12,99 €
10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!
Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!
Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!
Dieser Sammelband enthält die Folgen 2400 bis 2409 und umfasst ca. 640 Seiten.
Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!
Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1216
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Titel
Inhalt
Dr. Stefan Frank 2400
Doch wirst du mich auch morgen lieben?
Dr. Stefan Frank 2401
Gib nicht auf, Philine!
Dr. Stefan Frank 2402
Vergänglich wie ein Sommerabend
Dr. Stefan Frank 2403
Lass dich umarmen, liebes Leben!
Dr. Stefan Frank 2404
Hilfe für zwei einsame Herzen
Dr. Stefan Frank 2405
Der Koch ihrer Träume
Dr. Stefan Frank 2406
Wie Anina ihr Lachen zurückgewann
Dr. Stefan Frank 2407
Wenn alle Hoffnung endet
Dr. Stefan Frank 2408
Falsche Familienidylle
Dr. Stefan Frank 2409
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt …
Start Reading
Contents
Doch wirst du mich auch morgen lieben?
Ihr Glück schien zerbrechlich wie Glas
S arah Pfeiffer ist verzweifelt. Gerade hat Dr. Stefan Frank ihr eröffnet, unter welcher Krankheit sie leidet. Schon seit Wochen wird die Journalistin von einer rätselhaften Müdigkeit und ständigen Schwindelanfällen geplagt. Nun also hat sie endlich Gewissheit. Doch diese Gewissheit fühlt sich alles andere als erleichternd an, denn obwohl der Grünwalder Arzt versucht hat, die junge Frau zu beruhigen, ist doch nur eine Erkenntnis zu ihr durchgedrungen: Ihr Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Mit der Unbeschwertheit früherer Jahre ist es ein für alle Mal vorbei.
Als sie an ihren Freund denkt, durchfährt Sarah ein schmerzhafter Stich. Sie liebt Vincent so sehr, doch wie soll eine glückliche Beziehung unter diesen Umständen aufrechterhalten werden?
Spätestens, wenn er sein Leben durch ihre Krankheit einschränken muss, werden Vincents Gefühle schnell erkalten. Und Sarah weiß genau, dass sie es nicht ertragen wird, dabei zuzusehen, wie ihre Liebe langsam stirbt.
„Einen Kaffee, bitte!“ Aufatmend ließ sich Sarah Pfeiffer auf den Hocker am Tresen fallen und stellte ihren Thermobecher ab. Sie schob ihre langen braunen Locken aus der Stirn und sah den Besitzer des Coffeeshops bittend an.
„Kommt sofort.“ Auch nach den fünf Jahren, die er inzwischen in München lebte, hörte man Jack Morgan noch an, dass er ursprünglich aus England stammte. Genauer gesagt, aus einem kleinen Dorf in den Cotswolds. Er war seiner Freundin zum Studium nach Deutschland gefolgt.
Ihre Beziehung hatte das erste Jahr nicht überstanden, aber Jack hatte sich in die bayerische Metropole verliebt, war geblieben und hatte nach dem Abschluss seines Studiums sein eigenes Geschäft eröffnet.
Sarah und Jack hatten sich in einem Kochkurs kennengelernt, zu dem sie sich beide eingeschrieben hatten. Während der Sommermonate, in denen sie mit mehr oder weniger großem Erfolg gemeinsam gelernt hatten, wie man Steaks briet und ein Soufflé hinbekam, das nicht gleich wieder in sich zusammenfiel, waren sie Freunde geworden.
Jack spähte zu Sarahs Becher. Dann stemmte er die Hände in die Hüften.
„Du bringst einen Kaffee mit in meinen Coffeeshop?“
„Der Becher ist schon lange leer.“ Sarah rutschte unruhig auf ihrem Platz herum. „Ich brauche dringend Nachschub!“
Jack stellte einen Becher vor sie hin und schenkte ihr aus einer großen Kanne ein.
„Der Wievielte ist das heute?“
„Der … zweite?“
„Sarah?!“
„Na gut, der fünfte.“
„Ist nicht dein Ernst.“
„Du hast gefragt.“
„So viel Koffein kann unmöglich gesund sein. Dein Magen ist nicht mit Eisen ausgekleidet, weißt du? Nun, ich werde dir dazu ein paar Waffeln machen.“
„Musst du nicht“, wehrte Sarah ab. „Ich habe keinen Hunger.“
„Um Waffeln zu essen, braucht man keinen Hunger, sondern lediglich eine Gabel“, belehrte Jack sie. Er heizte das Waffeleisen auf und goss Teig auf die Platten. Es zischte, und wenig später verbreitete sich der süße Duft von frischen Waffeln in dem Lokal.
Im Hintergrund sang James Morrison I wont’t let you go .
Jack arrangierte die Waffeln auf einem Teller, fügte frische Erdbeeren hinzu und bestreute alles mit Puderzucker.
„Gönn deinem Magen mal etwas Abwechslung.“
„Vom Magen direkt auf die Hüften“, murmelte sie seufzend.
„Auf welche Hüften?“ Stirnrunzelnd sah er sie an. „Du Hungerhaken hast doch gar keine. Dass Vincent sich nicht ständig blaue Flecken an dir holt, ist mir ein Rätsel.“
„Falls das ein Kompliment sein sollte: Daran musst du noch arbeiten.“
„Ich habe nur eine Tatsache festgestellt.“
„Wenn das so ist, brauchst du eine Brille.“
„Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.“
„Dann guck lieber noch mal hin.“
„Ich glaube nicht, dass das deinem Freund so recht wäre.“ Jacks meergrüne Augen funkelten. Der Schlagabtausch schien ihm sichtlich Spaß zu machen. „Iss“, mahnte er dann.
Sarah tauchte ihre Gabel in die Waffel und kostete. Sie fühlte sich müde und antriebslos – und das nicht erst seit diesem Tag. Das ging schon seit Wochen so. Morgens wusste sie kaum, wie sie aus dem Bett finden sollte. Seufzend schlang sie eine Hand um ihren Kaffeebecher.
„Ich bin so müde. Ohne Koffein bleibe ich stehen wie eine Uhr, bei der man vergessen hat, sie aufzuziehen.“
„Es gibt jetzt Uhren mit Solar-Batterien. Die laufen immer.“
„Davon bin ich leider Lichtjahre entfernt. Außerdem bräuchte es dazu Sonne, und davon haben wir im Moment nicht allzu viel.“
Sarah spähte über ihren Becher hinweg durch das Schaufenster des Coffeeshops nach draußen. München versank geradezu im Regen! Bleigraue Wolken ballten sich über der Stadt zusammen und entließen einen heftigen Regen, der von außen gegen die Scheiben trommelte.
Die Straße war übersät mit Pfützen. Dazu waberten Dunstschwaden durch die beliebte Münchner Einkaufsstraße. Bei schönem Wetter waren hier zahlreiche Menschen unterwegs. An diesem Nachmittag herrschte jedoch auffallend wenig Betrieb. Das Wetter hielt die meisten Menschen daheim. Es war so trübe, dass man hätte denken können, es wäre noch Februar und nicht schon Anfang Juni.
„Hast du für heute Feierabend?“, erkundigte sich Jack.
„Schön wär’s. Ich muss gleich noch zu einem Termin in den Tiergarten.“
„Du bist ständig am Arbeiten. Was sagt denn dein Freund dazu?“
„Vincent versteht das schon.“ Ihr Herz machte einen Satz, als sie an den geliebten Mann dachte. Vincent war Toxikologe und an der Universität angestellt. Mit seiner großen, kräftigen Statur und den braunen Augen war er ihr Traummann.
Er brachte sie zum Lachen und gab ihr das Gefühl, in seinen Armen sicher zu sein. Ganz egal, was das Leben für sie bereithalten mochte.
„In der Redaktion geht demnächst ein Kollege in den Ruhestand. Der Chef hat durchblicken lassen, dass er den Posten mit mir besetzen will. Ich träume schon lange von einer Festanstellung, und jetzt ist sie zum Greifen nah. Das will ich mir auf keinen Fall verbauen, indem ich Aufträge schleifen lasse.“
„Willst du dein Können wirklich an ein Anzeigenblatt verschwenden?“
„Die Arbeit macht mir Spaß. Außerdem ist das Leben als freie Journalistin kein Zuckerschlecken. Man weiß nie, ob man im nächsten Monat genügend Aufträge haben wird, um die Miete zu bezahlen. Ich habe diese Ungewissheit satt.“
„Trotzdem finde ich, dass du etwas Besseres verdienst. Du weißt mehr über Literatur und Politik als irgendjemand sonst, den ich kenne. Außerdem schreibst du großartige Texte. Du solltest für eine große Tageszeitung oder das Fernsehen arbeiten, nicht für ein Anzeigenblatt, das nur ein paar Platzfüller zwischen den Werbeseiten braucht, um sich den Anstrich einer Zeitung zu geben.“
„Ganz so ist es nicht. Unser Blatt veröffentlicht durchaus lesenswerte Artikel …“
Sarah unterbrach sich, als sich ihr Telefon mit der Melodie von Vom Winde verweht meldete. Sie sah Jack entschuldigend an. Er winkte begütigend ab und ging, um einen frei gewordenen Fenstertisch abzuräumen.
„Hallo?“ Sarah presste ihr Handy ans Ohr.
„Sarah? Du musst etwas für mich tun.“
„Vater, bist du das?“
„Sagte ich das nicht?“
„Noch nicht, aber jetzt weiß ich Bescheid. Schön, dass du anrufst.“
„Ja, nun.“ Ihr Vater schien kurz aus dem Konzept geraten zu sein. Er ging stets geradewegs auf sein Ziel zu und hielt sich nicht gern mit langen Vorreden auf. „Du musst mich heute Abend zu einem geschäftlichen Termin begleiten.“
„Heute? So kurzfristig?“
„Eigentlich sollte deine Mutter mitkommen, aber wie so oft hat sie mir in letzter Minute abgesagt. Sie fühlt sich nicht gut, mal wieder.“ Ihr Vater schnaufte. „Dabei weiß sie genau, wie wichtig dieser Abend für mich ist, aber das kümmert sie nicht.“
„Es kümmert sie bestimmt, aber wenn sie einen Schub hat, wäre der Abend vermutlich eine Qual für sie.“
„Schlag dich ruhig wieder auf ihre Seite. Was ist mit mir? Warum muss ich immer alle Bedürfnisse hinter denen deiner Mutter zurückstellen? Ich will heute Abend wichtige geschäftliche Kontakte nach Amerika knüpfen. Die Delegation vertritt einen Pharmakonzern, mit dem mein Unternehmen in Zukunft eng zusammenarbeiten will. Es wurde ausdrücklich betont, dass eine weibliche Begleitung erwünscht ist. Ich kann dort unmöglich allein auftauchen.“
„Es tut mir leid, aber ich habe schon etwas vor.“
„Bitte, Sarah, lass mich nicht genauso hängen, wie deine Mutter es seit fast dreißig Jahren tut.“
„Mutter hat Multiple Sklerose. Sie kann nichts dafür, dass es ihr oft schlecht geht.“
„Ich aber auch nicht. Bitte, Sarah, komm heute Abend mit.“
„Ich muss gleich zu einem Termin, und anschließend will ich den Artikel schreiben. Er soll heute fertig werden.“
„Kannst du das nicht verschieben? Ist es wirklich zu viel verlangt, dass die beiden Frauen in meinem Leben mich einmal unterstützen? Deine Mutter verlangt seit unserer Hochzeit, dass ich auf sie Rücksicht nehme, aber wer achtet auf mich?“
„Sie würde dich bestimmt gern begleiten. Du weißt, wie es ist. Wenn sie einen Schub hat, ist ihr Körper ihr größter Feind.“
„Wofür gibt es Medikamente? Sie hat einen ganzen Schrank voll. Nein, Sarah, sie liebt es, mich wie eine Marionette zu manipulieren und mich zur Verzweiflung zu treiben. Sie …“ Ihr Vater setzte zu einer seiner Reden darüber an, wie die Krankheit ihrer Mutter sein Leben beeinträchtigte. So war es, seitdem Sarah klein gewesen war.
Die Erkrankung ihrer Mutter verhinderte häufig, dass diese zu Unternehmungen mitkam. Wanderungen, Einkaufsbummel, Familienurlaube – all dies wurde oft im letzten Augenblick abgesagt. Ihr Vater ließ keine Gelegenheit aus, um ihr deswegen Vorwürfe zu machen. Die Ehe ihrer Eltern bestand zu fünfundneunzig Prozent aus Zank und Vorwürfen. Das hatte Sarahs Kindheit überschattet.
Sie rieb sich unbehaglich den Hals, der spürbar eng geworden war.
„Also gut“, willigte sie ein, als ihr Vater eine Pause machte. „Ich komme mit zu deinem Geschäftsessen. Ich kann meinen Artikel auch morgen früh schreiben.“
„Danke, Sarah. Es tut gut, wenigstens dich auf meiner Seite zu wissen.“
„Ich bin auf euer beider Seiten, das weißt du.“
„Wie auch immer. Jedenfalls werde ich dich um neunzehn Uhr abholen. Halte dich pünktlich bereit. Und zieh bitte etwas Seriöses an.“
„Dann kommt das silberne Minikleid mit dem Glitzeraufdruck wohl eher nicht infrage, was?“
„Das ist nicht witzig, Sarah.“
„Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen.“
„Bis nachher also.“ Es klickte im Hörer, dann hatte ihr Vater aufgelegt.
Sarah schob ihr Telefon zurück in die Tasche und widerstand dem Impuls, tief zu seufzen.
Jack kam heran und füllte ungefragt ihren Kaffeebecher nach.
„Du besitzt ein silberfarbenes Minikleid?“ Interesse funkelte in seinen Augen.
„Nicht wirklich. Ich wollte nur meinen Vater von seinem Ärger auf meine Mutter ablenken.“
„Lassen sie sich endlich scheiden?“
„Beruf es bloß nicht!“ Sarah sah ihn erschrocken an. „Meine Eltern dürfen sich nicht trennen.“
„Aber sie machen sich unglücklich. Wäre ein Schnitt nicht besser?“
Auf diese Frage wusste Sarah keine Antwort. Es gab durchaus auch glückliche Tage in der Ehe ihrer Eltern. Allerdings nicht viele. Beklommen schob sie ihren Teller mit den Resten der Waffel von sich.
„Hast du ein paar Salzmandeln für mich, Jack?“
„Salzmandeln?“
„Ja, nach dem süßen Kram brauche ich etwas Herzhaftes. Ein paar Salzgurken tun es auch, wenn du welche hast.“
„Salzgurken.“ Jack sah sie nachdenklich an.
„Warum guckst du denn so?“
„Bist du etwa schwanger?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Du zeigst einige Anzeichen: deine ständige Müdigkeit, dein Heißhunger auf merkwürdige Speisen …“
Sarah stockte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich bin bestimmt nicht schwanger. Vincent und ich verhüten. Außerdem hatte ich gerade erst meine Tage. Also, nein, das ist völlig ausgeschlossen.“
„Ich dachte nur.“ Jack hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Ich habe einfach nur viel um die Ohren.“ Sarah warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und zuckte zusammen. „Oh, schon so spät. Vergiss die Salzmandeln. Ich muss los!“ Sie wollte nach ihrem Portemonnaie greifen, aber Jack winkte ab.
„Lass gut sein. Du bist bei mir eingeladen, das weißt du.“
„Das geht nicht. Das hier ist dein Laden, und ich bin eine Kundin, die dir den Kaffee wegtrinkt.“ Sarah legte einen Geldschein auf den Tresen. Dann blickte sie schaudernd hinaus in den Regen.
Am liebsten wäre sie in dem gemütlichen Coffeeshop geblieben, aber die Pflicht rief. Eine Münchner Großbäckerei hatte dem Tiergarten ein Löwenjunges gespendet, das an diesem Tag übergeben werden sollte.
Das Unternehmen war ein wichtiger Anzeigenkunde, deshalb lag dem Chefredakteur viel daran, dass der Artikel gut ausfiel. Sarah wälzte in Gedanken bereits passende Überschriften.
Wenn sie nur nicht so erschöpft gewesen wäre! Sie hatte das Gefühl, vom Fleck weg einschlafen zu können.
Sarah schob ihre Geldbörse zurück in die Tasche. Anschließend leerte sie den Kaffeebecher und stand von ihrem Hocker auf. Dabei wurde sie plötzlich von einer so heftigen Schwindelattacke erfasst, dass sie erschrocken die Hand nach einem Halt ausstreckte. Doch sie verfehlte den Hocker und taumelte ins Leere. Hart stürzte sie auf den Boden.
Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
***
„Hm.“ Sarahs Hausärztin studierte die Anzeige auf dem Blutdruckmessgerät. „Hm“, murmelte sie erneut.
Sarah rutschte unruhig auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch der Ärztin herum. Ihre rechte Hand tat weh, weil sie bei ihrem Sturz darauf gelandet war, aber wenigstens war ihr nicht mehr schwindlig. Jack hatte angeboten, sie zur Praxis ihrer Hausärztin zu begleiten, aber Sarah hatte abgelehnt.
Sie fühlte sich besser. Das Schwindelgefühl war verschwunden. Sie war nur erschöpft, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich.
„Können Sie schon etwas sagen, Frau Doktor?“
„Was ich Ihnen sagen kann, Frau Pfeiffer, ist, dass Sie kerngesund sind.“
„Aber … wie ist das möglich?“
„Sie waren in den vergangenen vier Wochen dreimal bei mir, und immer mit denselben Symptomen: Müdigkeit und Drehschwindel. Wir haben Sie von Kopf bis Fuß untersucht. Ihre Blutwerte und der Blutdruck liegen im Normalbereich. Das MRT Ihres Schädels war in Ordnung. Sie haben keinen Tumor und sind nicht schwanger. Infektionen an den Ohren können für Gleichgewichtsstörungen verantwortlich sein, aber auch Ihre Ohren sind unauffällig. Sie sind bei bester Gesundheit.“
„Warum ist mir dann so oft schwindlig? Und weshalb bin ich ständig so müde, dass ich mir den Kaffee am liebsten intravenös geben lassen würde?“
„Stress könnte die Ursache für Ihre Symptome sein. Ich werde Sie zum Psychologen überweisen.“
„Zum Psychologen?“ Sarah blickte ihre Hausärztin entgeistert an. „Sie glauben, ich bilde mir meine Beschwerden nur ein?“
„Ich glaube, dass uns die Seele manchmal Streiche spielt und dass es nicht verkehrt wäre, wenn Sie mit einem Psychologen sprechen würden. In meiner Praxis habe ich es oft genug mit aussichtslosen Fällen zu tun. Sie, Frau Pfeiffer, gehören nicht dazu. Darüber sollten Sie froh sein.“
„Das wäre ich, wenn ich mich nicht so elend fühlen würde.“
„Nun, dazu gibt es keine Veranlassung. Es sei denn … Brauchen Sie vielleicht eine Krankschreibung von mir?“
Der kühle Ton ihrer Hausärztin ließ Sarah aufhorchen. Sie bemerkte die Skepsis in den Augen ihres Gegenübers. Glaubte die Ärztin etwa, sie würde Ausreden suchen, um ein paar Tage lang nicht arbeiten zu müssen? Unwillkürlich hob sie das Kinn.
„Ich brauche keine Krankschreibung, sondern Antworten“, erwiderte sie und hörte selbst, wie verzweifelt sie klang.
„Die werden Sie vielleicht von meinem Kollegen bekommen.“ Die Ärztin druckte eine Überweisung aus und reichte sie ihr. „Bemühen Sie sich möglichst rasch um einen Termin. Erfahrungsgemäß dauert es einige Zeit, einen zu bekommen.“
Sarah nickte nur. Sie brachte es nicht über sich, sich zu bedanken, denn die Enttäuschung klemmte wie ein Eisklumpen in ihrer Kehle. So verabschiedete sie sich und verließ die Praxis mit dem niederschmetternden Gefühl, dass man ihr nicht glaubte.
Natürlich waren Erschöpfung und Schwindelgefühle keine messbaren Größen. Nicht so wie Fieber, beispielsweise. Trotzdem sollte die Ärztin sie besser kennen. Sarah kam immer erst dann in die Praxis, wenn sie sich wirklich elend fühlte. Wie bei der Blasenentzündung im vergangenen Herbst, als sie das Gefühl gehabt hatte, flüssiges Feuer auszuscheiden. Damals hatte ihr ein Antibiotikum geholfen.
Diesmal schien es jedoch kein Medikament für sie zu geben. Ihre Glieder waren bleischwer, und sie war unendlich müde. Sarah trat hinaus auf die Straße und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ein heißer Schreck fuhr ihr durch den Körper.
Auch das noch! Sie hatte den Termin im Tiergarten versäumt. Die Übergabe des Löwennachwuchses war längst über die Bühne gegangen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie im Tiergarten noch jemanden antraf, der bereit war, mit ihr zu reden. Sie würde in der Redaktion Bescheid geben müssen, dass sich die Abgabe ihres Artikels verzögerte.
Das Anzeigenblatt hatte sein Büro zwei Querstraßen weiter. Sarah zog die Kapuze ihrer Wetterjacke über den Kopf und machte sich auf den Weg.
Ob ein Psychologe ihr wirklich helfen könnte? Sie hatte schon gehört, dass sich psychische Probleme durchaus auch körperlich bemerkbar machen konnten. Allerdings glaubte sie nicht, dass das auf sie zutraf. Zugegeben, sie hatte allerhand um die Ohren, aber das hatten andere Menschen auch. Nein, es musste eine andere Erklärung für ihre Erschöpfung und die Schwindelattacken geben.
Nur welche?
Sie war noch zu keinem Schluss gekommen, als sie das moderne Bürogebäude am Isarufer erreichte. Durch eine verglaste Drehtür gelangte man in den Innenbereich, wo ein Concierge Besucher willkommen hieß. Sarah kannte den Weg und nickte ihm nur freundlich zu. Er winkte sie durch.
Sarah zog die Kapuze vom Kopf und schüttelte sich den Regen von der Jacke. Ihre nassen Schuhsohlen quietschten auf dem Steinfußboden. An der Wand hingen frühere Ausgaben des Anzeigenblattes in Schaukästen neben Fotografien von den Herausgebern. Es roch nach Kaffee und altem Papier. Irgendwo ratterte ein Kopierer.
Die Redaktion des Anzeigenblatts bestand aus dem Chefredakteur, einem Volontär sowie einem fest angestellten Mitarbeiter, der seinem Ruhestand entgegenfieberte und die Wand über seinem Schreibtisch mit Postkarten und Reisebroschüren von Urlaubszielen tapeziert hatte. All diese Orte wollte Rainer Bartl besuchen, sobald er pensioniert war.
„Grüß dich, Rainer.“ Sarah blieb an seinem Schreibtisch stehen.
Der Mittsechziger blickte von seinem Computer auf.
„Sarah? Herrje, da bist du ja endlich. Du sollst zum Chef kommen. Sofort, hat er gesagt.“
„Das klingt gar nicht gut.“
„Ist es auch nicht. Als ich eben bei ihm war, zog er ein Gesicht, als wäre eines seiner Magengeschwüre aufgebrochen. Was, nebenbei bemerkt, kein Wunder wäre. Er ist viel zu aufbrausend. Gesund ist das bestimmt nicht.“
„Dann gehe ich wohl besser gleich zu ihm.“
„Das würde ich dir auch raten. Nimm es dir nicht zu Herzen, wenn er schimpft. Bei ihm verziehen sich die Unwetter so schnell, wie sie aufgezogen sind.“
„Ich werde daran denken. Übrigens wird deine Reiseliste täglich länger und länger, was?“ Sie deutete auf die zahlreichen neuen Postkarten über seinem Schreibtisch.
„In der Tat.“ Ein Lächeln huschte über das bärtige Gesicht des Redakteurs. „Heute sind Loch Ness und die Überreste vom Hadrianswall dazugekommen. Meine Frau meinte, wir müssten mindestens hundert Jahre alt werden, um all die Orte zu sehen, die wir gern besuchen möchten.“
„Das hört sich nach einem guten Plan an.“
„Das findet meine Frau auch.“ Rainer zwinkerte ihr zu. „Aber du solltest dich wirklich nicht länger aufhalten. Der Chef hat vorhin einen Anruf erhalten. Danach war er ziemlich fuchsig.“
„Ich kann mir schon denken, worum es geht.“ Sarah seufzte unterdrückt, dann strebte sie über den Flur zum Büro des Chefredakteurs. Auf dem Weg kam ihr der Volontär entgegen. Er mied ihren Blick und presste einen Stapel Kopien an sich, als würde er sich am liebsten dahinter verstecken.
Was ging denn hier vor?
„Tim? Hallo! Alles klar bei dir?“
Der Volontär murmelte eine Erwiderung – so leise, als hätte er Angst, schlafende Hunde zu wecken.
Sarahs Herz verkrampfte sich. Nein, das war kein gutes Zeichen! Sie holte noch einmal tief Luft, dann klopfte sie an.
„Ja!“, polterte eine dunkle Stimme von drinnen. Sie klang so dumpf, als würde sie vom Grund eines tiefen Brunnens kommen.
Sarah öffnete die Tür.
Clemens Stadler thronte hinter seinem Schreibtisch, der fast die halbe Zimmerlänge in Anspruch nahm. Der Mittvierziger war ein untersetzter Mann mit Geheimratsecken, einem runden Gesicht und geröteten Wangen. Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt und blickte Sarah so grimmig entgegen, als würde er eine Schnecke auf seinem Salatteller mustern.
„Frau Pfeiffer. Schließen Sie die Tür, und nehmen Sie Platz.“
Frau Pfeiffer? Oha. Bei der letzten Weihnachtsfeier hatte Clemens Stadler ihr das Du angeboten. Wenn sie nun wieder per Sie waren, stand es nicht gut um ihr Arbeitsverhältnis. Sarah setzte sich auf die vorderste Stuhlkante und verschränkte die Hände im Schoß.
Der Chefredakteur ließ sie nicht lange warten, sondern kam gleich zur Sache.
„Sie waren heute nicht bei dem Termin im Tiergarten. Der Chef der Großbäckerei war äußerst ungehalten darüber, dass niemand von uns bei der Übergabe seiner Spende dabei war. Er hat mir vorgehalten, dass er monatlich eine vierstellige Summe in Anzeigen bei uns investiert.“
Er schüttelte den Kopf.
„Alles, was er dafür von uns wollte, war gute Publicity. Wir sollten über seine Spende berichten, aber genau das können wir nun nicht, weil Sie nicht vor Ort waren. Warum, Frau Pfeiffer? Ich hatte Ihnen sogar die Fotos anvertraut und keinen Fotografen beauftragt, weil ich mir sicher war, dass Sie die Aufgabe zuverlässig erledigen würden. Sie haben mich enttäuscht. Schwer enttäuscht sogar.“
„Es tut mir leid, Herr Stadler. Ich habe mich nicht wohlgefühlt.“
„Ach nein? Hätten Sie nicht wenigstens anrufen können? Dann hätte ich jemand anders zu dem Termin geschickt.“
Sarah biss sich auf die Lippen. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht. Sie war durcheinander gewesen und hatte sich so elend gefühlt, dass ihr das Naheliegendste nicht eingefallen war: sich um eine Vertretung zu kümmern.
„Ich werde mit den Leuten vom Tiergarten sprechen und den Artikel nachreichen.“
„Dafür ist es zu spät. Wir haben weder aktuelle Fotos noch Eindrücke von der Übergabe der Spende. Die Kollegen von der Tagespresse waren natürlich vor Ort. Sie werden einen soliden Bericht abliefern und nicht nur lauwarme Fakten vom Vortag.“ Der Chefredakteur musterte Sarah. „Sie sehen nicht krank aus. Wurden Sie krankgeschrieben?“
„Nein.“
„Waren Sie beim Arzt?“
„Ja, aber meine Ärztin konnte nichts finden.“
„So so.“ Seine Miene verdüsterte sich weiter. „In den vergangenen Wochen haben Sie mich mehrmals hängen lassen. Sie waren unkonzentriert und ständig müde. Ich habe Sie schon mehrfach darauf angesprochen. Jetzt reicht es. Heute haben Sie den Bogen überspannt. Ich werde in Zukunft darauf verzichten, Sie als freie Mitarbeiterin einzusetzen.“
„Was? Oh nein, bitte, es wird nicht wieder vorkommen.“
„Das haben Sie mir schon mehrfach beteuert, aber es hat sich nichts geändert. Ich trage eine Verantwortung meiner Zeitung gegenüber und darf so einen Schlendrian nicht länger dulden. Es gibt genügend Journalisten, die Sie liebend gern ersetzen werden. Für Sie sehe ich bei uns keine Zukunft mehr.“
Die Worte prasselten auf Sarah nieder wie Hagelkörner. Sie war wie gelähmt. Nein, das konnte nicht wahr sein. Sie sollte doch die Festanstellung von Rainer übernehmen, sobald der in den Ruhestand ging! Damit hatte sie fest gerechnet. Sie hatte hart gearbeitet, um sich als geeignet zu erweisen. Und nun sollte alles umsonst gewesen sein?
„Bitte, Herr Stadler, tun Sie das nicht. So ein Versäumnis wie heute wird nicht mehr vorkommen.“
„Ganz recht“, erwiderte der Chefredeakteur schnaufend, „weil Sie ab sofort nicht mehr für uns arbeiten.“
„Aber das können Sie nicht tun. Bitte. Ich brauche die Arbeit.“
„Das hätten Sie sich früher überlegen müssen. Die Geschäftswelt wird immer härter. Ich brauche Menschen um mich herum, auf die ich mich verlassen kann.“
„Sie können sich auf mich verlassen. Das verspreche ich Ihnen.“
„Heute haben Sie mir wieder einmal bewiesen, dass ich das nicht kann. Und das war nicht das erste Mal. Nein, Frau Pfeiffer, Sie müssen sich nach einer anderen Aufgabe umsehen.“ Clemens Stadler sah Sarah grimmig an.
Sie erkannte, dass es ihm ernst war. Sie war raus. Gekündigt. Fassungslos stand sie auf und wankte aus dem Büro. Alles in ihr war in hellem Aufruhr. Das war nicht fair! Sie hatte immer ihr Bestes gegeben, aber in den vergangenen Wochen hatte sie sich zur Arbeit zwingen müssen. Vermutlich hatte man ihr das angemerkt. Das rächte sich nun.
Sie taumelte zu den Toiletten und drehte das kalte Wasser auf. Ihre Hände zitterten, als Sarah sie unter den kalten Strahl hielt. Ihr Blick suchte ihr Gesicht im Spiegel. Abgesehen von ihren Augen, die in Tränen schwammen, sah man ihr nicht an, wie elend sie sich fühlte. Mit den braunen Locken und der sonnengebräunten Haut war sie äußerlich topfit. Innerlich jedoch war sie ein Scherbenhaufen.
Wie war das möglich? Warum fand ihre Ärztin nicht heraus, was ihr fehlte? Bildete sie sich womöglich alles nur ein?
Sarah war wie betäubt. Sie fühlte sich, als hätte sie einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten.
Aus, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Alles ist aus. Ich stehe auf der Straße. Was soll ich denn jetzt nur tun?
***
Vincent ahnte noch nichts von den Sorgen seiner Freundin. Er saß daheim über seiner Arbeit und las.
Sein Bücherregal konnte einem ahnungslosen Besucher durchaus einen Schrecken einjagen. Bei ihm fanden sich Titel wie „Gifte im Alltag“, „Biogene Gifte“ und „Die tägliche Dosis Gift“.
Was sich las wie die Hausbibliothek eines Serienkillers, war in Wahrheit das gesammelte Wissen, das Vincent für seine Forschungen benötigte. Er war Toxikologe und beschäftigte sich mit den Auswirkungen verschiedenster Gifte auf das menschliche Leben.
Für seine Doktorarbeit untersuchte er die Auswirkungen verschiedener chemischer Substanzen in Haushaltsreinigern. Nebenher arbeitete er beim Giftnotruf und half Anrufern, die auf irgendeine Weise mit Giften in Kontakt gekommen waren und nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Abwarten? Einen Arzt rufen? Aktivkohle schlucken? Oder besser auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus?
An diesem Tag hatte Vincent die Frühschicht in der Giftzentrale gehabt und war bereits am frühen Nachmittag zu Hause. Er wollte die Zeit nutzen, um sich in die Fachzeitschrift zu vertiefen, die vor einigen Tagen neu erschienen war. So saß er mit einem dampfenden Becher Tee in seinem Arbeitszimmer, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte.
Seine Freundin erwartete er nicht vor dem Abend zurück. Umso überraschter war er, als er hörte, wie ein Schlüssel im Türschloss umgedreht wurde.
„Sarah?“ Er ging in den Flur. Seine Überraschung verwandelte sich in Sorge, als er das rot verweinte Gesicht seiner Freundin bemerkte. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und sah ihn nicht einmal an. „Sarah, was ist denn geschehen?“
„Aus“, schluchzte sie. „Es ist alles aus.“
„Aber … was denn?“
„Herr Stadler hat mir gesagt, dass die Festanstellung in der Redaktion jemand anders bekommt. Außerdem will er nicht länger mit mir zusammenarbeiten.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Du bist doch sein bestes Pferd im Stall.“
„Das war ich früher vielleicht mal, aber seit ein paar Wochen ist er nicht mehr zufrieden mit mir. Ich fühle mich nicht gut, und das wirkt sich auf meine Arbeit aus.“
„Dafür sollte er Verständnis haben.“
„Er glaubt, ich würde simulieren.“ Verzweifelt schob sich Sarah eine regennasse Haarsträhne aus der Stirn. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Vincent zog sie an sich und ignorierte den Regen auf ihrer Jacke, der nun sein Hemd durchnässte.
„Herr Stadler wird sich das bestimmt noch einmal überlegen, Sarah. Gib ihm etwas Zeit, dann renkt sich das sicher wieder ein.“
„Das bezweifle ich. Seine Entscheidung klang endgültig. Ich habe mir das selbst zuzuschreiben. Ich habe schlecht gearbeitet und Fehler gemacht.“
„Du bist krank.“
„Das glaubt mir aber niemand.“
„Ich glaube dir.“ Vincent strich ihr über das Haar. „Komm erst einmal herein, Schatz. Ich werde dir einen schönen Kakao kochen.“
„Keinen Kaffee?“
„Koffein hattest du heute schon genügend.“
„Woher weißt du das?“
„Ich kenne dich eben besser, als du glaubst.“ Er zwinkerte ihr zu und ging mit ihr in die Küche, wo er einen Topf auf den Herd setzte und Milch darin warmmachte. „Erzähl mir, was heute geschehen ist. Herr Stadler hat dich sicherlich nicht ohne einen Anlass vor die Tür gesetzt.“
„Ich hatte heute einen Auftrag im Tiergarten, aber auf dem Weg dorthin ist mir schlecht geworden, deshalb bin ich zu meiner Ärztin gegangen. Sie hat mich untersucht und wieder nichts gefunden. Sie glaubt, ich würde ihr etwas vormachen, um krankgeschrieben zu werden. Das hat sie zwar nicht ausgesprochen, aber ich habe es ihr angesehen. Für den Termin war es danach zu spät, und in der Redaktion ist dann endgültig alles schiefgegangen.“
„Ich verstehe, aber der Chefredakteur beruhigt sich schon wieder.“
„Nein, Vincent, sein Entschluss ist endgültig.“
„Dann finden wir eben eine andere Lösung.“ Vincent goss die Milch in einen Becher, rührte Kakaopulver hinein und stellte ihn vor seiner Freundin ab.
„Was mache ich denn jetzt nur?“, murmelte sie. „Ich muss doch Geld verdienen. Die Miete und alle anderen Rechnungen bezahlen sich nicht von allein.“
„Vergiss nicht, ich bin auch noch da. Wir sind zu zweit und werden das schon schaffen. Ich kann die Miete eine Weile allein tragen. Und du wirst bestimmt bald etwas Neues finden. Dein Talent war bei dem Anzeigenblatt ohnehin verschwendet.“
Sarah blickte aus tränennassen Augen auf.
„Hast du mit Jack gesprochen?“
„In letzter Zeit nicht. Wie kommst du darauf?“
„Weil er vorhin ungefähr dasselbe zu mir gesagt hat.“
„Es stimmt ja auch. Du bist eine Spitzenjournalistin und brauchst Herausforderungen.“
„Aber ich mochte meine Arbeit. Na ja, meistens jedenfalls. Nun stehe ich ohne Job da, und das macht mir Angst.“
„Du wirst etwas anderes finden. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass du eine Zeit lang Ruhe hast. Nimm dir frei und erhol dich richtig.“
„Das kann ich aber nicht. Ich muss gleich morgen losgehen und mich nach einer freien Stelle umschauen.“
„Schlaf erst einmal darüber“, schlug er vor. „Was hältst du davon, wenn ich uns jetzt einen Gemüseauflauf zubereite? Und du legst dich derweil in die Badewanne und wärmst dich auf.“
„Ein Bad wäre wirklich schön.“ Sie schlang schaudernd die Arme um sich selbst. „Du bist so lieb, Vincent …“
„Das ist ja auch meine Aufgabe als dein Freund.“ Er zwinkerte ihr zu. „Das hier ist ein Rückschlag, aber nicht das Ende der Welt. Du weißt doch, was man sagt: Wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich eine andere.“
„Im Augenblick stehe ich vor lauter geschlossenen Türen.“ Sarah seufzte mutlos.
„Bei mir findest du immer eine offene Tür. Versprochen.“ Ihr trauriges Lächeln brach ihm fast das Herz. Er hätte ihr den Kummer gern abgenommen, aber das lag nicht in seiner Macht. „Soll ich dir Wasser in die Badewanne einlaufen lassen?“
„Das mache ich gleich selbst. Was das Essen betrifft … Ich würde gern mit dir essen, aber ich kann leider nicht. Mein Vater holt mich um neunzehn Uhr ab. Er braucht eine Begleitung für ein Geschäftsessen.“
„Bei diesen Geschäftsessen gibt es immer nur Häppchen“, winkte Vincent ab. „Von denen würde nicht mal eine Maus satt. Du brauchst vorher etwas Richtiges in den Magen. Bis neunzehn Uhr haben wir noch genügend Zeit für dein Bad und das Abendessen. Oder willst du deinem Vater absagen, weil du dich nicht gut fühlst?“
„Das kann ich nicht. Er ist ohnehin schon aufgebracht, weil meine Mutter ihn nicht begleiten kann. Ich habe ihm versprochen, mitzugehen.“
„Also gut. Dann entspann dich und genieß dein Bad. Ich rufe dich, sobald das Essen fertig ist.“
„Ist gut.“ Sarah nickte und trottete aus der Küche.
Vincent blickte ihr nach. So niedergeschlagen kannte er sie nicht. In den vergangenen Wochen hatte sie sich verändert. Es war, als würde irgendetwas die Kraft aus ihr saugen. Früher war sie ein Energiebündel gewesen. Kaum zu bremsen und immer in Aktion. Jetzt konnte sie sich morgens kaum aufraffen, das Bett zu verlassen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Warum nur fand ihre Ärztin nicht heraus, was das war?
Nachdenklich holte er Karotten, Brokkoli und Kartoffeln und machte sich daran, das Gemüse zu putzen, in Scheiben zu schneiden und in eine Auflaufform zu schichten. Es stammte aus dem Bioladen an der Ecke.
Vincent achtete sehr auf eine gesunde Ernährung. Außerdem fuhr er gern Fahrrad. Er mochte keine Autos, seitdem er seine Eltern bei einem Unfall verloren hatte. Ein Geisterfahrer hatte ihren Wagen auf der Autobahn gerammt. Sie hatten nicht mehr ausweichen können.
Vincent heizte den Backofen vor und schob anschließend die Auflaufform hinein. Dabei ging ihm ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Sarah brauchte dringend eine Auszeit vom Alltag.
Ein Urlaub, das wäre jetzt genau das Richtige, grübelte er. Vielleicht würde eine Luftveränderung Sarah helfen, neue Kraft zu schöpfen. Und nach der Rückkehr könnte sie sich mit neuer Energie in die Suche nach einem Job stürzen.
Diese Überlegung ließ ihn nicht los.
Im Hintergrund spielte leise das Radio. Die Musik wechselte zu einem lebhaften Jingle, dann kündigte der Moderator ein Gewinnspiel an. Ein Anrufer konnte eine Reise an die Nordsee gewinnen.
Vincent horchte auf. Die Nordsee wäre perfekt für uns, dachte er. Schöne Strände, Ruhe und saubere Luft. Wir könnten im Watt wandern und Möwen beobachten. Außerdem ist die See nicht aus der Welt. Man kann sie bequem mit dem Zug erreichen. Allerdings verlasse ich mich lieber nicht darauf, dass wir etwas gewinnen. Nein, manchmal muss man seinem Glück auf die Sprünge helfen …
Entschlossen setzte er sich an seinen Laptop und rief das Internet auf. Dann tippte er „Nordsee“ und „Urlaub“ in die Suchmaschine ein und klickte sich durch die Angebote.
Nach einer Weile stieß er auf die Fotografie einer flachen Insellandschaft. Schafe weideten auf grünen Deichwiesen. Dahinter spiegelte sich glitzernd die untergehende Sonne im Meer. Sein Herz wurde weit. Das war ja paradiesisch! Wo war das nur?
Vincent suchte auf der Seite nach einer Angabe.
Pellworm. Eine Insel im nordfriesischen Wattenmeer.
Nordfriesland? Warum eigentlich nicht? Vielleicht bot sich ihm dort sogar die Gelegenheit, Sarah den Ring zu schenken, den er für sie gekauft hatte. Schon lange wartete er auf den passenden Moment, um ihr die Frage aller Fragen zu stellen.
Vincent wollte sein Leben mit ihr verbringen, weil er sie von ganzem Herzen liebte. In letzter Zeit war Sarah abends so abgespannt gewesen, dass er seine Frage aufgeschoben hatte. Im Urlaub jedoch wäre die Gelegenheit günstig!
Er suchte weiter und fand die Website eines Strandhotels auf Pellworm. Es lag nur einen Steinwurf vom Strand entfernt.
Perfekt! Vincent gab sich einen Ruck. Nordfriesland, wir kommen!
***
In der Praxis von Dr. Stefan Frank ging es an diesem Tag wieder zu wie in einem Bienenstock. Zahlreiche Patienten suchten mit fiebrigen Infekten oder rheumatischen Erkrankungen seine Hilfe. Das nasskalte Wetter sorgte für vielerlei Beschwerden. Offiziell war seine Sprechstunde bereits seit einer Stunde vorüber – und noch immer war das Wartezimmer voll.
Dr. Frank begleitete gerade eine Patientin aus seinem Sprechzimmer. Die pensionierte Lehrerin war wegen starker Schmerzen beim Wasserlassen zu ihm gekommen. Sie hatte eine verschleppte Blasenentzündung und brauchte dringend ein Antibiotikum. Zusätzlich hatte er ihr warme Bäder und Cranberry-Saft empfohlen, um die Behandlung zu unterstützen.
„Auf Wiedersehen, Frau Mayr. Lassen Sie sich bitte einen Termin zur Nachkontrolle in einer Woche geben, ja?“
„Das mache ich. Vielen Dank, Herr Doktor.“
„Alles Gute.“ Stefan Frank wandte sich an seine Sprechstundenhilfe. „Wer ist der nächste Patient, Schwester Martha?“
„Der Herr Niederegger wäre dran, aber Sie sollten Herrn Prankl vorziehen. Ick glaube, der klappt uns sonst zusammen.“ Auch nach vielen Jahren in München kam bei Schwester Martha der Berliner Zungenschlag noch immer durch.
„Ein Notfall also?“
„So sieht es aus. Er schwankt wie ein Fähnlein im Winde, schwört aber, det er nicht betrunken ist.“
„Schicken Sie ihn mir bitte herein.“ Dr. Frank wartete in der Tür zu seinem Sprechzimmer, bis sie seinen Patienten aufgerufen hatte.
Ein dunkelhaariger Mann folgte dem Ruf. Rudolf Prankl war Landschaftsgärtner und hatte ein wettergegerbtes Gesicht, aus dem blaue Augen leuchteten. Heute jedoch war er auffallend fahl. Er wankte und hielt sich an einem Stuhl fest.
„Setzen Sie sich hierher, Herr Prankl.“ Stefan Frank deutete zu seiner Untersuchungsliege. „Wie fühlen Sie sich?“
„Als würde ich gleich den Löffel abgeben, Herr Doktor.“ Sein Patient nuschelte auffallend. Dr. Frank konnte es seiner Sprechstundenhilfe nicht übelnehmen, dass sie sogleich an Alkohol gedacht hatte. „Seit heute Mittag ist mir speiübel. Ich könnte mich immerzu übergeben …“
Der Gärtner stockte und rieb sich mit unbehaglicher Miene den Magen.
„Mir ist furchtbar schlecht. Außerdem fühlt sich mein Mund taub an. Fast wie nach einem Besuch beim Zahnarzt, aber da war ich schon ewig nicht mehr.“ Der Anflug eines schlechten Gewissens huschte über sein Gesicht.
Übelkeit und Erbrechen. Dazu ein taubes Gefühl im Mund. Das hörte sich nach einer Vergiftung an! Dr. Frank griff nach dem Blutdruckmessgerät und legte es seinem Patienten an.
„Was haben Sie heute zu sich genommen?“
„Das Übliche. Zwei Semmeln mit Aufschnitt. Dazu Kaffee. Später ein Stück Apfelkuchen. Zum Mittagessen hatte ich Eintopf. Der war merkwürdig gewürzt, deshalb habe ich hinterher ein Stamperl Selbstgebrannten getrunken.“
„Was für einen Selbstgebrannten?“
„Einen Kräuterschnaps. Ich habe ihn im Urlaub hergestellt. Aus Enzianblättern, die ich in Alkohol eingelegt habe.“
Enzianblätter? Im Kopf des Arztes schrillte eine Alarmglocke. Darüber hatte er doch erst neulich etwas gelesen …
„Von einem Glas werde ich nicht betrunken, Herr Doktor. Bestimmt nicht.“
„Das glaube ich auch nicht.“ Stefan Frank maß den Blutdruck seines Patienten und stellte einen bestürzend niedrigen Wert fest. Daraufhin schloss er den Mittvierziger an ein EKG an und bemerkte eine Sinusbradykardie.
Seine Sorge verstärkte sich. Die Hinweise auf eine Vergiftung waren nicht zu übersehen.
„Was ist nur los mit mir, Herr Doktor?“
„Möglicherweise haben sich ein paar giftige Blätter unter den Enzian gemischt, aus dem Sie Ihren Schnaps gebrannt haben. Man kann die Pflanze leicht mit dem Weißen Germer verwechseln. Die Blätter ähneln denen des Enzians, aber sie sind hochgiftig. Daher auch das taube Gefühl in Ihrem Mund.“
„Gift?“ Die Gesichtsfarbe des Gärtners wechselte von blass zu rot und wieder zurück.
„Wir werden den Schnaps im Labor untersuchen lassen, dann haben wir Gewissheit. Allerdings können wir mit der Behandlung nicht warten, bis die Resultate vorliegen. Das dauert zu lange. Sie bekommen gleich von mir Aktivkohle, um die Reste des Giftes in ihrem Magen zu binden. Außerdem Atropin. Und Infusionen, um Ihren Kreislauf anzukurbeln.“
Der Grünwalder Arzt machte sich ein paar Notizen.
„Ich werde Sie zur Beobachtung in die Waldner-Klinik einweisen. Das Gift beeinträchtigt Ihren gesamten Organismus, deshalb müssen Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden unter ärztlicher Aufsicht bleiben.“
„Auch das noch!“ Der Gärtner stöhnte unterdrückt.
Stefan Frank behandelte seinen Patienten und sorgte dafür, dass er sich hinlegte, bis der herbeigerufene Krankentransport da war und die Sanitäter ihn ins Krankenhaus bringen konnten. Dr. Frank versprach ihm, dass er sich in wenigen Stunden besser fühlen würde.
Wenig später war sein Patient auf dem Weg in die Klinik.
Stefan Frank warf einen Blick aus dem Fenster. Noch immer regnete es in Strömen. Inzwischen war es bereits dunkel geworden – und bei ihm war noch nicht abzusehen, wann er Feierabend machen konnte. Aus diesem Grund griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner Freundin.
Alexandra Schubert war Augenärztin und ebenso warmherzig wie patent. Nach einem Schicksalsschlag hatte er lange Zeit allein gelebt und nicht an ein neues Glück geglaubt, bis Alexandra die Liebe in sein Leben zurückgebracht hatte.
Sie wohnte nur ein paar Straßen entfernt und brachte ihn zum Lachen und Träumen. Sie hatte viel Verständnis, wenn sein Beruf ihn nicht pünktlich fortließ. So blieb sie auch jetzt gelassen, als er ihr bedauernd mitteilte, dass aus ihrem geplanten Abendessen nichts werden würde, weil er noch zahlreiche Patienten hatte und später Hausbesuche warteten.
„Vor einundzwanzig Uhr werde ich kaum fertig sein. Dann ist es zu spät zum Essen. Es tut mir ehrlich leid, Liebes.“
„Das sollte es auch, ich wollte nämlich deine Lieblings-Paella machen.“
„Wie schade. Die wirst du wohl allein essen müssen.“
„Ach wo. Ich bereite sie einfach morgen Abend für uns zu. Das heißt … Nein, daraus wird nichts, da habe ich meinen Yoga-Kurs. Also vielleicht am Freitagabend?“
„Da fahre ich beim Notarztdienst mit und werde die ganze Nacht unterwegs sein.“
„Oh. Anscheinend kommen wir in dieser Woche nicht zusammen.“
„Nicht nur in dieser Woche. Wir sehen uns für meinen Geschmack viel zu selten. Und meistens ist es meine Schuld.“ Stefan Frank verspürte plötzlich eine so innige Sehnsucht nach ihr, dass er sekundenlang kaum atmen konnte. „Wie wäre es, wenn wir uns eine Auszeit nehmen würden?“
„Eine Auszeit?“
„Ja. Ich könnte die Praxis ein paar Tage lang schließen und mich von einem Kollegen vertreten lassen. In den vergangenen Wochen, ach was, Monaten waren wir beide besonders eingespannt bei der Arbeit. Wir hatten kaum Zeit für uns, und ich gehe, ehrlich gesagt, auf dem Zahnfleisch. Was hältst du von einem spontanen Urlaub?“
„Du willst verreisen? Von jetzt auf gleich? Aber …“ Alexandra stockte und schien zu überlegen. Dann lachte sie leise auf, und es klang wie ein wunderbares Glockenspiel in seinen Ohren. „Warum eigentlich nicht? Ja, ein Urlaub wäre wirklich wunderbar. Ich weiß kaum noch, wie man das Wort ‚Freizeit‘ buchstabiert.“
„Dann wird es höchste Zeit, dass wir es wieder lernen. Wie wäre es, wenn wir es in den Sand malen? Genauer gesagt, in den Nordseesand? Ich hätte Lust auf einen Inselurlaub. Hallig Hooge soll sehr schön sein. Oder Pellworm.“
„Dorthin ist es eine ziemliche Tour, aber ich bin dabei.“
„Großartig!“ Stefan Frank presste den Telefonhörer fester ans Ohr, als wäre es die Wange der geliebten Frau. „Bald gibt es nur noch den Strand, den Sonnenuntergang und uns beide.“
„Ich freue mich so, Stefan“, sagte Alexandra aufgeregt, und in ihrer Stimme schwang ein Lächeln mit.
„Ich freue mich auch“, versicherte er mit pochendem Herzen. „Das wird wunderbar!“
***
Von München aus dauerte die Anreise nach Pellworm laut Routenplaner knapp zehn Stunden. Dazu kamen noch die Pausen. Wegen der langen Fahrzeit hatten Stefan Frank und seine Begleiterin beschlossen, bereits in der Nacht loszufahren. Sie hofften, dass dann weniger Verkehr herrschte.
Bei Nürnberg gerieten sie in einen kurzen Stau, aber von da an rollte es flüssig weiter. Sie fuhren an Hamburg vorbei nach Husum und von dort auf die Autofähre, die sie hinüber nach Pellworm brachte.
Das Strandhotel war ein rotes Backsteingebäude mit einem Reetdach und einem halbrunden Anbau, vor dem üppige Hortensien blühten. Mehrere Fahrräder standen davor. Nur einen Steinwurf entfernt, ragte ein rot-weiß-gestreifter Leuchtturm in den Himmel.
Von der Fähre waren es nur noch wenige Minuten Autofahrt zum Hotel. Unterwegs ließ Alexandra das Seitenfenster herunter und sog hörbar den Atem ein.
„Riechst du das, Stefan? Es riecht nach Meer!“
„Und mir reißt die Zugluft die Haare vom Kopf“, antwortete er lachend.
„Entschuldige.“ Sie wollte das Fenster wieder hochlassen.
„Das war nur ein Scherz“, begütigte er. „Lass es ruhig offen. Wir sind ohnehin gleich da.“ Sie passierten eine Deichwiese, auf der zahlreiche Schafe mit ihren Lämmern standen. Die possierlichen Tiere sprangen übermütig über das Grün und entlockten der Ärztin einen entzückten Ausruf.
„Wie idyllisch es hier ist. Ich glaube, hier werden wir uns gut erholen.“
„Das will ich meinen.“ Er ließ seinen Wagen vor dem Strandhotel ausrollen und half seiner Begleiterin beim Aussteigen. Für das Gepäck standen Kofferroller bereit. Sie beluden einen mit ihren Koffern und betraten die Eingangshalle.
Am Empfang stand eine blonde Frau in einem hellblauen Kleid und lächelte ihnen freundlich entgegen.
„Herzlich Willkommen im Strandhotel“, sagte sie. „Ich bin Jule. Hatten Sie eine gute Anreise?“
„Ja, vielen Dank. Wir sind gut durchgekommen.“
„Das freut mich zu hören. Haben Sie Zimmer bei uns reserviert?“
„Ja, ein Doppelzimmer auf den Namen Stefan Frank.“
Die Rezeptionistin warf einen Blick in ihren Computer, dann nickte sie.
„Ihr Zimmer steht für Sie bereit. Wir haben Ihnen als Willkommensgruß einen Obstkorb hingestellt. Die Minibar ist gefüllt, und wenn Sie möchten, können Sie gern Fahrräder bei uns leihen, um die Insel zu erkunden.“
„Das hört sich wunderbar an.“ Stefan Frank bemerkte, dass die Augen seiner Begleiterin bei dem Wort ‚Fahrräder‘ aufleuchteten. „Darauf werden wir bestimmt zurückkommen.“
„Gut. Wir erledigen die Anmeldung am besten gleich, dann können Sie bald zu Ihrer ersten Erkundung aufbrechen.“
Jule bat ihn, ein Formular auszufüllen, und reichte ihm zwei Schlüsselkarten über den Tresen.
„Im Keller finden Sie ein Schwimmbad, die Sauna und einen Wellnessbereich. Sie können Massagen oder andere Behandlungen bei uns buchen. Das Essen wird in unserem Restaurant dort drüben serviert. Bei schönem Wetter sind auch die Tische auf unserer Terrasse gedeckt. Und wenn Sie sonst noch etwas brauchen, zögern Sie bitte nicht, sich an mich zu wenden.“
„Vielen Dank, Jule.“ Stefan Frank wandte sich mit dem Kofferwagen dem Fahrstuhl zu.
Sie fuhren in die zweite Etage und standen wenig später in einem reizenden Zimmer, das ganz in den Farben Blau und Weiß eingerichtet war. Die duftigen Vorhänge hatten die Farbe des Sommerhimmels und wurden sacht vom Wind gebläht, der durch die offene Balkontür hereinwehte. Der Duft von Salz und Meer drang mit dem Ruf einer Möwe von draußen herein.
„Wie herrlich.“ Alexandra drehte sich einmal um die eigene Achse. „Ich fühle mich schon richtig entspannt.“
Stefan rieb sich unbehaglich den Rücken.
„Das kann ich nach der langen Fahrt zwar nicht behaupten, aber ich freue mich, dass es dir hier gefällt.“
„Gefallen ist gar kein Ausdruck. Sieh nur, Stefan: Wir haben von unserem Balkon aus Blick auf das Meer. Abends können wir draußen sitzen und den Wellen lauschen. Ich kann es kaum erwarten.“
„Falls sich das Meer dann nicht gerade zurückgezogen hat. Hier bestimmen Ebbe und Flut über das Leben.“
„Richtig. Auf dem Tisch liegt ein Tidenkalender. Den sollten wir immer einpacken, um nicht unterwegs von der Flut überrascht zu werden.“
„Eine gute Idee. Und jetzt sollten wir erst einmal auspacken.“ Stefan Frank wuchtete seinen Koffer auf einen Stuhl und öffnete ihn. Dann machte er sich daran, seine Garderobe zu verstauen.
Es gab einen Kleiderschrank und eine Kommode aus weiß lackiertem Holz. Beide Möbelstücke waren mit maritimen Mustern in blauer Farbe verziert.
„Möchtest du die beiden oberen Schubladen? Dann nehme ich die unteren.“
„Ist gut.“
Er blickte zu dem Lippenstift hinüber, den seine Freundin soeben auf den Nachttisch legte.
„Wofür ist der gedacht?“
„Nun …“ Ihre Augen leuchteten in seine. „Irgendetwas muss ich nachts ja anziehen, meinst du nicht?“
„Oho!“ Wärme flutete sein Inneres. Er vergaß das Gepäck und zog Alexandra zärtlich in seine Arme. Seine Lippen suchten hungrig die ihren, und als sie ihr Ziel erreichten, schmolz etwas in ihm. Alexandra schmiegte sich innig an ihn und öffnete einladend die Lippen. Daraufhin vertiefte er den Kuss, und alle Grenzen verschwammen zwischen ihnen.
Alexandra gab ihm das Gefühl, wieder fest im Leben verwurzelt zu sein, und dafür liebte er sie sehr.
„Was wollen wir unternehmen?“, fragte sie unternehmungslustig.
„Wie wäre es, wenn wir das Bett ausprobieren?“
„Ich habe nichts dagegen, aber das können wir keine ganze Woche lang tun.“
„Ach, können wir nicht?“, tat er überrascht.
„Stefan!“ Sie lachte leise. „Ich möchte auch etwas von der Insel sehen.“
„Ach so. Sag das doch gleich.“ Schmunzelnd gab er sie frei. „Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang machen? Dabei können wir uns umschauen und ein paar nette Lokale auskundschaften, denen wir in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten wollen. Vielleicht stoßen wir auch auf ein Café, in dem wir uns ein Stück Kuchen und einen Kaffee genehmigen können. Ich bekomme allmählich Hunger.“
„Da bin ich dabei.“ Alexandra nickte.
„Für morgen habe ich mir gedacht, dass wir eine Wattwanderung zur Hallig Süderoog machen.“
„Oh ja, das hört sich gut an. Darauf freue ich mich schon.“ Sie wirbelte zum Schrank herum und vertauschte ihre Reisegarderobe mit einem gelben Sommerkleid. Dann stülpte sie einen Strohhut auf ihre haselnussbraunen Locken und sah damit so bezaubernd aus, dass er sie gleich noch einmal küsste.
„Lass uns gehen, Stefan“, mahnte sie lachend, „sonst kommen wir hier nie weg.“
„Na gut.“ Er folgte ihrem Beispiel und zog sich um. Dann verließen sie gemeinsam das Zimmer und strebten dem Lift zu.
Sie mussten kurz warten, bis die Lifttüren vor ihnen aufschwangen. Eine dunkelhaarige Frau kam am Arm eines Mannes aus der Kabine. Sie war auffallend blass und taumelte, als wäre ihr schwindlig.
„Komm, Sarah“, sagte ihr Begleiter leise.
Stefan Frank bemerkte, dass ihre Augen in Tränen schwammen. Etwas drängte ihn, ihr seine Hilfe anzubieten, aber bevor er dazu kam, fand er sich bereits neben Alexandra in der Fahrstuhlkabine wieder. Die Türen schlossen sich.
„Stefan?“, fragte seine Freundin. „Ist alles in Ordnung?“
„Ich bin mir nicht sicher. Diese junge Urlauberin eben … Ich hatte den Eindruck, dass es ihr nicht gut geht.“
„Wirklich? Mir ist nichts aufgefallen.“
„Sie war so blass.“
„Vermutlich ist sie genauso urlaubsreif wie wir beide.“
„Ja, das kann sein. Ich frage mich nur …“
„Du kannst selbst im Urlaub nicht von deiner Arbeit lassen, was?“ Alexandra boxte ihn spielerisch in die Seite. „Du hast Ferien, Stefan. Mach dir nicht ständig Sorgen. Alles ist gut.“
„Nun, das hoffe ich sehr.“ Er gab sich einen Ruck und nickte. Doch als er wenig später neben seiner Freundin am Deich entlanglief, gingen ihm die verzweifelten Augen der jungen Urlauberin nicht aus dem Kopf.
Was mochte ihr fehlen?
***
Sarah war verzweifelt.
Sie hatte mit Vincent einen Spaziergang gemacht, um ihre Urlaubsinsel zu erkunden. Weit waren sie jedoch nicht gekommen, dann hatte eine bleierne Müdigkeit Sarah befallen. Sie hatte kaum noch gewusst, wie sie einen Fuß vor den anderen setzen sollte. So waren sie in ihr Zimmer im Strandhotel zurückgekehrt, und Sarah war todmüde auf das Bett gefallen und sofort in einen tiefen Schlaf gesunken.
Als sie wieder aufwachte, fühlte sie sich kaum besser.
Etwas zehrte an ihr. Sie fühlte sich so schwach, dass jeder Atemzug anstrengend war. Matt richtete sie sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Dann öffnete sie die Minibar und holte eine Tüte Macadamianüsse heraus. Sie waren gesalzen – und genau das verlangte ihr Körper im Augenblick. Hungrig leerte sie die Tüte und warf die Verpackung fort.
Die Sonne stand tief am Horizont und tauchte den Himmel in ein spektakuläres rotgoldenes Farbenmeer. Die Balkontür stand offen. Sarah fand ihren Freund draußen sitzend, wo er sich über seinen Schachcomputer beugte. Sie hatte dem Gerät den Namen „Professor Abronsius“ gegeben. Nach einer Figur aus ihrem Lieblingsmusical Tanz der Vampire .
„Und? Wie läuft es?“, fragte Sarah. „Besiegst du den Professor?“
„Heute macht er es mir wirklich schwer.“
„Es tut mir leid, dass ich uns den Spaziergang verdorben habe.“ Sie ließ sich auf den zweiten Stuhl sinken und schaute einer Gruppe Möwen zu, die über dem Watt kreisten.
„Das muss dir nicht leidtun. Du warst erschöpft. Es war absolut in Ordnung, dass wir zum Hotel zurückgekehrt sind.“
Jetzt sagt er das noch, hämmerte eine zweifelnde Stimme in ihrem Hinterkopf, aber wie wird es in ein paar Jahren sein? Das war mit Sicherheit nicht der letzte Ausflug, den ich uns verdorben habe.
Was, wenn Vincent mit seiner Geduld am Ende ist? Wenn er immer unzufriedener wird und sich die Bitterkeit in seinem Inneren aufstaut wie bei meinem Vater? Was, wenn wir beide so werden wie meine Eltern? Wird Vincent mir irgendwann vorwerfen, was er meinetwegen verpasst hat?
„Sarah?“ Erschrocken beugte sich Vincent vor und legte seine Hand auf ihre. „Was hast du denn? Du siehst ja mit einem Mal ganz verstört aus.“
„Ich habe Angst. Jeder Handgriff fällt mir schwer. Es ist, als würden Zentnergewichte an mir hängen.“
„Dir hängt der Abend mit deinem Vater noch nach, stimmt’s? Das Geschäftsessen ist nicht gut gelaufen.“
„Das stimmt.“ Sarah nickte. Ihr Vater hatte während der einen Hälfte des Abends mit seinen Geschäftspartnern gesprochen und die andere Hälfte damit zugebracht, Sarahs Mutter vor ihr schlechtzumachen. Seine Worte gellten noch in ihren Ohren: Wegen ihr habe ich so vieles in meinem Leben verpasst. Mach nicht denselben Fehler wie ich. Such dir einen gesunden Partner.
Sarah schluckte. Ihre Mutter konnte nichts für ihre schwere Erkrankung, aber das hinderte ihren Vater nicht daran, in ihr eine Bürde zu sehen. Würde Vincent irgendwann ebenso empfinden? Wäre sie dann nur noch eine Last für ihn? Das könnte sie nicht ertragen.
Sie blickte in sein sonnengebräuntes Gesicht. Es war ihr so vertraut, dass sie es mit geschlossenen Augen hätte nachzeichnen können. Seine braunen Haare waren leicht zerzaust, und seine Augen schimmerten voll Wärme in ihre.
Etwas in ihr zog sich schmerzhaft zusammen. Sie liebte ihn so sehr!
Sie hatten sich kennengelernt, als Sarah für einen Artikel über den Giftnotruf recherchiert hatte. Vincent hatte ihr von seiner Arbeit erzählt. Darüber waren sie ins Gespräch gekommen und hatten gar nicht bemerkt, wie die Stunden verflogen waren. Erst, als der Besitzer des Cafés, in dem sie sich getroffen hatten, sie ermahnt hatte, dass er gleich schließen würde, hatten sie ins Hier und Jetzt zurückgefunden.
Gemeinsam waren sie aufgebrochen und hatten verabredet, sich bald wiederzusehen. Und so war es auch gekommen.
Von Anfang an hatte es ein Band zwischen ihnen gegeben. Jeder Blick und jede Berührung waren magisch gewesen. Vincent gab ihr das Gefühl, sich ganz und gar fallen lassen zu können, weil er sie immer auffangen würde. Wenn er sie in seine Arme nahm, versank alles rings um sie her. So war es am Anfang gewesen, und so war es auch jetzt noch.
„Hast du deinem Vater erzählt, dass du deinen Job verloren hast?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Sarah nickte. „Er glaubt, das wäre die Schuld meiner Mutter. Sie hätte mich zu sehr verwöhnt, deshalb würde ich in der rauen Arbeitswelt nicht zurechtkommen.“
„So ein Unsinn.“ Vincent stieß hörbar den Atem aus. „Nichts davon ist wahr. Solche Dinge passieren. Das ist nicht schön, aber du wirst etwas anderes finden und dich bewähren, daran zweifle ich nicht.“
„Im Augenblick weiß ich nicht einmal, ob ich die Kraft aufbringen werde, mir eine andere Stelle zu suchen. Ich fühle mich so unendlich erschöpft.“
„Genau deswegen sind wir ja hier. Wir werden dich schon aufpäppeln.“ Vincent zwinkerte ihr zu.
Sarah lächelte schief.
„Bei dir hört sich das so an, als wäre ich ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.“
„Wenn das so ist, dann werde ich dich mit in mein Nest nehmen, wo du es warm und sicher hast. Und ich lasse dich nie mehr gehen.“ Vincent legte einen Arm um sie und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Dabei stieß er mit dem Ellbogen an das Schachbrett. Einige Figuren fielen polternd um.
„Oh! Nun haben wir dein Spiel ruiniert!“
„Nicht weiter schlimm. Ich war sowieso drauf und dran, zu verlieren. Was wollen wir denn jetzt unternehmen? Worauf hättest du Lust?“
„Ich würde gern ein Stück mit dem Fahrrad fahren und mehr von Pellworm sehen.“
„Geht es dir dafür gut genug?“
„Das muss es.“ Sarah nickte entschlossen.
„Wenn das so ist, dann sollten wir über den Außendeich radeln. Er ist asphaltiert, habe ich im Reiseführer gelesen. Auf diese Weise werden wir gut vorwärtskommen und können viel von der Insel erkunden.“
„Einverstanden.“ Sarah stand auf und bereute ihren Vorschlag sofort, weil ihr sogleich wieder schwindlig wurde. Sie biss die Zähne zusammen und ließ sich nichts anmerken. Auf keinen Fall wollte sie ihrem Freund den Urlaub verderben!
Sie folgte ihm hinunter in die Lobby, wo sie ein Tandem mieteten. Wenig später schwangen sie sich in den Sattel.
Tatsächlich verlief der Weg am Außendeich entlang wunderbar eben, sodass sie leicht vorankamen. Der salzige Seewind wehte ihnen entgegen, und die untergehende Sonne wärmte ihnen den Rücken. Nach einer Weile fühlte sich Sarah leichter, und auch das Schwindelgefühl verschwand.
Sie passierten den Fähranleger und hörten, wie die Abendfähre ein dumpfes Tuten ausstieß, bevor sie ablegte. Als sie weiterfuhren, kamen sie an einem roten Backsteingebäude vorbei, das von roten Heckenrosen bewachsen wurde. Ein Schild wies darauf hin, dass hier das Heimatmuseum von Pellworm untergebracht war.
Sarah bat ihren Freund, anzuhalten, und stellte einen Fuß neben ihrem Fahrrad ab.
„Wollen wir dem Museum bald einmal einen Besuch abstatten?“
„Gern. Wie wäre es jetzt gleich?“
„Lieber morgen. Ich bekomme allmählich Hunger.“
„Ich auch. Wollen wir uns ein nettes Lokal suchen?“
„Und ob!“ Sarah lächelte ihren Freund an.
Dieser beugte sich zu ihr und gab ihr einen innigen Kuss, bei dem ihr Herz weit wurde. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich besser. Womöglich hatte er recht und sie hatte nur einen Urlaub gebraucht, um neue Kraft zu tanken?
Alles wird gut, dachte sie zuversichtlich.
Dabei ahnte sie noch nicht, dass sich bereits dunkle Wolken an ihrem Schicksalshimmel zusammenbrauten.
***
Am nächsten Tag unternahmen Sarah und ihr Freund einen Ausflug mit dem Schiff. Von Pellworm aus tuckerten sie über das Meer zu einem Eiland, das einen beinahe unaussprechlichen Namen hatte.
„Wow! Wäre Einsamkeit ein Ort, würde man sie wohl ‚Norderoogsand‘ nennen.“ Verträumt reckte Sarah ihr Gesicht der Sonne entgegen und spähte zu den Seehunden hinüber. Die Kolonie bestand aus rund achtzig Tieren, die träge im Sand lagen und sich den Rücken von der Sonne bescheinen ließen. Möwen staksten um sie herum, aber die gutmütigen Tiere ließen sich davon nicht stören.
„Geht es dir gut, mein Liebling?“ Vincent legte einen Arm um sie und zog sie an sich.
Sarah nickte. In der vergangenen Nacht hatte sie ausgezeichnet geschlafen. Das Hotelbett war bequem, und das Rauschen der Wellen hatte sie angenehm in den Schlaf begleitet. An diesem Tag fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht ausgelaugt, sondern voller Tatendrang.
Womöglich hatte wirklich der Stress ihre Symptome verursacht, und alles würde gut werden, sobald sie sich etwas schonte? Das hoffte sie von ganzem Herzen.
Ihr Freund und sie hatten beim Frühstück beschlossen, eine Ausflugsfahrt mit dem Schiff zu unternehmen. Ihr Ziel war Norderoogsand, eine menschenleere Insel westlich von Pellworm. Das Schiff tuckerte um das Eiland herum. Touristen standen an der Reling und beobachteten die Seehunde. Immer wieder klickten Auslöser. Eine Urlauberin warf Keksstücke zu den Möwen, die dem Schiff folgten und die Leckerbissen geschickt im Flug auffingen.
Eine steife Brise wehte vom Wasser heran und zerrte an dem Seidentuch, das Sarah um ihren Kopf gebunden hatte. Die Zipfel wirbelten fröhlich im Wind.
Neben Sarah saß ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen auf der Bank und tippte unablässig auf einem Handy herum.
Der Vater des Mädchens schnaufte.
„Steck doch endlich das Telefon weg, Leonie. Du verpasst ja alles.“
„Was denn? Hier ist doch nichts. Nur Wasser.“
„Willst du dir die Seehunde denn nicht ansehen?“
Die Fünfzehnjährige brummelte etwas Undeutliches. Dann schob sie ihr Handy in die bunt gehäkelte Umhängetasche und zog dabei einen Flunsch, als hätte ihr Vater sie aufgefordert, zurück nach Pellworm zu schwimmen.
Sarah langte in ihre Tüte mit Salzmandeln und zerbiss eine der Mandeln, dass es knackte.
„Ist dir das nicht zu salzig?“, fragte Vincent. „So ganz ohne Wasser zum Runterspülen?“
„Wasser brauche ich nicht. Ich habe einen unheimlichen Appetit auf Salziges. Magst du auch eine Mandel?“
„Lieber nicht. Mir reicht das Salz in der Seeluft.“ Er zog sie an sich.
Sarah kuschelte sich an ihren Freund und ließ den Blick schweifen. Das Ausflugsschiff war am Anleger der Hooger Fähre gestartet und voll besetzt. Das schöne Wetter ermöglichte es den Urlaubern, an Deck zu sitzen und den Ausführungen des Kapitäns zu lauschen, der ihnen über den Lautsprecher in plattdeutsch eingefärbtem Dialekt alles Wissenswerte erklärte.
„Der Norderoogsand ist der mittlere der Nordfriesischen Außensände. Er ist etwa sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. Seine Ausdehnung ändert sich allerdings ständig, weil Sturm und Wellen regelmäßig Sand und anderen Baustoff anspülen. Der Wind trocknet ihn und weht ihn zu einer Sandbank zusammen. Irgendwann wird das Gebilde überspült und wieder abgetragen. Dadurch ist der Sand einem ewigen Wechsel unterworfen.“
Unweit des Schiffs tauchte unvermittelt ein Seehund auf und steckte den runden Kopf aus dem Wasser. Die Passagiere richteten eilig die Kameras auf ihn, doch da war er schon wieder untergetaucht.
„Unser schönes Nordfriesland zieht jährlich zahlreiche Urlauber an“, plauderte der Kapitän weiter. „Neulich hatte ich ein Paar an Bord, das fasziniert von der Umgebung war. Die Frau meinte, der Ausblick würde sie schier sprachlos machen. Woraufhin ihr Mann spontan entschied, den Aufenthalt um vier Wochen zu verlängern …“
Einige Fahrgäste lachten, ein Ehepaar, das vor Sarah saß, tauschte Neckereien aus, und eine Frau drohte dem Kapitän spielerisch mit dem Finger.
Dieser bedeutete seinem Matrosen, eine Runde „Kielwasser“, wie er es scherzhaft nannte, an die Passagiere zu verteilen.
„Zum Wohl!“, wünschte er. „Oder wie man bei uns sagt: Nich lang schnacken, Kopp in’n Nacken!“
Die Gäste prosteten sich schmunzelnd zu.
Sarah nippte an dem Getränk und verzog das Gesicht.
„Das wärmt gut von innen, oder?“
„In der Tat.“
„Denkst du, man darf den Sand betreten?“
„Nur mit einer speziellen Erlaubnis. Leider. Er liegt in einer speziellen Schutzzone, deshalb ist das Betreten verboten.“
„Zu schade. Ich wette, man könnte hier wunderbare Muscheln finden.“
„Die können wir auch sammeln, wenn wir eine Wattwanderung machen. Keine Bange, du wirst einige schöne Exemplare zusammenbekommen.“
„Das wäre schön.“
Der Kapitän steuerte sein Boot bis auf einhundert Meter an das Eiland heran.