den sie wegen seiner Farbe liebevoll „Rennorange“ nannte. Er hatte schon etliche Kilometer auf dem Tacho, brachte sie jedoch zuverlässig zu ihren Hausbesuchen und Notfalleinsätzen und bot obendrein ausreichend Platz für ihre Ausrüstung.

Ihr Zuhause war ein Reihenhaus in Grünwald, einem idyllischen Ort im Süden von München. Sarah wollte gerade in ihre Straße einbiegen, als vor ihr ein Radfahrer um die Ecke bog und geradewegs vor ihrem Wagen entlangschoss. Nur mit einem beherzten Tritt auf die Bremse konnte sie ein Unglück verhindern!

Sarah schnappte nach Luft. Hatte dieser Rowdy den Verstand verloren? Sie hätte ihn um ein Haar überfahren!

Empört drückte sie auf die Hupe.

Der Radfahrer winkte nur. Als er den Kopf zu ihr umwandte, erkannte sie ihren Nachbarn. Patrick Brandner. Frauenheld und Erfolgsmensch – und für Sarah ungefähr so angenehm wie ein Dorn im Schuh. Er war in der nächsten Sekunde hinter der Kurve verschwunden, aber Sarah hatte noch bemerkt, dass er einen eleganten schwarzen Anzug trug.

So ein Verrückter, dachte sie. Vermutlich ist er auf dem Weg zu einer Verabredung, so, wie er sich herausgeputzt hat. Dieser Mann nimmt nichts wichtig – weder die Regeln im Straßenverkehr noch die Gefühle einer Frau. Er wechselt seine Partnerinnen öfter als andere Menschen ihre Unterhosen.

Ich weiß nicht, mit wie vielen Frauen ich ihn schon gesehen habe. Die Ärmste, die heute dran ist, tut mir leid. Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass sie auf dem besten Weg ist, abserviert zu werden. Eine Woche, länger geht er nicht mit ihr aus.

Sarah schüttelte den Kopf. Dabei ahnte sie noch nicht, dass sie ihrem Nachbarn, zumindest dieses Mal, Unrecht tat.

***

„Du kommst zu spät, Patrick“, schnaubte sein Vater. Rudolf Brandner war ein stattlicher Mann Ende fünfzig, mit dröhnendem Bass und einem aufbrausenden Temperament. Er hatte ein eigenes Unternehmen aus dem Boden gestampft und zum Erfolg geführt.

Wenn er zornig war, so wie jetzt, fegte er mit der Urgewalt eines Tornados alles hinweg, das den Fehler beging, sich ihm in den Weg zu stellen. Sein schwarzer Anzug verstärkte den Respekt einflößenden Eindruck noch.

Zahlreiche Köpfe ruckten hoch. Eben noch andächtig ins Gebet versunken, starrten die rund sechzig Gäste auf dem Kirchhof nun erschrocken zwischen Patrick und seinem Vater hin und her. Der Pfarrer legte die Stirn in Falten.

Sich dem Anlass beugend, senkte Rudolf Brandner die Stimme.

„Wie kannst du zur Beerdigung deines Großvaters zu spät kommen? Kannst du mir das erklären, mein Sohn?“

„Es ging leider nicht früher“, setzte Patrick zu einer Erklärung an und nestelte unbehaglich an seiner Krawatte. Das verflixte Ding schnürte ihm die Luft ab. Als wäre dieser Tag nicht schon furchtbar genug!

„Du kanntest den Termin für den Gottesdienst seit Tagen.“

„Ich schon, aber der Patient leider nicht, der nach einem Verkehrsunfall in die Notaufnahme eingeliefert wurde, als ich gerade gehen wollte. Wir sind chronisch unterbesetzt, deshalb musste ich meinen Dienst verlängern.“

„So etwas sollte aber nicht vorkommen.“

„Das habe ich dem Patienten auch gesagt“, entgegnete Patrick trocken. Als Arzt in der Notaufnahme war ein pünktlicher Feierabend bei ihm ein seltenes Ereignis und es durchaus wert, im Kalender vermerkt zu werden. An diesem Tag war er fest entschlossen gewesen, pünktlich Schluss zu machen, aber wie so oft bei Plänen hatte das Leben dazwischengegrätscht.

Sein Vater musterte ihn missbilligend wie Schmutz unter seinen Fingernägeln. Früher hätte sich Patrick innerlich unter diesem Blick gekrümmt, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, seinen Vater nicht zufriedenstellen zu können. Schweigend wandte er sich zu dem Grab um.

Er hatte die Beisetzung tatsächlich versäumt. Die Gäste wandten sich nach dem Gebet bereits zum Gehen. Während sie seinem Vater kondolierten, trat Patrick an das offene Grab und spürte eine Flut von Erinnerungen in sich aufsteigen.

Sein Großvater war ebenfalls Arzt gewesen und der gütigste Mensch, den er sich vorstellen konnte. Schon als Kind hatte Patrick alles getan, um ihm nachzueifern.

Er sah sich noch als Bub auf den Schoß seines Großvaters klettern, damit er ihm eine Geschichte erzählte. Der Ohrenbackensessel am Kamin, umgeben von Regalen voller Bücher, war sein Lieblingsplatz gewesen. Fast konnte er wieder den damaligen Geruch von Sandelholz und altem Papier riechen.

Seine Augen brannten, als er eine Rose nahm und diese auf den mit Blumen übersäten Sarg warf.

„Du fehlst uns, Großvater“, murmelte er und spürte, wie ein raues Schluchzen in seiner Kehle aufstieg. Er konnte es kaum zurückhalten. Sein Großvater hatte vielen Menschen geholfen, wieder gesund zu werden, aber für ihn selbst war jede Hilfe zu spät gekommen. Der Tumor hatte bereits gestreut gehabt …

Eine Blaumeise sprang über die Erde heran und zwitscherte. Patrick musste lächeln. Der kleine Vogel hätte seinem Großvater gefallen. Er hatte jeden Abend Futter in das Vogelhäuschen vor seinem Haus gestreut, ganz egal, wie spät er vom Dienst heimgekommen war, und sich an dem munteren Zwitschern in seinem Garten erfreut. Die Meise sang, als würde sie ihm ein letztes Lebwohl sagen.

Patrick schluckte. Seine Großmutter war seit vielen Jahren nicht mehr am Leben. Ohne sie war sein Großvater nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Nun waren sie wieder vereint. Patrick wusste, dass seine Großmutter für seinen Großvater die eine, wahre Liebe gewesen war.

Wir Brandner-Männer lieben nur einmal , hatte er oft gesagt, und dann fürs ganze Leben.

Patrick war sich nicht sicher, ob das auch auf ihn zutraf. Frauen gab es viele in seinem Leben, aber der wahren Liebe war er noch nie begegnet. Er war sich nicht einmal sicher, ob es die überhaupt gab oder ob das nur Wunschdenken war. Wenn er sich die Ehe seiner Eltern ansah, war er gewarnt. Selbst jetzt, an diesem traurigen Tag, stand seine Mutter abseits und hielt sich von seinem Vater so fern wie möglich.

Patrick wollte keine Ehe, die nur auf dem Papier bestand und von Groll und Bitterkeit bestimmt war. Lieber hütete er sein Herz und beschränkte sich auf Sex. Auf viel Sex, zugegeben, aber eben Sex ohne eine tiefere Bindung.

Plötzlich flackerten ein paar leuchtend blaue Augen durch seine Erinnerung. Sie gehörten seiner Nachbarin. In seiner Eile war er der Tierärztin vorhin beinahe vor den Wagen geradelt. Ihm wurde warm, als er an sie dachte, aber er durfte sich nichts vormachen: Frauen und Männer passten nicht zusammen. Trafen sie aufeinander, war das Chaos vorprogrammiert. Seine Eltern waren der lebende Beweis dafür.

Über das offene Grab hinweg warf ihm Kerstin einen Blick zu. Sie hatte dem Pflegeteam angehört, dass seinen Großvater in den vergangenen Wochen versorgt hatte. Nun schenkte sie ihm ein glühendes Lächeln, das ihm Trost versprach – und alles, was sich ein Mann sonst noch wünschen konnte.

Mit ihren roten Haaren und den langen Beinen war sie bezaubernd, aber Patrick verspürte an diesem Tag nicht das Verlangen, auf ihren Flirt einzugehen. Er empfand nur Trauer. Mit dem Verlust seines Großvaters war die Welt ärmer geworden.

Nach dem Begräbnis waren die Besucher zum Essen eingeladen. Die Zusammenkunft rauschte an Patrick vorbei, ohne dass er etwas davon im Gedächtnis behielt. Menschen drückten ihm ihr Mitgefühl aus, Hände drückten die seinen, und er antwortete wie ein Automat, während er sich fragte, warum sich die Erde ohne seinen Großvater überhaupt weiterdrehte.

Von dem Essen brachte er nicht mehr als zwei Bissen hinunter. Beinahe war er erleichtert, als sein Vater zu ihm trat und ihn mahnend ansah.

„Wir müssen aufbrechen, Patrick.“

„Aufbrechen?“

„Der Notar erwartet uns. Hast du das etwa vergessen?“

„Ich dachte, der Termin wäre erst nächste Woche.“

„So war es auch, aber wir mussten ihn vorverlegen, weil ich am Montag geschäftlich nach England fliege und noch nicht weiß, wann ich wieder zurück bin. Meine Sekretärin sollte dir ein Memo schicken.“

„Das hat sie entweder versäumt, oder es ist verloren gegangen.“

„Du hast hoffentlich Zeit?“ Der Ton seines Vaters legte nahe, dass er keine Entschuldigung gelten lassen würde. Doch Patrick hatte sich für den Rest des Tages ohnehin nichts anderes vorgenommen. Er wollte sich nur alte Fotos anschauen und Erinnerungen an seinen Großvater nachhängen, aber vielleicht war es gut, wenn er abgelenkt wurde.

Der Notar hatte seine Kanzlei ganz in der Nähe, deshalb gingen sie zu Fuß hin: Patrick, seine Eltern und sein Onkel.

Der Notar war ein drahtiger, grauhaariger Mann, der aussah, als würde er zu wenig frische Luft und zu viel Staub inhalieren. Er hatte graue Augen, die forschend dreinblickten, als er ihnen Plätze vor seinem Schreibtisch anbot. Hinter dem wuchtigen Möbelstück verschwand er beinahe.

Er verlas die üblichen Formalitäten und öffnete das Testament. Patrick wusste, dass sein Großvater ein vermögender Mann gewesen war, auch wenn er bescheiden gelebt hatte. Das Vermögen stammte von seinen Urgroßeltern und war von seinem Großvater kaum angetastet worden.

Der Arztberuf war alles für ihn gewesen. Er hatte lediglich einmal im Jahr mehr Geld ausgegeben – und zwar für einen dreiwöchigen Urlaub. Auf seinen Reisen war er durch die ganze Welt gekommen. Das war der einzige Luxus, den er sich gestattet hatte.

Patrick war sich sicher, dass seine Eltern das Vermögen erben würden. Er wunderte sich, dass er überhaupt zu der Eröffnung eingeladen worden war, aber er nahm an, dass sein Großvater ihm ein Erinnerungsstück zugedacht hatte.

So war es auch. Allerdings war das Andenken weitaus größer, als er erwartet hatte.

„Ihr Großvater hinterlässt Ihnen sein gesamtes Vermögen. Abgesehen von einigen kleineren Zuwendungen für die Familie“, eröffnete der Notar ihm.

Patrick schaute verdutzt zuerst nach links, dann nach rechts, weil er der Überzeugung war, die Worte des Notars würden seinen Eltern gelten. Doch der Rechtsbeistand sah ihn an. Niemanden sonst. Nur ihn.

Verwirrt blinzelte er.

„Was soll das bedeuten?“

„Das bedeutet, Sie sind der Alleinerbe Ihres Großvaters, Herr Brandner.“

Seine Mutter schnappte nach Luft wie ein Goldfisch auf dem Trockenen. Sein Vater nickte bedächtig, als hätte er genau das erwartet. Und sein Onkel brach in lautstarkes Schimpfen aus, das der Notar mit einer einzigen Bemerkung unterband.

„Das Erbe ist an eine Bedingung geknüpft …“

Aha! Jetzt kam der Haken.

„Was für eine Bedingung?“

„Sie können erst über das Vermögen verfügen, wenn Sie verheiratet sind, Herr Brandner.“

„Verheiratet?“ Patrick furchte die Stirn. War das ein Scherz? Eine Ehe lag ihm so fern wie eine Reise zum Mond. Wenn nicht noch ferner …

„Wir werden das Testament anfechten“, ereiferte sich sein Onkel.

„Das würde ich Ihnen nicht empfehlen“, antwortete der Notar gelassen. „Die Aussichten auf Erfolg wären gering. Der Erblasser hat vorgesorgt. Zudem hat er verfügt, dass das gesamte Geld an den Tierschutz geht, wenn Sie, Herr Brandner, in einem Jahr noch nicht verheiratet sind. Sie sollten also binnen zwölf Monate heiraten, sonst verfällt Ihr Anspruch.“

Patrick schüttelte den Kopf. Eine Heirat? Nein, das würde ganz sicher nicht passieren. Ehe wurde die Titanic vom Meeresgrund gehoben und stach noch einmal in See!

***

In der Praxis von Dr. Frank ging es zu wie in einem Bienenstock. Bis in den späten Nachmittag hinein waren die Stühle im Wartezimmer besetzt. Ein Norovirus plagte zahlreiche seiner Patienten, deshalb war an einen pünktlichen Feierabend nicht einmal zu denken.

Stefan Frank hatte seine Praxis für Allgemeinmedizin in Grünwald, einem Vorort von München, der seinem Namen alle Ehre machte. Gerade jetzt, im Frühling, war das üppige Grün in seinem Wohnort eine Augenweide.

Es wurde bereits dunkel, als er seine Sprechstundenhilfen in den Feierabend verabschiedete. Er wollte gerade seine Praxis abschließen, als das Telefon klingelte. Der Hauswart vom Mietshaus zwei Straßen weiter bat ihn atemlos um einen Hausbesuch. Eine Mieterin war die Treppe heruntergefallen und konnte sich nicht mehr bewegen.

Dr. Frank versprach, sofort zu kommen. Er holte seinen Notfallkoffer und brach auf.

Der Grünwalder Arzt brauchte wenige Minuten, bis er das viergeschossige Haus erreichte, in dem seine Patientin wohnte. Der bärtige Hauswart erwartete ihn bereits an der Tür. Er war ein Hüne, aber sein blasses Gesicht verriet, wie hilflos er sich fühlte.

„Die Frau Seibold hat so starke Schmerzen, Herr Doktor.“

„Ich verstehe. Ich werde sofort nach ihr sehen.“

Am Fuß der Treppe krümmte sich die Rentnerin. Hannah Seibold war aschfahl. Ihr rechtes Bein war nach außen verdreht und erschien kürzer als das linke. Eine Fraktur des Schenkelhalses? Es sah ganz so aus.

„Herr Doktor …“ Die Rentnerin stöhnte. „Ich kann mich nicht mehr rühren. Es tut so weh.“

„Ich werde Ihnen gleich etwas gegen die Schmerzen geben“, versprach er und tastete nach ihrem Puls. Ihr Herz raste. Das war bei so starken Schmerzen kein Wunder. „Wie ist das denn passiert?“

„Ich wollte nach der Post schauen. Ich dachte, meine Enkelin hätte geschrieben. Sie ist noch ein halbes Jahr in England, wissen Sie. Auf der Treppe habe ich eine Stufe verfehlt. Ich wollte nicht auf den Kopf stürzen, deshalb habe ich mich gedreht und … und …“ Sie brach ab und stöhnte wieder.

„Wo tut es Ihnen weh?“

„Im Bein …“

„Haben Sie noch woanders Schmerzen? Atemnot? Oder Sehstörungen?“

„Nein, aber mein Bein … oh … mein Bein!“

Stefan Frank gab ihr eine Spritze gegen die Schmerzen. Dann wählte er die Nummer des Rettungsdienstes und bat um einen Krankentransport.

„Wir müssen Sie in die Klinik bringen, Frau Seibold.“

„Was? Aber das geht nicht. Ich kann hier nicht weg.“

„Sie haben vermutlich einen Oberschenkelhalsbruch. Wenn ich richtig vermute, müssen Sie operiert werden.“

„Ein Schenkelhalsbruch? Oh nein!“ Die Rentnerin wurde blass. „Das war es für mich, oder? Ich werde nicht wieder auf die Beine kommen. Wie meine Großmutter. Sie bekam vom langen Liegen eine Lungenentzündung und … und …“ Sie presste sich eine Hand vor den Mund.

„Dazu werden wir es nicht kommen lassen. Die Operation wird verhindern, dass Sie lange Liegen müssen.“

„Aber was soll denn aus meinem Hund werden, Herr Doktor?“ Sie streckte die Hand aus und drückte seine. Angst schimmerte in ihren grauen Augen. „Peppy braucht mich doch.“

„Kann ihn kein Verwandter eine Zeit lang aufnehmen?“

„Meine Enkelin würde sich bestimmt um ihn kümmern, aber sie verbringt ein Auslandssemester in London. Und ihre Eltern wohnen in Berlin. Sie arbeiten beide und können bestimmt nicht herkommen.“

„Was ist mit einem Nachbarn? Oder Ihrem Hauswart?“

„Von ihnen hat niemand Zeit für Peppy. Die meisten kenne ich nicht einmal.“

„Wir könnten Peppy in einer Tierpension unterbringen.“

„Dort wäre er ganz allein. Außerdem …“ Sie stockte. „Ich glaube nicht, dass meine Rente dafür reichen würde. So etwas ist doch furchtbar teuer. Aber vielleicht würde sich unsere Tierärztin um Peppy kümmern. Die Frau Dr. Neuburg. Können Sie meinen Kleinen zu ihr bringen, bitte?“

„Natürlich“, versprach Stefan Frank. Er kannte die Tierärztin. Sie war hilfsbereit, deshalb hoffte er, dass sie eine Lösung für den kleinen Terrier finden würde.

Wenig später trafen die Sanitäter ein und hoben die Verletzte vorsichtig auf eine Trage. Dr. Frank versprach ihr, eine Unterkunft für ihren Hund zu finden und ihr die nötigsten Sachen in die Klinik zu bringen. Mit Tränen in den Augen überließ sie ihm den Wohnungsschlüssel.

„In ein paar Wochen sind Sie wieder daheim“, versprach er ihr, aber er las die Zweifel in ihren Augen.

Wenig später brachten die Sanitäter sie hinaus.

Der Hauswart stieß den Atem aus, als hätte er ihn die ganze Zeit sorgenvoll angehalten.

„Kann ich irgendwie helfen?“

„Haben Sie einen Schlüssel für Frau Seibolds Wohnung?“

„Natürlich.“

„Könnten Sie hin und wieder nach dem Rechten sehen? Die Blumen gießen und den Briefkasten leeren?“

„Natürlich. Das mache ich gern. Kann ich Frau Seibold auch einmal in der Klinik besuchen?“

„Aber ja. Sie wird in die Waldner-Klinik gebracht.“

„Die kenne ich.“ Der Hausmeister nickte verstehend. Dann murmelte er einen Abschied und steuerte den Keller an.

Stefan Frank stieg zu der Wohnung seiner Patientin hinauf. Er war schon mehrmals zu Hausbesuchen hier gewesen und kannte sich halbwegs aus. Peppy wedelte zur Begrüßung, sodass sein gesamtes Hinterteil in Bewegung geriet.

„Hallo, mein Kleiner.“ Stefan Frank beugte sich hinunter und streichelte den Terrier. „Dein Frauchen muss leider eine Weile im Krankenhaus bleiben. Bis es ihr besser geht, werde ich dir ein gutes Quartier suchen. Versprochen.“

Peppy leckte ihm zutraulich die Finger.

„Ich würde dich selbst nehmen, aber bei meinen Arbeitszeiten hätte ich kaum Zeit für dich.“

Stefan Frank richtete sich auf und ging ins Schlafzimmer. Es war aufgeräumt. Eine geblümte Tagesdecke lag auf dem Bett, und das Fenster war gekippt. Eine Reisetasche stand auf dem Schrank. Er holte sie herunter und packte das Nötigste ein: Nachtwäsche, Kosmetikartikel und das Buch, das auf dem Nachttisch lag.

Dann leinte er Peppy an und verließ mit ihm die Wohnung.

Er fuhr zur Tierklinik, aber dort war bereits alles dunkel und abgeschlossen, deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Sarah von Neuburgs Privatwohnung zu fahren. Sie gehörte zu seinen Patientinnen, deshalb kannte er ihre Adresse. Sie bewohnte mit ihrem Vater eine Doppelhaushälfte nicht weit von seinem Haus.

Auf sein Klingeln öffnete ihm die Tierärztin die Haustür. Sie war leger gekleidet und trug ein langes T-Shirt sowie Leggins. Darin wirkte sie eher wie eine Studentin als wie eine gestandene Tierärztin. Verblüfft schaute sie auf den Hund nieder.

„Peppy? Dr. Frank? Was machen Sie denn hier?“

„Sie kennen den Kleinen?“

„Natürlich.“ Sarah sah ihn erschrocken an. „Ist Frau Seibold etwas zugestoßen?“

„Leider ja. Sie ist die Treppe heruntergefallen und hat sich vermutlich eine Fraktur zugezogen. Sie wird in der Waldner-Klinik behandelt. Die Sache ist die, dass sie niemanden hat, der für Peppy sorgen könnte. Der Kleine muss ins Tierheim, wenn ich niemanden finde, der sich eine Zeit lang um ihn kümmert.“

„Im Tierheim würde er eingehen. Er ist die Zuwendung von Frau Seibold gewöhnt.“ Sarah schien den Grund seines Besuches zu erraten und blies die Wangen auf. „Oh, ich würde ihn gern eine Weile zu mir nehmen, aber ich habe alle Hände voll zu tun. Wir sollten ihn in einer Tierpension unterbringen.“

„Das kann sich Frau Seibold nicht leisten.“

„Oh.“ Sarah blickte zwischen ihm und dem Terrier hin und her. Sie schien zu überlegen, ob und wie sie ihn in ihren Alltag integrieren konnte. Schließlich ging ein Ruck durch sie. „Also schön. Es wird schon irgendwie gehen. Ich nehme Peppy.“

„Vielen Dank.“ Er überließ ihr die Leine.

„Wird Frau Seibold denn wieder gesund?“

„Das hoffe ich. Die Kollegen werden sich vermutlich für eine Operation entscheiden, denn in ihrem Alter ist eine lange Bettlägerigkeit ganz und gar nicht gut.“

„Ich verstehe.“ Die Tierärztin nickte bedächtig. „Möchten Sie auf eine Tasse Tee hereinkommen, Herr Doktor?“

„Ein anderes Mal gern. Jetzt muss ich noch zu einigen Hausbesuchen fahren.“

„Alles klar. Na, dann komm rein, Peppy. Wir werden dir ein schönes Bett bauen.“ Sarah deutete hinter sich ins Haus.

Peppy schien nichts Gutes zu ahnen, denn er fiepte leise und blieb wie angewurzelt stehen.

„Er vermisst sein Frauchen jetzt schon“, stellte Sarah fest. „Das werden harte Wochen für den Kleinen, fürchte ich.“

***

Das darf doch nicht wahr sein!

Patrick starrte die Wand so wütend an, als könnte er sie allein mit seinen Blicken zum Einsturz bringen – obwohl das kontraproduktiv gewesen wäre. Wesentlich schlauer wäre es, er würde die Wand verstärken. Vielleicht müsste er dann den Lärm nicht länger ertragen.

Genervt stellte er den Ton seines CD-Spielers lauter, aber die Musik hatte keine Chance gegen das Kläffen, das ihn heimsuchte. Seit geschlagenen drei Stunden bellte im Haus nebenan ein Hund.

Genauer gesagt: seit drei Stunden und fünfunddreißig Minuten. Patrick wusste das deshalb so genau, weil die Tagesschau zum selben Zeitpunkt begonnen hatte wie das Gebell. Inzwischen ging er beinahe die Wände hoch.

Er hatte eine lange Schicht in der Klinik gehabt, seinen Großvater beerdigt und war mit einer unglaublichen Testamentsklausel konfrontiert worden. Nun fühlte er sich so ausgelaugt, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte.

Doch an Schlaf war bei diesem Lärm nicht zu denken. Selbst sein Lieblingslied half da nicht. Morgen wartete wieder ein langer Dienst in der Notaufnahme auf ihn, bei dem er hellwach sein musste. Wie sollte das funktionieren, wenn nebenan der Hund von Baskerville sein Unwesen trieb?

Genervt überlegte er sich, ob es ein Verbrechen wäre, dem Hund den Hals umzudrehen, oder Notwehr.

Nein, der arme Hund kann nichts dafür, grübelte er. Es ist die Frau, die ihm nicht beikommt! Schnaubend schob er seine Zudecke zur Seite und schlüpfte in Turnschuhe und eine Jeans. Er schnappte sich seinen Schlüssel, ehe er das Haus verließ und nach nebenan ging.

Auf sein Klingeln wurde das Bellen noch lauter.

Wunderbar. Genau das, was er hatte vermeiden wollen … Schritte erklangen, dann schwang die Haustür auf und Sarah von Neuburg trat vor ihn hin. Sie hatte rote Wangen und wirkte ebenso verzweifelt wie er. Bisher hatte er noch nicht allzu viel mit ihr zu tun gehabt. Soweit er wusste, wohnte sie mit ihrem Vater zusammen und war Tierärztin.

„Guten Abend“, sagte er mit erzwungener Ruhe.

„Guten Abend.“ Sie raffte ihren seidenen Morgenmantel vor der Brust zusammen, aber er konnte vorher noch einen Blick auf den zarten Ansatz ihrer Brüste erhaschen, und sekundenlang vergaß er, weshalb er gekommen war. Sie lächelte ihn verlegen an. „Der Hund ist zu laut, oder?“

„Sagen wir es mal so: Ich würde überlegen, neben den Flughafen zu ziehen, sollte das öfter vorkommen.“

„Es tut mir wirklich leid. Die Umgebung ist fremd für Peppy, deshalb macht er so einen Lärm.“

„Dann sollte er sich schleunigst eingewöhnen. Seit wann haben Sie eigentlich einen Hund?“

„Er gehört nicht mir. Ich betreue ihn nur, solange seine Besitzerin im Krankenhaus ist. Frau Seibold ist heute gestürzt und hat sich das Bein gebrochen.“

„Also wird er länger bleiben?“ Patricks Miene verdüsterte sich. Das waren ja schöne Aussichten! Da war er besser dran, wenn er im Assistenzzimmer in der Klinik übernachtete, auch wenn dort alle naselang wegen eines Notfalls geklingelt wurde.

„Peppy vermisst sein Frauchen, wissen Sie?“

„Dann geben Sie ihm einen Leckerbissen, oder bestechen Sie ihn mit Streicheleinheiten. Ganz egal wie, nur machen Sie, dass es aufhört.“ Patrick fuhr sich entnervt durch die Haare. „Meinetwegen können Sie seine Schnauze auch mit Klebeband verschließen, wenn dann endlich Ruhe herrscht.“

„Sie sind herzlos“, warf Sarah ihm vor.

„Ich? Ich raube hier niemandem den Schlaf. Das tun Sie!“

„Peppy ist traurig.“

„Und ich muss morgen wieder Patienten behandeln.“

„Sie sind Arzt?“

„Ja, in der Notaufnahme der Waldner-Klinik.“

„Verstehe.“ Sie grub die Zähne in die Unterlippe. Das Weiß ihrer Zähne bildete einen verlockenden Kontrast zu ihren vollen, roten Lippen. Ihm wurde heiß, als er sich vorstellte, was sie damit sonst noch alles anstellen konnte.

Sie hatte Herz und Temperament. Ihm gefiel, wie sie den Hund verteidigte, der nicht einmal ihr eigener war. Seine Mutter hätte ihn vermutlich in die Tiefkühltruhe gesteckt, wenn er bei ihr so gelärmt hätte. Nun, vermutlich hätte sie ihn gar nicht erst aufgenommen.

Sarah jedoch hatte das getan. Und das, obwohl sie als Tierärztin sicherlich genug zu tun hatte. Tief in ihm breitete sich ein warmes Gefühl aus. Er wusste keinen Namen dafür.

Sarah seufzte. „Ich werde eine Runde mit ihm spazieren gehen, dann ist er hoffentlich müde genug, um still zu sein.“

„Sie wollen rausgehen? Um diese Zeit? Es ist schon spät.“

„Na und?“

„Das ist nicht sicher. Ich werde Sie begleiten.“

„Das müssen Sie nicht.“

„Ich will es aber.“

„Sie sind ziemlich hartnäckig.“ Seine Nachbarin krauste die Stirn. „Sind Sie etwa ein Stalker?“

„Ein Stalker?“ Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er vermutlich gelacht. So begnügte er sich damit, die Augen zu verdrehen. „Ich bin nur ein Nachbar mit dem dringenden Bedürfnis nach Schlaf.“

„Tut mir leid. Natürlich.“ Sarah besaß immerhin den Anstand, verlegen dreinzublicken. Sie bat ihn, kurz zu warten. Dann verschwand sie im Inneren des Hauses. Die Tür ließ sie angelehnt. Als sie wiederkam, führte sie einen weißen Hund an der Leine und warf die Haustür hinter sich zu.

„Ist das ein Hund oder ein Wischmopp auf vier Beinen?“, murmelte Patrick.

Sarah warf ihm einen strengen Blick zu, aber er bemerkte, dass ihre Mundwinkel zuckten.

„Ein wenig von beidem?“, schlug er versöhnlich vor.

Daraufhin lachte sie leise.

„Ein wenig vielleicht.“

Sie schlenderten nebeneinander die Straße hinunter. Die Straßenlaternen warfen Lichtinseln auf den Gehweg. Um diese Uhrzeit hielt sich der Verkehr in Grenzen. Nur vereinzelt kam ein Auto vorbei. Die Luft roch nach Lindenblüten und gemähtem Gras. Es war wohltuend, zu laufen, ohne Ziel und ohne Druck.

Erst nach einer Weile fiel Patrick auf, dass niemand von ihnen etwas sagte. Wenn er sich sonst mit einer Frau verabredete, wurde er meistens zugetextet. Manchmal hatte er den Eindruck, dass seine Partnerinnen die Stille nicht ertrugen und lieber planlos schwatzten, als zu schweigen. Mit Sarah war es anders. Ihr schien es ebenso angenehm zu sein wie ihm, nichts zu sagen. Das war eine völlig neue Erfahrung für ihn.

Peppy sauste auf seinen kurzen Beinen vorneweg und schnupperte an jedem Baumstamm, als wäre es ein köstlicher Knochen. Er schien seinen Kummer vergessen zu haben, jedenfalls bellte er nicht mehr.

„Die frische Luft tut ihm gut“, stellte Patrick fest. „Vielleicht sollten Sie einfach mit ihm herumlaufen, bis seine Besitzerin wieder gesund ist.“

„Für einen Marathon bin ich immer zu haben“, erwiderte sie so ernst, dass er sie verblüfft ansah.

„Wirklich?“

„Oh nein.“ Lachend drehte sie den Kopf zu ihm. „Schon in der Schule war Ausdauerlauf eine Strafe für mich. Ausdauerlesen oder Ausdauershoppen, ja, das wäre eine Disziplin für mich, aber kilometerweit Laufen? Lieber nicht.“

Patrick grinste. Er ging zweimal in der Woche joggen, allerdings nur, weil er sich dazu zwang und er sich nichts aus Sportstudios machte. Wenn schon Bewegung, dann wenigstens an der frischen Luft.

Vor ihnen tauchte ein Restaurant auf. Ein Schild vor dem Eingang lud zum Eintreten ein. Dark Dinner , stand darauf.

„Essen im Dunkeln?“ Sarah schüttelte sich.

„Warum nicht? Vermutlich schmecken alle Speisen intensiver, wenn man nicht sieht, was man zu sich nimmt. Wäre das nicht einen Versuch wert?“

„Auf keinen Fall. Ich kriege schon keine Luft mehr, wenn ich nur darüber nachdenke.“

„Klaustrophobie?“, hakte er nach und sah sie schaudernd nicken.

Peppy wieselte heran. Sein Halsband war mit goldenen Buchstaben besetzt, die den Schriftzug PEPPY ergaben.

„Wozu soll das eigentlich gut sein?“, murmelte Patrick. „Dieser Zirkus um Accessoires für Haustiere. Dieses Halsband ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich wette, seine Besitzerin hat daheim auch noch Mäntelchen und Stiefelchen für den Kleinen.“

„Was ist denn so schlimm daran?“

„Er ist ein Tier. Er braucht das alles nicht. Ihm ist es egal, ob sein Name oder nur Unsinn auf dem Halsband steht.“

„Er kann es vielleicht nicht lesen, aber wir schon. Und diese Kleidungsstücke können gerade bei älteren Hunden durchaus nützlich sein. Es wäre fatal, wenn er sich beispielsweise die Nieren verkühlen würde.“

„Er hat sein Fell. Reicht das nicht?“

„Fragen Sie das im Ernst?“ Sarah funkelte ihn an. „Lassen Sie immer nur eine einzige Meinung gelten? Ihre eigene?“

Autsch. Ihrem Blick nach zu urteilen, hielt sie ihn für ein von sich eingenommenes Ekelpaket. Patrick runzelte die Stirn. Womit hatte er diese Meinung verdient? Er hatte doch nur gesagt, was er dachte!

Schweigend kehrten sie zu ihren Häusern zurück.

In der Ferne schlug die Kirchturmuhr zwölfmal.

Mitternacht.

Patrick versuchte, nicht daran zu denken, dass in viereinhalb Stunden sein Wecker wieder klingeln würde. Er wünschte Sarah eine gute Nacht. Sie erwiderte den Gruß, hob Peppy auf ihren Arm und steuerte ihr Haus an. Patrick wandte sich ebenfalls um, machte jedoch den Fehler, sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Dabei fiel sein Blick auf ihren Hintern und …

Junge, Junge, der Anblick konnte einen Mann um den Verstand bringen. Rund und knackig war ihr Po, und Patrick bezweifelte plötzlich, dass er gleich Schlaf finden würde. Vermutlich sollte er erst einmal duschen. Lange und kalt.

***

„Wie geht es Ihnen heute, Frau Seibold?“ Sarah zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an das Krankenbett. Sie musste an sich halten, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Anblick der Rentnerin sie erschreckte. Hannah Seibold war auffallend blass und hatte rotverweinte Augen.

„Nun ja“, erwiderte die Seniorin zittrig. „Die Ärzte hier in der Waldner-Klinik kümmern sich wirklich gut um mich.“

„Haben Sie Schmerzen?“

„Sie sind auszuhalten. Ich bekomme etwas dagegen.“

Die Rentnerin blickte zu dem Infusionsbeutel an ihrem Bett auf. Vor dem Fenster neigten sich die Bäume des Englischen Gartens im Frühlingswind.

„Ich wurde gestern schon operiert. Der Doktor hat mir erklärt, dass ein rasches Operieren gut für mich ist. Dann heilt das Bein schneller. Aber ich muss trotzdem das Bett hüten. Und anschließend soll ich zur Reha.“ Unglücklich rieb sich die Rentnerin über die Augen. „Ich mache mir solche Sorgen um Peppy“, rückte sie dann mit ihrem Kummer heraus.

„Ihrem Kleinen geht es gut“, sagte Sarah begütigend. „Anfangs hat er gebellt. Er vermisst Sie, aber nachdem ich gestern Abend noch einmal mit ihm draußen war, hat er friedlich geschlafen. Und heute Morgen war er ganz brav. Ich habe ihn mit in die Praxis genommen. Wir haben einen Garten, in dem er bei dem schönen Wetter spielen und dösen kann. Ich habe immer wieder nach ihm gesehen. Er kommt zurecht. Versprochen.“

„Wo ist er denn jetzt?“

„Unten, beim Pförtner. Der Karl ist ein Hundenarr und überschüttet Peppy mit Streicheleinheiten. Vermutlich wird der Kleine gar nicht mehr von ihm wegwollen.“

Sarah lächelte die Rentnerin beruhigend an. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich, was jedoch nicht an Peppy lag, der tatsächlich friedlich geschlummert hatte, sondern an ihrem Nachbarn – und seinem sympathischen Lachen. Seine blitzenden Augen hatten sie bis in ihre Träume verfolgt, auch wenn sie sich das nur ungern eingestand.

„Brauchen Sie noch etwas, Frau Seibold?“

„Danke, aber ich bin mit allem versorgt.“

„Gut. Sagen Sie mir einfach, wenn Ihnen noch etwas einfällt, ja? Übrigens habe ich noch etwas für Sie.“

Sarah kramte drei Fotografien aus ihrer Handtasche. Sie hatte sie mit ihrem Handy gemacht und am Computer ausgedruckt. Auf allen dreien war Peppy zu sehen: beim Fressen in ihrer Küche, beim Stromern durch ihren Garten und auf seinem provisorischen Nachtlager in ihrem Wohnzimmer.

„So haben Sie Ihren Kleinen immer bei sich und können sehen, dass es ihm gut geht.“

„Wie lieb von Ihnen!“ Die Augen der Rentnerin leuchteten auf. Sie nahm die Bilder und strich sacht darüber. „Er sieht zufrieden aus, mein Peppy.“

„Ja, er macht nur einen kleinen Urlaub, bis Sie wieder auf den Beinen sind. Das wird schneller gehen, als Sie glauben.“

„Ich danke Ihnen so sehr, Frau Doktor.“

„Das mache ich gern für Sie. Peppy ist ein lieber Hund.“

„Ja, das ist er. Nur ein bisschen scheu. Ich bin froh, dass Sie sich um ihn kümmern. Sie kennt er ja schon ganz gut.“

„Meistens mit Nadel und Fieberthermometer in der Hand. Er wird froh sein, einmal nicht von mir gepikt zu werden.“

„Das glaube ich auch.“ Die Rentnerin gähnte hinter vorgehaltener Hand. Die Medikamente machten sie vermutlich müde, deshalb entschied Sarah, ihren Besuch nicht länger auszudehnen.

„Ich lasse Sie dann mal schlafen. Erholen Sie sich gut.“

„Kommen Sie mich wieder einmal besuchen?“

„Das mache ich gern.“ Sarah verabschiedete sich, verließ das Krankenzimmer und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter ins Erdgeschoss. In Gedanken plante sie bereits den Verlauf ihres restlichen Feierabends. Sie würde sich einen Salat machen und sich dann mit einer Fachzeitschrift in den Garten setzen.

Ihr Vater verbrachte den Abend außer Haus. Er wollte mit Freunden ins Konzert gehen. Das würde ihn hoffentlich von den Sorgen um die Tierklinik ablenken, die ihn ebenso bedrückten wie sie selbst. Wo sollten sie nur das viele Geld hernehmen, um alle Verbindlichkeiten zu bezahlen? Schon allein die Kosten für das Verbandmaterial waren vierstellig!

Ein helles Lachen riss sie aus ihren Gedanken. Im Eingangsbereich der Klinik standen ein weiß gekleideter Arzt und eine junge Pflegerin zusammen. Die Frau lachte über etwas, was er gesagt hatte, und dabei schmachtete sie ihn dermaßen an, als würde sie am liebsten gleich hier über ihn herfallen. Dem Arzt schien das zu gefallen, denn er grinste sie an.

Patrick! Etwas in Sarah zog sich zusammen. Doktor Herzensbrecher war also wieder auf der Pirsch.

Genervt schnaubte Sarah und wollte an ihm vorbei, doch da blickte er zu ihr herüber und runzelte die Stirn. Sarahs Wangen begannen zu brennen, weil er sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn anstarrte. Sie nickte unverbindlich und beschleunigte ihre Schritte, während sie dem Ausgang zustrebte.

Gleich geschafft …

So leicht ließ er sie jedoch nicht davonkommen.

„Sarah, warten Sie!“, rief er ihr nach. Sie hörte seine Schritte hinter sich lauter werden und erwog, schneller zu laufen, aber dann kam ihr das albern vor und sie blieb stehen. Was hatte er nur an sich, dass sie ihm am liebsten die Augen ausgekratzt hätte?

Da erreichte er sie.

„Waren Sie bei Peppys Besitzerin?“

Sarah nickte. „Das war ich.“

„Und? Wie geht es ihr?“

„Ganz gut. Sie muss allerdings eine Weile hierbleiben. Falls Sie sich wegen Peppy Sorgen machen, kann ich Sie beruhigen: Er hat sich ganz gut bei mir eingelebt und wird Sie bestimmt nicht mehr stören.“

„Deshalb habe ich nicht gefragt. Sie sind so blass. Ich hatte befürchtet, Peppys Besitzerin wäre etwas zugestoßen.“

Das war ihm aufgefallen? Sarah sah ihn erstaunt an. Anscheinend hatte das Make-up, das sie morgens so sorgfältig aufgetragen hatte, nicht alle Spuren der kurzen Nacht verschwinden lassen.

Sie hatte nicht nur seinetwegen so wenig geschlafen, sondern auch, weil die Geldsorgen der Tierklinik sie wach gehalten hatten. Das würde sie ihm jedoch bestimmt nicht auf die Nase binden. Das Wort „Geldsorgen“ konnte er gewiss nicht einmal buchstabieren. Immerhin stammte er aus einer vermögenden Familie und war mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren worden.

„Mit mir ist alles in Ordnung“, versetzte sie spröde und wandte sich zum Gehen. Diesmal hielt ihr Nachbar sie nicht auf. Und beinahe, aber wirklich nur beinahe, bedauerte sie das.

***

Der nächste Tag brachte neue Sorgen.

In der Tierklinik traf ein Brief vom Amtsgericht ein.

Sarah und ihr Vater wurden aufgefordert, sich bezüglich einer Forderung des Kurierdienstes zu erklären, der bis vor einem halben Jahr regelmäßig ihre Laborproben und -berichte überbracht hatte. Die Forderung belief sich auf knapp zweitausend Euro. Eine Summe, von der Sarah nicht wusste, wo sie sie auftreiben sollten.

„Der Brief kommt vom Gericht, Vater“, sagte sie bestürzt. „Wie kann das sein? So schnell geht das normalerweise nicht. Es müssen Zahlungsaufforderungen gekommen sein. Mahnungen. Irgendetwas, auf das wir hätten reagieren können.“

„Schon möglich, dass solche Schreiben gekommen sind“, murmelte ihr Vater, der ganz grau im Gesicht geworden war. Er stemmte die Hände in die Taschen seines Kittels, als wüsste er nicht, wohin damit. „Ich habe sie in meinen Schreibtisch getan.“

„In deinen Schreibtisch? Aber wir hätten sie bezahlen müssen! Kein Wunder, dass der Service uns den Vertrag aufgekündigt hat.“

„Bezahlt hätte ich die Rechnungen gern, aber wovon?“

Ja, wovon? Das fragte sich Sarah auch. Die Summe verschlug ihr den Atem. Woher sollten sie so viel Geld nehmen?

„Wir dürfen nicht mehr kostenlos behandeln“, überlegte sie laut. „Das kostet Zeit und Ressourcen, die wir nicht haben. Das muss aufhören.“

„Das kannst du nicht verlangen, Sarah. Ich kann kein Tier in Not im Stich lassen.“ Ihr Vater schüttelte energisch den Kopf.

„Aber irgendetwas müssen wir tun. Bloß was?“

„Ich … weiß es nicht.“ Der Atem ihres Vaters kam plötzlich schwer und stoßweise. Er rieb sich die Brust und ächzte leise.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Vater?“

„Mir fehlt nichts. Ich mache mir nur Sorgen.“

„Ganz sicher? Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.“

„Schon gut. Es war nur ein kurzes Unwohlsein.“ Er lächelte traurig. „Ich muss wieder an die Arbeit. In meinem Behandlungszimmer sitzt Herr Reitmayr mit seiner Katze. Ich wollte mir nur rasch einen Kaffee holen. Hatte seit Stunden keine Pause.“ Mit seinem Becher in der Hand wandte er sich seinem Arbeitszimmer zu und schloss die Tür hinter sich.

Sarah sah ihm sorgenvoll nach. Hinten im Garten gab Peppy einmal Laut. Dann war er wieder still. Er hatte sich damit arrangiert, vorerst bei ihnen untergekommen zu sein. Sie war sicher, dass er sein Frauchen vermisste, und sie hoffte von ganzem Herzen, dass sich Frau Seibold wieder erholen würde.

Sie leerte einen Becher Tee, dann kehrte sie in den Behandlungsraum II zurück und rief ihren nächsten Patienten auf. Der siebzehnjährige Tim brachte seine Schildkröte zu ihr. Die vier Krallen an jedem Bein verrieten, dass es sich um eine Vierzehenschildkröte handelte.

Aus blanken Augen blickte das gepanzerte Haustier aus dem Schuhkarton auf, in dem es saß. Der Junge hatte vorsorglich eine Wärmflasche dazugelegt.

„Ottos Schnabel ist wieder zu lang“, berichtete er und legte die Stirn in Falten. „Gestern Abend ist er in seinem Panzer stecken geblieben. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Zum Glück ist er irgendwann von selbst vorgekommen. So etwas soll aber nicht noch mal passieren.“ Tatsächlich wucherte der Schnabel seines Freundes wie bei einem Papagei über den Rand des Kopfes hinaus.

„Hast du Otto Sepiaschale gegeben, wie wir es besprochen hatten, Tim?“, erkundigte sich Sarah, während sie frische Einmalhandschuhe überstreifte.

„Freilich. Und auch hartes Futter, wie Chicoree und Möhren. Daran knabbert er gern, aber der Schnabel wächst trotzdem immer weiter nach.“

„Das wird von einer Fehlstellung verursacht. Dagegen können wir nicht viel tun, nur regelmäßig den Schnabel kürzen.“ Sarah legte die Fräse zurecht und hob die Schildkröte hoch, die sich daraufhin fauchend in ihren Panzer zurückzog. „Oho, da hat heute wohl jemand keine Lust auf die Behandlung, was?“

Sanft kitzelte sie ihren vierbeinigen Patienten an der Kloake. Daraufhin tauchte der Kopf der Schildkröte wieder auf. Geschickt hielt Sarah ihn zwischen zwei Fingern fest, dann setzte sie die Fräse an.

Der Schnabel bestand aus Horn und war nicht schmerzempfindlich. Das Geräusch des Werkzeugs ging Ottos Besitzer jedoch durch und durch. Tim wurde ganz blass, blieb aber tapfer an der Seite seines Haustiers.

Kranke und verletzte Schildkröten waren Sarahs Arbeitsbereich. Sie hatte sich auf Reptilienheilkunde spezialisiert, weil sie diese Tiere mochte und die Anforderungen an die Behandlung hoch waren.

„Fertig.“ Sie setzte Otto zurück in den Karton. Beleidigt zog er sich in seinen Panzer zurück. „Er braucht eine Weile Ruhe, dann sollte er wieder fressen.“

„Alles klar. Vielen Dank, Frau Doktor.“

„Macht sechs Euro. Gib das Geld bitte draußen der Sprechstundenhilfe.“

„Das mache ich. Auf Wiedersehen.“ Tim klemmte sich den Karton wieder unter den Arm und verließ das Zimmer.

Fast kam es Sarah unpassend vor, den Schüler für den kleinen Dienst um das Geld zu bitten, aber dann erinnerte sie sich an den Brief vom Gericht und sagte sich, dass ihr Vater und sie in Zukunft stärker auf Bezahlung drängen mussten, wenn die Tierklinik weiter Bestand haben sollte.

Bei dem Gedanken an das amtliche Schreiben schien sich ihr Magen in einen kalten Klumpen zu verwandeln.

Sie zog die Einmalhandschuhe aus und wischte den Behandlungstisch ab, weil Otto vor lauter Aufregung ein paar Tropfen Urin abgesetzt hatte. Ihre Helferin war bereits in den Feierabend gegangen, weil sie über Ohrenschmerzen geklagt hatte. Hoffentlich wurde daraus kein handfester Infekt! Immerhin waren sie auf die helfenden Hände angewiesen und hatten kein Geld für eine weitere Aushilfe übrig.

Sarah wollte das Sprechzimmer gerade für den Feierabend säubern, als jemand an die Tür klopfte und eintrat. Erstaunt erkannte sie ihren Nachbarn. Er trug ein Bündel auf dem Arm.

„Herr Brandner? Kann ich Ihnen helfen?“

„Mir nicht, aber dem Kleinen hier hoffentlich.“ Er legte das Bündel behutsam ab. Es war ein Handtuch, dessen Enden er nun auseinanderfaltete. Darunter verbarg sich …

„Ein Eichhörnchen?“ Sarah schaute erschrocken auf das rotbraune Fellbündel nieder, das apathisch vor ihr lag.

„Ich habe es in meinem Vorgarten gefunden. Es sieht so aus, als hätte es einen Kampf mit einem Artgenossen verloren. Vielleicht auch mit einem Marder. Jedenfalls hat es Bisswunden und ist sehr schwach. Ich hätte mich selbst darum gekümmert, aber ich kenne mich eher mit Zwei- als mit Vierbeinern aus.“

Sarah streifte frische Handschuhe über und untersuchte ihren Patienten behutsam. Dabei wurde sie den Verdacht nicht los, dass ihr Nachbar das verletzte Tier nur als Vorwand benutzte, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sein Leben schien sich nur um seine Affären zu drehen. Dass er ihr nun ein Tier brachte, schien nicht zu ihm zu passen.

Die Frage war also: Was wollte er wirklich von ihr?

Darum konnte sie sich im Augenblick jedoch nicht kümmern, denn ihr Patient brauchte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Herzschlag und Atmung des Eichhörnchens waren erhöht. Außerdem quietschte es vor Angst. Es stand offensichtlich unter großem Stress.

Kein Wunder: Es war die Gefangenschaft nicht gewohnt. Außerdem hatte es sicherlich Schmerzen. Sarah bedeckte seine Augen mit einem Tuch, um es zu beruhigen, und injizierte ihm ein Medikament, das die Schmerzen lindern würde.

Der Allgemeinzustand des Tieres war gut: Es hatte ein glänzendes rotbraunes Fell und war weder unterernährt noch von Parasiten befallen. Sarah röntgte es und stellte erleichtert fest, dass keine Knochen gebrochen waren. Allerdings wies das Eichhörnchen mehrere Bisswunden auf.

„Ich werde die Wunden spülen und verbinden. Danach muss das Eichhörnchen hierbleiben, bis die Verletzungen ausgeheilt sind. Auf diese Weise kann ich dafür sorgen, dass die Wunden sauber bleiben und sich nicht entzünden.“

Behutsam versorgte sie das Eichhörnchen und setzte es in einen Käfig, der für die Unterbringung von Patienten gedacht war. Sie schaltete die Wärmelampe an, damit sich ihr neuer Schützling wohlfühlte.

„Sie haben ein gutes Händchen für Tiere“, stellte Patrick fest, der der Prozedur schweigend gefolgt war.

„Danke. Das ist ja auch mein Beruf. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre.“

„Wenn Sie wüssten, wie viele Kollegen ich habe, die nicht mit Patienten umgehen können.“ Er winkte ab. „Glauben Sie, das Eichhörnchen kommt durch?“

„Davon gehe ich aus. Es ist gut, dass Sie es hergebracht haben, sonst hätte es kaum eine Chance gehabt. Die Wunden hätten sicherlich angefangen, zu eitern.“

„Das glaube ich auch. Was bin ich Ihnen schuldig?“

„Nichts. Wildtiere werden bei uns gratis behandelt.“

„Tatsächlich? Damit kommen Sie aber auf keinen grünen Zweig.“

„Da sagen Sie etwas“, rutschte es ihr heraus.

„Wie meinen Sie das?“

Sarah entfuhr ein Seufzer.

„Nicht so wichtig“, wich sie aus.

„Mir scheint, es ist durchaus wichtig. Sie sollten Ihr Gesicht sehen. Sie schauen aus, als stünde der Weltuntergang bevor.“ Patrick blickte sie ernst an. „Haben Sie Geldsorgen?“

Sarah zögerte. „Die haben wir tatsächlich“, brach es dann aus ihr heraus. „Die Tierklinik steht vor dem Aus. Wir behandeln viele Patienten kostenlos. Manche Besucher bezahlen ihre Rechnung spät oder gar nicht. Und alles wird immer teurer …“

Ihr Besucher horchte auf.

„Wie schlimm ist es?“

„Sehr schlimm“, gab sie zu. „Die Klinik wird in weniger als zwei Monaten schließen müssen, wenn kein Wunder geschieht.“

„Und wenn eines geschehen würde?“

„Ich wüsste nicht, wie das möglich sein sollte.“

Patrick schwieg sekundenlang. Dann ging ein Ruck durch ihn, als hätte er einen Entschluss gefasst.

„Was halten Sie von einem Handel, Sarah? Mein Großvater hat mir ein Vermögen hinterlassen. Allerdings unter der Bedingung, dass ich innerhalb eines Jahres verheiratet bin. Vorher komme ich nicht an mein Erbe heran. Ich habe Geld und brauche dringend eine Ehefrau. Und Sie sind eine Frau und brauchen dringend Geld. Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig helfen?“

„Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.“

„Heiraten Sie mich, Sarah! Dann kann ich über mein Erbe verfügen. Im Gegenzug werde ich Ihre Tierklinik retten.“

„Machen Sie mir wirklich gerade einen Heiratsantrag?“, fragte sie ungläubig.

„So könnte man es wohl ausdrücken.“

„Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Haben Sie getrunken?“

„Keinen Tropfen, falls Sie damit Alkohol meinen.“ Patrick sah sie an. „Ich trinke selten, und wenn Sie das zur Bedingung machen, um meinen Antrag anzunehmen, lasse ich es ganz bleiben. Ich ernähre mich gesund, treibe Sport und bezahle meine Rechnungen pünktlich. Außerdem sollte ich Sie vielleicht vorwarnen, dass ich angeblich schnarche.“

Sarah wusste nicht, ob sie lachen oder zornig werden sollte. Schließlich entschied sie sich für ein entrüstetes Schnauben.

„So hat sich Ihr Großvater das gewiss nicht gedacht, als er Ihnen sein Erbe zudachte. Was Sie vorhaben, ist falsch. Außerdem würde ich Sie nicht einmal dann heiraten, wenn Sie der letzte Mann auf dieser Welt wären!“

Patrick zuckte mit keiner Wimper.

„Überlegen Sie sich mein Angebot.“

„Das muss ich nicht. Ich werde Sie nicht heiraten.“

„Dann werden Sie die Klinik verlieren.“

„Das muss nicht Ihre Sorge sein.“

„Richtig, aber mein Erbe macht mir durchaus Sorgen.“

„Oh, ich bin mir sicher, eine Ihrer zahlreichen Verehrerinnen wird liebend gern für Sie in die Bresche springen.“ Sarah funkelte ihn an. Was für ein überheblicher, eingebildeter und … Oh, ihr fehlten die Worte, um all seine Eigenschaften zu beschreiben, die sie auf die Palme brachten. Sie hatte geglaubt, dieser Tag könnte nach dem Brief vom Gericht nicht schlimmer werden.

Nun, da hatte sie sich getäuscht!

***

Der Zustand des Eichhörnchens war stabil, deshalb konnte Sarah nach getaner Arbeit unbesorgt nach Hause fahren.

Daheim fütterte sie Peppy und bereitete das Abendessen zu. Es sollte kalten Braten mit Bauernbrot und Tomatensalat geben. Sie deckte den Tisch im Garten, weil die Luft angenehm mild war und die Vögel ein Abendständchen brachten.

Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drang gedämpfte Musik von Frank Sinatra. Sarah widerstand dem Impuls, zu seufzen. Den Plattenspieler stellte ihr Vater immer dann ein, wenn er ratlos oder aufgewühlt war – oder beides. Sie konnte sich denken, was ihm an diesem Abend zu schaffen machte. Vermutlich dasselbe wie ihr: die unbezahlten Rechnungen.

Wir könnten versuchen, einen Kredit aufzunehmen, grübelte sie, während sie Tomaten für den Salat klein schnitt. Damit würden wir ein Loch stopfen, aber gleichzeitig ein neues aufreißen. Das wäre keine Lösung, nur ein Aufschub.

Heiraten Sie mich, Sarah! Dann kann ich über mein Erbe verfügen. Im Gegenzug werde ich Ihre Tierklinik retten …

Wie ein Echo hallten die Worte ihres Nachbarn in ihrem Kopf nach. Dieser Plan war allerdings so abwegig, dass sie ihn nicht einmal in Erwägung zog. Grundgütiger, sie mochte ihren Nachbarn nicht einmal! Ganz sicher würde sie nicht Tisch und Bett mit ihm teilen. Allein bei dieser Vorstellung begannen ihre Wangen zu glühen und ihre Haut kribbelte nervös.

Nein. Nein. Nein. Es muss noch eine andere Lösung geben. Ich sehe sie nur nicht … In der Etage über ihr rumpelte es unvermittelt, laut und vernehmlich.

Sarahs Kopf ruckte hoch.

„Vater?“ Sie lauschte, aber von oben drang außer der Musik kein Geräusch zu ihr. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus. „Alles in Ordnung bei dir, Vater?“ Sie verließ die Küche und stieg die Treppe hinauf.

Ein gedämpftes Ächzen veranlasste sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Sie öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters und stieß in der nächsten Sekunde einen erschrockenen Ruf aus.

„Vater!“

Rasmus lag neben seinem Schreibtischsessel und krümmte sich. Stöhnend hielt er sich die Brust. Seine Haut war fahl und fühlte sich feucht und kühl an, als sie sich neben ihn kniete und über seine Stirn strich.

„Was fehlt dir denn nur, Vater?“

„Schmerzen … in der Brust“, keuchte er kurzatmig.

Das Herz!, schoss es ihr durch den Kopf. Alarmiert tastete sie nach dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand, und wählte den Notruf. Sie bat um einen Arzt und erwähnte ihren Verdacht, dass ein Herzinfarkt vorlag. In der Rettungsleitstelle versprach man ihr, sofort Hilfe zu schicken.

Sie bedankte sich, legte auf und holte zwei Kissen, um den Oberkörper ihres Vaters erhöht zu lagern. Auch eine Decke holte sie, weil er am ganzen Körper zitterte. Sorgsam breitete sie das Plaid über ihm aus.

Sein Blick flackerte bang zu ihr auf.

„Alles wird gut“, sagte sie und versuchte, so viel Ruhe wie möglich auszustrahlen. Sie wusste, das war wichtig, damit er sich nicht noch weiter aufregte. „Der Notarzt wird gleich hier sein. Er dauert nur ein paar Minuten.“

„Mir ist so schlecht, Sarah.“

„Ich weiß. Halte nur noch ein bisschen durch, ja? Hilfe ist schon unterwegs.“ Sie öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Dabei zitterten ihre Finger verräterisch. Die Angst um ihren Vater ließ das Blut in ihren Ohren rauschen. Er hatte einen Herzanfall, da war sie sich ziemlich sicher. Womöglich sogar Schlimmeres.

Was, wenn sie ihn auch noch verlor? Dann war sie ganz allein auf der Welt. Das durfte nicht passieren. Er war noch keine sechzig und wurde dringend gebraucht.

Ein heißes Flehen stieg aus ihrem Herzen zum Himmel.

Die Sekunden schienen sich zu Stunden zu dehnen. Wo blieb denn nur der Rettungswagen?

Endlich klingelte es an der Haustür. Sarah sprang auf und eilte hinunter, um zu öffnen. Zu ihrer Erleichterung stand kein fremder Arzt draußen, sondern Dr. Frank. Ihr Hausarzt nickte ihr zu.

„Guten Abend, Sarah.“

„Herr Doktor? Sie? Wie ist das möglich?“

„Ich springe regelmäßig im Rettungsdienst als Notarzt ein.“

„Ach so. Ich bin froh, dass Sie es sind. Mein Vater vertraut Ihnen. Er ist oben, und es geht ihm wirklich schlecht. Er hat Schmerzen in der Brust und ist so blass …“ Zittrig deutete Sarah zur Treppe. Dann führte sie den Arzt zu ihrem Vater.

Auf der Schwelle stockte sie, denn der Kopf ihres Vaters war zur Seite gesunken. Er hatte das Bewusstsein verloren!

„Vater? Oh nein! Vater!“ Bang schaute sie zu, wie sich Dr. Frank neben Rasmus kniete, nach seinem Puls tastete und sein Ohr an die Brust des Kranken legte. In ohnmächtiger Verzweiflung beobachtete sie, wie er mit der Wiederbelebung begann. Ihr Vater hatte einen Herzstillstand erlitten!

Daran sind nur die Sorgen schuld, grübelte sie verzweifelt. Sie gehen ihm ans Herz, und nun kosten sie ihn womöglich das Leben. Was machen wir jetzt nur? Mein Vater braucht dringend ein paar gute Nachrichten. Doch woher sollen wir die nehmen?

***

Am nächsten Morgen fühlte sich Sarah wie gerädert.

Sie hatte die Nacht in der Waldner-Klinik am Bett ihres Vaters verbracht und war nur von seiner Seite gewichen, um sich die Beine zu vertreten oder Kaffee zu holen. Es war Dr. Frank gelungen, seinen Patienten wiederzubeleben. Er hatte einen venösen Zugang gelegt und ihrem Vater Medikamente verabreicht, die seinen Blutfluss in Gang halten und seine Schmerzen lindern sollten.

Anschließend war ihr Vater mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht und unverzüglich operiert worden.

Nun lag ihr Vater auf der Intensivstation und bekam Sauerstoff über eine Nasensonde zugeführt. Ein EKG und ein Fingersensor überwachten seine Herztätigkeit und die Sauerstoffsättigung.

Er hatte einen Herzinfarkt erlitten, eine Operation war unumgänglich gewesen. Das verschlossene Herzgefäß musste wieder durchlässig gemacht werden, um ein weiteres Absterben von Herzmuskelgewebe zu verhindern. In der Kardiologie hatte man eine Koronarangiografie bei ihrem Vater gemacht, danach war ihm ein Stent eingesetzt worden.

Die Gefäßstütze war aus Edelstahl. Der Chirurg hatte sie an der Engstelle platziert, um einen neuen Verschluss des Blutgefäßes zu verhindern. Nun wurde ihr Vater mit Medikamenten in einem tiefen Schlaf gehalten, der seinem Körper Zeit geben sollte, sich zu erholen. Er hatte die Nacht über durchgeschlafen.

Die ersten achtundvierzig Stunden nach der Operation waren kritisch, deshalb musste Rasmus auf der Intensivstation bleiben. Wenn alles gut ging, durfte er das Krankenhaus in ein bis zwei Wochen verlassen. An seinen Klinikaufenthalt sollte sich eine Rehabilitationskur anschließen.