Dr. Stefan Frank Großband 23 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 23 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2420 bis 2429 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1211

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 23

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Ground Picture / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4671-7

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 23

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2420

Die Geliebte meines Freundes

Dr. Stefan Frank 2421

Auch im Herbst kann die Liebe erblühen

Dr. Stefan Frank 2422

Sie darf es nicht erfahren, Dr. Frank!

Dr. Stefan Frank 2423

Das ungewollte Baby

Dr. Stefan Frank 2424

Winterglück

Dr. Stefan Frank 2425

Diesmal für immer

Dr. Stefan Frank 2426

Zwei Herzen und ein großer Wunsch

Dr. Stefan Frank 2427

Manchmal werden Träume wahr

Dr. Stefan Frank 2428

Lass ihn nichts finden, lieber Gott!

Dr. Stefan Frank 2429

Liebe auf verschlungenen Wegen

Guide

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Contents

Die Geliebte meines Freundes

Antonia ahnt nicht, dass ihre Kundin ihre ärgste Feindin ist

W ährend Antonia die grauen Kaschmirpullover im Regal neu sortiert, verrät das Erklingen der Türglocke, dass Kundschaft den Laden für Herrenmode besucht. Erfreut blickt die Geschäftsinhaberin auf.

Eine unglaublich attraktive junge Frau betritt das Geschäft. Freundlich fragt die Verkäuferin, ob sie helfen kann. Sucht die Dame vielleicht ein Geschenk für ihren Mann oder ihren Vater?

„Weder noch!“, raunt die Fremde ihr mit einem Zwinkern zu. „Es handelt sich um meine Affäre. Ich will meinen Liebhaber mit einem ganz besonderen Kleidungsstück überraschen.“

Für einen Moment schleicht sich ein ungutes Gefühl in Antonias Bauch. Sie lehnt es ab, wenn Leute ihre Partner betrügen. Aber andererseits – was geht es sie an? Sie selbst lebt in einer glücklichen Beziehung. Wenn andere ein alternatives Lebensmodell führen wollen, ist das deren Sache.

Liebenswürdig berät sie die Kundin, und dabei wird das Gespräch der beiden immer vertraulicher. Antonia ist fasziniert von dieser selbstbewussten und charismatischen Frau. Allerdings ahnt sie nicht, dass die Affäre dieser Kundin sie durchaus etwas angeht. Besagter Liebhaber ist nämlich Antonias eigener Freund …

„Stefan, du musst jetzt ganz tapfer sein!“ Alexandra Schubert sah ihren Lebensgefährten mit einer Mischung aus Ernst und Belustigung an. Er hatte das Auto eben an einer roten Ampel gestoppt. Nun wartete er geduldig auf Grün. Und er wartete auf die schockierende Ankündigung, die seine Freundin ihm offenbar gleich machen würde.

Alexandra griff nach seinem Hemdsärmel und rieb mit dem Zeigefinger sachte darüber.

„Ich weiß, dass das dein absolutes Lieblingshemd ist, Stefan!“, fing sie mit ihrer Eröffnung an. „Aber es ist inzwischen völlig ausgewaschen und verschlissen! Ich kann dich einfach nicht mehr damit herumlaufen lassen. Du bist Arzt, die Leute erwarten ein gewisses Auftreten von dir. Und das heißt leider: Dein Hemd tritt demnächst seine letzte Reise an.“

„Du sprichst doch nicht etwa vom Altkleidercontainer?“, fragte Stefan Frank entsetzt. Aber er lächelte dabei. Er wusste genau, was sie meinte. Dieses Hemd liebte er zwar über alles, aber es war nun derart oft in Gebrauch gewesen, dass der Stoff stumpf geworden war und ausfranste. Der Kragen war an der Seite eingerissen. Die Nähte gingen an diversen Stellen auf.

Alexandra hatte recht. Er musste sich wohl oder übel von seinem liebsten Hemd trennen.

Endlich schaltete die Ampel um, und Stefan gab Gas. Er lenkte den Wagen behände durch den Mittags-Verkehr, vorbei an einer Baustelle und die Hauptstraße hinunter. So würden sie auf schnellstem Weg zurück in seine Praxis nach Grünwald gelangen. Seine Mittagspause war bald vorbei, und er war kurz entschlossen mit Alexandra zum Imbiss gefahren.

Ein neues Hemd musste her, jawohl! Just als Dr. Frank den festen Entschluss gefasst hatte, sich demnächst neu einzukleiden, fuhren sie bei Männermode Stadler vorbei.

Das alteingesessene Familienunternehmen hatte bis vor Kurzem Stefan Franks Stammpatient Alois Stadler gehört, aber Herr Stadler war im Mai an einem schweren Schlaganfall gestorben. Seitdem regelte seine einzige Tochter Antonia die Geschicke des Ladens.

In der Auslage hingen Herrenhemden in allen Farben und Größen. Stefan Frank trat auf die Bremse, und der Wagen machte einen unsanften Stopp.

Alexandra gab einen leisen Schrei von sich.

„Stefan, was tust du denn da? Du kannst doch nicht einfach eine Vollbremsung hinlegen!“

Dr. Frank manövrierte das Auto in eine Parklücke.

„Kann ich doch! Ich werde Nägel mit Köpfen machen. Es stimmt ja: Ich brauche endlich ein neues Hemd! Und dieses Geschäft hier genießt mein allerhöchstes Vertrauen. Denn rate mal, wo ich mein Lieblingshemd vor vielen Jahren gekauft habe!“

Erwartungsvoll sah er seine Partnerin an. Sie lächelte.

„Doch nicht etwa bei Männermode Stadler ?“ Sie deutete auf das Schaufenster vor ihnen.

Stefan Frank nickte grinsend. Sie stiegen aus, und Seite an Seite betraten sie den kleinen Laden.

Antonia Stadler, die achtundzwanzigjährige Besitzerin des Geschäfts, stand hinter dem Tresen.

„Dr. Frank!“ Ihre Augen leuchteten auf, als sie den Arzt erkannte. Jahrelang war Stefan Frank der Hausarzt ihres Vaters gewesen, und fatalerweise hatte Stefan den Schlaganfall seines Patienten sogar lange im Voraus kommen sehen. Aber Alois Stadler hatte sich mit Händen und Füßen gegen die wichtige Operation gewehrt, die Dr. Frank ihm mehrfach dringend empfohlen hatte.

Dass er dann wirklich an einem schweren Schlaganfall verstorben war, war lediglich die Konsequenz von Starrsinn gewesen.

Der Arzt und die junge Ladenbesitzerin schüttelten einander erfreut die Hände. Neugierig sah sich Dr. Frank in dem Laden um. Antonia hatte nicht sonderlich viel verändert, seit sie das Geschäft übernommen hatte.

Sie hatte für den kleinen Familienbetrieb ihre gut bezahlte Festanstellung in einer großen Modeboutique in der Innenstadt aufgegeben. Es war ihr ein großer Herzenswunsch, das Lebenswerk ihres verstorbenen Vaters fortzuführen. Aber das schien durchaus kein einfaches Unterfangen zu sein.

Es war Dienstagmittag, und der Laden war gähnend leer. Die ganze Einrichtung des Geschäfts wirkte etwas in die Jahre gekommen. Antonia hinter dem Verkaufstisch hatte deutliche Ringe unter den Augen. Es machte den Eindruck, als ob die Geschäfte nicht gerade besonders gut liefen. Umso mehr freute sich Dr. Frank über seinen spontanen Entschluss.

„Ich brauche dringend ein neues Hemd!“, erklärte er. „Am liebsten eines, das diesem hier ähnelt!“ Er zeigte auf das Hemd, das er trug. Antonia musterte es mit dem kritischen Blick einer Mode-Expertin.

„Hm …“, murmelte sie. „Diese Serie gibt es schon länger nicht mehr. Schade eigentlich, denn die Qualität war wirklich herausragend, und der Schnitt steht Ihnen außergewöhnlich gut. Aber ich denke, ich habe da etwas, was Ihnen ebenfalls gefallen wird! Es ist zwar ein anderer Stil, aber ich musste eben spontan daran denken!“

Sie verschwand mit Dr. Frank und Alexandra in den Untiefen ihres Ladens und kniete kurz darauf vor einem Regal.

„Ja, da habe ich es. Das Hemd ist von einem kleinen, feinen Betrieb in Bolivien. Es ist aus einer Mischung aus Seide und Baumwolle gefertigt. Jedes einzelne Hemd der Serie wurde von Hand gefärbt. Die Näherinnen und Färberinnen werden fair am Gewinn beteiligt. Ach ja, und es handelt sich um einen zertifizierten Bio-Betrieb!“

„Wow! Ein schönes Hemd kaufen und damit Gutes tun!“ Dr. Frank lächelte erfreut. Die kräftige Farbe des Hemdes sprach ihn direkt an. Er freute sich, dass Antonia ein ähnlich gutes Verkaufstalent wie ihr Vater war. Sie hatte sofort erkannt, auf was er Wert legte und was ihn begeistern konnte.

Er verschwand mit dem Hemd in der Umkleide. Es passte wie angegossen!

Alexandra seufzte erleichtert auf.

„Darf ich vorstellen?“, sagte sie, als Stefan die Kabine verließ und sich ihr in dem neuen Hemd präsentierte. „Wir sehen hier Stefans neues Lieblingshemd! Ich bin gespannt, wie lange er dieses am Körper tragen wird. Es kann sich auf jeden Fall schon jetzt auf zahlreiche Einsätze freuen!“

Die zwei Frauen lachten erheitert, und Stefan Frank verschwand zurück in der Umkleide.

„Darf ich es direkt anbehalten?“, fiel ihm dann ein. „Meine Patienten werden sich freuen!“

„Aber klar!“ Antonia lachte. Dann ging sie schon mal zur Kasse, um die Rechnung fertigzustellen.

Als Dr. Frank wenige Minuten später seine Kreditkarte über den Tresen schob, nutzte er den Moment, um die junge Ladenbesitzerin doch noch ein wenig auszufragen.

„Wie läuft das Geschäft?“, fragte er vorsichtig. „Ihr Vater hatte ja mit sinkenden Kundenzahlen zu kämpfen. Und seit dort vorne die Dauerbaustelle ist, umfahren viele Münchner diese Straße. Bestimmt ist es recht hart, solch einen Familienbetrieb erfolgreich zu führen!“

Antonia nickte betrübt.

„Sie sprechen mir aus der Seele, Dr. Frank!“, sagte sie. „Ich habe diese Aufgabe voller Zuversicht und Motivation übernommen. Ich war sicher, die Geschäfte im Sinne meines Vaters weiterführen zu können. Ich wollte, dass mein verstorbener Vater stolz auf mich ist!“

Nun schimmerten Tränen in ihren Augen, aber sie schluckte sie tapfer hinunter.

„Tatsache ist, dass kaum noch Kunden in die Boutique kommen“, fuhr sie fort. „Wir haben riesige Lagerbestände, die wir nicht zurückgeben können. Und das mit der Baustelle ist tatsächlich schlecht. So brechen weitere Kunden weg, die lieber im nächsten Einkaufscenter shoppen.“

Alexandra sah die junge Frau mitfühlend an. Man merkte Antonia an, wie viel ihr das Lebenswerk ihres Vaters bedeutete. Aber es waren auch Erschöpfung und Verdruss herauszuhören.

„Seit ich den Laden übernommen habe, leben wir quasi vom Gehalt meines Freundes“, beichtete Antonia etwas verschämt. „Ich bin froh, dass Mike eine recht gut bezahlte Stelle in einer Werbeagentur hat. Ohne seine regelmäßigen Einkünfte könnten wir uns das Geschäft überhaupt nicht leisten.“

„Wie schön, dass Sie einen Partner haben, der Sie finanziell unterstützt!“, erwiderte Dr. Frank. Dieser Mike war ihm auf Anhieb sympathisch. Auch wenn er ihn nicht persönlich kannte.

Eine sanfte Röte schlich sich in Antonias Gesicht. Mit einem verliebten Ausdruck sah sie auf ihre Hände.

„Ja, Mike ist sowieso in jeder Hinsicht ein Glücksgriff!“, entfuhrt es ihr. Sie sah aus wie ein verliebter Teenager. „Wir sind nun schon vier Jahre zusammen. Sobald wir wieder Land sehen, wollen wir heiraten. Natürlich denken wir auch über Kinder nach. Er ist mein absoluter Seelengefährte. Er ist der Mann, mit dem ich alt werden will.“

Sie seufzte.

„Aber es fällt mir schwer, ihm derart auf der Tasche zu liegen. Und er steht enorm unter Druck. Mike weiß, dass an seinem Einkommen alles hängt. Er ist aber noch in der Probezeit. Und er hat furchtbar Angst, dass es am Ende mit einer Festanstellung doch nicht klappen könnte.“

Stefan lauschte mit gemischten Gefühlen. Die Arbeitswelt heutzutage war ein unerbittlicher Kriegsschauplatz geworden. Zumindest kam es dem Grünwalder Arzt hin und wieder so vor. Wie viele seiner Patienten kamen mit Burn-Out zu ihm! Oder sie wandten sich an ihn, weil sie auf der Arbeit gemobbt wurden!

Die Menschen fühlten sich überfordert und gelangten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Viele brachen unter dem steten Druck früher oder später einfach zusammen. Ja, Stefan konnte in etwa erahnen, wie angespannt dieser Mike war. Schließlich ging es nicht nur um ihn, sondern auch um seine Freundin, den Familienbetrieb und seine Zukunftsplanung!

„Ich selbst leide natürlich ohne Ende unter der Situation“, gab Antonia ehrlich zu. „Seit einigen Monaten plagt mich ein stetig wiederkehrendes Pfeifen im Ohr. Es setzt immer wieder aus dem Nichts ein und macht mir das Leben zusätzlich zur Hölle.“

Dr. Frank sah die Tochter seines verstorbenen Patienten mitfühlend an.

„Tinnitus ist ein ernstes Anzeichen für Stress!“, sagte er. „Warum sind Sie nicht längst zu mir in die Praxis gekommen?“

Schuldbewusst wich die junge Frau seinem Blick aus.

„Aber wann denn, Dr. Frank? Ich habe hier keine Angestellten, sondern mache die ganze Arbeit allein. Unter der Woche stehe ich mir von morgens bis abends die Beine in den Bauch. Und an den Wochenenden muss ich oft noch zu Modemessen. Ich muss die Inventur, die Bestellungen und die Buchhaltung selber machen. Sie sehen schon, es wächst mir einfach alles über den Kopf. Arzttermine, ein Stadtbummel oder ein freier Tag – das sind Aktivitäten, die im Moment einfach nicht drin sind.“

Dr. Frank nickte verständnisvoll.

„Ich verstehe Ihre Lage!“, sagte er. „Aber riskieren Sie bitte trotzdem nicht Ihre Gesundheit! Tinnitus ist inzwischen ein echtes Volksleiden, das man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Drei Millionen Deutsche leiden chronisch daran! Es gibt natürlich Formen, die von Entzündungen im Ohr herrühren, aber auch Dauerstress oder psychische Belastungen können einen Tinnitus auslösen. Sie sind ein Paradebeispiel dafür.“

„Ja, ich werde in Zukunft versuchen, mich mehr zu schonen“, versprach Antonia. Aber es war klar, dass sie den guten Vorsatz kaum würde einhalten können. Wenigstens heute Abend würde sie abschalten können. Ihr Freund Mike und sie waren zu einem gemütlichen Kinoabend verabredet.

Antonia reichte Dr. Frank seine Quittung. Das neue Hemd stand ihm wirklich gut.

„Vielen Dank, dass Sie vorbeigeschaut haben!“, sagte Antonia aus tiefstem Herzen. Als Dr. Frank und Alexandra den Laden verließen, bekamen sie gerade noch mit, dass Antonias Handy ging.

Es war ihr Freund Mike, der den geplanten Kinobesuch absagen musste. Sein Vorgesetzter hatte ihn gebeten, abends kurzfristig einen Termin wahrzunehmen.

„Wir holen es nach, Liebes!“, murmelte Mike frustriert in den Hörer.

„Kein Problem, Mike. Ich bin sowieso hundemüde. Ich freue mich, wenn ich mal früh ins Bett komme!“, behauptete Antonia. Deprimiert legte sie auf und begann, die Krawatten farblich neu zu sortieren.

***

„Frau Mayerhoff! Das ist ja eine schöne Überraschung!“ Die erste Patientin nach seiner Mittagspause war die dreiundsiebzigjährige Renate Mayerhoff. Sie war eine lebensfrohe und viel beschäftigte Rentnerin, die selten ohne ihren Partner Hans Schneider anzutreffen war. Offenbar hatte sie ihren Freund heute zu Hause gelassen.

„Wie geht es Herrn Schneider?“, fragte Dr. Frank zur Begrüßung.

„Meinem Freund geht es gut!“, winkte Frau Mayerhoff ab. „Er hat in ein paar Tagen einen Impftermin hier. Dann können Sie ihn selbst nach seiner Gesundheit fragen!“

Dr. Frank nicke schmunzelnd.

Frau Mayerhoff und Herr Schneider lebten seit über zwanzig Jahren in einer wilden Ehe zusammen. Sie waren beide in ihrem früheren Leben mit anderen Partnern verheiratet gewesen. Die Ehen waren jedoch mit Pauken und Trompeten gescheitert.

Irgendwann nach ihren Trennungen hatten die zwei sich kennengelernt und waren rasch ein Herz und eine Seele geworden. Aber sie hatten sich gegenseitig geschworen, niemals den Fehler zu begehen, noch einmal zu heiraten. Eine Scheidung genügte. Also lebten sie nun seit über zwei Jahrzehnten ohne Trauschein zusammen.

„Was führt Sie zu mir?“, fragte Dr. Frank.

Renate Mayerhoff schob den Stoff ihres Hosenbeins nach oben.

„Das hier. Ein scheußlicher Anblick, nicht wahr? Herr Doktor, ich weiß mir kaum noch zu helfen! Es waren mal nur kleine Besenreißer. Aber jetzt mache ich mir so langsam Sorgen.“

Frau Mayerhoff hatte im Lauf der letzten Jahre ausgeprägte Krampfadern an den Beinen entwickelt. Aber sie hatte bislang keinen Grund gesehen, es ihrem Hausarzt zu sagen. Dr. Frank besah sich die blauen Schlängelungen, die sichtbar durch die Haut hindurch schimmerten. An einigen Stellen waren deutliche Knoten zu sehen.

Nein, es war allerhöchste Zeit, dass sich ein Experte Frau Mayerhoffs Varikose besah. Das war der medizinische Fachausdruck für Krampfadern.

„Frau Mayerhoff, es ist gut, dass Sie vorbeigeschaut haben!“, lobte der Hausarzt. „Aber ich werde Ihnen leider nicht weiterhelfen können. Das muss sich ein Facharzt ansehen, der dann eine Entscheidung fällt. Ich überweise Sie an einen sehr fähigen Phlebologen. Dieser Venen-Spezialist wird Ihre Beine genau unter die Lupe nehmen.“

Er schaute seine Patientin ernst an.

„Ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Meist sind die Komplikationen bei Krampfadern lediglich entzündete Venen. Aber es gibt auch Fälle, in denen sich daraus eine Venenthrombose entwickelt. Und eine direkte Folge wäre eine lebensgefährliche Lungenembolie.“

Frau Mayerhoff war blass geworden. Sie war eigentlich eher aus kosmetischen Gründen zu Dr. Frank gegangen. Es war ihr nicht bewusst gewesen, dass Krampfadern ein ernstes Gesundheitsrisiko darstellten.

„Gut, dann werde ich diesen Experten mal aufsuchen …“, stammelte sie verwirrt.

Dr. Frank nickte. „Haben Sie und Ihr Freund eigentlich eine Patientenverfügung?“, fragte er vorsichtig. Das Thema „Lungenembolie“ hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht.

Frau Mayerhoff schob sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich weiß, dass wir so etwas längst hätten aufsetzen müssen!“, gab sie zu. „Wenn einem von uns beiden heute etwas passiert, hätte der Partner kaum irgendwelche Rechte. Hans hat ja noch einen Sohn, mit dem er sich überhaupt nicht versteht. Im schlimmsten Fall dürfte dieser Mann über das Schicksal von Hans entscheiden!“

„Ja“, bestätigte Dr. Frank. „Oder Ihre Tochter würde entscheiden, falls mit Ihnen etwas wäre!“

Frau Mayerhoff nickte ertappt. Auch die Beziehung zu ihrer Tochter war sehr angespannt, und sie waren oft unterschiedlicher Meinung. Was, wenn sie wirklich eine Lungenembolie hatte? Würde dann ihre Tochter über Hans’ Kopf hinweg entscheiden, was mit ihrer Mutter geschah?

Davon abgesehen würde Hans im Falle von Renates Tod nichts erben. Er würde wohl oder übel aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen müssen, denn die Wohnung gehörte offiziell Renate und würde im Todesfall an ihre Tochter gehen.

Sie und Hans hatten weder ein ordentliches Testament, noch hatten sie eine Patientenverfügung.

„Ich fürchte, wir müssen uns wirklich mal daranmachen, diesen Papierkram zu erledigen …“, sagte Frau Mayerhoff leicht zerknirscht.

Dr. Frank nickte ihr aufmunternd zu. Es war absolut sinnvoll, das eher heute als morgen zu machen. Was, wenn einer der beiden morgen ein Pflegefall wurde? Dann würde das jeweilige Kind über das Schicksal seines Elternteils entscheiden. Der Partner hätte rein gar nichts zu melden.

„Sie könnten ihrer Beziehung natürlich endlich auch einen offiziellen Status verleihen!“, schlug Dr. Frank abschließend vor.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Frau Mayerhoff verwirrt. „Denken Sie, wir sollten unsere Liebe vom Notar schriftlich bescheinigen lassen?“

Dr. Frank musste lachen. Es war fast bezaubernd, wie sehr Frau Mayerhoff auf dem Schlauch stand.

„Ich spreche natürlich von einer Eheschließung, Frau Mayerhoff!“, erklärte er. „Damit hätten Sie gegenseitig automatisch alle Rechte!“

Frau Mayerhoff musste nun ebenfalls lachen.

„Ach, zu einer Ehe raten Sie mir also, Herr Doktor. Aber Sie wissen ja, Hans will nicht ein zweites Mal den gleichen Fehler machen. Seine erste Ehe ist furchtbar in die Binsen gegangen. Seine Frau hat ihn nach Strich und Faden betrogen. Sie hat das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erstritten und so dafür gesorgt, dass Hans und sein Sohn nie eine normale Beziehung aufbauen konnten. Sie hat eine große Traurigkeit in sein Leben gebracht. Ich bin sicher, Hans würde niemals wieder heiraten wollen.“

Dr. Frank nickte. „Ja. Er würde wohl niemals wieder diese Frau heiraten wollen. Aber wie sieht es mit Ihnen aus? Immerhin haben Sie zwanzig gemeinsame Jahre mit Bravour geschafft. Und sie beide wirken immer noch glücklich!“

„Dreiundzwanzig Jahre!“, verbesserte Renate Mayerhoff. „Ja, glücklich sind wir wirklich!“, gab sie nachdenklich zu. „Aber eine Heirat ist einfach unvorstellbar!“

***

Rebecca Hirsch stand vor der Fensterscheibe, die hinaus auf den Parkplatz führte, und besah sich ihr Spiegelbild. Toll sah sie aus! Sie war eine echte Erscheinung. Das Dirndl, das sie trug, war maßgeschneidert. Es zeichnete perfekt die Konturen ihres Körpers nach.

Sie war fünfundzwanzig, und das Leben lag vor ihr. Ein sorgloses Leben, denn sie war das einzige Kind des Brauerei-Unternehmers Hirsch und der große Liebling ihres steinreichen Vaters.

Irgendwann würde all das ihr gehören. Sie war Alleinerbin der riesigen Brauerei, die bis nach China, Japan und Brasilien exportierte. Aber auch die dazugehörigen Gasthäuser, die ihre Mutter in München eröffnet hatte, würden irgendwann ihr gehören.

Offiziell war Rebecca als Pressefrau der Brauerei angestellt. Aber natürlich war es eher eine Alibi-Funktion. Die Pressearbeit übernahm ein hoch professionelles Presse-Team. Rebeccas einzige Aufgabe war es, Projekte und Kampagnen abzunicken. Obwohl sie kaum Ahnung von Marketing hatte, oblag ihr immer das letzte Wort. Und sie genoss es sehr, Macht über wichtige Entscheidungen und Mitarbeiter zu haben.

Überhaupt liebte sie Macht, vermutlich hatte sie das von ihrem geschäftstüchtigen Vater geerbt. Das Leben war ein Kampf, und es ging eben darum, als Sieger daraus hervorzugehen. Nicht umsonst hatte ihr Vater es zum zigfachen Millionär gebracht. Er hatte sich schlichtweg erfolgreich durchgebissen.

Rebecca Hirsch bleckte die Zähne. Für einen kurzen Moment sah die dunkelhaarige Schönheit in der Spiegelung des Fensters wie eine hungrige Wölfin aus.

Der Parkplatz war menschenleer. Die Mitarbeiter der Brauerei Hirsch waren längst nach Hause gegangen. Nur noch Rebecca war da und stand wartend in dem hübsch eingerichteten Verkostungszimmer.

Hierher luden sie immer mal wieder Gäste ein, um ihnen das Sortiment der Brauerei Hirsch zu präsentieren. Es war ein gemütlich gestalteter Raum, der ganz im bayerischen Stil gehalten war. Die Deko an Tischen und Wänden passte perfekt zu Rebeccas zünftigem Outfit. Mit dem ausladenden Dekolleté und dem eng geschnürten Schurz fühlte sich Rebecca Hirsch unglaublich sexy.

Jetzt tasteten sich die Lichter eines einsamen Autos über den Parkplatz. Der Wagen hielt, und Rebeccas Herz begann siegessicher zu hüpfen. Sie biss die Zähne fest aufeinander. Fast war ihr, als schmeckte sie Blut. Verborgen hinter dem Vorhang beobachtete sie ihr neuestes Opfer.

Mike Heimbach verließ etwas zögernd sein Auto. Selbst aus der Entfernung sah er müde aus.

Rebecca hatte diesen Mike vor zwei Wochen bei einem Abschluss-Meeting in der Werbeagentur BlickPunkt kennengelernt. Die Brauerei Hirsch wollte nächstes Jahr mit einer neuen Großkampagne starten. Sie hatten verschiedene Werbeagenturen nach Vorschlägen für Kampagnen befragt, und BlickPunkt war bis heute im Rennen.

Es gab noch ein anderes Unternehmen, dessen Ideen ebenfalls ansprechend gewesen waren, aber intern hatte man sich längst auf die Zusammenarbeit mit BlickPunkt geeinigt.

Mike Heimbach war der Hauptansprechpartner für die Brauerei Hirsch. Er hatte die Präsentation der aufwändigen Kampagne geleitet.

Alle waren hin und weg gewesen von den kreativen Ideen und der Originalität des entwickelten Konzepts. Aber Rebecca hatte alles Geschäftliche zu Tode gelangweilt. Sie hatte den ganzen Termin über nur Augen für Mike gehabt

Der achtundzwanzigjährige Mike Heimbach war unglaublich gut aussehend. Er hatte ein mitreißendes Auftreten und einen bestechenden Humor. Außerdem hatte er Rebecca an eine unschuldige Jugendliebe erinnert.

Nicht, dass Rebecca Hirsch auf der Suche nach der Liebe war. Nein, dieses Kapitel würde sie frühestens in ihren Dreißigern angehen. Sie war jung, sie war atemberaubend schön, und sie wollte das Leben genießen. Unzählige Liebhaber säumten ihren Weg. Dabei war es ihr ein besonderer Nervenkitzel, anderen Frauen die Männer abspenstig zu machen.

Ein ähnlicher Kick war es wohl auch bei Mike gewesen. Er hatte ihr vom ersten Moment an gefallen. Als er dann aber während seiner Präsentation seine Freundin erwähnt hatte, hatte das altbekannte Kribbeln bei Rebecca eingesetzt.

Ihr Jagdfieber war unmittelbar entfacht, und sie hatte sich nicht mehr von Mikes Lippen lösen können. Sie wollte, sie musste diesen hübschen Kerl haben. Sie wollte sich selbst beweisen, dass sie anziehend war. Für ein kurzes Abenteuer mit ihr waren die Männer immer bereit, ihre Ehen, festen Partnerschaften und Familien zu riskieren …

Meist erlosch Rebeccas Verlangen, sobald sie die Männer erobert hatte. Der Kick war dann weg. Sie hatte die Bestätigung, dass sie unwiderstehlich war. Dann war es Zeit, sich ein neues Opfer zu suchen. Und sicherlich würde es auch bei Mike Heimbach so sein. Als fester Freund kam er definitiv nicht infrage – Rebecca war reich, und sie würde irgendwann unter ihresgleichen nach einem passenden Partner suchen. Aber die Vorstellung, mit diesem Mike ins Bett zu gehen, war einfach berauschend.

Es klingelte. Noch einmal warf Rebecca einen Blick auf ihr bezauberndes Spiegelbild und ging dann hoch erhobenen Hauptes zum Eingang hinunter.

Als sie öffnete, sah Mike Heimbach sie verunsichert an.

„Guten Abend“, murmelte er. Sein Selbstbewusstsein war wie weggewischt. So ganz allein mit ihr fühlte er sich offenbar unwohl.

„Schön, dass du es einrichten konntest, mich noch einmal zu treffen, Mike!“, flötete Rebecca. Sie duzte ihn ungefragt. „Es gibt da noch ein paar Details der Kampagne, die ich gerne in Ruhe mit dir besprechen würde.“

Mike wirkte ratlos. „Eigentlich sind wir ja alle Punkte beim Treffen vor zwei Wochen durchgegangen“, sagte er. „Aber ja, ich kann gerne Ihre Fragen beantworten.“ Er sah keinen Grund, die Kundin zu duzen.

„Ich habe uns ein kleines Abendessen vorbereitet“, sagte Rebecca zu seiner Verwunderung. „Sicher hast du nach einem langen Tag in der Agentur noch nichts gegessen.“

Das stimmte. Trotzdem kam Mike die Einladung unpassend vor. Das hier war ein Geschäftstermin. Es war sonderbar genug, dass er um diese späte Uhrzeit stattfand. Und wie es schien, waren er und sie die Einzigen, die sich trafen. Es war ihm unangenehm, mit der Tochter des Brauerei-Besitzers in trauter Zweisamkeit zu Abend zu essen, während seine Freundin allein zu Hause saß.

Er dachte an Antonia, und das Herz wurde ihm schwer. Sie arbeitete so viel, und sie hatten kaum Zeit füreinander. Er hatte sich so auf den gemeinsamen Kinoabend gefreut. Aber stattdessen sollte er irgendwelche Fragen klären. Ein Telefonat hätte doch sicher gereicht!

Jetzt folgte er Rebecca, und hintereinander betraten sie das gemütliche Zimmer. Irritiert blieb Mike stehen.

Der rustikale Tisch war hübsch gedeckt, aber die Auswahl der Speisen ließ den Werbefachmann stutzen. In einer hauchdünnen Schüssel lagen riesige Artischockenherzen, deren Oberfläche ölig schimmerte. Auf einer silbernen Platte waren dicke Austern angerichtet. Das Weißbrot war in appetitliche Häppchen geteilt. Es gab fleischige Oliven und üppige Feigen, deren lila Fleisch beinahe überquoll. Das ganze Essen strahlte eine unübersehbare Erotik aus.

Völlig perplex starrte Mike das kleine Festmahl an. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.

Erwartete diese Rebecca ernsthaft, dass er bei Kerzenschein Austern mit ihr schlürfte? Was hatte das mit einem seriösen Geschäftstermin zu tun?

Es war still im Verwaltungsgebäude der Brauerei. Alle anderen Mitarbeiter waren wohl längst nach Hause gegangen.

„Das ist sehr nett, aber ich fürchte, ich habe keinen Hunger“, presste Mike eine Lüge heraus. Rebecca zog eine enttäuschte Schnute. Aber dann zwinkerte sie ihm aufreizend zu. Sie nahm eine dicke Olive zwischen Zeigefinger und Daumen und schob sie sich lasziv in den Mund. Dann kaute sie so langsam darauf herum, dass Mike nicht anders konnte, als ihr dabei zuzusehen.

Wie schön diese Frau war! Und gleichzeitig hatte sie etwas zutiefst Teuflisches an sich. Ein Mitarbeiter der Brauerei hatte Mike gesteckt, dass Rebecca lediglich ihre Unterschrift unter Verträge setzte. Ansonsten waren ihr die Geschäfte egal. Sie hatte genug Arbeit damit, das Geld ihrer Eltern mit beiden Händen zu verprassen. Meist war sie auch gar nicht in München, sondern wohnte in London.

Sicherlich hatte dieser Snack hier ein Vermögen gekostet.

„Bist du sicher, dass du keinen Hunger hast?“, fragte Rebecca mit einem verführerischen Klang in der Stimme.

Sie fasste nach einer zweiten Olive und schob sie Mike einfach in den Mund. Er wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Die runde Frucht erzeugte einen bitteren Geschmack an seinem Gaumen. Er kaute mit gequältem Gesicht.

„Nun sei kein Spielverderber, ich habe mir solch eine Mühe gegeben!“, sagte Rebecca. Sie setzte sich an die Tafel. Tatsächlich hatte die Mühe nur darin bestanden, einen Feinkostladen anzurufen und zwei Honeymoon-Platten zu bestellen. Das Essen war pünktlich geliefert worden, und sie hatte mit der Kreditkarte ihres Vaters bezahlt.

Er ließ Rebecca das meiste durchgehen, und nur hin und wieder pfiff er seine Tochter zurück. Als sie aus einer Laune heraus mit dem neuen Braumeister eine Affäre begonnen hatte, hatte ihr Vater ihr das erste Mal einen Vorwurf gemacht. Die Ehe des Braumeisters war über der Liebschaft zerbrochen. Frau und Kinder waren weg, und der Mann war danach in eine tiefe Krise gestolpert.

Als Rebecca das Techtelmechtel von heute auf morgen wieder beendet hatte, war der Mann psychisch erkrankt. Er hatte seine Anstellung aufgeben müssen. Rebeccas Vater bedauerte noch heute, zwei Jahre später, dass seine Tochter einen seiner besten Mitarbeiter derart aus der Bahn katapultiert hatte.

Aber Mike war nur irgendein Kerl aus einer Agentur. Sobald sie ihn erobert hatte, wäre ihr Jagdtrieb befriedigt. Es würde keine lange Sache werden. Und ihr Vater würde nichts davon erfahren.

Schweren Herzens setzte sich Mike. Er dachte an die Verhandlungen, die immer noch nicht zu Ende waren. Es wäre recht riskant, diese wichtige Kundin vor den Kopf zu stoßen.

„Gut, ich esse gerne mit Ihnen“, sagte er und blieb konsequent beim Sie. „Und wir können auch gerne über die Kampagne reden. Aber ich will alle Missverständnisse direkt aus der Welt räumen. Ich bin seit vier Jahren fest mit meiner Freundin Antonia zusammen. Sobald es ihre berufliche Situation zulässt, werden wir heiraten. Ich bin also ein gebundener Mann. Und ich nehme es sehr ernst mit der Treue.“

Geräuschvoll schlürfte Rebecca eine der Austern. Sie sah ihren Tischgefährten fast mitleidig an.

„Keine Sorge, ich habe auch einen festen Freund“, log sie, um den aufgeschreckten Mike in Sicherheit zu wiegen. Er wirkte erleichtert.

Dann wandte sie eine ihrer liebsten Taktiken an. Sie brachte das Gespräch auf Mikes Freundin. Damit unterstrich sie, dass sie über die Beziehung im Bilde war. Und sie gab vor, die andere Frau zu akzeptieren.

„Was macht deine Freundin beruflich?“, fragte sie ihn also neugierig aus. „Arbeitet sie ebenfalls in der Agentur?“ Es war wichtig, die Konkurrenz in allen Facetten zu kennen.

Auf einmal strahlten Mikes Augen.

„Nein, Antonia kommt aus der Modebranche“, berichtete er.

Er nahm nun doch eine Artischocke.

„Ihr Vater ist vor einem halben Jahr gestorben, und so hat sie über Nacht seinen Laden geerbt. Er hatte ein Modegeschäft für Herren an der Grenze zu Grünwald. Früher war Männermode Stadler ein Begriff in München, aber inzwischen ist der Laden ein wenig in Vergessenheit geraten. Meine Freundin hat mächtig zu kämpfen. Sie will das Familienunternehmen unbedingt retten und arbeitet wortwörtlich Tag und Nacht.“

Er lächelte stolz.

„Sie ist eine unglaubliche Frau und wird es schaffen! Ich bin zuversichtlich, dass Antonia aus dem altmodischen Geschäft über kurz oder lang ein erfolgreiches kleines Unternehmen zaubert.“

Rebecca hing an Mikes Lippen. Wie musste es sein, diesen Mund zu küssen? Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus. Schon spürte sie seine Zungenspitze an ihrer. Schon fühlte sie seine kräftige Umarmung, mit der er sie leidenschaftlich an sich zog.

Aber es war nur ein Tagtraum, denn Mike versuchte alles, um Abstand zwischen sich und Rebecca zu wahren.

Sie tunkte Weißbrot in Olivenöl. Es schimmerte golden.

„Teste mal“, sagte sie. „Ein Hauch von Italien im kalten Münchner November!“ Ungefragt schob sie das feuchte Brotstück zwischen seine Lippen, und verblüfft schluckte er den Happen hinunter.

Eine angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Mike wirkte, als würde er jeden Moment aufstehen und das Treffen beenden wollen.

„Und kannst du deine Freundin in ihrem Geschäft unterstützen?“ Jetzt war es wichtig, das Opfer zu zähmen. Rebecca durfte nicht riskieren, dass Mike vorschnell das Zimmer verließ.

Mike sah seine Gastgeberin unsicher an. Dieses Hin und Her schien ihn zu überfordern.

„Ja, ich unterstütze sie finanziell …“, murmelte er. Mit der Gabel schob er eine einsame Olive über den Teller. „Und hin und wieder helfe ich am Samstagvormittag im Laden aus. Ich wünschte, ich könnte ihr noch eine größere Stütze sein. Seit sie das Geschäft hat, leidet sie an Tinnitus. Früher war sie absolut ausgeglichen.“

Er wirkte deprimiert, und sachte legte Rebecca ihre Hand auf seine. Mike zog seine Hand erschrocken zurück. Die Berührung war ihm zu intim. Es war Zeit für ihn, nach Hause zu gehen.

„Gibt es noch etwas zu besprechen?“, fragte er direkt heraus. „Oder wollten Sie nur mit mir zu Abend essen?“

Rebecca lächelte ihn mit einer entwaffnenden Offenheit an.

„Ich wollte mit dir zu Abend essen, Mike“, gab sie zu. „Und ich wollte testen, wie du auf die Flirtversuche einer hübschen Frau reagierst. Zu meinem Bedauern hast du kein Interesse …“

Auch das gehörte zu ihrem Plan. Sobald sich die Opfer in Sicherheit glaubten, machten sie Fehler. Und dann waren sie dran.

Mike erhob sich.

„Ja, ich habe ja schon gesagt, dass ich treu und ehrlich bin. Ich würde meine Freundin niemals betrügen. Es hat nichts mit Ihnen oder Ihrem Aussehen zu tun. Sie sind wirklich wunderschön. Danke für die Einladung. Aber ich muss jetzt nach Hause.“

Rebecca hatte sich ebenfalls erhoben. Sie begleitete Mike zur Tür. Ihr Parfüm streifte ihn, und er spürte einen Anflug von Schwindel.

„Ich bin wirklich sehr enttäuscht …“, sagte Rebecca mit trauriger Stimme. „Du und ich, das hätte zu gut gepasst. Meinst du, dass du mir zum Trost zumindest einen Abschiedskuss geben kannst? Ganz freundschaftlich und absolut unverfänglich!“ Ihre Stimme klang gurrend und lockend. Hitze schwappte in Mikes Gesicht.

Er dachte an Antonia. Antonia, die seit Monaten müde und angespannt war. Dazu kam die Trauer über ihren verstorbenen Vater. Ihr Intimleben lag zurzeit völlig auf Eis. Und natürlich war es schmeichelhaft, von einer solch attraktiven Frau derart umgarnt zu werden.

Aber er riss sich zusammen. Er würde Antonia niemals hintergehen. Sie beide verband so viel, das würde er auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Er hatte ihr Treue versprochen, und er hielt sich daran. Selbst ein Kuss käme ihm vor wie Hochverrat. Diese Rebecca würde einen anderen finden.

„Nein, auch kein Abschiedskuss …“, wehrte Mike ab. „Danke für den netten Abend.“

Rebecca fasste unversehens nach Mikes Schulter. Sie grub ihre Finger grob in sein Schulterblatt.

„Der Vertrag wegen der Werbekampagne wird in den nächsten Tagen unterschrieben …“, raunte sie. „Ich hoffe, dass nichts mehr dazwischenkommt, das den Deal ernsthaft gefährdet.“ Lauernd sah sie ihr Gegenüber an.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Mike begriff. Hatte Rebecca ihn gerade erpresst? War das der Deal? Ein Kuss von ihm für eine Unterschrift von ihr? Würde sie die aufwändige Kampagne sonst ernsthaft platzen lassen?

Mike wurde es schlecht. Er hatte so viel Zeit und Mühe in die Kampagne gesteckt. Es durfte auf keinen Fall passieren, dass die Kooperation in der letzten Verhandlungsrunde doch noch scheiterte.

„Ich …“ Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Es ist doch nur ein Kuss …“, hauchte Rebecca. Sie näherte sich ihm langsam, ihre Augen durchbohrten ihn. „Es wäre zu schade, wenn ich deinen Vorgesetzten morgen anrufen müsste. Es wäre zu bedauerlich, ihm zu eröffnen, dass die Kampagne nach dem Treffen mit dir nun doch nicht zustande kommt. Was für ein Licht fällt dann auf dich? Stimmt es eigentlich, dass du dich noch in der Probezeit befindest?“

Lähmender Hass stieg in Mike auf. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Seine Hände zitterten, die Knie wurden ihm weich. Aber nicht, weil Rebecca sich ihm wie eine Schlange näherte, sondern weil er ihr ausgeliefert war und er sein Schicksal in ihren Händen wusste. Am liebsten hätte er Reißaus genommen.

„Es ist doch nur ein Kuss, Mike. Und als Gegenleistung ein unterschriebener Vertrag, der deiner Agentur einen Auftrag in Höhe von einer Million Euro einbringen wird. Du wirst dich doch für eine Million Euro von einer schönen Frau küssen lassen?“ Sie lachte perlend auf, als machte sie einen Scherz. Aber es war bitterer Ernst. Würde er nicht parieren, würde sie ihn beruflich vernichten.

Mike schloss die Augen. Er zwang sich, nicht an Antonia zu denken. Antonia, mit der er jeden Abend bei einer Tasse Tee noch zusammensaß. Antonia, mit der er jede Minute des vergangenen Tages noch durchsprach und vor der er keine Geheimnisse hatte.

Jetzt spürte er Rebeccas Lippen auf seinen. Ihr dick aufgetragener Lippenstift legte sich klebrig auf seine Haut. Mit ihrer spitzen Zunge durchbohrte sie seine fest aufeinandergepressten Lippen. Leidenschaftlich drückte sie ihn an die Hauswand und atmete gierig in seinen Mund.

In Mike fühlte sich alles kalt und leer und machtlos an. Er fühlte mit Millionen von Frauen auf der ganzen Welt, die auf diese Art und Weise von Männern benutzt und überwältigt wurden. Wie gut, dass Rebecca dieser eine Kuss zu reichen schien. Er fühlte sich missbraucht. Er fühlte sich seiner Ehre entrissen.

Endlich ließ sie von ihm ab. Sie wischte sich über den Mund, als hätte sie ein Festmahl genossen.

„Das war gut, Mike“, murmelte sie. Dabei hatte er doch gar nichts gemacht! Er hatte nur reglos dagestanden und den Übergriff einfach über sich ergehen lassen. Er hatte sich wie eine Marionette gefühlt.

Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Niemals würde er Antonia das beichten können. Für einen erfolgreichen Geschäftsabschluss hatte er sich prostituiert. Für seine Firma und einen dicken Batzen Geld hatte er seine geliebte Freundin betrogen.

Nein, es war nur ein Kuss. Nur ein Kuss. Das war noch kein Fremdgehen.

Mike taumelte zu seinem Auto und stieg mit rasendem Herzen ein. Dann gab er Gas und fuhr eilig nach Hause.

***

Frau Mayerhoff stand in Unterwäsche im Bad. Sie besah sich vor dem großen Spiegel das ganze Desaster. Sie empfand ihre Beine als furchtbar hässlich. Obgleich Dr. Frank betont hatte, dass viele Frauen in ihrem Alter mit Krampfadern zu kämpfen hatten.

Schon nächste Woche hatte sie ihren Termin beim Experten für Venenerkrankungen. Sie hoffte inständig, dass er ihr helfen würde.

Es klopfte zaghaft. Hans suchte nach ihr.

„Bist du fertig angezogen, Schatz?“, fragte er. „Der Bus kommt in dreißig Minuten!“

Sie beide wollten heute eigentlich einen kleinen Tagesausflug nach Schloss Neuschwanstein machen. Doch beim Anblick ihrer grässlichen Beine war Renate die Lust gründlich vergangen.

„Ich will doch lieber daheimbleiben!“, rief sie ihm durch die geschlossene Badezimmertür zu. „Mir ist nicht wohl. Lass uns stattdessen Karten spielen!“

Vorsichtig schob Hans die Türe auf. Er kannte seine Partnerin wirklich gut. Und er wusste genau, wenn etwas nicht stimmte.

Erschrocken riss Renate ein Handtuch vom Haken und hielt es sich vor ihre nackten Beine.

„Was machst du denn da?“, fragte Hans verwirrt. „Haben wir seit Neuestem Geheimnisse voreinander? Denkst du nicht, dass ich deinen Körper zu Genüge kenne? Renate, wir sind seit dreiundzwanzig Jahren ein Paar!“

Er lächelte sie verliebt an. Obwohl sie ein beachtliches Alter erreicht hatten, hatte das ihrer körperlichen Nähe keinen Abbruch getan. Sie liebten sich regelmäßig, und sie genossen die Zärtlichkeit. Hans und sie kannten jeden Zentimeter voneinander. Trotzdem war es Renate unangenehm, ihm ihre Beine bei Tageslicht zu präsentieren.

Sachte schob er das Handtuch zur Seite.

Beschämt starrte Renate zu Boden.

„Ich will nicht, dass du das ganze Ausmaß der Katastrophe siehst“, murmelte sie. „Im Bett kann ich mich zumindest unter der Decke verstecken. Und das Licht ist aus. Im Alter sollte man sich sowieso nur noch im Dunkeln begegnen.“ Es sollte ein Scherz sein, aber sie klang traurig.

Lächelnd sah Hans seine Renate an. Dann ging er unvermittelt vor ihr in die Hocke. Er ächzte ein wenig, seine Kniescheiben taten weh. Aber tatsächlich kniete er jetzt vor ihr auf dem Boden. Mit unglaublicher Zärtlichkeit küsste er die scheußlichen Besenreißer auf ihren Beinen.

„Lass das …“ Verwirrt machte Renate einen Schritt zurück. „Ich habe nächste Woche meinen Termin. Hoffentlich kann dieser Arzt die Krampfadern irgendwie entfernen.“

„Ach, Renate!“ Mühsam erhob sich Hans wieder. „Weißt du denn nicht, dass ich alles, wirklich alles an dir liebe?“ Er nahm sie sanft in den Arm und drückte sie an sich. „Deine Besenreißer sind mir egal. Deine Lachfalten sind mir egal. Mir ist egal, dass du inzwischen nicht mehr blond, sondern grauhaarig bist. Und mich stört auch nicht, dass dein Rücken immer knackt, wenn du dich im Bett auf die Seite drehst.“

Jetzt mussten sie beide lachen.

„Im Gegenteil. Es war immer mein Wunsch, mit dir alt zu werden. Und genau das ist passiert. Ich freue mich, dass wir nach wie vor glücklich zusammen sind. Und ich hoffe, es werden noch viele weitere Jahre. Außerdem bin ich auch ein alter Kauz. Und du akzeptierst meinen Verfall und sämtliche Schrullen!“

Was Hans da sagte, rührte Renate zutiefst. Was für ein schönes Liebesgeständnis! Nein, es war mehr als das. Hans hatte ihr seine lebenslange Liebe versprochen!

Sie musste an Dr. Frank denken. Wie er gesagt hatte, dass sie beide heiraten sollten. Es hätte einige Vorteile, und eigentlich sprach vieles dafür. Vielleicht täuschte sie sich, dass Hans immer noch so gegen eine Ehe war. Sie selbst fand die Vorstellung schön, von ihm einen Antrag zu bekommen. Aber das würde wohl niemals geschehen. Also lag es an ihr, die Sache weiter zu verfolgen.

Sie schluckte gerührt. Der Gedanke, ihrem Lebensgefährten einen Heiratsantrag zu machen, überwältigte sie. Sie hielt sich an ihm fest und zog ihn eng an sich.

„Ich liebe dich, du alter Kerl!“, flüsterte sie.

„Und ich dich erst, liebe Renate!“

Sie küssten sich. Renate in Unterwäsche und Hans in seinen Ausflugsklamotten.

„Jetzt zieh dich rasch an, damit wir den Bus noch erwischen!“, trieb er seine Partnerin an.

Beschwingt schlüpfte sie in ihre Kleidung.

***

Mit liebevoller Sorgfalt faltete Antonia die hellgrauen Kaschmir-Pullover zusammen. Auch wenn gerade wenig Kundschaft den Weg zu Männermode Stadler fand: Das war kein Grund, nachlässig zu werden. Antonia wollte ihren Job mit voller Hingabe erledigen. Behutsam stapelte sie die luxuriösen Pullover im Regal hinter sich. Dabei summte Antonia leise vor sich hin.

Mike war gestern Abend spät von seinem Termin nach Hause gekommen. Er hatte nach Schnaps gerochen. Offenbar hatte er in der Eckkneipe gegenüber noch einen Absacker getrunken. Das tat er eigentlich nur, wenn er mächtig angespannt war. Antonia gegenüber hatte er aber behauptet, es sei alles bestens gelaufen.

Es ging wohl um einen Millionen-Deal mit einer namhaften Brauerei. Welche genau es war, durfte Mike aus Verschwiegenheitsgründen nicht sagen. Er war verantwortlich für das Gelingen der Kampagne und ging seit Wochen wie auf Kohlen. Wenn der Vertrag endlich unterschrieben war, würde es ihm hoffentlich wieder besser gehen.

Die Türglocke ging, und erfreut hob Antonia den Kopf. Heute hatte sie noch kein einziges Kleidungsstück verkauft. Es wurde Zeit, dass etwas aus ihrem Laden den Besitzer wechselte.

Eine unglaublich attraktive junge Frau betrat das Geschäft. Ihr dunkles Haar floss seidig ihren Rücken hinab. Sie war dezent geschminkt und trug ein teures Parfüm, das sich sofort über den Verkaufsraum legte. Benommen sog Antonia den verführerischen Duft ein.

Die junge Frau trug einen echten Pelz und hatte eine lederne Chanel-Tasche locker um die Schulter geschlungen. Antonia war sicher, dass es kein Imitat, sondern ein Original aus Frankreich war. Wer, um Himmels willen, konnte sich eine Handtasche für zweitausend Euro leisten?

Die junge Frau schenkte Antonia ein strahlendes Lächeln und zeigte eine Reihe perlweißer Zähne.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Antonia verspürte eine leise Verunsicherung. Die Kundin war unglaublich selbstbewusst, und sie strahlte einen Reichtum aus, der auf Antonia einschüchternd wirkte. Diese junge Frau war das krasse Gegenteil zu der übermüdeten und ständig gestressten Antonia. Die eine dunkelhaarig, die andere blond. Sie beide waren absolut gegensätzlich.

Die brünette Kundin nickte auf Antonias Frage.

„Ihr Geschäft wurde mir wärmstens empfohlen“, sagte sie. „Da dachte ich, schaue ich doch einfach mal vorbei! Ich brauche ein Geschenk für einen Herrn. Ein ausgefallenes Hemd, und es darf ruhig etwas kosten.“

Perfekt! Solche Aufträge liebte Antonia. Wenn Geld keine Rolle spielte und die Kundschaft stilbewusst war. Es war eine Wonne, unter diesen Bedingungen Mode zu verkaufen.

„Soll das Hemd für Ihren Vater oder Ihren Ehemann sein?“, fragte Antonia höflich. „Oder ist es für einen Geschäftskunden oder guten Freund? Will er es privat tragen, oder braucht er es für die Arbeit?“

Etwas verlegen sah die Kundin zu Boden. Dann lächelte sie verzagt. Vertraut beugte sie sich zu Antonia hinüber.

„Weder noch!“, flüsterte sie ihr mit einem Zwinkern zu. „Es handelt sich um meine Affäre. Ich will meinen Liebhaber mit einem ganz besonderen Kleidungsstück überraschen. Er liebt Mode und Design und weiß gute Kleidung zu schätzen. Vielleicht haben Sie ja ein ausgefallenes Einzelstück? Haben Sie eine Idee, mit was ich ihm eine Freude bereiten könnte?“

Antonia war rot geworden. Sie hatte vor Mike nur einen Freund gehabt, und beiden war sie immer treu gewesen. Affären war etwas, was in ihrem Weltbild überhaupt nicht existierte. Sie las wohl hin und wieder in Büchern davon, und auch in Filmen war es ein gern genommenes Thema. Aber ihr selbst lag es vollkommen fern, sich heimlich mit dem Mann einer anderen zu treffen. Davon abgesehen war sie eine treue Seele und würde nie auf die Idee kommen, Mike zu hintergehen.

Das vertrauliche Geständnis der jungen Frau verwirrte sie. Sie hatte mit ihr wie zu einer Freundin gesprochen.

Aber dann kehrte die Geschäftstüchtigkeit zurück. Sie führte die Kundin zu der Ecke mit den teuersten Hemden.

„Welche Größe soll es sein?“

Die Kundin überlegte. „Ich würde es mit Größe vierzig probieren“, sagte sie. „Er ist zwar schlank, hat aber einen muskulösen und trainierten Oberkörper.“

Antonia musste an Mike denken, und plötzlich überkam sie Sehnsucht.

„Ist der Herr mutig und selbstbewusst?“, fragte sie und vertrieb den Gedanken.

Die Kundin grinste. „Sagen wir so, er betrügt seine Partnerin. Insofern dürfte es ihm weder an Mut noch an Selbstbewusstsein mangeln.“

Antonia hatte das Gefühl, die Kundin nett anlächeln zu müssen. Aber irgendwie widerstrebte es ihr. Sie fand es nicht gut, wenn sich Frauen mit den Ehemännern von anderen trafen. Und sie fand es nicht gut, wenn Männer ihre Frauen betrogen. Aber sie war Verkäuferin, und natürlich musste sie auch diese Kundin bedienen.

Die Fremde schien Antonias Verunsicherung zu spüren. Sie räusperte sich.

„Ich hoffe, ich habe kein zu unsympathisches Bild von mir gezeichnet …“, murmelte sie. „Ich spanne keiner verheirateten Frau den Partner aus. Das würde ich niemals machen! Nein, meine heimliche Liebschaft hat lediglich eine Freundin. Es scheint unverbindlich zu sein, denn mit der Ehe eilt es den beiden nicht. Die Beziehung ist zwar erst wenige Jahre alt, steht aber offenbar kurz vor dem Ende. Er spielt schon lange mit dem Gedanken, seine unzufriedene Freundin zu verlassen. Schon bevor ich in sein Leben getreten bin.“

Erleichterung kam über Antonia. Die Geschichte ging sie zwar überhaupt nichts an, aber es war in gewisser Weise beruhigend, was die Frau sagte. Also nahm sie drei Hemden aus dem Regal und ging mit der Kundin zurück zum Tresen.

„Ich habe hier ein wirklich extravagantes Hemd“, erklärte sie. „Aber es ist natürlich nicht jedermanns Sache. Ich weiß nicht, welcher Typ Mann ihr Liebhaber ist. Wenn er verwegen und modisch experimentierfreudig ist, könnte ihm dieses Hemd womöglich gefallen.“ Sie strich mit größter Sorgfalt über den seidigen Stoff. Das Muster bestand aus floralen Symbolen.

„Experimentierfreudig?“, erwiderte die attraktive Kundin mit hochgezogenen Augenbrauen. „Nun, mein Liebhaber ist im Bett durchaus zu dem ein oder anderen Experiment bereit. Also denke ich, dass er auch ein derart auffälliges Hemd nicht ablehnen würde!“

Sie kicherte wie ein Schulmädchen. Dann wurde sie schnell wieder ernst.

„Nein, ich rede so locker daher“, seufzte sie. „In Wahrheit sind die Hintergründe natürlich tragisch. Die Freundin meines Liebhabers ist ständig überarbeitet und hat kaum noch Zeit für ihn. Im Bett läuft es entsprechend schlecht zwischen den beiden.“

Mit schlechtem Gewissen musste Antonia daran denken, dass es auch zwischen ihr und Mike schon aufregendere Zeiten gegeben hatte. Aber in letzter Zeit wuchs ihr das Geschäft einfach über den Kopf. Sie hoffte, dass sie irgendwann wieder zu der alten Leidenschaft zurückfinden würden.

Sie kehrte mit ihren Gedanken zu dem Verkaufsgespräch zurück.

„Sehen Sie hier?“

Sie hob das Hemd hoch und zeigte es von beiden Seiten.

„Die Passform ist extra schmal. Das Hemd hat einen sehr angesagten New-Kent-Kragen. Es hat eine verdeckte Knopfleiste und Einknopf-Manschetten, das verleiht ihm eine raffinierte Eleganz. Dieses Kleidungsstück ist zweifellos ein Hingucker und nichts für jeden Tag. Aber mit seinem blumigen Muster kleidet es den außergewöhnlichen Mann. Und wenn ich es richtig verstanden habe, ist Ihr Freund außergewöhnlich. Insofern würde es passen.“

Sie vermied das Wort „Liebhaber“. Es kam ihr einfach unwürdig vor.

„Das ist er in der Tat!“ Die Kundin lächelte verträumt. „Aus welchem Material ist es gemacht?“

Antonia legte das Hemd sorgfältig wieder zusammen.

„Aus Cupro und Baumwolle“, erklärte sie geduldig.

„Was ist Cupro?“ Interessiert berührte die junge Frau den Stoff. Ihr perfekt manikürter Zeigefinger glitt fast schwebend darüber.

„Man nennt es auch Kupferseide“, sagte Antonia. „Es handelt sich um eine textile Faser aus Celluloseregeneraten. Cupro hat einige besondere Eigenschaften. Der Stoff ist atmungsaktiv und lädt nicht statisch auf.“

„Oh. Aber gerade das gefällt mir doch an meinem Lover“, scherzte die Kundin. „Er ist ständig geladen. Oh, er ist ein echt heißer Kerl!“

Nun lächelte Antonia doch. Es schien sich wirklich um eine wilde und leidenschaftliche Affäre zu handeln. Und es war die Angelegenheit dieser Frau und deren Freundes. Es ging Antonia überhaupt nichts an. Trotz ihrer moralischen Abgebrühtheit wirkte die Kundin humorvoll und freundlich.

„Hier hätte ich noch ein eher klassisches weißes Hemd“, sagte Antonia. „Der Mao-Kragen bietet das gewisse Etwas. Der Stoff ist aus reiner Baumwolle und schmeichelt der Haut. Der Tragekomfort ist kaum zu überbieten. Mein Freund trägt dieses Hemd auch, und er liebt es heiß und innig.“

Das Interesse der Kundin schien geweckt.

„Ach, Sie haben einen Freund? Hilft er Ihnen oft hier im Laden?“

Etwas hoffnungslos zog Antonia die Schultern nach oben.

„Er würde ja gerne. Aber er hat selbst einen anstrengenden Job. Er arbeitet für ein großes Werbeunternehmen.“

„Wirklich?“ Die Kundin schien überrascht. „Mein Liebhaber auch! Es geht bei ihm ständig um Bonuszahlungen, irgendwelche Kampagnen und Konkurrenzkämpfe mit anderen Agenturen. Nein, dieses Business wäre nichts für mich. Ich würde sofort wieder einen Tinnitus bekommen.“

Nun war es Antonia, die erstaunt aufhorchte.

„Sie leiden auch unter Tinnitus?“, fragte sie sichtlich berührt.

Die Kundin nickte. „Ja, schon seit über zwei Jahren. Ich hatte einen Todesfall in der Familie, und danach wurde mir einfach alles zu viel. Inzwischen hat sich die Situation wieder entspannt, aber das Pfeifen im Kopf meldet sich immer mal wieder. Haben Sie etwa auch Tinnitus? Die Parallelen in unseren Biografien sind ja kaum zu fassen!“

Antonia nickte. Sie hatten beide Partner, die in der Werbebranche tätig waren. Sie hatten einen Todesfall bewältigen müssen. Und sie kannten sich beide mit Tinnitus aus. Antonia spürte eine plötzliche Verbundenheit mit der Fremden. Wie schön wäre es, sie als Freundin zu haben!

„Ja. Auch bei mir haben die Beschwerden nach dem Tod meines Vaters eingesetzt. Durch den Laden kam viel Stress und Arbeit in mein Leben. Ich denke, ich habe mich schlicht übernommen“, sagte sie leise.

Nachdenklich nickte die Kundin.

„Ja, man muss wissen, wo die eigenen Grenzen sind. Ich kann Ihnen übrigens noch einen Tipp geben: Oft wird Tinnitus auch durch Beschwerden im Kiefergelenk ausgelöst. Sie sollten es also mal mit einem Besuch bei einem Physiotherapeuten versuchen!“

Interessiert lauschte Antonia. Sie hatte demnächst einen Termin bei Dr. Frank und würde mit ihm diesen Vorschlag besprechen.

„Nun hören wir aber auf, über Krankheiten zu reden!“, sagte Antonia dann. „Immerhin wollten wir doch ein Geschenk für Ihren feurigen Liebhaber suchen!“

Sie machte sich daran, das dritte Hemd vor der Kundin auszubreiten. Aber diese winkte dankend ab.

„Nein, Sie haben mich doch längst überzeugt. Mein Liebhaber ist genau der Typ für das extravagante Hemd. Das Muster ist frech, auffällig und einzigartig. Gehe ich recht in der Annahme, dass das Hemd nicht ganz billig ist?“

Antonia nickte. „Ja. Es ist von einem britischen Modedesigner. Die Hemden, die er entwirft, sind leider hochpreisig, genießen aber Kultstatus. Sie haben Glück, denn ich wechsle gerade das Sortiment. Das Exemplar hier sollte eigentlich vierhundertfünfzig Euro kosten.“

Es kam ihr selbst grotesk vor, eine solch hohe Summe für ein einzelnes Hemd zu verlangen. Aber die Kundin verzog keine Miene.

„Ich gebe Ihnen einen Rabatt“, sagte Antonia. „Sie können das schöne Stück für dreihundertachtzig Euro haben.“

„Für meinen Liebhaber ist mir nichts zu teuer“, seufzte die mondäne Kundin. „Übrigens, wollen wir nicht Du zueinander sagen?“

Antonia merkte eine fast kindliche Freude. Hatte sie sich nicht eben noch gewünscht, eine Freundin wie diese Frau zu haben? Und schon schuf die Fremde die nötige Brücke.

„Sehr gerne!“, sagte Antonia deshalb. Sie schlug das ausgefallene Hemd in Seidenpapier ein. Ob der Liebhaber dieser schönen Frau kapieren würde, was für ein teures Geschenk sie ihm machte? Nur wenige Männer in München würden mit solch einem wertvollen Hemd durch die Gegend spazieren.

„Ich zahle mit Karte!“, erklärte die Fremde.

Antonia zog die Karte durch das Gerät. Rebecca hieß die Frau. Was für ein geheimnisvoller Name!

Schwungvoll unterschrieb Rebecca Hirsch den Beleg.

„Ich will nicht aufdringlich wirken, aber ich habe den Eindruck, wir beide haben uns viel zu erzählen“, sagte sie und ließ ihre Kreditkarte in ihrem ledernen Portemonnaie verschwinden. „Hättest du Lust, dich am Sonntagnachmittag mit mir im Café zu treffen?“ Auffordernd sah Rebecca Antonia an.

Antonia spürte, wie vor Freude Hitze in ihr Gesicht schwappte. So lange schon hatte sie keine Verabredung mehr gehabt. Und so lange schon hatte niemand ihr signalisiert, dass er mit ihr befreundet sein wollte. Ja, eine lebenserfahrene und selbstbewusste Frau wie diese Rebecca war ein Glückstreffer. Vielleicht war das der Beginn einer spannenden Frauen-Freundschaft.

„Wir könnten uns im englischen Teehaus treffen!“, schlug Antonia wie beschwipst vor. „Sonntag passt prima!“

Rebecca lächelte Antonia zufrieden an. Dann verschwand sie mit ihrem teuren Herrenhemd unter dem Arm hüftschwingend nach draußen.

***

„Guten Morgen, Herr Schneider!“ Erfreut schüttelte Dr. Frank dem rüstigen Rentner die Hand. Herr Schneider setzte sich ihm gegenüber.

„Sie haben einen Termin zur Grippeimpfung …“ Dr. Frank sah auf seine Unterlagen. „Ich bin kein Freund vorschneller Impfungen“, gab der Hausarzt zu. „Aber für eine gewisse Gesellschaftsgruppe ist es durchaus sinnvoll.“

„Und dazu gehören Kinder und Alte!“, spöttelte der alte Herr fröhlich.

Dr. Frank musste lächeln.

„Das wollte ich damit nicht ausdrücken!“, behauptete er. „Auch Menschen, die Kontakt mit vielen Leuten haben und ständig in Gesellschaft sind, sollten über eine entsprechende Impfung nachdenken. Wie geht es übrigens Ihrer Frau?“

„Meiner Freundin!“, korrigierte Herr Schneider und hob mahnend die Hand. „Machen Sie aus einem freien Mann keinen Sklaven der Ehe!“

Dr. Frank lehnte sich bequem zurück. „Oh. Sie haben auf mich noch nie wie der Sklave von Frau Mayerhoff gewirkt. Im Gegenteil: Sie beide sind doch ein Herz und eine Seele!“

Herr Schneider nickte. „Ja, sie haben schon recht. Aber wer weiß, vielleicht liegt unser langes Glück wirklich an der Entscheidung, nie geheiratet zu haben. Meine erste Ehe endete ja bereits im fünften Jahr. Es war grauenhaft. Ich will gar nicht daran denken!“

Mitfühlend lauschte Dr. Frank.

„Aber das ist zum Glück lange her!“, erinnerte er sein Gegenüber. „Mit Frau Mayerhoff sind Sie seit zwanzig Jahren zusammen!“

„Dreiundzwanzig!“, korrigierte der Rentner. „Trotzdem käme es weder ihr noch mir je in den Sinn, den Hafen der Ehe noch einmal anzusteuern.“

„Warum denn nicht?“, fragte Dr. Frank. Er war gespannt, was Frau Mayerhoffs Partner zu dieser entscheidenden Frage sagen würde. Der Arzt hegte den tief sitzenden Verdacht, dass auch Herr Schneider in Wahrheit durchaus aufgeschlossen für eine Heirat war.

„Na ja, Sie kennen ja meine Renate!“, setzte Herr Schneider zu einer Erklärung an. „Sie war froh, als ihre unglückliche erste Ehe endlich geschieden war. Über Jahre reagierte sie auf Ringe regelrecht allergisch. Sie weigerte sich außerdem, zu Hochzeiten zu gehen.“

Dr. Frank war nicht bewusst gewesen, dass es so schlimm für die stets gut gelaunte Frau Mayerhoff gewesen war. Manchmal bargen die Biografien seiner Patienten traurige Geheimnisse. Viele Lebensläufe waren geprägt von einer düsteren Vergangenheit, die ihre kalten Klauen bis in die Gegenwart ausstreckte.

„Ich bin einfach der Meinung, dass man sich eine gewisse Sicherheit zugestehen sollte“, sagte Dr. Frank, nachdem sein Patient mit seinen Ausführungen geendet hatte. „Sie sind in einem Alter, in dem sich von heute auf morgen sehr vieles ändern kann. Das gilt natürlich für jeden Menschen und jede Situation. Aber in Ihrem Alter sind bestimmte Krankheiten oder Gebrechen einfach wahrscheinlicher als in jüngeren Jahren.“

Etwas bedrückt folgte Hans Schneider den Worten seines Arztes.

„Ich habe mit meinen Anfang siebzig eigentlich noch nicht vor, so schnell abzutreten!“, protestierte er. „Und Sie sagen es doch selbst: Ich bin kerngesund!“

Das stimmte. Wieder und wieder beteuerte Dr. Frank, wie gesund und vital Herr Schneider war. Aber dennoch …

„Und trotzdem!“, hakte Dr. Frank ein. „Sie können Ihr Lebtag sehr gesund gewesen sein und im Alter dann doch Alzheimer oder Parkinson entwickeln. Sie können ungünstig stürzen und von jetzt auf gleich ans Haus gefesselt sein. Scheinbar harmlose Altersbeschwerden könnten sich zu schweren Leiden auswachsen. Sie könnten ein Pflegefall werden. Und einer von Ihnen wird definitiv vor dem anderen sterben. Welche Rechte hat der Hinterbliebene dann?“

Herr Schneider zog die Stirn in Falten.

„Herr Frank, malen Sie doch den Teufel nicht an die Wand! Mir wird ja schon ganz blümerant, wenn ich Ihren düsteren Prophezeiungen folge …“ Er kicherte, denn im Grunde war er ein vernünftiger Mensch. Er wusste sehr wohl, dass an Dr. Franks Worten ein Funke Wahrheit war.

Was, wenn Renate plötzlich bettlägerig war und ihre unsympathische Tochter sämtliche Entscheidungen fällen durfte? Herr Schneider konnte sich lebhaft vorstellen, wie er mit der zänkischen Tochter seiner geliebten Renate am Tisch saß und sich ihre neunmalklugen Vorträge anhören durfte.

Aber auch umgekehrt! Was, wenn ihm etwas passierte? Würde Renate die Kraft haben, sich mit seinem unausgeglichenen und verbitterten Sohn auseinanderzusetzen? Vermutlich nicht.

Aber zum Glück war das alles Zukunftsmusik. Denn im Moment waren sie beide bei bester Gesundheit. All diese Fragen würden erst in vielen Jahren ein Thema sein.

„Hat Ihre Freundin schon einen Termin beim Venen-Spezialist?“, unterbrach Dr. Frank seine Gedanken.

Herr Schneider kratzte sich unglücklich am Kopf. Ja, da war doch was! Die lästigen Krampfadern, die seiner lieben Renate das Leben zurzeit so vermiesten. Ihn hatten die blauen Adern überhaupt nicht gestört. Aber seit sie ihm eröffnet hatte, dass schlimmstenfalls eine Lungenembolie drohte, machte er sich berechtigte Sorgen.

„Ich stimme Ihnen ja zu, dass im Grunde nichts dagegenspricht, unsere Beziehung endlich in seriöse Bahnen zu lenken!“, gestand Herr Schneider. „Aber im Ernst: Renate ist Ehe-geschädigt. Würde ich ihr einen Antrag machen, würde sie auf und davon rennen!“

„Sind Sie sich da sicher?“, bohrte Dr. Frank vorsichtig nach.

Herr Schneider überlegte.

„Na ja, ganz sicher bin ich natürlich nicht. In den letzten Jahren nimmt Renate wieder begeistert an Hochzeiten teil. Ja, und hin und wieder schaut sie im Fernsehen diese romantischen Shows mit irgendwelchen Heiratskandidaten. Ich habe sie sogar schon mal beim Weinen vor dem Fernseher ertappt. Und das nur, weil ein völlig fremdes Paar live vor der Kamera heiratete!“

Hans Schneider und Dr. Frank mussten lachen.

„Da sehen Sie es doch!“, sagte Stefan Frank. „Was vor vielen Jahren einmal gegolten hat, muss heute überhaupt nicht mehr stimmen. Im Lauf der Jahre hat sich Ihre Renate sicherlich mit Ihrer Vergangenheit ausgesöhnt. Und bestimmt hat sich ihre Einstellung zur Ehe geändert. Sie ist wieder offen für Romantik. Mit Ihnen an der Seite hat sie den besten Beweis dafür, dass es die lebenslange Liebe wirklich gibt!“

Gerührt lauschte der Rentner den Worten seines Hausarztes.

Eine Weile schwiegen sie. Ein verrückter Gedanke nistete sich in Herrn Schneiders Kopf ein. Ja, er würde Renate einen Antrag machen! Er würde sie bitten, endlich offiziell seine Frau zu werden.

Frau Schneider? Frau Mayerhoff-Schneider? Wie sollten sie sich nennen? Eigentlich waren ihm solche Details völlig egal. Wenn sie es verlangte, würde er auch ihren Namen tragen. Heute war das durchaus möglich, und die Idee reizte ihn. Herr und Frau Mayerhoff … Das klang irgendwie stimmig!

„Herr Schneider?“ Erst jetzt bemerkte Herr Schneider, dass sein Arzt mit ihm gesprochen hatte. Aber er war so in Gedanken gewesen, dass er Dr. Franks Worte überhaupt nicht vernommen hatte.

„Oh, entschuldigen Sie! Ich war gedanklich eben ganz woanders!“ Herr Schneider wurde rot.

Stefan Frank nickte. „Ich wollte vorschlagen, dass wir uns nun endlich um Ihre Impfung kümmern. Ich rufe gleich nach Schwester Martha. Sie bereitet dann alles vor!“

***

Nachdenklich und mit tieftraurigem Blick starrte Mike Heimbach in das sprudelnde Wasser. Er hatte eben eine Kopfschmerztablette in einem Glas Mineralwasser aufgelöst. Aber er wusste jetzt schon, dass das bittere Gebräu seine Migräne nicht würde vertreiben können. Der Schmerz rührte von seinem schlechten Gewissen her. Er konnte es immer noch nicht fassen.

Hatte er sich gestern Abend wirklich dieser verschlagenen Tochter des Brauerei-Besitzers willenlos ausgeliefert? Hatte er sich von ihr küssen lassen, als wäre er ein Spielzeug von ihr? Ein Spielzeug, mit dem sie nach Lust und Laune alles Mögliche anstellen konnte?

Er erinnerte sich an ihre gierige Zunge, die brutal in seinen Mund gestoßen war. Wie ein wildes Tier hatte sie sich an ihm bedient. Er fühlte sich missbraucht und absolut schäbig. Dazu kam das dumpfe Gefühl, Antonia hintergangen zu haben.

Antonia war die treuste Seele, die man sich nur vorstellen konnte. Und niemals wäre ihr das Gleiche wie Mike passiert. Sie hätte ihm vermutlich längst von der Erpressung erzählt. Und sie hätte mit ihm gemeinsam eine Lösung gefunden.

Aber was für eine Lösung sollte das sein? Rebecca Hirsch hatte jede Möglichkeit, ihn beruflich fertigzumachen.

Sein Vorgesetzter kam eben mit einem frisch gebrühten Kaffee vorbei.

„Mike, mein Bester!“ Er stellte ihm die dampfende Tasse vor die Nase, als wäre er Mikes Assistent. Diese Freundlichkeit war ein neuer Zug. Sein Chef war eigentlich kein Mensch höflicher Gesten. Aber Rebecca Hirsch hatte offenbar heute früh mit ihm telefoniert. Sie hatte am Telefon angedeutet, dass sie den Vertrag schon bald unterschreiben würde.

Mike Heimbach schob das Glas mit der aufgelösten Schmerztablette zur Seite und nippte stattdessen an seinem Kaffee. Ja, die Wärme tat gut und vertrieb seinen Kater.

Nach dem grauenvollen Abendessen mit Rebecca Hirsch hatte sich Mike gestern Nacht noch reumütig in seine Stammkneipe verzogen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Antonia nach diesem Treuebruch gegenüberzutreten. Er hatte sich hemmungslos allein am Tresen betrunken. Und er war erst nach Hause gegangen, als Antonia schon tief und fest geschlafen hatte.