Dr. Stefan Frank Großband 22 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 22 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2410 bis 2419 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1221

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 22

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © shutterstock / fizkes

ISBN: 978-3-7517-4670-0

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 22

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2410

Pass gut auf mein Mädchen auf!

Dr. Stefan Frank 2411

Blumen für die beste Mami der Welt

Dr. Stefan Frank 2412

Geheime Sorgen und kein Ausweg

Dr. Stefan Frank 2413

Eine Bibliothek zum Verlieben

Dr. Stefan Frank 2414

Schwere Zeiten für junge Gefühle

Dr. Stefan Frank 2415

Zwischen Büro und Familie

Dr. Stefan Frank 2416

In eurer Mitte

Dr. Stefan Frank 2417

Blumen für meinen kranken Papi

Dr. Stefan Frank 2418

Die Frau von nebenan

Dr. Stefan Frank 2419

Du gehörst nur mir

Guide

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Contents

Pass gut auf mein Mädchen auf!

Dem Brautvater fiel es schwer, seine Tochter gehen zu lassen

M it gemischten Gefühlen betrachtet Rolf Wagner das Brautpaar, das vor dem Standesbeamten steht. Eigentlich hält er seinen Schwiegersohn für einen anständigen Kerl. Trotzdem glaubt er, dass diese Hochzeit ein Fehler ist. Hinter Julia und Henning liegen schwere Zeiten: Vor drei Jahren hatte die damals so lebensfrohe Frau einen Autounfall. Ihr gemeinsames Baby, das ebenfalls im Auto saß, hat den Unfall nicht überlebt. Die Leiche wurde nie gefunden.

Seitdem ist in Julias Leben nichts mehr so, wie es einmal war. Die junge Lehrerin hat ihren Beruf aufgegeben, leidet unter Panikattacken, Selbstvorwürfen und Depressionen. Die Beziehung zu Henning hatte Julia mehr oder weniger beendet. Und nun das. Hennings Hartnäckigkeit hat offensichtlich Erfolg gezeigt. Er hat immer betont, Julia zu lieben und auf sie zu warten, bis sie bereit wäre, einen Neubeginn mit ihm zu wagen. Schließlich hat er sie wohl überzeugen können, die Ehe mit ihm einzugehen.

Aber ist das wirklich der richtige Weg für Rolfs Tochter? Wird es nicht immer wieder alte Wunden aufreißen, wenn sie mit dem Vater ihres toten Babys zusammenlebt?

Misstrauisch schaut er seinen Schwiegersohn an, als er ihm nach der Trauung die Hand gibt.

„Pass gut auf mein Mädchen auf“, sagt er mit rauer Stimme. „Wehe, du brichst ihr das Herz.“

Postkartenwetter! Die Sonne strahlte von einem eisblauen Winterhimmel auf die Zillertaler Berge herab. Der Schnee glitzerte auf den Hängen, als wären sie mit Diamanten gepudert. Weiter unten im Tal zeichnete sich ein Dorf ab, aber der Ort lag schon eine gute Stunde hinter Julia Wagner.

Die junge Lehrerin fuhr mit ihrem roten Kleinwagen eine Serpentinenstraße hinauf. Die Kurven wurden immer enger, der Abgrund zu ihrer Rechten immer abschüssiger. Ein leichter Wind spielte mit den Wipfeln der tief verschneiten Zirben. Hier oben suchte man eine Ansiedlung vergebens.

Julia kniff nachdenklich die Augen zusammen. Schon lange war sie an keinem Wegweiser mehr vorbeigekommen. Stimmte die Straße überhaupt noch? Oder hatte sie sich verfahren?

Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Wenn sie irgendwo eine Abzweigung übersehen hatte, machte das nichts. Sie war nicht in Eile. Ihre Freundin erwartete sie ohnehin erst gegen Mittag. Sie war früher in München losgefahren, weil sie nicht sicher gewesen war, in welchem Zustand die Straßen waren.

Bisher hätte sie sich jedoch nicht sorgen müssen. Die Autobahn war geräumt gewesen, und auch hier in den Bergen schienen die Straßen frei zu sein. In der Ferne sprenkelten Skifahrer die Hänge. Ihre Overalls wirkten wie bunte Farbtupfer auf dem Weiß.

Nicole war vor wenigen Wochen mit ihrem Mann ins Zillertal gezogen. Julia und sie kannten sich seit ihrem gemeinsamen Studium. An diesem Tag wollte sie die Freundin in ihrem neuen Zuhause besuchen. Im Kofferraum wartete ein Zimmergewächshaus als Einweihungsgeschenk. Julia wusste, wie gern ihre Freundin Kräuter und Salat selbst zog.

Von der Rückbank kam ein vergnügtes Glucksen.

Ihr Baby saß in der Autoschale und blickte sich aus großen Kulleraugen um. Belina war ein lieber Sonnenschein. Abgesehen von zahlreichen schlaflosen Nächten, machte sie ihren Eltern nichts als Freude. Julias Herz wurde weit, als sie über den Rückspiegel zu ihrer Tochter blickte. Die Kleine war gerade drei Monate alt und kaute begeistert auf allem herum, was ihr in die winzigen Fingerchen fiel. Gerade war es der Flügel einer Plüschbiene.

„Alles gut bei dir, Bienchen?“, fragte Julia.

Ihre Tochter strahlte als Erwiderung über das ganze Gesicht und machte ihr Herz weit und warm.

Das Handy klingelte in der Freisprecheinrichtung.

„Wagner hier“, meldete sich Julia.

„Hier auch“, erwiderte eine tiefe Männerstimme, in der ein Lächeln mitschwang. Henning! „Geht es euch gut?“

„Bestens. Wir sind gleich da, schätze ich.“

„Das schätzt du nur?“

„Na ja, ich bin nicht sicher, ob ich richtig gefahren bin. Eigentlich sollten wir bereits da sein. Kann sein, dass ich eine Abzweigung übersehen habe.“

„Warum schaltest du nicht das Navi im Handy ein, Liebes?“

„Das ist so umständlich. Ich finde mich schon irgendwie zurecht. Irgendwann muss ein Wegweiser kommen, dann weiß ich wieder, wo ich lang muss.“

„Pass bitte gut auf euch auf, ja?“

„Versprochen, mein Schatz.“

„Wie geht es Little Bee?“

„Prima. Sie schaut sich aus großen Augen um. Das Autofahren gefällt ihr.“

„Warte es ab: In ein paar Jahren wird sie uns in den Ohren liegen, weil sie sich den Wagen leihen will.“

Julia lachte. „Bis dahin dauert es schon noch einige Zeit.“

„Die wird schneller vergehen, als wir uns umschauen können.“

„Jedenfalls ist unsere kleine Biene bis jetzt ganz brav.“

„Gut so. Gib ihr einen dicken Kuss von mir, ja?“

„Das mach ich, sobald wie da sind. Aber wer küsst mich?“

„Ich, sobald ihr wieder daheim seid. Ihr fehlt mir jetzt schon, weißt du das?“

„Heute Abend haben wir uns ja wieder.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Die Stimme ihres Freundes wurde rau und zärtlich.

Tief in ihr begann es zu kribbeln, und Sehnsucht breitete sich in ihr aus. Henning war ebenfalls Lehrer, allerdings nicht für Grundschüler, wie sie, sondern an einem Münchner Gymnasium. Sie hatten sich während einer Fortbildung kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden.

Zwischen ihnen hatte es ein Band gegeben, das sie beide gefühlt hatten und das mit jedem Treffen enger und inniger geworden war. Schon nach einem Jahr hatten sie entschieden, dass sie sich nie mehr trennen wollten, und waren zusammengezogen.

Ein Jahr später war Belina zur Welt gekommen. Little Bee , wie Henning sie gern nannte. Ihre kleine Biene.

Allmählich wurde ihre Wohnung zu klein für sie, da Henning und Julia jeder ein Arbeitszimmer brauchten, in dem sie ihre Fachbücher aufbewahren und Klassenarbeiten korrigieren konnten. Aus diesem Grund waren sie gerade auf der Suche nach einem gemütlichen Häuschen. Die Münchner Immobilienpreise explodierten, deshalb waren sie leider noch nicht fündig geworden.

„Du, die Kurven hier oben sind nicht ohne.“ Julia steuerte ihren Wagen um die nächste Straßenbiegung. „Ich muss Schluss machen. Ich rufe dich an, wenn wir da sind.“

„Mach das. Sollte ich gerade im Unterricht sein, sprich mir einfach auf die Mailbox, dann rufe ich in der Pause zurück.“

„Ist gut. Soll ich nachher etwas für das Abendessen mitbringen?“

„Musst du nicht, darum kümmere ich mich. Ich habe bereits einen Plan.“

„Du willst kochen? Oje“, entfuhr es ihr.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich kochen will. Ich sagte, ich kümmere mich darum. Und genau das habe ich auch vor: Ich werde dich zum Essen ausführen. Meine Mutter passt derweil auf unsere kleine Biene auf. Ist alles schon besprochen.“

„Ich freu mich auf dich.“

„Nicht so sehr, wie ich mich auf euch freue. Bis später, Liebes.“ Es klickte, als Henning auflegte.

Mit wild klopfendem Herzen setzte Julia ihre Fahrt fort. Henning hatte die Macht, sie mit einem einzigen Blick oder einem liebevollen Wort dazu zu bringen, alles um sich herum zu vergessen. Himmel, wie sehr sie ihn liebte!

Vor ihr machte die Straße erneut eine Biegung. Julia steuerte ihr Auto ruhig um die Kurve und erhaschte aus dem Augenwinkel einen Blick auf die Schlucht, die zu ihrer Rechten gähnte. Wer dort hinunterstürzte … Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, weil ihr Wagen unerwartet ins Schleudern geriet. Das Heck brach aus.

Zu spät bemerkte Julia das unheilvolle Glitzern auf dem Straßenbelag. Die Fahrbahn war vereist! Oh nein, nein, nein! Erschrocken trat sie die Bremse durch und steuerte gegen, wollte ihr Auto wieder unter Kontrolle bringen.

Zu spät!

Ihr Wagen schlingerte, drehte sich einmal um die eigene Achse und rutschte schließlich langsam, aber unaufhörlich auf den Rand der Fahrbahn zu – und damit genau auf den Abhang!

„Nein, oh, bitte, lieber Gott …“ Julia lenkte panisch dagegen an, aber ihr Auto reagierte nicht mehr. Und dann ging alles ganz schnell. Sie kippten seitlich weg und überschlugen sich mehrfach. Oben und unten vermischten sich. Es krachte metallisch. Etwas bohrte sich tief in Julias Seite. Ein entsetzlicher Schmerz explodierte in ihrem Leib und breitete sich rasend schnell aus. Und dann … Stillstand!

Sie hörte ihr Baby weinen.

Meine kleine Biene, dachte sie noch.

Dann wurde es Nacht um sie.

***

Nebelfetzen waberten vor ihren Augen. Julia blinzelte und versuchte, das milchige Weiß zu durchdringen, aber es gelang ihr nicht. Der Nebel hüllte sie völlig ein. Irgendwo in der Ferne waren Stimmen zu hören. Julia lauschte, konnte die einzelnen Worte jedoch nicht verstehen. Sie waren nur wie ein Rauschen.

Was war mit ihr geschehen?

Warum fühlte sie sich, als würde sie schweben?

Ihr war seltsam schwerelos zumute. Das Gefühl war jedoch nicht angenehm. Im Gegenteil. Es machte ihr Angst! Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, aber sie konnte nicht sagen, was es war. Julia versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihre Gedanken trieben davon wie Wolken an einem milden Sommertag.

Irgendwann versank sie erneut in der Dunkelheit.

So ging das viele Male. Julia hatte das Gefühl, dicht unter der Wasseroberfläche eines Sees zu treiben und stets kurz davor zu sein, aufzutauchen. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen.

Irgendwann – sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – schaffte sie es endlich, die Augen zu öffnen. Die weißen Schlieren lösten sich auf, und sie bemerkte, dass sie in einem weiß eingerichteten Zimmer lag. Ein seltsamer Geruch ließ ein flaues Gefühl in ihr aufsteigen. Sie kannte ihn. So roch es in Krankenhäusern.

Kurz vor dem Tod ihrer Mutter hatte sie den Geruch gar nicht mehr aus der Nase bekommen, weil sie von früh bis spät in der Klinik geblieben war. Lag sie nun selbst im Krankenhaus? Über ihrem Kopf piepte etwas monoton. Ein Überwachungsgerät? Außerdem schnürte ihr etwas die Blutzufuhr am linken Oberarm ab. Zischend gab es den Weg für ihr Blut wieder frei. Ein Messgerät!

Die weiße Jalousie vor dem Fenster war zugezogen und machte es unmöglich, zu erkennen, ob es Tag oder Nacht war. Nacht vermutlich, denn die Leuchten über dem Bett brannten und tauchten den Raum in kaltes weißes Licht. Julias Hals fühlte sich rau an, als hätte lange Zeit ein Fremdkörper darin gesteckt. Sie tastete umher und spürte Schläuche, die zu ihrer Bettdecke führten.

Warum war sie so schwach?

Etwas Dunkles schien an ihrem Verstand anzuklopfen und Einlass zu begehren, aber sie kam nicht darauf, was es war.

Julia blickte vom Fenster weg zur anderen Seite ihres Bettes und bemerkte, dass Henning in einem Stuhl bei ihr saß. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Ellbogen auf seine Knie gestützt. Ihr Freund wirkte so verzweifelt, dass es ihr ins Herz schnitt.

Unvermittelt hob er den Kopf, als hätte er ihren Blick bemerkt. Ungläubig musterte er sie, als könnte er nicht glauben, was er sah.

Und ihr ging es ähnlich! Was, um alles in der Welt, war denn mit ihrem Schatz passiert? Er war ja kaum wiederzuerkennen! Hager war er geworden. Sein Kinn stach kantig aus seinem Gesicht vor. Er war so blass, als hätte er seit Wochen keine Sonne mehr gesehen. Schatten lagen auf seinen Wangen. Nun jedoch schien plötzlich Licht aus seinen Augen zu brechen.

„Julia?“, keuchte er. „Du bist wach! O mein Gott! Du bist aufgewacht! Kannst du mich hören, Liebling? Erkennst du mich?“

Ob sie ihn erkannte? Sollte das ein schlechter Scherz sein? Natürlich tat sie das! Julia wollte ihn fragen, warum er so elend aussah. Ihr Körper gehorchte ihr jedoch nicht. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie konnte die Bewegungen nicht steuern. Panik wallte in ihr auf und sandte eisige Schauder ihren Rücken hinab.

Was war mit ihr geschehen? War sie gelähmt?

Sie brachte nur Laute hervor, die selbst in ihren Ohren fremd und unheimlich klangen.

Henning wurde noch eine Spur blasser.

„Bleib ganz ruhig“, bat er mit rauer Stimme. „Der Arzt hat mich vorgewarnt, dass das passieren könnte. Ich werde es dir erklären, Liebes, aber du musst versuchen, ruhig zu bleiben. Okay?“

Sie kniff die Lider zusammen und öffnete sie wieder. Ein leichtes Nicken brachte sie zuwege. Das waren die einzigen Bewegungen, die sie momentan steuern konnte.

„Erinnerst du dich noch daran, dass du deine Freundin besuchen wolltest? Unterwegs hattest du einen Unfall. Du bist mit deinem Wagen von der Straße abgekommen und einen Abhang hinuntergestürzt. Dabei …“

Er schluckte hörbar.

„Dabei wurdest du schwer verletzt, Liebes. Autoteile haben sich in deinen Körper gebohrt. Es ist ein Wunder, dass du nicht an Ort und Stelle verblutet bist. Du wurdest in die Klinik geflogen und operiert. Die Ärzte haben getan, was sie konnten. Du hattest innere Blutungen, einen Schädelbruch … Es war schlimm. Nach der Operation bist du ins Koma gefallen. Du hast wochenlang geschlafen.“

Julia hoffte inständig, dass sie sich verhört hatte. Wochen? Sie hatte wochenlang im Koma gelegen? Aber … Ein glühend heißer Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Henning hatte nur von ihr gesprochen. Davon, dass sie ins Krankenhaus geflogen und operiert worden war. Was war mit dem Baby? Mit ihrem Baby?

Julia wollte rufen, brachte jedoch nur ein Wimmern zustande. Die Dunkelheit in ihrem Hinterkopf breitete sich aus. Etwas Düsteres lauerte dort im Verborgenen, das spürte sie. Sie bekam es nur noch nicht zu fassen.

Unser Baby! Wo ist unser Baby? Sie sah ihren Freund flehend an, hoffte, er würde ihre unausgesprochene Frage verstehen.

Hennings Schultern sanken nach unten.

Schweigend strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Der Arzt sagt, du wirst dich erholen, Liebling. Du brauchst nur Zeit.“

Julia riss die Augen auf.

Unser Baby! Wo ist unser Baby?

Henning schüttelte kaum merklich den Kopf, als würde er ihre Frage verstehen, diese aber am liebsten wegschieben – irgendwohin, wo er sie nicht beantworten musste. In eine dunkle Ecke …

Übelkeit breitete sich in Julia aus.

Unser Baby! Wo ist unser Baby?

Die Frage hämmerte in ihrem Schädel wie ein Pochwerk. Julia konzentrierte all ihre Kräfte darauf, ihre Hand zu bewegen. Sie tastete nach den Fingern ihres Mannes und drückte sie, so sehr sie konnte.

Henning stöhnte auf und rieb sich mit der Hand über das Gesicht.

„Julia“, raunte er. „Ach, mein Liebling.“

Sie ließ keinen Blick von ihm.

Bitte, sag es mir. Wo ist unser Baby?

„ Unsere kleine Biene …“

Er stockte und schluckte hörbar. Dabei liefen ihm die Tränen über das Gesicht und verrieten ihr alles, was sie wissen musste. Doch noch weigerte sich ihr Verstand, das Entsetzliche zu begreifen. Sie konnte, nein, sie wollte es nicht wahrhaben.

„Unsere kleine Biene … Sie wurde nicht gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass sie bei dem Unglück aus dem Fahrzeug geschleudert wurde und in die Schlucht gestürzt ist. Der viele Schnee … Die Helfer haben Tag und Nacht gesucht, aber sie konnten sie nicht finden. Belina … Sie kann das unmöglich überlebt haben.“

Verschwunden? Alles in Julia bäumte sich gegen die furchtbare Wahrheit auf. Etwas in ihr barst. Ein entsetzlicher Schmerz zerriss sie innerlich. Die Welt, wie sie sie gekannt hatte, zerfiel in zahllose Scherben, die niemand mehr zusammensetzen konnte.

Ein gellender Schrei hallte von den Wänden des Krankenzimmers wider.

Julia registrierte nicht mehr, dass es ihr eigener war.

Sie verlor wieder das Bewusstsein.

***

Drei Jahre später

„Was haben Sie uns denn da schicken lassen, Schwester Martha?“ Dr. Stefan Frank hatte von seinem Sprechzimmer aus entdeckt, dass der Postbote da gewesen war. Er wartete dringend auf eine neue Tastatur für seinen Computer.

Bei seiner alten Tastatur klemmte das E, was ihn unnötigerweise aufhielt, wenn er ein Rezept ausdruckte oder einen Patientenbericht um neue Untersuchungsergebnisse ergänzte. Da musste unbedingt Abhilfe geschaffen werden.

Seine Sprechstundenhilfe hatte ein Paket vor sich stehen, in das sie beinahe selbst hineingepasst hätte, so groß war es.

Schwester Marthas graue Haare waren kurz geschnitten und ließen ihr rundes, freundliches Gesicht frei. Sie war seit vielen Jahren die gute Seele in seiner Praxis und kümmerte sich zusammen mit ihrer Kollegin darum, dass seine Termine in Ordnung waren und jedem Patienten so schnell wie möglich geholfen wurde.

Ihre Augen leuchteten, als sie nun den Klebestreifen an dem Karton aufriss und den Deckel lüftete. Darunter kam etwas hervor, das entfernt an ein Flugzeugzubehör erinnerte.

Er runzelte die Stirn. Was war das nur?

„Ein neuer Ventilator!“ Ihr Zungenschlag verriet ihre Berliner Herkunft. Marthas Augen strahlten, als hätte sie soeben den Jackpot geknackt. „Bei dieser Hitze tut der dringend not.“

„Ah, das ist wahr. Fliegen Sie mir damit nur nicht weg.“

„Keine Bange, bei meinem Kampfgewicht passiert det nicht so schnell.“ Sie kniff verschmitzt ein Auge zu. „Diese Hitze ist nicht auszuhalten. Mit Kälte komme ick klar, aber wenn es so heiß ist, schaltet mein Körper auf Sparmodus um. Dann fällt mir jeder Handgriff schwer.“

„Gut, dass Sie vorgesorgt haben. In den nächsten Tagen soll es nämlich sogar noch heißer werden.“

„Herrje! Denn werde ick meine Badewanne mitbringen und vom kalten Wasser aus arbeiten“, stöhnte Schwester Martha. „Übrigens ist Ihre Tastatur angekommen, Herr Doktor.“ Sie deutete auf ein flaches Päckchen, das auf ihrem Schreibtisch lag – gleich neben einer großen Kanne mit Eistee.

Stefan Frank nahm die Sendung mit in sein Sprechzimmer, packte die Tastatur aus und schloss sie an. Ein kurzer Test bewies, dass alles funktionierte. Was für eine Erleichterung!

Gerade bei Rezepten kam es darauf an, dass jeder Buchstabe stimmte. Ein falscher Tastendruck konnte ein völlig anderes Medikament bedeuten. Nun konnte er nach seiner Mittagspause beruhigt wieder an die Arbeit gehen.

An diesem Vormittag hatten sich die Patienten in seiner Praxis die Klinke in die Hand gegeben. Die sommerliche Hitze bekam vielen Menschen nicht. Kreislaufprobleme, aber auch Allergien häuften sich. Bevor es in die Nachmittagssprechstunde ging, hatte er noch zwei Hausbesuche zu erledigen. Er wollte gerade aufbrechen, als er hinter dem Fenster eine Bewegung bemerkte.

Jemand stromerte durch seinen Garten.

Nanu? Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Es war ein Kind. Ein Junge von neun Jahren, um genau zu sein. Paul wohnte mit seinem Vater in der Nachbarschaft. Seine Mutter hatte er vor einigen Jahren durch den Krebs verloren. Seitdem lebten Vater und Sohn allein.

Paul hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und ließ Kopf und Schultern hängen. Er wirkte so verloren, dass Dr. Frank beschloss, nach ihm zu sehen.

Er verließ sein Sprechzimmer und trat hinaus in den Garten. Die Sommerhitze verschlug ihm sekundenlang beinahe den Atem. Dann stieg ihm der süße Duft der Rosen, die am Gartenzaun blühten, in die Nase. Hummeln summten von Blüte zu Blüte, voll bepackt mit Pollenstaub.

„Paul?“ Dr. Frank ging mit wehendem Kittel zu dem Neunjährigen hinüber. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Was?“ Ganz erschrocken ruckte der Kopf des Kindes hoch. Paul hatte ein schmales, sommersprossiges Gesicht und braune Haare, die sich jedem Kamm verweigerten.

„Geht es dir gut, Paul?“

„Schon.“ Der Neunjährige zog die Hände aus den Taschen und stemmte die Daumen unter die Riemen seines Schulranzens. „Ich trau mich bloß nicht nach Hause.“

„Hast du eine schlechte Note geschrieben?“

„Nicht nur eine. Der Lehrer sagt, ich werde vielleicht nicht versetzt, weil ich so schlecht bin. Und jetzt hab ich Angst, es meinem Papa zu sagen.“

„In welchem Fach hast du denn Schwierigkeiten?“

„Im Rechnen.“ Paul blickte unglücklich auf. „Ich übe wirklich, aber die Regeln wollen mir nicht in den Kopf. Papa wird fürchterlich mit mir schimpfen. Er hatte im Rechnen immer eine Eins.“

„Er wird nicht schimpfen, wenn du ihm sagst, dass du gern lernen willst.“

„Doch das wird er. Ganz bestimmt.“

„Kann er denn nicht mit dir lernen?“

„Dafür hat er keine Zeit. Er montiert Heizungen und ist oft weg. Er sagt, ich bin groß genug, um allein zu lernen. Das stimmt ja auch. Ich bin schon neun!“ Paul schob die Brust vor, um zu demonstrieren, wie groß er schon war.

„Weißt du was, Paul? Ich werde einmal mit deinem Vater sprechen. Vielleicht finden wir eine Lösung für deine Sorgen. Wie wäre es, wenn ich dich jetzt heimbringe?“

„Bloß nicht!“ Der Neunjährige riss die Augen auf. „Dann schimpft er noch mehr. Er mag keinen Besuch. Früher schon, als Mama noch da war, aber jetzt … nicht mehr.“

Stefan Frank hörte die Einsamkeit in der Stimme seines kleinen Besuchers und nahm sich vor, sich etwas einfallen zu lassen, um ihm zu helfen. Paul wollte lernen. Das war ein wichtiger Schritt. Er brauchte vielleicht nur einen Nachhilfelehrer, um den Anschluss an das Klassenziel zu schaffen. Das musste doch zu machen sein!

Ich werde mit seinem Vater sprechen, beschloss Stefan Frank und hörte plötzlich in der Nähe eine ungeduldige Männerstimme rufen.

„Paul? Wo treibst du dich nun schon wieder herum?“

„Papa! Ich komme! Papa!“ Paul wirbelte herum und stürmte so schnell davon, dass der Schulranzen auf seinem Rücken auf und nieder wippte. Wenig später war er hinter der Gartenhecke verschwunden.

Dr. Frank wollte ihm gerade folgen, als eine junge Frau durch das Gartentor trat und auf ihn zutaumelte.

„Herrje!“

Julia Wagner war aschfahl im Gesicht und nestelte am Kragen ihrer Bluse herum, als wäre er ihr zu eng. Schweiß perlte von ihrer Stirn

„Ich … kann nicht atmen, Herr Doktor. Ich kriege keine Luft!“, keuchte sie.

Ein Notfall! Er reagierte sofort und stützte die junge Frau auf dem Weg in sein Sprechzimmer. Dabei schossen ihm mögliche Diagnosen durch den Kopf. Ein Herzinfarkt? Ein anaphylaktischer Schock nach einem Insektenstich? Oder wieder eine Panikattacke?

Er half ihr, auf der Behandlungsliege Platz zu nehmen, und griff nach seinem Stethoskop.

„Was ist passiert, Julia?“

„Ich war spazieren. Plötzlich wurde mir die Brust ganz eng. Alles um mich herum wurde so unwirklich. Ein Gefühl, als müsste ich sterben!“ Sie beugte sich vor und stützte die Hände neben sich auf der Liege ab. Ihr Atem wurde ruhiger. „Es … es wird schon besser.“

Stefan Frank ahnte, was ihr fehlte. Er war seit vielen Jahren mit Julias Vater befreundet und kannte die Familie gut. Nach dem Verlust ihres Babys hatte sich die junge Lehrerin von allem zurückgezogen und war in ihr Elternhaus zurückgekehrt, wo ihr Vater sie bei sich aufgenommen hatte. Sie hatte ihre Arbeit aufgegeben – und auch alle Freundschaften.

Julia war schon immer zierlich gewesen, in den vergangenen Jahren war sie jedoch noch schmaler geworden. Sie wirkte fast schon zerbrechlich.

Das Unglück hatte sie gezeichnet. Ihre traurigen Augen verrieten, dass sie seit dem Unfall keinen glücklichen Tag mehr gehabt hatte. Körperlich war sie wieder völlig hergestellt. Nur die Narben an ihrem Oberkörper verrieten noch, was für einen schweren Unfall sie hinter sich hatte.

Während eines langen Klinikaufenthaltes und einer anschließenden Reha hatte sie die Folgen des Komas überwunden. Seelisch hatte sie sich jedoch nie von dem Schlag erholt. Ihr Kind zu verlieren und sich selbst die Schuld daran zu geben, hatte ihr Leben für immer verändert.

Dr. Frank untersuchte sie sorgfältig. Ihr Puls raste. Ihr Blutdruck war hingegen in Ordnung, und auf dem EKG zeigten sich keine auffälligen Spitzen. Als er sie fragte, konnte sie sich nicht daran erinnern, von einem Insekt gestochen worden zu sein. Auch seine übrigen Tests waren ohne Befund. Ihre Symptome deuteten alle in eine bestimmte Richtung. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr.

„Du hattest wieder eine Panikattacke, Julia.“

Sie nickte kaum merklich, als hätte sie genau das erwartet.

„Was hast du gemacht, als es begonnen hat? Was genau, meine ich.“

„Ich war an der Isar spazieren. Da war ein Spielplatz. Ich habe den Kindern zugesehen. Sie waren so fröhlich, so unbekümmert. Ich musste an meine Tochter denken.“

Sie schluchzte auf und presste eine Faust vor ihren Mund.

„Da war ein kleines Mädchen. Es war ungefähr drei Jahre alt. Meine Kleine wäre jetzt in demselben Alter. Das Mädchen saß auf der Schaukel und hat gelacht. Und ich konnte nur daran denken, dass es meine Schuld ist, dass mein Kind nicht auch so fröhlich aufwachsen kann, und dann … dann hat es mir die Luft abgeschnürt. Ich habe es gerade noch hierhergeschafft. Es tut mir leid, dass ich Sie wegen nichts und wieder nichts belästigt habe.“

„Das hast du nicht. Eine Panikattacke ist eine ernstzunehmende Störung.“

„Ich verdiene es nicht anders.“

„Das ist nicht wahr, Julia. Was passiert ist, war nicht deine Schuld. Es war ein Unfall.“

„Das sage ich mir selbst auch immer wieder, aber es stimmt nicht. Hätte ich besser aufgepasst, wäre mir aufgefallen, dass die Straße vereist ist. Ich wäre langsamer gefahren, und meine Tochter könnte noch leben. Belina hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, und jetzt ist sie tot, und wir konnten sie nicht einmal beerdigen.“

Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Henning ist todunglücklich. Und ich auch. All das ist meine Schuld. Ganz allein meine Schuld.“ Sie krampfte die Hände zusammen, sodass sich ihre Nägel tief in ihr Fleisch bohrten.

Stefan Frank rieb sich das Kinn.

„Warst du inzwischen bei einem Psychologen, wie ich es dir geraten habe?“

Julia schüttelte den Kopf und mied seinen Blick.

„Er könnte dir helfen. Ganz gewiss. Du wirst die Vergangenheit nie überwinden, wenn du sie nicht loslässt.“

„Ich weiß.“ Die Stimme der jungen Lehrerin war kaum mehr als ein Flüstern. Sie litt, das war nicht zu übersehen. Und sie tat nichts dagegen.

Glaubte sie etwa, diese Strafe zu verdienen?

„Was ist mit dem Medikament, das ich dir gegen die Attacken verschrieben habe? Es kann helfen, wenn du wieder eine Panikattacke bekommst.“

„Ich nehme es nicht.“

„Warum denn nicht?“

Stumm schüttelte sie den Kopf.

„Es kann die Symptome lindern. Noch besser wäre jedoch eine Psychotherapie. Ich kann dir eine Psychologin in der Nachbarschaft empfehlen, wenn du willst.“

Julia blickte schweigend zu Boden.

Sie schien die Vergangenheit gar nicht überwinden zu wollen. Vielmehr klammerte sie sich daran.

Der Grünwalder Arzt verstand sie. Auch er hatte schon einen Menschen verloren, der ihm einfach alles bedeutet hatte. Damals war er beinahe daran zerbrochen. Es war unendlich schwer, loszulassen. Doch für Julia war es dringend notwendig.

Wie sonst sollte sie ins Leben zurückfinden?

***

Der Arzt hat mir empfohlen, ein Tagebuch zu führen. Er glaubt, wenn ich alles aufschreibe, wird es mir irgendwann gelingen, meine Gedanken zu ordnen und wieder nach vorn zu blicken.

Ich weiß nicht, warum ich seinem Rat folge. Ich will nicht nach vorn blicken. Vor mir liegt nichts als ein leeres Leben ohne mein Kind. Hinter mir liegt alles. Alles, was ich je geliebt habe. Ich möchte nichts davon vergessen. Nicht einen einzigen Augenblick mit meinem Kind.

Julia saß in ihrem Zimmer auf dem Fensterbrett. Sie hatte die Knie angewinkelt und lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe. Draußen neigte sich die Sonne allmählich dem Horizont entgegen. Im Garten rings um ihr Elternhaus grünte und blühte es, dass einem das Herz aufgehen konnte.

Früher hatte ihr Vater einen Gärtner dafür bezahlt, sich um das Grün zu kümmern. Seit drei Jahren war der Garten Julias einzige Freude. Sie pflegte ihn sorgsam, und die Pflanzen dankten es ihr mit einem üppigen Wuchs und zahllosen Blüten.

Das Haus ihres Vaters stand am Rand von Grünwald, im Süden von München. Seine Zahnarztpraxis war im Anbau untergebracht. Im Wohnhaus lebte er mit Julia und zwei griechischen Landschildkröten. Die gepanzerten Haustiere hielten sich im Sommer in einem Freigehege auf. Gerade saßen sie unten auf einem großen flachen Stein und wärmten sich in den letzten Sonnenstrahlen auf. Ihre weit hervorgereckten Köpfe verrieten, dass es ihnen gut ging.

Julia schloss die Augen und wünschte sich, sie könnte einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ihr Leben war nur noch ein Schatten des erfüllten Daseins, das sie früher geführt hatte. Sie war Mutter gewesen. Lehrerin. Partnerin. Freundin. Und jetzt? Nichts mehr von alledem.

Ihr Kind hatte sie verloren. Arbeiten konnte sie nicht mehr, weil sie Panikattacken bekam, sobald sie auch nur versuchte, wieder zu unterrichten. Etwas ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Nachts schlief sie schlecht. Tagsüber geisterte sie wie ein Zombie durch den Alltag.

Und Henning? Mit ihm traf sie sich nur noch unregelmäßig. Er lud sie oft ein – zum Essen, Spazierengehen oder auf einen Ausflug. Sie wusste, dass er gern wieder mehr für sie gewesen wäre, aber es tat zu weh, ihn zu sehen und zu wissen, dass ihre Beziehung nie mehr so sein würde wie vor dem Unfall.

Sie hatte schon mehrmals erwogen, einen endgültigen Schnitt zu machen, aber etwas tief in ihr war davor zurückgeschreckt. Noch jedenfalls.

Julia öffnete die Augen wieder und bemerkte ein junges Paar, das unten auf dem Bürgersteig Hand in Hand lief. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Henning und sie waren auch einmal so unbeschwert gewesen …

Sie schluckte.

Sollte das wirklich so weitergehen? Wollte sie immer nur zusehen? Andere Menschen führten ihr Leben, und was tat sie selbst? Sie stand am Rand und gehörte nirgendwo mehr hin. Dabei sehnte sie sich danach, wieder teilzuhaben. Sie wollte so gern wieder leben.

Wann, wenn nicht jetzt? Dr. Frank hatte ihr gesagt, dass sie es schaffen würde. Einen Schritt nach dem anderen. Sie musste nur den ersten Schritt wagen. Dann würde der nächste leichter werden. Vielleicht.

Julia gab sich einen Ruck. Sie stand auf und trat vor ihren Kleiderschrank. Seit dem Unfall achtete sie kaum noch darauf, was sie trug. An diesem Abend jedoch mochte sie die Jeans und das ausgewaschene T-Shirt nicht mehr sehen. Sie zog beides aus und schlüpfte in ein gelbes Sommerkleid. Das hatte sie zuletzt getragen, als sie mit Henning im Kino gewesen war. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein …

Sie löste das Band aus ihren blonden Haaren und schüttelte sie aus. Anschließend griff sie nach ihrer weißen Umhängetasche und warf einen scheuen Blick in den Spiegel. Das Kleid war ihr ein wenig zu groß geworden, aber mit dem Gürtel fiel das nicht weiter auf.

Sie verließ das Haus und schlenderte umher. Ein festes Ziel hatte sie nicht. Sie bummelte einfach durch die abendlichen Straßen von Grünwald. Die Restaurants hatten geöffnet, und Tische waren im Freien aufgestellt. Der Duft von gegrillten Speisen wehte heran. Fetzen von Unterhaltungen füllten die Luft.

Julia lief weiter, bis sie das Isarufer erreichte. Der Fluss plätscherte gemächlich dahin, ein Entenpärchen schwamm am Ufer. Der Wind strich durch das hohe Gras. Julia passierte die Burg und sah nach einer Weile die weißen Mauern der Thomaskirche vor sich.

Plötzlich drang Musik an ihre Ohren. Davon angezogen, setzte sie ihren Weg fort und gelangte zu der Wiese hinter der Kirche. Hier stand eine Band auf einer improvisierten Bühne und spielte sommerliche Rhythmen. Zahlreiche Zuhörer waren gekommen und tanzten oder hörten einfach nur zu.

Am Rand wurden Bier und andere kalte Getränke ausgeschenkt. Die Stimmung war ausgelassen.

Julia fühlte sich fehl am Platze und wollte gerade weitergehen, als sie den Sänger erkannte. Ihr Herz machte einen Satz, als wollte es zu ihm auf die Bühne springen: Henning! Er sang und zupfte dazu auf seiner Gitarre, als würde er nie etwas anderes tun. Neben ihm spielten sein Bruder Saxofon und sein bester Freund Akkordeon. Schräg hinter ihnen saß eine junge Frau am Keyboard. Julia kannte sie nicht.

Das Lied klang nach Sommer, Spanien und durchtanzten Nächten. Die Zuhörer sangen und gingen völlig mit. Als das Lied verklang, brandete Applaus auf.

Henning lächelte zu den Gästen hinunter und breitete die Arme aus.

„Das nächste Lied spielen wir für die Frau, die immer in meinem Herzen war und es auch immer sein wird. Für Julia.“ Er tauschte einen Blick mit seinen Bandkollegen, dann schlug er die ersten Saiten auf seiner Gitarre an – und Julia blieb stehen, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen.

Henning spielte ihr Lied!

„ Halt mich. Wir zwei gehören zusammen. Für immer wir beide gegen den Rest der Welt. “ Er hatte es für Julia komponiert und gesungen, als er ihr seinen Wohnungsschlüssel überreicht und sie gebeten hatte, zu ihm zu ziehen. Damals waren sie so glücklich gewesen. Einander so nah …

Die verträumte Melodie schmeichelte sich auch jetzt wieder in ihr Herz und machte es weit und warm. Die Zuhörer zogen Feuerzeuge und Wunderkerzen hervor und schwenkten sie. Es war beinahe … unwirklich. Als würde das Lied die Zeit zurückdrehen.

Tränen strömten Julia über das Gesicht.

Noch hatte niemand sie bemerkt.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und ließ den Tränen freien Lauf. Fünf Jahre lagen zwischen diesen beiden Augenblicken, aber Julia erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, dass Henning sie in seine Arme genommen und ihr gesagt hatte, wie sehr er sie liebte.

Henning, ach, Henning. Ihr Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen, aber da war noch ein anderes Gefühl. Eines, das sie schon viel zu lange nicht mehr zugelassen hatte: Liebe. Sie sehnte sich nach ihm – so sehr, dass es wehtat. Und so blieb sie im Gras sitzen, als das Lied verklang und die Band ihr Konzert beendete. Die Zuhörer machten sich nach und nach auf den Heimweg.

Die ersten Sterne glitzerten über der Stadt.

Julia wischte sich die Tränen fort und blickte zum Himmel hinauf. Nach dem Tod ihrer kleinen Tochter hatte sie das oft getan. Anklagend zuerst. Dann verzweifelt. Und schließlich mit der leisen Hoffnung im Herzen, dass ihr Kind jetzt an einem anderen, besseren Ort war.

„Liebling?“ Henning hatte sie entdeckt und betrachtete sie. „Was machst du denn hier?“

„Ich …“ Sie wischte sich hastig die Tränen fort. „Ich war spazieren. Da habe ich euch spielen gehört. Ihr seid gut. Richtig gut.“

„Wir bemühen uns, aber trotz der vielen Proben sind wir nur eine Hobby-Band.“

„Ihr habt die Zuhörer mitgerissen. Und mich auch.“

„Das freut mich sehr.“ Henning setzte sich neben sie ins Gras, legte eine Hand an ihre Wange und blickte sie zärtlich an. „Mein Liebling. Ich bin so froh, dich zu sehen.“

Julia schluckte. Es war noch da. Das Gefühl von Nähe und Vertrautheit. Selbst eine längere Trennung konnte es nicht auslöschen. Es fühlte sich an, als wäre er ein Teil von ihr.

„Wie läuft es bei dir?“, fragte sie leise.

„Ganz gut. Alles ist wie immer: Tagsüber plage ich meine Schüler mit Latein und Sportunterricht, abends korrigiere ich Klassenarbeiten oder probe mit der Band. Wir treten öfters auf, bei Geburtstagen, Hochzeiten oder Freiluftveranstaltungen.“

„Wow, das ist großartig. Und es hört sich so an, als wäre dein Leben ausgefüllt.“

Henning schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Nein, Julia, das ist es nicht. Du fehlst mir jeden Tag und jede Nacht. Ohne dich fühle ich mich nicht mehr vollständig. Es ist, als würde mir ein Arm fehlen. Ich komme zurecht, aber es ist nicht … wie früher. Ich vermisse die Kleinigkeiten, weißt du? Dein Parfum auf meinem Kissen, deine Wärme, wenn du abends neben mir einschläfst.“

„Das stimmt. Mir geht es mit dir ebenso.“

„Wir haben so viel verloren. Ich will dich nicht auch noch hergeben müssen. Ich möchte eine Zukunft für uns aufbauen.“

„Eine Zukunft?“ Sie sah ihn an, als würde sie das Wort nicht einmal kennen.

Er nickte ihr zu.

„Wir beide gehören zusammen. Das haben wir immer getan, und daran wird sich auch niemals etwas ändern. Fühlst du denn nicht dasselbe?“

„Doch, aber ich glaube nicht, dass das ausreicht. Mein Herz ist bei dem Unfall zerbrochen. Es wird nie mehr heil sein. Du schenkst mir so viel, und ich kann dir nichts zurückgeben. Es wäre nicht fair, wenn wir unsere Beziehung fortsetzen würden.“

„Das ist nicht wahr. Du gibst mir jeden Morgen einen Grund, aufzustehen und mich auf den Tag zu freuen, wenn ich weiß, wir werden uns sehen. Und ich glaube fest daran, dass du eines Tages auch wieder lachen kannst. Ich bin bereit, darauf zu warten.“

„Wie meinst du das?“ Verwirrt blickte sie zu ihm auf und las in seinen Augen eine so grenzenlose Liebe, dass die Kälte in ihrem Inneren einer heilsamen Wärme wich. Einige der Splitter ihres Herzens schienen sich wieder zusammenzufügen, wenn sie bei ihm war. Aber eben nicht alle …

„Was ich fühle, reicht für uns beide, mein Liebling.“ Henning fasste nach ihren Händen. „Ich liebe dich. Und ich möchte dich heiraten. Wir haben schon viel zu lange gewartet.“

„Heiraten? Aber … aber …“ Sie schnappte nach Luft. „Das geht doch nicht.“

„Das geht sogar sehr gut. Ich liebe dich, und ich weiß, dass wir beide ein gutes Leben führen können. Wir sind stark, wenn wir zusammen sind. Wir können den Alltag meistern.“

„Stark? Nein. Ich fühle mich alles andere als stark.“

„Dann leg deine Hand in meine, und lass dich von mir tragen. Ich liebe dich, und daran wird sich auch niemals etwas ändern.“ Sein Blick ruhte offen und voller Liebe auf ihr.

Er wollte sie heiraten? Nach allem, was geschehen war? Nach den Tränen, der Trauer und der Einsamkeit wollte er sie immer noch heiraten?

Sie schmiegte ihre Hand in seine. In ihrem Kopf pochten Zweifel. Doch ihr Herz flüsterte bereits Ja …

***

Tun wir wirklich das Richtige? Henning ist davon überzeugt, aber ich bin mir nicht sicher. Was ist, wenn wir mit dieser Hochzeit einen Fehler begehen? Wenn wir uns ins Unglück stürzen?

Henning hat so viel durchgemacht. Er verdient eine Frau, die ihn glücklich macht. Werde ich das schaffen? Ich wünsche es mir von ganzem Herzen, und ich will tun, was ich kann, um ihm eine gute Frau zu sein. Henning kennt mich so gut wie niemand sonst, und er glaubt an mich. Ich liebe ihn so sehr, aber ich habe Angst, dass das nicht ausreichen könnte.

Julias Herz war voller Fragen.

Draußen war es stockdunkel, als sie zum Dachboden ihres Elternhauses hinaufstieg. Sie knipste die Deckenleuchte an. Staubpartikel tanzten durch die Luft. Möbelstücke, gezeichnet vom Leben und zahlreichen Erinnerungen, standen überall.

Ein Schaukelstuhl. Eine Schneiderpuppe. Ihre Mutter hatte gern genäht und das meiste von Julias Garderobe geschneidert. In einer Ecke stand eine Truhe mit silbernen Beschlägen. Darin war die Aussteuer ihrer Mutter bis zu ihrer Hochzeit aufbewahrt worden. Nun barg das schwere Eichenholzmöbel das Brautkleid ihrer Mutter.

Julia lüftete den Deckel, und der schwache Duft von Veilchen strömte ihr entgegen. Es war wie ein Gruß ihrer Mutter, die immer nach diesem Parfum geduftet hatte.

Sie schlug die Tücher zurück, in die das Kleid sorgsam gehüllt worden war. Darunter kam ein bezauberndes weißes Brautkleid zum Vorschein. Der schlichte, schulterfreie Schnitt schmeichelte der Figur, der v-förmige Ausschnitt war mit Spitze verziert.

Julia wagte kaum, die Hände nach dem Kleid auszustrecken. Die duftige Seide raschelte sacht, als sie es berührte. Der lange Rock ging in eine kleine Schleppe über, der Saum war mit zarten Rosenblüten bestickt.

Das Kleid hatte ihre Eltern auf dem Weg in eine glückliche, wenn auch leider viel zu kurze Ehe begleitet. Würde es Henning und ihr nun auch Glück bringen?

Julia hob es aus der Truhe und hielt es vor ihren Körper. Zu ihrer Linken stand ein alter Standspiegel. Sie trat davor und drehte sich leicht hin und her. Das Kleid würde ihr passen. Sie hatte ungefähr dieselbe Figur wie ihre Mutter. Auch die langen blonden Haare hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das schmale Kinn und die blauen Augen waren jedoch die ihres Vaters.

Schritte auf der Treppe ließen sie herumwirbeln.

Ihr Vater spähte herein und furchte die Stirn, als er die offene Aussteuertruhe bemerkte. Dann fiel sein Blick auf sie – und ein wehmütiger Ausdruck trat in seine Augen.

„Liebes, was machst du denn hier oben?“

„Ich …“ Julia schluckte. Es war an der Zeit, ihm von ihren Plänen zu erzählen. Sie konnte nur hoffen, dass er sie verstehen würde. „Henning hat mich heute Abend gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Und ich habe Ja gesagt.“

„Du hast … was getan?“

„Ich habe Ja gesagt.“

„Julia, Liebling, das kann unmöglich dein Ernst sein. Nach allem, was ihr beide durchgemacht habt …“

„Eben. Darum. Henning hat immer zu mir gehalten. Selbst, als ich ihn weggestoßen habe, weil es zu weh getan hat, ihn auch nur anzusehen, hat er kein böses Wort verloren. Er hat mir Zeit gegeben und geduldig gewartet. So etwas bringt nur ein Mann fertig, der wahrhaft liebt.“

„Aber ihr werdet euch immer nur Schmerz zufügen! Euch verbinden doch nur noch traurige Erinnerungen.“

„Dann werden wir uns eben neue schaffen. Ich hoffe, dass du dich irrst, Papa. Uns verbindet mehr als eine gemeinsame Vergangenheit. Uns verbindet unsere Liebe.“

„Mag sein, aber die Trauer wird immer da sein. Sie wird euch wie ein Schatten begleiten. Überleg dir gut, ob du diesen Schritt wagen willst. Ich glaube, ein radikaler Schnitt wäre besser für euch. Für euch beide.“

„Aber …“

„Hör mir zu: Ich weiß, dein Henning ist ein guter, anständiger Mann, aber auch er kann nicht ungeschehen machen, was zwischen euch passiert ist. Seit drei Jahren hängt dein Leben in der Schwebe. In der Warteschleife, wenn du so willst. Was du brauchst, ist ein Neuanfang!“

„Den können Henning und ich auch zusammen wagen.“

„Nein, das glaube ich nicht. Ihr werdet euch immer gegenseitig an das Verlorene erinnern.“

„Glaubst du, für die Erinnerungen brauche ich Henning? Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht an Belina denke. Ob Henning nun bei mir ist oder nicht, daran wird sich niemals etwas ändern.“ Julia ließ das Brautkleid sinken. „Ich wünsche mir wieder ein Leben. Eine Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, aber der Wunsch ist da.“

Ihr Vater kam heran und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Du weißt, dass du hier immer einen Platz hast. Das hier ist dein Zuhause. Hier gehörst du hin.“

„Ich bin dir so dankbar für alles, was du für mich getan hast, Papa. Du hast mich aufgefangen, als ich nicht mehr arbeiten und nicht mehr klar denken konnte. Aber mein Dasein gleicht im Moment einer Seifenblase. Es ist geschützt, aber es kann jeden Augenblick zerplatzen. Und dann stehe ich mit leeren Händen da.“

„Du könntest auch hier neu anfangen. Studiere noch einmal. Such dir eine Stellung. Ein neues Hobby. Was auch immer dich glücklich macht. Nur stürz dich nicht Hals über Kopf in eine Ehe, die dir nur Kummer bringen wird.“

„Warum glaubst du, dass das passieren wird?“

„Weil …“ Rolf Wagner seufzte leise. „Weil Henning kein Mann für eine Ehe ist. Er wollte dich nicht einmal heiraten, als eure Kleine geboren wurde. Weißt du das etwa nicht mehr?“

„Damals waren wir beide noch nicht bereit für eine Ehe. Wir waren so jung. Aber jetzt liegen die Dinge anders.“

„Wirklich, Julia? Was hat sich denn geändert?“

„Wir sind älter geworden. Erfahrener.“

„Ihr seid immer noch dieselben.“

„Das denke ich nicht.“

„Liebst du Henning?“

„Natürlich. Ich möchte seine Frau werden, weil ich immer noch die Hoffnung habe, dass alles gut werden kann. Das ist vielleicht nicht viel, aber es ist alles, was ich habe.“

„Ach, Liebes …“ Ihr Vater blickte sie traurig an. Er sah sie an wie damals, als sie fünf oder sechs gewesen war und es für eine gute Idee gehalten hatte, ihre Katze nach einem Spielenachmittag in der Waschmaschine zu säubern. Er hatte das Kätzchen gerade noch aus der Trommel retten können, bevor der Waschgang begonnen hatte. Ein Ruck ging durch ihn. „Also schön.“

„Du gibst uns also deinen Segen?“, fragte Julia leise.

„Den hast du. Du weißt, dass ich immer hinter dir stehen werde. Ich bin da, wenn du mich brauchst.“ Ihr Vater strich ihr sanft über die Wange. „Womöglich ändert ihr beide eure Ansichten noch einmal. Es dauert seine Zeit, eine Hochzeit zu planen. Ihr müsst eine Kirche und ein Lokal finden, Einladungen verschicken … Und natürlich einen Termin festlegen …“

„Das haben wir bereits getan.“

„Ich würde sagen, bei alldem, was es zu bedenken gilt, wäre es realistisch, die Trauung auf das nächste Jahr festzusetzen. Oder, noch besser, auf das übernächste. Das gibt euch genug Zeit, um alles zu bedenken und zu prüfen.“

„Wir wollen im Sommer heiraten, Papa.“

„Im Sommer. Natürlich. Das ist eine gute Idee.“

„Ich meine – in diesem Sommer.“

„In …“ Ihr Vater schluckte hörbar. „Noch in diesem Sommer? Das kann unmöglich euer Ernst sein! Das wäre ja schon in wenigen Wochen!“

„Richtig.“ Julia nickte bedächtig. Henning und sie hatten sich entschieden, und sie wollten so wenig Zeit wie möglich vergehen lassen, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Henning, weil er mit ihr zusammenleben wollte. Und sie selbst, weil sie Angst vor ihrer eigenen Courage hatte und es sich vielleicht anders überlegen würde, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam.

Ihr Vater sah sie so entgeistert an, als hätte sie ihm soeben den Boden unter den Füßen weggezogen.

„In diesem Sommer schon“, ächzte er und fuhr sich durch die grauen Haare.

***

Wer hätte gedacht, dass man eine Hochzeit in wenigen Wochen planen kann? Ich jedenfalls nicht, aber es ist uns gelungen. Ich habe vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen, dass man jetzt auch im Café im Botanischen Garten heiraten kann. Eine romantische Hochzeit im Grünen. Was könnte schöner sein?

Ich war mir ziemlich sicher, dass diese Location über Monate oder gar Jahre hinaus ausgebucht sein würde. Henning meinte, wir sollten wenigstens anfragen, und wir hatten Glück: Ein Paar hatte gerade abgesagt, deshalb gab es im August noch einen freien Termin. Wir haben nicht lange überlegt und zugegriffen.

Nachdem das feststand, hat eines das andere gegeben: Einladungen, Blumendekoration und Empfang im Grünen … Alles in zartrosa und weiß gehalten – und im Vintage-Stil, der so wunderbar zu dem efeuumrankten Café passt. Es fühlt sich seltsam an, dass wir beide bald heiraten werden. Es ist beinahe wie ein Traum.

„Sie müssen diese Erdbeertorte probieren.“ Der Caterer deutete auf einen Traum aus Früchten, Baiser und Sahnetupfen. „Gerade im Sommer wird sie gern von Brautpaaren gewählt. Wir bieten sie in verschiedenen Größen auch. Auch Törtchen sind denkbar. Verziert mit winzigen Brautpaaren aus Porzellan.“

„Wie bezaubernd.“ Julia betrachtete die Deko, die so harmonisch zu ihrer Blumendekoration passen würde, als wäre sie extra dafür gemacht.

Zusammen mit Henning hatte sie einen Termin in dem Café wahrgenommen, in dem die Hochzeitsgesellschaft essen würde. Das Büfett für das Mittagessen stand bereits fest. Nun galt es nur noch, die Hochzeitstorte auszuwählen.

„Kosten Sie ruhig.“ Der Caterer nickte ihnen aufmunternd zu.

Henning tauschte einen lächelnden Blick mit Julia und probierte.

„Donnerwetter. Die Torte ist gut“, murmelte er und nickte beifällig. „Sehr gut sogar. Sie schmeckt, als würde man ein Stück vom Sommer naschen.“

„So ist es auch gedacht.“

Julia kostete ebenfalls und musste ihrem Verlobten recht geben.

„Wir haben auch eine Marzipantorte, die …“

„Bloß nicht!“ Julia nahm eine Hand an die Lippen.

„Meine Verlobte mag keinen Marzipan“, erklärte Henning.

„Wenn das so ist, könnte ich Ihnen auch eine dreistöckige Schokoladentorte anbieten. Verziert mit Rosen aus weißer Schokolade.“

„Das hört sich wunderbar an, aber ich denke, wir nehmen die Erdbeertörtchen. Was meinst du, Liebling?“ Henning sah Julia fragend an. „Bitte, sag Ja, ich kann nämlich keinen einzigen Bissen mehr probieren, so pappsatt bin ich nach den ganzen Proben.“

„Einverstanden. Die Torte ist großartig. Im Moment bin ich auch so voll, dass ich vermutlich nie wieder etwas essen kann.“

„Vielleicht sollten wir bei der Hochzeit einfach Knäckebrot und Wasser servieren.“

„Das würde bei unseren Gästen sicherlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ Julia drohte ihrem Verlobten spielerisch mit einem Finger. Daraufhin legte er seine Arme um sie und gab ihr einen innigen Kuss, der sie alles um sich her vergessen ließ.

Der Caterer lächelte verstehend und zog sich zurück. Es war alles besprochen. Die Speisen für die Feier standen fest.

Henning strich Julia sanft über die Wange.

„In weniger als zwei Wochen sind wir Mann und Frau. Und nur einen Tag später fliegen wir nach Schottland. Dann haben wir zwei Wochen nur für uns.“

„Ich möchte unbedingt wandern und mir wenigstens ein paar der zahllosen Seen anschauen.“ Julias Herz klopfte schneller. War das zu glauben? Seit vielen Jahren träumte sie von einer Rundreise durch den Norden von Großbritannien, und nun würden sie schon bald dorthin aufbrechen. Womöglich würde sich dort auch ihre Hoffnung auf einen Neuanfang erfüllen?

Julia blickte versonnen auf den Ring an ihrer Hand. Henning hatte ihr den Verlobungsring seiner Urgroßmutter angesteckt: ein schmaler Goldreif mit einem schimmernden Rubin. Der Ring hatte ihr sofort gepasst, als wäre er für sie gemacht.

Von draußen drang plötzlich ein helles Weinen herein.

Etwas in ihr verkrampfte sich.

Dort weinte ein Kind!

Sie tauschte einen Blick mit ihrem Verlobten.

„Ich werde nachsehen, was das Kind hat.“ Henning verließ das Café.

Julia zögerte kurz, ehe sie ihm folgte. Draußen stand ein Mädchen von ungefähr sechs Jahren unter einer Buche und blickte traurig nach oben. Ein leuchtend gelber Ball hatte sich in den Zweigen verfangen. In gut zehn Metern Höhe! Viel zu hoch, als dass das Kind ihn erreichen konnte.

„Ist das dein Ball, Schätzchen?“ Henning blickte nach oben, dann schwang er sich auf den unteren Ast und kletterte geschickt weiter hinauf. Julia wurde es schon vom Zuschauen schwindlig! Doch ihr Verlobter war ein geübter Kletterer und hatte den Ball bald erreicht.

„Achtung!“ Er warf den Ball herunter, und das Kind fing ihn mit leuchtenden Augen auf.

„Dankeschön!“ Die Kleine entblößte beim Lächeln eine Zahnlücke. Sie presste ihr Spielzeug an sich und sauste davon, dass ihre blonden Zöpfe wippten.

Henning kletterte von dem Baum herunter und strich sich einige Blätter vom Hemd.

„Es ist ein Wunder, dass mich die Äste getragen haben, nachdem ich gerade beim Probeessen so zugeschlagen habe.“

„Jedenfalls kannst du den Sport für diesen Tag schon mal abhaken.“

„Meinst du, die kleine Klettereinlage reicht?“

„Du nicht?“

„Mir würden noch ein paar andere Möglichkeiten einfallen, um Kalorien zu verbrennen. Am liebsten mit dir zusammen.“ Er schlang die Arme um Julia und zog sie an sich. Dann hinterließ er eine Spur aus glühend heißen Küssen auf ihrer empfindlichen Halsbeuge und demonstrierte ihr, was er meinte.

„Henning … Die Kleine und ihre Freunde sind bestimmt noch in der Nähe und können uns beobachten.“ Julia stemmte sich halbherzig gegen seine Brust, denn seine Lippen weckten Gefühle tief in ihr, die aufregend und angenehm waren.

„Warum fahren wir nicht heim und verbringen den Rest des Tages im Bett? Ich habe heute frei, wir haben also viel Zeit für uns.“ Henning ließ seine Hand aufreizend langsam über ihren Rücken tiefer wandern. Als sie sich instinktiv an ihn drängte, stöhnte er rau. „Ich will dich, Julia. So sehr …“

„Ich dich auch“, flüsterte sie.

„Dann lass uns zu mir fahren. Jetzt gleich. Ich muss dich spüren, schmecken und berühren, Julia. Und ich … ich möchte wieder ein Kind mit dir.“

„Ein Kind?“ Etwas in ihr krampfte sich so schmerzhaft zusammen, als hätte er ihr eine glühende Nadel ins Herz gerammt.

„Mit Kindern ist unsere Familie erst komplett, findest du nicht?“

„Ich … ich weiß es nicht.“ Ihr Herz wummerte mit einem Mal mit der Wucht eines Presslufthammers gegen ihre Rippen. Sie schob ihn von sich und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie damit einen Schutzwall um sich errichten. „Wir hatten ein Kind. Es zu verlieren, hat mich beinahe umgebracht. Noch einmal würde ich das nicht ertragen.“

„Das wird nicht wieder geschehen.“

„Das können wir nicht wissen. Niemand kann das garantieren.“

„Willst du etwa keine Kinder mehr, Julia?“ Bestürzt sah ihr Verlobter sie an. „Wir haben noch nicht darüber geredet, aber ich dachte, es wäre klar, dass wir noch einmal Nachwuchs bekommen. Ich wünsche mir Kinder. Du nicht?“

„Ich …“ Sie stockte.

„Unsere Tochter ist nicht mehr da. Ein Kind könnte diese Lücke füllen.“

„Glaubst du, wir könnten Belina so einfach ersetzen?“

„Natürlich nicht, aber Kinder gehören zum Leben dazu.“

Noch ein Kind bekommen? Es lieben und hüten. Nachts an seinem Bett wachen. Und es durch eine grausame Laune des Schicksals wieder verlieren? Nein, nicht noch einmal! Alles in ihr bäumte sich gegen diese Vorstellung auf.

Die Erinnerungen an den Verlust brachen über sie herein wie ein Tornado. So intensiv, als wären seither keine Jahre, sondern nur Minuten vergangen. Die alten Wunden rissen wieder auf. Der Schmerz raste wie ein Feuerball durch ihren Körper. Julias Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, und ihre Kehle wurde eng. Der Druck auf ihre Brust nahm zu. Sie bekam keine Luft!

Oh nein! Nicht schon wieder!

Sie fühlte die Panikattacke kommen und wirbelte herum. Hinter ihr rief Henning ihren Namen, aber sie konnte nicht mit ihm sprechen. Nicht jetzt jedenfalls. Mit langen Schritten eilte sie wieder in das Café und steuerte den Waschraum an.

Fort, nur fort, drängte es sie.

Am Waschbecken kramte sie in ihrer Handtasche und holte die Tabletten hervor, die Dr. Frank ihr verschrieben hatte. Sie schluckte eine davon. Anschließend drehte sie das kalte Wasser auf, trank einen Schluck und ließ dann Wasser über ihre Handgelenke laufen. Nach einer Weile beruhigte sich ihr aufgewühlter Herzschlag. Sie lehnte die Stirn an den Spiegel und wartete ab.

Als sie den Kopf hob, blickte ihr ein fragendes Augenpaar aus dem Spiegel entgegen. Unsicher schob sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Tun wir wirklich das Richtige? Unsere Wünsche und Ziele scheinen nicht mehr dieselben zu sein. Was, wenn sich diese Hochzeit als riesengroßer Fehler erweist? Wenn Henning und ich uns gegenseitig nur unglücklich machen?

***

„Donnerwetter!“ Stefan Frank blieb in der Schlafzimmertür stehen und betrachtete seine Freundin. Alexandra trug ein blassgrünes Kleid, das ihre Schultern frei ließ. Der Gürtel betonte ihre schmale Taille, und der Rock schwang bei jeder Bewegung und ließ ihre schlanken, gebräunten Beine erahnen. „Donnerwetter!“, wiederholte er.

„Ist das gut oder schlecht?“, fragte sie ihn mit einem Lächeln in den Augen.

„Besser als gut“, versicherte er ihr. „Du siehst bezaubernd aus. Wie ein lichter Sommertag. Ich werde alle Hände voll damit zu tun haben, die Verehrer von dir fernzuhalten.“

„Oh, mit Komplimenten erreichst du bei mir alles.“ Die Augenärztin zwinkerte ihm zu und griff nach ihrer Tasche. Die Clutch hatte dieselbe Farbe wie ihr Kleid.

Sie waren zusammen zu der Hochzeit von Julia Wagner und Henning Eichberger eingeladen. Das Wetter zeigte sich an diesem Sommertag von seiner schönsten Seite: Keine Wolke trübte den Himmel. Und schon jetzt waren die Temperaturen angenehm mild. Stefan Frank trug seinen guten Anzug. Nur die Fliege wollte nicht recht sitzen. Er nestelte daran herum und seufzte leise.

„An diese Dinger werde ich mich nie gewöhnen.“

Seine Freundin trat vor ihn hin.

„Lass es mich versuchen.“ Sie löste das Band. Dabei duftete sie so gut nach ihrem blumigen Parfum, dass er nicht anders konnte: Er schlang die Arme um sie und küsste sie.

„Stefan!“ Lachend stemmte sie eine Hand vor seine Brust. „So wird das nie etwas mit der Fliege!“

„Ich gehe gern mit einer schief gebundenen Fliege zur Trauung, wenn ich dafür noch einen Kuss von dir bekomme.“

„Bist du denn gar nicht müde? Du bist gestern von deinem Notfall ziemlich spät heimgekommen.“

„Genauer gesagt: ziemlich früh. Es war schon weit nach Mitternacht, aber da lässt sich nichts machen. Ich habe genügend Kaffee getrunken, um heute durchzuhalten.“ Stefan Frank umarmte seine Freundin und knabberte zärtlich an ihrem Ohr. „Du bist umwerfend, Liebes. Am liebsten würde ich dich jetzt in mein Bett tragen und nicht mehr aus meinen Armen lassen.“

„Ausgeschlossen. Wir können Julia und Henning nicht so enttäuschen. Außerdem habe ich gestern ein Vermögen an Zeit und Geld beim Friseur gelassen.“

„Das wäre gar nicht nötig gewesen. Am hübschesten bist du mit zerzausten Locken“, raunte er.

„Und das sagst du mir jetzt?“ Sie stemmte die Hände auf ihre Hüften und funkelte ihn an, aber ein Lächeln umspielte ihre roten Lippen. Daraufhin musste er sie gleich noch einmal an sich ziehen und küssen. So kam es, dass sie früh aufgestanden waren und trotzdem beinahe zu spät zur Trauung kamen.

Die anderen Gäste waren bereits versammelt.

Der Botanische Garten schloss sich an das Schloss Nymphenburg an. Das Café war an diesem Tag für die Hochzeit geschmückt. Mehrere Stuhlreihen standen für die Gäste bereit. Die hohen Glastüren ließen viel Licht von draußen herein. Die mit Holz besetzten Decken vermittelten ein Gefühl von Behaglichkeit, ebenso wie der Teich draußen, auf dem zahlreiche Seerosen blühten.

Henning saß vorn neben dem Standesbeamten und spielte auf seiner Gitarre. Es war ein Liebeslied, und der Lehrer ließ dabei keinen Blick von Julia.

Die junge Braut stand neben ihrem Vater und hielt einen Strauß aus weißen Rosen und Schleierkraut in der Hand. Zwischen den Blüten baumelte ein Medaillon mit einer kleinen Fotografie. Dr. Frank sah genauer hin und erkannte, dass es das Bild eines Babys war. Julias und Hennings Tochter!

Alexandra war seinem Blick gefolgt und drückte nun fest seine Hand.

„Oh, Stefan, sieh nur: Sie wollen, dass ihre kleine Tochter heute bei ihnen ist. Wenigstens auf der Fotografie. Es ist so traurig“, wisperte sie, und verräterische Tränen schimmerten mit einem Mal in ihren Augen.

Auch er musste schlucken. Wie sehr hätte er es dem jungen Paar gewünscht, dass ihr Kind an diesem Tag bei ihnen hätte sein können.

Julias Vater stand hoch aufgerichtet und wirkte wie eine straff gespannte Bogensehne, die jeden Augenblick reißen konnte. Er wirkte alles andere als glücklich. Eine sorgenvolle Falte grub sich zwischen seinen Augenbrauen ein, und er hielt den Arm seiner Tochter so fest in seinem, als würde er sie am liebsten nicht loslassen.

Henning beendete sein Spiel und trat vor seine junge Verlobte hin.

„Sieh nur, Stefan“, flüsterte Alexandra. „Wie er sie anschaut. So voller Liebe. Die beiden haben sich wirklich gesucht und gefunden. Das ist so romantisch.“

Alexandra rückte ein wenig näher an ihn heran und lehnte den Kopf an seine Schulter. Ihre Locken kitzelten seine Wange, und er legte einen Arm um sie und hielt sie fest.

Wenig später begann die Zeremonie.

Der Standesbeamte begrüßte das Brautpaar und die Gäste und begann zu erzählen, wie sich Julia und ihr Verlobter kennen- und liebengelernt hatten. Er berichtete Anekdoten aus ihrem Alltag und kam schließlich auf das Ehegelöbnis zu sprechen, das ihr Leben von diesem Tage an bestimmen würde.

Als sich das Brautpaar vorn gegenseitig die Liebe und Treue versprach, schmiegte sich Alexandra noch näher an Stefan Frank.

„Ich freue mich so für die beiden“, flüsterte sie. „Sie haben so viel Schlimmes durchgemacht. Wie schrecklich, ein Kind zu verlieren. Dass die Kleine damals nicht gefunden wurde, muss unvorstellbar hart für die Eltern sein.“

Stefan Frank nickte kaum merklich. Einmal mehr befiel ihn das merkwürdige Gefühl, dass es ein Geheimnis hinter dem Unglück gab. Das war natürlich weit hergeholt. Es war ein Unfall gewesen. Weiter nichts. So etwas geschah immer wieder.

Warum nur ließ ihn die flaue Ahnung nicht los, dass die Vergangenheit vorbei, aber nicht vorüber war? Dass es einen dunklen Punkt gab, der bis zum heutigen Tag Einfluss nahm?

Es ist nicht nur die Trauer, grübelte er. Da ist noch mehr. Ich weiß nur nicht, was es ist.

Vorn tauschten Julia und Henning einen liebevollen Kuss. Die Gäste applaudierten und jubelten dem Paar zu, das sich mit einem halb verlegenen, halb glücklichen Lächeln umwandte.

Dr. Frank gönnte ihnen das Glück von Herzen.

Ihm entging jedoch nicht, dass Rolf Wagner alles andere als glücklich wirkte. Julias Vater gratulierte dem Brautpaar als Erster. Als er seinem Schwiegersohn die Hand drückte, beugte er sich zu ihm vor.

„Pass gut auf mein Mädchen auf, Henning“, bat er mit rauer Stimme. „Wehe, du brichst ihr das Herz!“

Der junge Lehrer nahm Julias Hand fest in seine. Sie lächelte, aber ihre traurigen Augen verrieten, dass die Trauer ihre Schatten sogar an diesem Tag auf ihr Leben warf.

Würde sie je über den Verlust hinwegkommen?

***

Nun heiße ich also nicht mehr Julia Wagner, sondern Eichberger. An den Namen muss ich mich erst gewöhnen. Genauso wie an vieles andere. Es ist der erste Schritt auf unserem gemeinsamen Weg.

Henning ist unglaublich lieb zu mir. Wir sind seit einer Woche in Schottland, und die Zeit fliegt dahin. Heute sind wir in Inverness angekommen. Dieser wundervolle Ort liegt mitten in den Highlands. Sein Name bedeutet übersetzt „Mündung des Ness“. Dementsprechend nah ist Loch Ness. Dort möchte ich morgen unbedingt hin. Wer weiß, was sich alles entdecken lässt!

Hier in Inverness sind Teile meiner Lieblingsbuchreihe angesiedelt. Wir sind heute kreuz und quer durch die Stadt gelaufen und waren anschließend noch auf dem Culloden Battlefield, auf dem im achtzehnten Jahrhundert die blutige Schlacht zwischen der englischen Regierung und den Jakobiten geschlagen wurde.