Dr. Stefan Frank Großband 27 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 27 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2460 bis 2469 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1200

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 27

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Chalabala/iStockphoto

ISBN: 978-3-7517-6486-5

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 27

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2460

Manchmal werden Sommerträume wahr

Dr. Stefan Frank 2461

Zuflucht in deinen Armen

Dr. Stefan Frank 2462

Du bist doch meine Schwester

Dr. Stefan Frank 2463

Noteinsatz für Dr. Frank

Dr. Stefan Frank 2464

Glück kann doch so einfach sein

Dr. Stefan Frank 2465

Stiller Abschied

Dr. Stefan Frank 2466

Die Hochzeitsplanerin

Dr. Stefan Frank 2467

Unsere große Chance

Dr. Stefan Frank 2468

Nicht immer gewinnt, wer Erster wird

Dr. Stefan Frank 2469

Im falschen Leben

Guide

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Contents

Manchmal werden Sommerträume wahr

Roman um eine junge Frau und ihr großes Glück

D ie Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser des Chiemsees, während sich Jenny in ihrem Ruderboot von den sanften Wellen treiben lässt. Alles könnte perfekt sein, wenn … ja, wenn vieles in ihrem Leben nur ganz anders wäre. Momentan sind viele Umstände schwierig und traurig. Es sind Probleme, die sich vielleicht sogar irgendwie ändern ließen, für die Jenny aber keine Lösung findet. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als von der Erfüllung ihrer Wünsche zu träumen. Wenigstens in ihrer Vorstellung ist dann einen kleinen Moment lang alles gut.

Doch die junge Frau ahnt eines nicht: Dieser Sommer könnte ihr Leben für immer verändern. Wer weiß – vielleicht werden Träume manchmal doch wahr und Sehnsüchte gestillt?

Warum fallen mir die schlagfertigen Antworten eigentlich immer erst hinterher ein?

Jenny grub die Zähne in die Unterlippe, während sie sich kräftig in die Ruder stemmte und das Boot weit hinaus auf den Chiemsee brachte.

Der Bootsverleiher hatte sie mitleidig gemustert, als sie ihn nach einem Wasserfahrzeug gefragt hatte. Ob sie etwa ganz allein auf den See rudern wolle? Das wäre aber schade. So ein hübsches junges Ding wie sie! Jenny war purpurrot geworden und hatte nur gestammelt, dass sie gern allein war. Dann hatte sie sich in das erstbeste Boot gesetzt und war losgerudert, als gälte es ihr Leben.

Ihre Schüchternheit ärgerte sie. Was war schon dabei, wenn eine Frau allein rausruderte? Nichts! Sie hätte einfach kontern müssen. Die Frage war nur: Was hätte sie erwidern können? Ich trainiere für den Iron Women? Dazu ein Augenzwinkern. Ja, das hätte den Verleiher vermutlich staunen lassen. Nur leider kam sie erst jetzt darauf, und der Verleih lag bereits zwanzig Minuten hinter ihr.

Seufzend holte Jenny die Ruder ein und ließ sich von den Wellen treiben. Es war ein herrlicher Augusttag. Die Sonne ließ das Wasser glitzern, als wäre es mit winzigen Diamanten übersät. Ein veilchenblauer Himmel wölbte sich über Bayern und versprach weiterhin schönes Wetter. Ein paar Enten jagten sich über den See. Ansonsten war nur das Plätschern der Wellen zu hören, die gegen den Bootsrumpf schlugen.

Vor Jenny breitete sich das Alpenvorland aus. Die Gipfel waren in leichten Dunst gehüllt, ein weiteres Zeichen für eine stabile Wetterlage.

Drei Inseln ragten aus dem Wasser: die Fraueninsel mit dem Kloster, die Herreninsel mit dem Schloss von König Ludwig II. und die Krautinsel, auf der zahlreiche Vögel brüteten und die man deshalb nicht betreten durfte.

Jenny war schon öfter hier am See gewesen, als sie zählen konnte. Ihre Familie bewirtschaftete einen Bauernhof wenige Fahrradminuten vom Ufer entfernt, und Jenny liebte den See und die Inseln sehr.

Wenn sie nur besser hätte kontern können! Eine gute Antwort fiel ihr oft viel zu spät oder gar nicht ein. So ging das doch nicht weiter! Sie hatte zwei ältere Brüder, die es als ihre Aufgabe betrachteten, Jenny zu beschützen. Das war gut gemeint, aber sie wollte für sich selbst einstehen können. Dazu gehörte eben auch, die richtigen Worte im passenden Moment zu finden. Ob sie das üben könnte?

Vielleicht finde ich daheim in der Bücherei eine Anleitung, grübelte sie. Es muss doch auch anderen Menschen so gehen wie mir. Oder etwa nicht? Nun, Hanna kennt solche Schwierigkeiten nicht. Meine Schwester war noch nie um ein Wort verlegen. Sie kann einen zu Boden quasseln, wenn sie es darauf anlegt. Ja, sie …

Ein Stich fuhr Jenny ins Herz, als sie an ihre Schwester dachte. Hanna war ein Jahr älter als sie selbst. Früher hatten sie sich nahegestanden und alles voneinander gewusst, aber seit einer bitteren Herbstnacht hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Und das hatte auch seinen Grund …

Jenny strich sich eine lange braune Haarsträhne aus der Stirn. Nicht darüber nachgrübeln, ermahnte sie sich selbst. Das bringt nichts. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen.

Sie breitete eine Decke über der Sitzbank aus, legte sich auf das Polster und schloss die Augen. Es war wunderbar, sich so treiben zu lassen. In der Früh war sie zeitig aufgestanden und hatte ihre Arbeit auf dem Hof erledigt. Davon zwackten ihr nun gehörig die Muskeln, und sie genoss die stille Pause auf dem See.

Gemächlich dümpelte ihr Ruderboot auf den Wellen, und die Sonne schien angenehm warm auf sie herab. Wie von selbst drifteten Jennys Gedanken davon.

Sie arbeitete gern auf dem Hof ihrer Eltern, aber noch lieber würde sie sich etwas Eigenes aufbauen. Das war ihr Traum. Den Hof würden ihre beiden Brüder eines Tages von den Eltern übernehmen. Sie brauchten Jennys Hilfe nicht unbedingt. Und sie selbst würde am liebsten etwas mit Tieren machen. Ein Hundesalon, ja, das würde ihr gefallen. Dafür hatte sie Geschick. Allerdings …

Ein lautes Tuten riss Jenny aus ihren Gedanken. Plötzlich schwankte ihr Ruderboot bedrohlich! Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Eine schnittige weiße Yacht steuerte nur eine Armlänge von ihr entfernt vorbei. An Deck stand ein Mann und hielt das Steuer fest in den Händen. Mehrere goldene Ketten glitzerten in seiner Brustbehaarung. Sein Bauch hing über die Badehose. Zumindest nahm Jenny das an. Es war nicht eindeutig zu erkennen, ob er wirklich eine anhatte.

Er funkelte sie wütend an.

„Aus dem Weg, Mädchen! Hast du etwa keine Augen im Kopf?“

Jennys Gedanken stoben auseinander wie aufgeschreckte Spatzen. Was sollte sie nun erwidern? Sie zermarterte sich den Kopf, aber der war auf einmal wie leergefegt. Ödnis. Nichts. Kein einziges Wort wollte ihr einfallen. Dabei musste er sie doch gesehen haben. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, nicht so nah an ihr kleines Ruderboot heranzusegeln.

„Weiber am Ruder“, schnaubte ihr Gegenüber und drehte ab.

Keine Augen im Kopf. Keine Augen im Kopf. Wie ein Echo hallten seine Worte in ihrem Verstand wieder. Keine Augen im Kopf? Ha, jetzt weiß ich es! Jenny straffte sich.

„Das wäre bei manchen Zeitgenossen gar nicht schlecht!“, rief sie. Sie blickte der Yacht nach, die inzwischen schon halb um die Herreninsel herum war. Unwahrscheinlich, dass der Mann am Steuer sie noch gehört hatte. Vielleicht war das auch besser so.

Jenny setzte sich wieder auf die Ruderbank und beschloss, zum Verleih zurückzurudern. Ihre gebuchte Stunde würde fast herum sein, bis sie dort war …

Bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, schaukelte ihr Boot erneut heftiger, jedoch nicht so wild wie eben noch. Rund zweihundert Meter entfernt steuerte ein Passagierschiff den Steg an der Herreninsel an. Es war ein Raddampfer.

Jenny blickte ihm versonnen nach – und bemerkte auf einmal, dass sich zwei Arme hilfesuchend zwischen dem Dampfer und ihr aus dem Wasser reckten. Ein Mensch schwamm dort. Oder, nein, er war am Ertrinken! Nun hörte sie auch seinen gurgelnden Hilferuf.

„Ach, du liebe Zeit!“ Hastig streifte sie ihr T-Shirt und die Sandalen ab. Nur noch mit einem Bikini bekleidet, hechtete sie kopfüber ins Wasser und kraulte zu dem Ertrinkenden hinüber. Der Mann versank soeben unter der Oberfläche, aber Jenny packte beherzt zu, schlang ihm die Arme von hinten unter die Achseln und zog ihn hinter sich her zum Ufer der Herreninsel.

Er schlug aus, strampelte und kämpfte gegen ihren Griff, aber sie ließ nicht locker. Neben ihnen paddelte ein Hund im Wasser. Er musste dem Unbekannten gehören.

Bis zum Ufer war es nicht weit. Jenny zerrte den Mann an Land und sank keuchend neben ihm in den Sand. Er hustete, krümmte sich und spuckte Wasser aus. Ein Schwall. Noch einer. Endlich ließ sein Husten nach, und er atmete ruhiger.

„Geht es wieder?“ Jenny setzte sich auf und sah ihn prüfend an.

„Ja“, schnaufte er und spuckte noch einmal Wasser aus. „Geht schon. Aber … mein Rucksack … ich habe ihn im Wasser verloren.“

„Herrje. Ich werde ihn suchen.“ Jenny stemmte sich hoch, watete noch einmal zurück ins Wasser und schwamm zu der Stelle, an der sie den Unbekannten entdeckt hatte. Hier in Ufernähe war der See nicht allzu tief und das Wasser herrlich klar. Jenny schaute sich um und entdeckte den Rucksack. Sie tauchte, um ihn heraufzuholen.

Auf dem Weg zurück zum Ufer packte sie ihr Ruderboot am Rand und zog es hinter sich her an Land, ehe es abgetrieben werden konnte.

Erleichtert ließ sie sich wieder in den Sand sinken.

Das wäre geschafft!

„Hier, bitte! Ihre Sachen sind vermutlich alle nass geworden, aber wenigstens sind sie wieder da“, sagte sie und legte dem Unbekannten den Rucksack hin. „Sagen Sie, was haben Sie denn da drin? Ziegelsteine?“

„Bücher“, gestand er. „Ich kann mich nie nur für ein Buch entscheiden, wenn ich einen Ausflug mache, deshalb nehme ich immer mehrere mit.“

„Auch eine Form des Fitnesstrainings.“

„Stimmt.“ Der Mann lachte leise. Wasser rann ihm aus den blonden Haaren über das Gesicht. Seine Statur war eher hager und sehnig, seine Haut blass, als würde er nicht oft hinaus an die frische Luft kommen. Er mochte nur ein paar Jahre älter als Jenny sein und trug eine Brille mit dunklem Rand. Es war ein Wunder, dass er sie nicht auch verloren hatte. „Einen Fotoapparat haben Sie nicht zufällig gefunden, oder?“

„Tut mir leid. Nein.“

„Ich habe meine Kamera fallen gelassen, als ich von Bord gefallen bin. Das war irgendwo da drüben.“ Er wedelte in die Richtung, aus der das Passagierschiff gekommen war.

„Oh! Sie waren auf dem Raddampfer?“

„Ja, ich wollte ihn fotografieren. So groß wie möglich. Dabei bin ich über Bord gefallen. Leider kann ich nicht schwimmen.“

„Hat Ihren Sturz denn niemand bemerkt? An Bord muss es doch Rettungsringe geben.“

„Sicherlich, aber es waren mehrere Schulklassen mit dem Raddampfer unterwegs. Sie haben so einen Wirbel gemacht. Vermutlich wäre es nicht einmal aufgefallen, wenn wir unterwegs einen Eisberg gerammt hätten.“

„Nun, wenigstens hätten Sie dann eine Eisscholle zum Festhalten gehabt.“

„Da ist was dran.“ Sympathische Lachfältchen gruben sich um seine Augen ein, als er lächelte. „Jedenfalls werde ich keinen Fuß mehr auf so ein Schiff setzen.“

„Dann haben Sie leider ein Problem. Das hier ist nämlich eine Insel. Hier kommt man nur schwimmend oder mit dem Boot weg.“

„Auch das noch“, murmelte er.

„Ich kann Sie nachher mitnehmen.“ Jenny deutete auf ihr Ruderboot.

„Etwa damit? Das Ding ist kaum größer als eine Nussschale. Ist das überhaupt sicher?“

„Wenn Sie noch mal ins Wasser fallen, hole ich Sie raus. Versprochen. Immerhin haben wir inzwischen schon Übung darin.“ Sie zwinkerte ihm zu und erntete ein breites Grinsen. Nicht zu glauben, wie leicht es war, sich mit ihm zu unterhalten. Beinahe so, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen. Dabei brachte sie sonst kaum ein Wort heraus!

Sein Hund tappte näher und schüttelte sich, dass das Wasser nach allen Seiten flog. Unwillkürlich lehnte sich Jenny ein Stück zurück.

„Genug, Nelly“, mahnte der Unbekannte. „Wir sind wirklich schon nass genug.“

Die Hündin blickte zu ihm auf, als hätte sie jedes Wort verstanden. Mit ihrem hellbraunen, leicht gelockten Fell und den Schlappohren erinnerte sie an einen Mix aus Spaniel und Pudel. Mit ihren braunen Knopfaugen blickte sie aufmerksam und freundlich.

„Was für eine Rasse ist das?“

„Nelly ist ein Cockapoo.“

„Äh, Gesundheit?“, erwiderte Jenny trocken.

Er lachte. „Sie ist wirklich einer. Cockapoos sind kleine Temperamentsbündel. Klug, anhänglich und lebhaft. Nelly hat früher meiner Großmutter gehört. Nach ihrem Tod habe ich das Tierchen aufgenommen. Anfangs war es hart für die Kleine. Sie hat meine Großmutter sehr vermisst.“

„Das kann ich mir vorstellen. Es ist hart, einen geliebten Menschen zu verlieren. Darf ich Nelly streicheln?“

„Nur zu. Das mag sie.“

Jenny ließ die Hündin an ihrer Hand schnuppern und kraulte sie. Nelly schmiegte sich zutraulich an sie.

„Ich bin übrigens Pascal“, stellte der junge Mann sich vor.

„Ich heiße Jenny. Jenny Birkner.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Jenny. Und das meine ich wirklich so. Ohne Sie hätte mein Urlaub ein vorzeitiges und schlimmes Ende genommen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für mich so einfach in den See gestürzt haben.“

„Na ja, ich konnte Sie doch nicht ertrinken lassen. Wer sollte sich denn sonst um Nelly kümmern?“ Sie zwinkerte ihm zu. „Woher kommen Sie?“

„Aus München. Und Sie? Machen Sie auch Urlaub am Chiemsee?“

„Nein, ich wohne hier. Meine Familie bewirtschaftet einen Bauernhof. Nicht weit von hier.“ Sie deutete mit der Hand die Richtung an. „Dort leben meine Eltern, meine beiden Brüder und … ich.“

Falls Pascal ihr leichtes Zögern auffiel, so ließ er es sich nicht anmerken.

„Es muss schön sein, auf einem Bauernhof zu leben“, sagte er versonnen. „Viel Natur, Tiere und frische Luft. Ich dagegen hocke von früh bis spät an meinem Rechner.“

„Was machen Sie denn beruflich?“

„Ach, so Computerzeug.“ Er winkte ab. „Fragen Sie lieber nicht nach. Die Leute schlafen regelmäßig ein, wenn ich davon erzähle.“

Seine bescheidene Art gefiel ihr. Sie kannte Männer, die stundenlang über ihre Arbeit sprechen konnten und sich kein bisschen für ihr Gegenüber interessierten. Pascal schien anders zu sein. Ein wenig schüchtern sogar. Fast bedauerte sie es, als er sie bat, ihn zurück nach Prien zu bringen. Doch dann rief sie sich selbst zur Ordnung.

Je eher sich unsere Wege trennen, umso besser. Er ist nur auf Urlaub hier und reist bald wieder heim. Dann würde jede Beziehung an der Geografie zugrunde gehen. Ich werde ihn in Prien absetzen. Danach sehen wir uns vermutlich nie wieder …

***

In der Praxis von Dr. Frank war es drückend warm. Nicht einmal die Ventilatoren, die in jedem Raum aufgestellt waren, konnten daran etwas ändern. Die Hitze von draußen kroch durch jede Ritze und fand selbst einen Weg zwischen den geschlossenen Jalousien hindurch.

„Gibt es für Arzthelferinnen eigentlich auch Hitzefrei?“, erkundigte sich Schwester Martha und fächelte sich mit einem Briefumschlag Luft zu. Ihr rundes Gesicht war gerötet, und Schweiß perlte von ihrer Stirn.

„Solange das Wartezimmer voll besetzt ist, sehe ich da schwarz“, erwiderte Stefan Frank bedauernd.

„Ich hatte schon befürchtet, dass Sie das sagen würden. Dann werde ich mir jetzt eben eine Schüssel mit kaltem Wasser füllen, meine Füße hineintauchen und mir vorstellen, ich wäre an der See.“

„Sie können ja noch etwas Salz mit ins Wasser tun, dann wird es authentischer“, neckte Stefan Frank seine Helferin.

„Scherzen Sie nur“, brummelte sie. „Aber bei dieser Hitze funktioniere ich einfach nicht richtig. Zwanzig Grad genügen mir völlig.“

„Leider kann man das Wetter noch nicht beim Versandhaus bestellen.“

„Das wäre manchmal gar nicht schlecht.“ Schwester Martha deutete auf das Glas mit Saft, das auf dem Empfangspult stand. „Der ist für Sie, Chef. Ich habe ihn selbst aus Orangen und Karotten gepresst und extra zwei Stunden kaltgestellt.“

„Köstlich.“ Er nahm einen langen Schluck und nickte zufrieden. „Das kühlt wunderbar ab. Vielen Dank, Martha.“

„Bei diesen Temperaturen reicht eine flüssige Ernährung völlig aus. Vielleicht schwitze ich mir sogar ein paar Pfunde ab, dann hat die Strapaze wenigstens etwas Gutes.“ Sie wedelte sich weiter Luft zu, dann besann sie sich und reichte ihm den Umschlag. „Den hätte ich fast vergessen. Kam gerade mit der Post.“

„Was ist denn das?“

„Reklame von einem Praxisausstatter.“

„Ah, nun, eigentlich brauchen wir momentan nichts Neues.“

„Das habe ich dem Vertreter schon am Telefon gesagt, aber er hat den Prospekt trotzdem geschickt. Sie wissen ja, wie das ist: Diese Vertreter wollen nur Ihr Bestes.“

„Mein Geld, meinen Sie“, erwiderte Stefan Frank trocken.

„Genau das.“ Sie lachte leise.

„Na gut, ich werde mir den Prospekt heute Abend einmal anschauen. Vielleicht finde ich etwas, was wir neu anschaffen könnten.“ Er nahm das Kuvert mit in sein Sprechzimmer und rief seine nächste Patientin auf.

An diesem Tag ging es in seiner Praxis wieder rund. Seit dem frühen Morgen gaben sich die Patienten die Klinke in die Hand. Eigentlich hatte er bereits Feierabend, aber als Hausarzt schaute er nicht auf die Uhr, wenn er gebraucht wurde. Was sollte er auch tun? Etwa Patienten wegschicken? Nein, das kam für ihn nicht infrage.

Nach einem kurzen Anklopfen kam Lore Birkner herein. Die Achtundsechzigjährige war eine kleine, drahtige Frau mit fransig geschnittenen kurzen Haaren und einem fröhlichen Zwinkern in den Augen.

Das Leben hatte es nicht immer gut mit ihr gemeint. Ihr erster Mann war schon nach wenigen Ehejahren bei einem Unfall mit seinem Traktor ums Leben gekommen. Und ihr zweiter Ehemann hatte einen Infarkt nicht überlebt. Seit rund zehn Jahren war sie allein. Lore hatte sich ihren Lebensmut aber durch alle Tiefen bewahrt.

„Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, Frau Birkner.“ Stefan Frank stand auf und reichte seiner Patientin die Hand, ehe er ihr einen Platz anbot.

„Oh, das macht nichts“, winkte sie ab. „Ich hatte mir ein Buch mitgebracht, da ist die Zeit wie im Fluge vergangen.“

„Das freut mich zu hören. Wie geht es Ihnen denn?“

„Im Grunde blendend, wenn nur meine Arthrose nicht wäre.“ Sorgenvoll schaute sie auf ihre verkrümmten Finger. Ihre Erkrankung zerstörte die Knorpelschicht ihrer Gelenke. Das war nicht nur schmerzhaft, es griff auch die Knochen an, sorgte für Entzündungen und Schwellungen.

Der Gelenkverschleiß ließ sich mit Physiotherapie und Medikamenten hinauszögern, ganz stoppen konnte man ihn jedoch nicht. Er schritt mit den Jahren immer weiter voran, und bei Lore Birkner war es bereits schlimm.

Dr. Frank hatte sie zu einigen Tests geschickt und sah nun die Unterlagen mit den Ergebnissen durch. Wie er befürchtet hatte, war der Verlauf schlimmer geworden.

„Besonders stark ist Ihre rechte Hand betroffen. Wir sollten darüber nachdenken, die Gelenke operativ zu versteifen, um die Beschwerden zu lindern.“

„Dann könnte ich die Hand noch weniger gebrauchen als jetzt, nicht wahr? Nein, das geht nicht, Herr Doktor. Ich bin Rechtshänder. Ich muss meine Finger bewegen können.“

„Leider wird Ihnen das zunehmend Schmerzen bereiten.“

„Das ist mir klar, aber das muss ich halt hinnehmen.“

Lore Birkner sah ihren Arzt versonnen an.

„Ich weiß, Sie raten mir zu einer Operation und anschließend zur Kur, aber ich weiß auch, dass all diesen Behandlungen Grenzen gesetzt sind. Dauerhaft wird mir das alles nicht helfen. Sobald der Herbst kommt und mit ihm das nasskalte Wetter, wird alles schlimmer werden. Das kenne ich schon, und davor graut es mir. Deshalb habe ich beschlossen, in den Süden zu ziehen. Dort ist das Klima milder und damit besser für meine schmerzenden Gelenke.“

„Sie wollen umziehen?“

„Nach Mallorca. Nicht in eine von diesen Touristenhochburgen, sondern ins Hinterland, wo es ruhiger ist. Ich habe dort Freunde. Mein zweiter Mann hat mir genug Geld hinterlassen, sodass ich ausgesorgt habe. Und die Sprache beherrsche ich auch.“

„Das klingt, als hätten Sie das alles schon gut durchdacht.“

„Das habe ich. Ich werde Sie als meinen Hausarzt vermissen. Und meine Familie wird mir fehlen. Ich hoffe sehr, sie werden mich oft besuchen.“

„Im sonnigen Süden? Ich vermute, Sie werden sich vor lauter Besuchen nicht retten können. Vermutlich schaue ich sogar selbst einmal vorbei.“

„Das würde mich freuen.“ Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. „Bevor ich umziehen kann, muss ich nur noch klären, was aus meinem Haus wird. Es ist schon lange zu groß für mich alleine. Der Garten will schließlich auch versorgt sein. Mein Sohn hat seinen Hof, er braucht das Haus nicht. Deshalb habe ich beschlossen, es meinen beiden Enkelinnen zu schenken.“

„Jenny und Hanna? Sind die beiden nicht …“

„Einander spinnefeind? Ja, das sind sie leider.“ Die Großmutter nickte bekümmert. „Genau das würde ich gern ändern. Ich hoffe, dass es ein Anstoß zur Versöhnung für sie ist, wenn sie mein Haus bekommen.“

„Wollen die beiden überhaupt nach München ziehen? Jenny lebt doch bei ihren Eltern am Chiemsee, nicht wahr?“

„Das ist richtig. Allerdings sollte sie das elterliche Nest einmal verlassen. Es wird höchste Zeit. Und der Zank zwischen Hanna und ihr währt auch schon viel zu lange. Ich wünsche den beiden sehr, dass sie sich endlich versöhnen.“

„Und wenn Ihr Plan nicht aufgeht? Was, wenn es anstelle einer Versöhnung nur Mord und Totschlag gibt?“

Die Seniorin schwieg sekundenlang.

„Dann brauchen wir einen neuen Plan“, erwiderte sie schließlich bedächtig.

***

Eine bunte Hühnerschar pickte auf dem Bauernhof der Familie Birkner verstreute Körner auf. Die Hennen durften sich frei bewegen, entfernten sich aber niemals so weit vom Hof, dass sie außer Sicht gerieten. Am Gartenzaun wippten die Sonnenblumen sacht im lauen Sommerwind.

Jenny war vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und hatte beschlossen, das warme Wetter zu nutzen und die Himbeeren zu ernten, die vor dem Haus wuchsen. Behutsam pflückte sie die leuchtend rosigen Früchte ab und malte sich aus, wie sie daraus Konfitüre kochen würde. Auf einem frisch gebackenen Brötchen gab es nichts Besseres.

„Hallo.“ Ein bärtiger Wanderer war am Tor stehen geblieben und stemmte die Daumen unter die Riemen seines Rucksacks.

„Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?“ Jenny stellte ihren Korb auf dem Gartentisch ab.

„Ich fürchte, ich habe mich verlaufen. Ich muss nach Prien, aber der Ort kommt und kommt einfach nicht.“

„Gehen Sie einfach weiter die Dorfstraße entlang, und biegen Sie an dem Marterl links ab, dann können Sie Ihr Ziel gar nicht verfehlen.“

„Wirklich? Das hört sich gut an. Wie weit ist es denn noch?“

„Zu Fuß? Etwa vierzig Minuten.“

„Ein ganz schönes Stück.“

„Das ist wahr. Kann ich Ihnen ein Glas Milch oder Wasser zur Erfrischung anbieten, bevor Sie weiterwandern?“

„Aus Milch und Wasser mache ich mir leider nichts, aber vielleicht haben Sie auch etwas Stärkeres da?“

„Einen Schnaps, meinen Sie? Das würde ich bei dieser Hitze nicht empfehlen.“

„Was würdest du mir denn empfehlen, Süße?“ Der Unbekannte rückte näher und legte ihr zu der vertraulichen Anrede plötzlich eine Hand auf den Hintern. Jenny wich zurück und funkelte ihn an, aber bevor sie ihn in seine Schranken weisen konnte, stürmte ihr älterer Bruder über den Hof und schob sich vor sie wie ein lebendiges Schutzschild.

„Verschwinden Sie hier!“, schnaufte Lukas. „Auf der Stelle. Und wenn Sie Ihre Finger nicht von meiner Schwester lassen, werden Sie mich kennenlernen.“

„Sie …“ Der Wanderer schob verärgert die Augenbrauen zusammen, wagte jedoch keinen Einwand. Ein Wunder war das freilich nicht, denn Lukas war einen Kopf größer und wesentlich kräftiger als er. Hoch ragte er über dem Unbekannten auf. „Also schön, ich gehe ja schon“, murrte dieser und stapfte davon.

„Alles in Ordnung?“ Lukas sah Jenny prüfend an. „Hat er dir etwas getan?“

„Zum Glück nicht. Du hättest dich aber nicht einmischen müssen. Ich hätte das schon selbst geregelt.“

„Hey, wozu sind ältere Brüder da?“ Lukas zwinkerte ihr zu.

Jenny wusste, dass er herzensgut war und nur auf sie aufpassen wollte, aber sie sehnte sich danach, endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Es war bequem, immer behütet zu sein, allerdings wollte sie sich gern etwas aufbauen. Am liebsten einen Hundesalon. Sie wusste, dass sie das konnte, weil sie schon längst die Hunde vom Hof und aus der Nachbarschaft trimmte.

Allerdings war ihr Ziel hochgesteckt. Sie brauchte nicht nur einen Salon, sondern auch die nötige Ausrüstung für ihr Ziel. Dazu kamen Kosten für die Werbung, damit sich ihr Geschäft überhaupt herumsprach. Keine Frage: Es war ein enormes Risiko, und keine Bank war bereit, ihr das nötige Geld zu leihen. Jedenfalls nicht ohne Sicherheit.

Während ihr Bruder in den Stall ging, blickte Jenny nachdenklich in den blauen Nachmittagshimmel. Was Männer anging, hatte sie kein Glück. Ihre erste große Liebe hatte sie betrogen, und ihr zweiter Freund war mit ihren Ersparnissen auf und davon. Seitdem hatte sie die Nase voll von Beziehungen.

Womöglich wird alles immer so weiterlaufen wie jetzt. Ich werde bei meiner Familie wohnen, weil ich keine Mittel habe, um mich selbstständig zu machen. Und von der Liebe kann ich nur träumen … Gedankenverloren nahm sie den Korb mit Früchten und ging ins Haus. Sie wollte die Himbeeren putzen und zu Konfitüre einkochen, solange sie noch frisch waren.

Die Küche war das Herzstück ihres Elternhauses. An dem grob gezimmerten Holztisch saßen sie jeden Abend beisammen, aßen und besprachen die Ereignisse des Tages. Seitdem Jenny und ihre Geschwister alt genug waren, um am Herd zu stehen, kochte jedes Familienmitglied eine Woche lang für die anderen, ehe gewechselt wurde.

In dieser Woche war Leon an der Reihe. Er war Vegetarier, deshalb würden sie sieben Tage lang fleischlos essen.

Jenny setzte den Korb auf dem Tisch ab und stutzte. Auf der geblümten Tischdecke lag ein Brief. Er war an sie adressiert und in der vertrauten Handschrift ihrer Großmutter beschriftet. Nanu? Was hatte Oma ihr denn zu schreiben? Normalerweise telefonierten sie regelmäßig.

Jenny setzte sich und riss das Kuvert auf. Sie überflog das Schreiben, blinzelte verwirrt und las erneut.

Meine liebe Enkelin, wie du weißt, marschiere ich auf die siebzig zu. Meine Arthrose wird nicht besser. Unsere kalten Winter bekommen mir nicht mehr so gut, deshalb habe ich beschlossen, nach Mallorca zu ziehen. Mein Haus ist ohnehin zu groß für mich alleine geworden.

Ich habe entschieden, es deiner Schwester und dir zu schenken. Ihr könnt und sollt dort sechs Monate lang zusammenwohnen. Dann gehört es euch. Nutzt es, wie es euch richtig erscheint. Ich weiß, ihr werdet gut darauf achten. Deine dich liebende Oma Lore

Mallorca? Ach, Oma, dann lebst du ja noch weiter weg. Und dein Haus? Für Hanna und mich? Aber was sollen wir denn … und wie? Etwa gemeinsam? Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Das würde niemals gut gehen.

Jenny schüttelte ungläubig den Kopf.

Die Nachricht kam unerwartet und ließ ihre Gedanken durcheinanderwirbeln wie Blütenstaub auf einer Frühlingswiese.

Omas Villa ist wunderschön. Sie steht in Grünwald. Weit genug von der Münchner Innenstadt entfernt, um ein ruhiges Leben zu führen, aber nah genug, um bei Bedarf rasch überallhin zu gelangen. Das Haus verfügt über zwei Eingänge. Damit wäre es perfekt für meine Pläne geeignet. Ich könnte meinen Hundesalon eröffnen und endlich auf eigenen Beinen stehen. Wäre da nur nicht die Bedingung mit Hanna …

Jenny überlegte hin und her und griff unsicher zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Großmutter. Es klingelte einmal, dann war Lore am Apparat.

„Ja, hallo?“

„Oma? Ich bin es, Jenny.“

„Grüß dich, mein Spatz. Wie schön, dass du anrufst. Ich habe mir schon ausgerechnet, dass du meinen Brief heute bekommen und dich melden würdest.“

„Möchtest du wirklich so weit wegziehen?“

„Ja und nein. Ich würde auch gern hier in der Heimat bleiben, aber es spricht einfach zu viel dagegen. Das Haus, das Klima – und ehrlich gesagt, ich freue mich darauf, noch einmal neu anzufangen. Ich werde auch nicht aus der Welt sein. Die Insel ist nur einen kurzen Flug von München entfernt.“

„Das stimmt schon, aber du wirst mir furchtbar fehlen.“

„Du mir auch, aber ihr könnt mich ganz oft besuchen.“

„Das mache ich auf jeden Fall.“ Jenny zögerte. „Ist es dein Ernst, dass du Hanna und mir dein Haus schenken möchtest?“

„Ja, das habe ich so beschlossen. Deine beiden Brüder werden jeweils den halben Hauswert in Geld bekommen. Das ist gerecht, denke ich. Sie könnten mit der Villa nichts anfangen, fest verwurzelt, wie sie auf dem Hof sind. Und Hanna und du bekommt zusammen das Haus.“

„Müssen wir es wirklich zusammen bewohnen? Könntest du mir nicht auch lieber das Geld geben? Davon könnte ich einen Laden anmieten und mich selbstständig machen.“

„Das geht nicht, Jenny“, versicherte ihre Großmutter ernst. „Euer Zank währt schon viel zu lange. Ihr seid Schwestern. Ich hoffe, ihr findet einen Weg, um miteinander auszukommen.“

„Und wenn wir das nicht schaffen?“

„Dann könnt ihr das Haus leider nicht bekommen.“

Jenny grub die Zähne in die Unterlippe. Sie kannte ihre Großmutter. Wenn diese sich einmal etwas vorgenommen hatte, konnte nichts und niemand sie davon abbringen. Darin war ihre Schwester ihr nicht ganz unähnlich. Da war nichts zu machen. Ihre Großmutter hatte entschieden.

Verflixt!, wirbelte es ihr durch den Kopf. Dann muss ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und mit Hanna reden. Das kann ja was werden!

***

Ihr Magen rebellierte, als hätte sie zu viel Sprudelwasser getrunken. Jenny legte den Kopf in den Nacken und blickte an dem fünfgeschossigen Wohnhaus mit der gelben Fassade empor. Zwei uralte Linden säumten den Eingang. Auf der nahen Wiese spielten Kinder mit einem Ball Fangen.

Hanna wohnte im Dachgeschoss. Das hatte Jenny von ihren Eltern erfahren. Sie selbst war noch nicht hier gewesen. Seit dem Streit hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Wie lange war das her? Drei Jahre? Wohl eher dreieinhalb. Ihre Großmutter hatte recht, der Zank währte schon viel zu lange. Trotzdem konnte sich Jenny nicht aufraffen, zu klingeln.

Sie kaufte sich im nahen Coffeeshop einen Latte macchiato und lief einmal um den Block. Dabei ließ sie sich Zeit, blieb immer wieder stehen und nippte an ihrem Getränk. Sie kämpfte mit sich. Sollte sie es tun? Oder einfach wieder gehen? Niemand zwang sie, sich der Konfrontation mit ihrer Schwester zu stellen. Wenn sie ging, konnte sie ihr Leben wie gewohnt weiterführen. So schlecht war es nun wirklich nicht …

Schließlich stand sie wieder vor der Haustür.

Also schön. Es half ja alles nichts. Sie gab sich einen Ruck und stieg die fünf Stufen zur Eingangstür hinauf.

H. Birkner , stand auf dem Klingelschild. Jenny presste den Daumen auf die Klingel und hörte wenig später den Summer. Sie drückte die Tür auf und stieg die Treppe nach oben. Ein wenig fühlte es sich so an, als wäre sie ins Büro des Direktors gerufen worden.

An der Wohnungstür wartete ihre Schwester. Hanna trug weiße Leggings und ein rotes Longshirt . Dazu lief sie barfuß. Ihre braunen Haare waren kürzer als früher und reichten ihr bis zu den Ohrläppchen. In ihren dunklen Augen funkelte eine unbändige Neugier auf das Leben.

Schon in der Schule hatte sie Journalistin werden wollen und für die Schülerzeitung geschrieben. Hanna liebte es, den Dingen auf den Grund zu gehen und zu berichten, was sie herausfand. So war es schon immer gewesen.

Ihre Stirn kräuselte sich, als sie Jenny erblickte.

„Du bist nicht der Postbote.“

„Nein.“ Jenny musste kurz innehalten und zu Atem kommen. „Ich bringe weder Bücher noch Blumen. Nur ein Friedensangebot.“

„Ein Friedensangebot. Du.“ Ihre Schwester sah sie so ungläubig an, als hätte sie ihr soeben ein Rendezvous mit ihrem Lieblingsschauspieler offeriert.

„Darf ich reinkommen?“

Hanna zögerte kurz, dann trat sie von der Tür zurück und ließ ihre Schwester eintreten. Die Wohnung war hell und modern eingerichtet. Die Farben Weiß und Hellgrün dominierten den Flur und auch das Wohnzimmer. So waren jeweils zwei Wände weiß und zwei hellgrün gemalert. Die Bilderrahmen, die Kissen und sogar die Anbauwand waren hellgrün. Durch die offene Balkontür wehten warme Sommerluft und der Geruch von frisch gemähtem Rasen herein.

„Möchtest du etwas trinken?“

„Danke, ich hatte gerade einen Kaffee.“ Unsicher blickte Jenny auf ihren leeren Becher.

„Gib ihn mir. Ich werfe ihn für dich weg. Weißt du eigentlich, wie viel Energie und Rohstoffe in so einem Becher stecken? Und dann verwendet man ihn keine Viertelstunde und wirft ihn weg. So eine Verschwendung.“ Hannas Blick war tadelnd.

„Hast du darüber schon einmal einen Artikel geschrieben?“

„Nein, aber das sagt einem der gesunde Menschenverstand.“

Jenny zuckte zusammen. Ihre Schwester würde es ihr nicht leichtmachen. Das war offensichtlich. Hatte Tobias ihre offene Art gemocht? Oder waren es ihre langen Beine gewesen, die ihm gefallen hatten? Etwas an ihrer Schwester hatte ihn dazu gebracht, seine Beziehung mit ihr zu vergessen und die Nacht mit Hanna zu verbringen …

Nein, schob sie die bitteren Erinnerungen hastig beiseite. Nicht mehr in den alten Geschichten wühlen, das bringt nur Schlamm und Kummer ans Tageslicht.

„Warum bist du hier?“ Hanna setzte sich in den Sessel, winkelte ein Bein an und blickte sie abwartend an.

„Ich habe ein Schreiben von unserer Großmutter erhalten. Sie möchte, dass wir uns versöhnen. Außerdem will sie uns ihr Haus überschreiben. Es gibt dabei nur eine Bedingung …“

„Wir müssen es ein halbes Jahr zusammen unter einem Dach aushalten.“ Hanna war bereits im Bilde. „Ich hätte nicht gedacht, dass du ihren Vorschlag in Erwägung ziehen würdest.“

„Doch, das tue ich. Sie hat nämlich recht. Unser Streit trennt uns schon viel zu lange. Wir kennen einander kaum noch. Dabei sind wir Schwestern.“

„Nichts als hohle Worte“, warf Hanna ihr vor.

„Das ist nicht wahr. So denke ich wirklich. Außerdem würde ich das Haus gern übernehmen.“

„Willst du daheim etwa ausziehen?“

„Ja, und ich möchte etwas Eigenes aufbauen. Einen Hundesalon. Großmutters Haus würde sich hervorragend eignen. Mein Laden würde dich auch überhaupt nicht stören, weil wir zwei Eingänge hätten …“

„Du musst gar nicht weiterreden.“ Hanna hob eine Hand. „Ich denke nicht daran, mich darauf einzulassen.“

„Was?“ Verwirrt blinzelte Jenny ihre Schwester an. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Du willst Großmutters Angebot ausschlagen?“

„Das habe ich schon getan. Ich habe sie vorhin angerufen und ihr gesagt, dass ich das nicht machen kann.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich meine Integrität verlieren würde, wenn ich anders entscheiden würde.“

„Deine Integrität?“ Jenny schnappte nach Luft. „War es etwa integer, mit meinem Freund zu schlafen?“ Hanna schwieg, aber ihre Nasenflügel zuckten und verrieten, dass sie nicht so ruhig war, wie sie sich gab. „Warum willst du nicht wenigstens darüber nachdenken?“

„Weil ich das bereits getan habe, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ablehnen muss. Ich hatte auch nicht erwartet, dass du bereit bist, deine Seele für dieses Haus zu verkaufen. Du verabscheust mich so abgrundtief, dass ein Zusammenleben unerträglich wäre.“

„Ich … ich verabscheue dich nicht.“

„Ach, wirklich nicht?“

„Du hast mich verletzt und mir Tobias ausgespannt, aber ich verabscheue dich nicht. Du bist meine Schwester, Hanna.“

„In den vergangenen dreieinhalb Jahren schien dir das aber ziemlich egal zu sein.“

„Was hast du denn erwartet? Dass ich einfach vergesse, was du getan hast?“

„Was ich getan habe?“, fuhr Hanna auf. „Du hast keine Ahnung, was ich getan habe. Das spielt jetzt aber auch keine Rolle mehr. Ich kann und werde nicht mit dir unter einem Dach wohnen. Ende der Geschichte.“

„Ist das etwa dein letztes Wort?“

„So ist es.“

Jenny funkelte ihre Schwester empört an. Das durfte doch nicht wahr sein! Zuerst spannte Hanna ihr den Freund aus, und nun gab sie sich dermaßen unversöhnlich, als wäre die Situation damals umgekehrt gewesen! Das war nicht fair!

Ein melodischer Gong kündigte einen weiteren Besucher an. Diesmal war es vielleicht der erwartete Postbote. Hanna schnaubte hörbar und ging hinaus, um zu öffnen.

Jenny schüttelte fassungslos den Kopf. Mit dieser Zurückweisung hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte mit sich gekämpft, überhaupt herzukommen, und nun zeigte es sich, dass alles umsonst gewesen war. Hanna warf ihr Knüppel zwischen die Beine. Wieder einmal.

Aber diesmal lasse ich sie nicht so einfach davonkommen. Ich werde nicht aufgeben und zurückstecken. Das habe ich damals getan und somit zugelassen, dass uns der Zank trennt. Diesmal werde ich nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Ich werde kämpfen und versuchen, Hanna umzustimmen. Die Frage ist nur, wie ich das anstellen kann. Sobald ich aus der Tür hinaus bin, werden wir vermutlich kein Wort mehr miteinander wechseln. Es sei denn … Ihr Blick fiel auf einen Computerausdruck, der auf dem Couchtisch lag.

Buchungsbestätigung , stand groß in der ersten Zeile. Rasch überflog Jenny die Nachricht, und ihre Miene hellte sich auf. Offenbar hatte ihre Schwester ein verlängertes Wander-Wochenende in den Bergen gebucht. Es stand unmittelbar bevor. Hanna hatte für eine Person gebucht: für sich selbst. Ihr Name stand auf dem Formular.

Plötzlich wusste Jenny, was sie zu tun hatte.

Ich werde versuchen, noch einen Platz für diesen Kurztrip zu erwischen, nahm sie sich vor. Beim Wandern werden sich sicherlich einige Gelegenheiten ergeben, um in Ruhe mit Hanna zu reden. Vielleicht bekomme ich die Chance, sie umzustimmen und den alten Streit aus der Welt zu schaffen. Er sitzt schon zu lange wie ein Stachel in unseren Herzen.

Kurz entschlossen nickte sie vor sich hin – nicht ahnend, welches Abenteuer ihr bevorstand.

***

„Fastenwandern?“ Stefan Frank sah seine Freundin verblüfft an. Er war sich beinahe sicher, dass er sich verhört hatte, aber Alexandra nickte bestätigend.

„Der Vorschlag kommt recht kurzfristig, ich weiß, aber lass uns trotzdem darüber nachdenken, Stefan.“

„In Ordnung. Erzähl mir mehr über deinen Plan, Liebes.“

„Du kennst Nina aus meinem Yogakurs, nicht wahr? Sie hatte den Kurzurlaub für ihren Mann und sich selbst gebucht, aber er ist krank geworden, deshalb können sie nicht verreisen. Für eine Stornierung ist es zu spät. Die Plätze können kaum noch anderweitig vergeben werden, deshalb hat sie mich gefragt, ob wir für sie einspringen wollen. Es ist schon am kommenden Wochenende. Wäre dir das zu kurzfristig?“

„Keineswegs. Das stört mich nicht, ich habe keinen Dienst an diesen Tagen.“

„Wollen wir es dann machen? Wir werden viel Zeit für uns haben. Die Voralpen sind herrlich. Frische Luft und idyllische Wanderungen. Das Wetter soll auch mitspielen. Im Radio wurden fünf herrliche Sonnentage vorhergesagt.“

„Das klingt alles ganz gut, aber was hast du mit dem Ausdruck ‚Fastenwandern‘ gemeint?“

„Oh, das ist eine spezielle Form des Fastens. Sehr gesund und eine wirklich intensive Erfahrung. Wir werden fünf Tage lang auf feste Nahrung verzichten und uns nur von Wasser und Brühe ernähren.“

„Das ist ja schlimmer als im Gefängnis. Da soll es wenigstens sonntags Pudding gegeben haben.“

„Keine Sorge. Wir werden keinen Hunger leiden. Sobald Magen und Darm vollständig geleert sind, gibt es auch keine Magensäure mehr und damit kein Hungergefühl. Das sagt jedenfalls der Wanderführer, den Nina mir überlassen hat.“

„Ich habe trotzdem noch Zweifel. Warum sollen wir uns fünf Tage lang selbst kasteien und obendrein den Anstrengungen des Bergwanderns aussetzen?“

„Weil es eine neue Erfahrung ist. Außerdem kann es gesund sein, einmal eine Weile auf feste Nahrung zu verzichten.“

„Sprach sie und löffelte ungerührt ihr Tiramisu“, sagte er neckend.

Alexandra stutzte, blickte auf ihr Dessert hinunter und grinste.

„Das ist so weich, das zählt nicht als feste Nahrung.“

„Wenn diese Ausnahme auch beim Fasten gewährt wird, sehe ich diesem Kurzurlaub nicht mehr ganz so schwarz entgegen.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Alexandra und er verbrachten den lauen Sommerabend in ihrem Lieblingsrestaurant. Bei dem freundlichen Italiener gab es die leckerste Pasta von ganz München. Außerdem konnte man bei diesen milden Temperaturen draußen sitzen und bis zur Isar blicken, die dunkel vorüberfloss.

In ihrem roten Sommerkleid sah Alexandra bildhübsch aus. Sie hatte ihre braunen Locken hochgesteckt. An ihren Ohrläppchen baumelten lange silberne Ohrringe, die mit Mondstein geschmückt waren. Sie war Augenärztin und hatte ihre Praxis nicht weit von seiner entfernt.

Alexandra war seine große Liebe. Er hätte alles für sie getan. Weshalb also nicht einmal aus seiner Komfortzone herauskommen und etwas Neues versuchen?

„Magst du nicht mitkommen?“, fragte sie vorsichtig.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte dich nur ein wenig necken. Auf das Fasten bin ich nicht scharf, allerdings weiß ich, dass es durchaus gesund ist. Es reinigt den Körper von Schlacken und Giftstoffen und schafft Raum für Neues.“

„Also wollen wir es machen?“

„Wohin geht die Reise denn genau?“

„Zu einer Almhütte im Chiemgau. Die Kampenwand ist nicht weit entfernt. Die Unterkunft soll wunderschön gelegen sein, mit Ausblick bis zum Chiemsee und sogar bis nach Österreich hinein. Wir würden mal aus der Stadt herauskommen.“

„Wir müssten die Praxen für drei Tage schließen, aber das lässt sich schon einrichten. Ich kann einige Termine verlegen und Patienten vorziehen, wo es eilt. Dr. Schober springt dann hoffentlich als Ersatz für mich ein.“

„Also, was meinst du?“, hakte sie nach.

„Warum nicht? Ja, machen wir es“, willigte er ein und erntete ein freudiges Juchzen seiner Freundin.

„Das wird großartig! Wir werden so viel Spaß haben!“

„Das will ich schwer hoffen, wenn wir schon nichts zu essen bekommen. Immerhin werden wir mehr Zeit als sonst haben, schließlich sparen wir uns die Nahrungsaufnahme.“

„Richtig. Es kann befreiend sein, das auszuprobieren.“

„Ich weiß auch schon, was wir mit der zusätzlichen Zeit anfangen könnten.“ Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Ihre leuchtenden Augen verrieten, dass sie seinen romantischen Plänen durchaus nicht abgeneigt war …

***

Das ist er? Damit sollen wir alle zu der Hütte gefahren werden?

Jenny stellte ihren Rollkoffer ab und musterte zweifelnd den Kleinbus, der am Bahnhof auf sie wartete.

Von München aus war sie mit dem Zug nach Prien am Chiemsee gefahren und dort in die Regionalbahn nach Aschau im Chiemgau umgestiegen. Zum Umsteigen hatte sie nur vier Minuten Zeit gehabt und angesichts einer Verspätung Blut und Wasser geschwitzt, aber es hatte alles wunderbar geklappt.

Nun stand vor dem Aschauer Bahnhof ein Kleinbus. Mehr rostig als blau und mit einer mit Klebeband reparierten Stoßstange. Ein Zettel hinter der Frontscheibe verriet, dass er tatsächlich auf sie wartete: Berghütte Chiemgau.

Jenny schluckte. Das Gefährt war nicht nur kleiner, als sie sich den Reisebus vorgestellt hatte, es schien auch schon etliche Kilometer auf dem Tacho zu haben. Die Fenster standen offen. Ein Nummernschild suchte sie vergebens. War der Bus überhaupt noch zugelassen?

Er scheint schon zu Kaisers Zeiten gefahren zu sein. Also wird er hoffentlich nicht gerade heute zusammenbrechen, oder? Ein wenig unschlüssig schaute sich Jenny um. Dabei fiel ihr Blick auf einen hochgewachsenen Mann mit blonden, von der Sonne gebleichten Haaren und gebräunter Haut. Er trug dreiviertellange Hosen, ein weißes Funktionsshirt und Wanderschuhe.

An seinem Hals schlängelte sich ein Tattoo unter dem Hemd hervor. Was war das? Ein Drachen? Mit dem verwegenen Kinnbart und dem vergnügten Funkeln in den Augen war er atemberaubend attraktiv.

„Grüß dich“, sagte er und kam lächelnd herüber, um sie zu begrüßen. „Ich bin Andreas, euer Wanderführer.“

„Hallo, ich bin Jenny.“

„Freut mich. Du bist die Erste, aber die anderen werden sicherlich auch gleich eintreffen.“

„Wie viele Gäste reisen denn mit?“

„Unsere Gruppe besteht aus acht Teilnehmern.“ Unter dem Arm trug er ein Klemmbrett, auf dem einige Namen notiert waren. Bevor er dazu kam, noch etwas zu sagen, näherten sich zwei Fahrzeuge und stoppten vor dem Bahnhof. Aus dem Kombi mit Münchner Kennzeichen stieg ein Paar in den Vierzigern. Sie hatte braune Locken und trug ein sonnengelbes Sommerkleid. Er war dunkelblond und mit einer beigen Leinenhose und einem hellen Hemd bekleidet. Verblüfft erkannte Jenny in ihm den Hausarzt ihrer Großmutter, Dr. Frank. Wie klein die Welt doch war!

Er hob einen Rollkoffer aus dem Kofferraum und kam mit seiner Begleiterin herüber. Sie begrüßten Jenny und den Bergführer freundlich.

Aus dem anderen Fahrzeug stiegen ein silberhaariger Mann und ein Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Es zog seine Ohrstöpsel aus den Ohren und schaute sich fasziniert um.

„Ich bin Herbert Wagner, und das ist meine Enkelin Olivia“, stellte sich der Großvater vor. „Wir gehören zu der Fastenwandergruppe.“

„Herzlich willkommen“, erwiderte Andreas. „Hattet ihr eine gute Fahrt?“

„Ein Stau kurz nach München, aber danach rollte es gut.“

Ein Motorrad brauste heran, und ein hagerer Mann von etwa zwanzig Jahren stieg ab. Seine schwarzen Haare standen unter dem Helm nach allen Seiten ab.

„Hey, was gibt’s?“, fragte er und stemmte die Daumen unter die Riemen seines Rucksacks.

„Eine ganze Menge“, erwiderte der Bergführer. „Bist du Richard Hartmann?“

„Ich werde Rick genannt“, verbesserte der Neuankömmling sofort und verzog das Gesicht, als wäre ihm sein Gegenüber auf den Zeh getreten.

„Rick also. Schön, dass du da bist. Nun fehlen nur noch zwei Teilnehmer, dann sind wir komplett.“ Andreas hatte kaum ausgesprochen, als Hanna um die Ecke des Bahnhofs bog und zielstrebig herankam. Sie trug nichts als einen großen blauen Rucksack auf dem Rücken. Jenny erinnerte sich, dass ihre Schwester schon früher gern mit leichtem Gepäck gereist war.

„Du?“ Ihre Schwester stockte unwillkürlich, als ihr Blick auf Jenny fiel. „Was machst du denn hier?“

„Ich nehme an den Wandertagen teil.“

Hanna schürzte entgeistert die Lippen und machte ein paar Schritte von ihr weg.

Als hätte ich eine ansteckende Krankheit, dachte Jenny niedergeschlagen.

„Ihr beide kennt euch?“, hakte Andreas nach.

Beide nickten schweigend.

„Ich verstehe.“ Er notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. In diesem Augenblick bog ein weiterer Wagen mit Münchner Kennzeichen auf den Parkplatz ein. Im Schatten stieg ein Mann mit blonden Haaren und einer dunklen Brille aus. Hinter ihm sprang ein braunes Fellbündel aus dem Fahrzeug.

„Nelly?“ Jenny lachte verblüfft, als die Hündin sie entdeckte, herüberstürmte und sich wedelnd von ihr kraulen ließ. „Das ist ja eine Überraschung! Was machst du denn hier?“

Pascal lud eine Reisetasche aus seinem Auto und stapfte heran.

„Hallo“, grüßte er in die Runde. Er nickte jedem Teilnehmer zu. Als er bei Jenny anlangte, leuchteten seine Augen erkennend auf. „Du? Nanu, wir kennen uns doch!“

„Stimmt.“ Sie wollte noch etwas sagen, aber ihr Kopf war mit einem Mal wie leer gefegt. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihr auch nicht, denn Andreas mahnte zum Aufbruch. Sie stiegen in den Kleinbus, verstauten ihr Gepäck in den Netzen über ihren Sitzen und schnallten sich an.

Der Fahrer war ein grauhaariger Mann, der kein Wort sagte und schweigend den Zündschlüssel drehte. Knatternd erwachte der Motor zum Leben, und sie rumpelten vom Parkplatz.

Eine Zeit lang tuckerten sie auf der Landstraße, bis der Fahrer auf eine schmale Straße abbog, die so eng und steinig war, dass sie diesen Namen kaum verdiente. In steilen Kurven ging es bergauf.

„Ich verstehe nicht, warum wir nicht mit unseren eigenen Fahrzeugen anreisen können“, moserte Rick. „Meine Maschine lasse ich nur ungern hier unten zurück.“

„Die Hütte steht so abgelegen, dass man nur schwer hinfindet“, erklärte Andreas und wandte sich zu ihm um. „Lehn dich einfach zurück und genieße die Fahrt. Dann fängt eure Erholung schon auf den letzten Metern der Anreise an.“

„Ich weiß nicht, was daran erholsam sein soll, in dieser Rostlaube um mein Leben zu bangen.“

Jenny hätte es nicht ganz so drastisch ausgedrückt, gab ihrem Sitznachbarn jedoch im Stillen recht. Sonderlich vertrauenerweckend wirkte der Bus tatsächlich nicht. Ganz zu schweigen von der Straße, die so abschüssig war, dass Jenny bei jeder Kurve unwillkürlich den Atem anhielt. Würde ihr Fahrer die Straße nur um ein winziges Stück verfehlen oder zu schwungvoll um die Kurve fahren, dann würden sie unweigerlich in die Tiefe stürzen, sich überschlagen und …

Schluss damit!, ermahnte sie sich selbst. Er fährt so ruhig und sicher, dass er das sicherlich schon tausendmal gemacht hat und genau weiß, wie er fahren muss. Ich darf mir wirklich nicht immer so viele Sorgen machen.

Sie stieß den Atem aus, lehnte sich bewusst zurück und ließ die herrlich grüne Landschaft auf sich wirken. Ein Netz aus Wanderwegen zog sich hier oben durch die Berge. Vermutlich konnte man tage- oder gar wochenlang wandern und immer noch etwas Neues entdecken. Das gefiel ihr.

„Hoffentlich fällt diese Klapperkiste erst auseinander, wenn wir am Ziel sind“, brummte Rick neben ihr.

Vor ihnen stand Andreas auf und wandte sich an die Gruppe.

„Ich heiße euch nochmals herzlich willkommen hier bei uns im schönen Chiemgau. Ich bin der Andreas. Ich hoffe, es ist für euch in Ordnung, wenn wir uns duzen. Wir werden hier auf dem Berg intensive Erfahrungen teilen, deshalb ist eine gewisse Vertrautheit unumgänglich.“

Er lächelte freundlich in die Runde.

„Heute beginnen wir mit einem Entlastungstag. Was genau das ist, werde ich euch später noch genauer erklären. Wir werden uns akklimatisieren und erholen, bevor wir morgen die erste Tour machen.“

„Es ist noch nicht einmal Mittag“, fuhr Rick auf. „Warum sollen wir diesen schönen Tag mit Nichtstun verschwenden? Können wir nicht heute schon wandern gehen?“

„Wir könnten schon, aber das werdet ihr nicht wollen. Vertrau mir. Du wirst spätestens in zwei, drei Stunden verstehen, was ich meine.“ Der Bergführer zwinkerte Rick zu, als würden sie ein gemeinsames Geheimnis teilen. Jenny verstand nicht, was er damit sagen wollte, und auch ihr Sitznachbar wirkte einigermaßen ratlos. Nun, bald waren sie hoffentlich klüger.

Die Straße wurde schmaler, je höher sie hinaufkamen. Inzwischen war sie fast zu schmal, selbst für den Kleinbus.

„Magst du einen Schokoriegel?“, kam es von Olivia, die auf der anderen Seite des Gangs saß. Die Sechzehnjährige hielt Jenny einen Kokos-Schokoladen-Riegel hin und lächelte sie offen unter ihrem dunklen Kurzhaarschnitt an. „Wir sollten uns jetzt ranhalten. Nachher gibt es fünf Tage lang nichts mehr.“

„Danke schön.“ Jenny nahm den Riegel und stutzte. „Was meinst du damit, dass es dann erst einmal nichts mehr gibt?“

„Na, weil wir doch fasten werden.“

„Fasten?“

Olivia nickte. „Hast du das nicht gewusst? Das hier ist eine Tour mit Fastenwanderungen.“

Fastenwanderungen. Dieses Wort musste Jenny erst einmal sacken lassen. Sie war heilfroh gewesen, noch einen Platz in der Gruppe zu erwischen, und hatte nicht weiter nach dem Programm der Reise gefragt. Falls etwas vom Fasten auf der Buchungsbestätigung gestanden hatte, musste sie es in der Eile überlesen haben.

Fasten! Ob das etwas für mich ist? Vielleicht hätte ich mehr Verpflegung einpacken sollen. Ich bin davon ausgegangen, dass wir gut versorgt werden. Auf diesen Hütten gibt es sonst immer gute Brotzeiten. Anscheinend wird das hier jedoch anders sein. Das ist ja eine schöne Bescherung.

Sie schob den Schokoriegel in ihre Handtasche – für alle Fälle – und kämpfte noch mit ihrer Überraschung, als der Bus vor einer rustikalen Almhütte stoppte. Das flache Dach war mit Solarpanelen ausgestattet, die vermutlich den nötigen Strom für die Hütte lieferten. Bei dem herrlichen Sommerwetter mussten sie sich um die Energieversorgung wohl keine Sorgen machen.

Geranien blühten vor jedem der kleinen Fenster. Eine Quelle sprudelte neben der Hütte und versorgte eine Viehtränke mit Wasser. Im Gras lagen braun-weiß gefleckte Milchkühe und käuten gemächlich wieder.

„Na, die lassen es sich gut gehen“, stellte Rick fest, fluchte jedoch plötzlich unterdrückt, als sein nächster Schritt von einem schmatzenden Geräusch begleitet wurde. Er war geradewegs in einen Kuhfladen getreten!

„Hier oben müsst ihr aufpassen, wo ihr hinlauft“, nutzte Andreas den kleinen Zwischenfall für eine Empfehlung. „Die Wege können abschüssig oder rutschig sein. Oder es gibt Tretminen wie die, mit der Rick gerade Bekanntschaft gemacht hat.“

Die übrigen Reisegäste warfen Rick mitfühlende Blicke zu, während sie ausstiegen und ihr Gepäck ausluden. Wenig später kam eine rundliche Frau in einem roten Dirndl mit blauer Schürze aus der Hütte.

„Grüß euch“, sagte sie mit breitem Dialekt. „Ich bin Resi, die Hüttenwirtin. Hattet ihr eine gute Fahrt?“

Allgemeines Kopfnicken war die Antwort.

Nur Rick brummte vor sich hin.

„Wir leben noch. Immerhin.“

„Drinnen ist schon alles für euch vorbereitet. Die Alm hat zwei Badezimmer, eines für die Madeln und eines für die Burschen. Die werdet ihr euch also teilen. Sucht euch ein Zimmer aus, packt aus und richtet euch ein bisschen ein. Die Schlüssel stecken in den Zimmertüren, nehmt sie mit, wenn ihr rausgeht. Sie passen auch für die Haustür.“

Die Gäste wollten schon das Innere der Hütte stürmen, als Resi sie noch einmal aufhielt.

„Es tut mir sehr leid, aber eines der Zimmer ist leider unbewohnbar. Das Fenster ist schadhaft und muss erst ersetzt werden, ehe ich dort wieder jemanden unterbringen kann. Ich muss also zwei von euch Einzelreisenden bitten, euch eine Unterkunft zu teilen. Wer wäre dazu bereit?“ Fragend sah sie in die Runde.

Sekundenlang sagte niemand ein Wort. Dann gab sich Pascal einen Ruck.

„Ich mache es. Rick, wollen wir uns ein Zimmer teilen?“

„Nee, du. Tut mir leid, aber daraus wird nichts. Ich habe eine Tierhaarallergie. Der Aufenthalt würde lustig, wenn ich dauernd am Niesen bin.“ Rick hob abwehrend eine Hand und schielte argwöhnisch zu Nelly hinüber.

„Dann bleibt nur ihr beide übrig.“ Die Hüttenwirtin schaute zwischen Jenny und Hanna hin und her.

„Als hätte ich es geahnt.“ Hannas Blick hätte den Chiemsee in ein Eismeer verwandeln können.

Jenny schluckte. Warum nur war ihre Schwester so voller Groll auf sie? Sie verstand das nicht. Die Betrogene war doch sie selbst!

„Geht klar“, murmelte sie, freute sich jedoch ganz und gar nicht darauf, ein Zimmer mit ihrer Schwester zu teilen. Sie schafften es ja nicht einmal, sich über ein ganzes Haus zu einigen. Wie sollten sie da in den engen vier Wänden miteinander klarkommen, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen?

Kommt Zeit, kommt Rat, sagte sie sich und folgte ihrer Schwester halb niedergeschlagen, halb hoffnungsvoll ins Haus.

Ihre Unterkunft war nicht nur rustikal und überwiegend aus Holz gebaut, sondern auch überaus gemütlich. Hinter der Tür, durch die ihre Schwester ging, verbarg sich ein hübsches Zimmer mit Holzmöbeln und einem bunten Flickenteppich. Das Etagenbett war mit rot-weiß karierter Bettwäsche bezogen, und auf dem kleinen Holztisch stand eine Vase mit frischen Blumen.

„Hübsch“, fand Jenny und stellte ihren Koffer neben der Tür ab. „Besser als ein Hotel.“

„Ja. Nur, dass sie hier Glaubersalz anstelle einer Praline auf das Kopfkissen legen“, murmelte ihre Schwester.

„Wirklich? Glaubersalz?“

„War nur ein Scherz.“ Schweigend machte sich Hanna daran, ihre Sachen auszupacken. Sie belegte im Schrank die unteren beiden Fächer und ließ die oberen für Jenny frei.

„Welches Bett möchtest du?“, fragte Jenny. „Das obere oder lieber das untere?“

„Mir egal. Wähle du eines aus.“

„Mach du ruhig.“

„Es ist mir egal, okay? Also lass mich zufrieden, und such dir einfach eins aus. Ich kann überall schlafen. Notfalls auch auf dem Fußboden.“

Jenny biss sich auf die Lippen und beschloss, das untere Bett zu nehmen. Früher hatte ihre Schwester im Urlaub gern oben geschlafen. Vielleicht war das immer noch so, und sie würde die Geste als Friedensangebot schätzen.

Es machte leider nicht diesen Eindruck. Hannas Gesicht war verschlossener als eine karge Felswand, als sie ein Buch auf dem oberen Bett ablegte.

„Hör mal“, bat Jenny, „können wir nicht wenigstens freundlich miteinander umgehen?“

„Freundlich? Das willst du also? Gespielte Harmonie, ja?“

„Muss sie denn wirklich gespielt sein? Früher haben wir uns so gut verstanden. Dieser Urlaub könnte wie damals sein.“

„Nein, das alles ist lange her. Inzwischen ist eine Menge passiert.“

„Ich bitte dich nur, es wenigstens zu versuchen.“

„Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, warum du wirklich hier bist?“ Hanna ließ von ihrem Rucksack ab und stemmte die Hände in die Hüften. „Du willst mich umstimmen, deshalb hast du diesen Aufenthalt gebucht. Du möchtest die Villa unserer Großmutter haben. An einer Versöhnung mit mir bist du überhaupt nicht interessiert. Ohne das Haus hättest du nicht im Traum daran gedacht, Kontakt zu mir aufzunehmen. So ist es doch, nicht wahr?“

Ihre Vorwürfe prasselten wie Hagelkörner auf Jenny herein. Getroffen zuckte sie zusammen. Ja, da war schon etwas dran, das musste sie zugeben.

„Das ist wahr. Großmutters Angebot ist der Anlass für mich gewesen, Kontakt zu dir aufzunehmen. Das heißt aber nicht, dass du mir egal bist. Ich habe in den vergangenen Jahren oft an dich gedacht.“

„Ach ja? Warum hast du dich dann nie gemeldet?“

„Warum? Weil du eine Affäre mit meinem ersten festen Freund hattest!“

Hanna stülpte die Lippen vor und schwieg verbissen.

Zwischen ihnen schien die Luft zu knistern. Sekundenlang sagte keine von ihnen ein Wort.

Dann wandte sich Jenny ab und packte schweigend ihre Sachen weiter aus. Es würde nicht helfen, jetzt weiter nachzubohren. Wenn Hanna dichtmachte, gab man ihr am besten Zeit, sich wieder zu fangen, bevor man versuchte, mit ihr zu reden.

Sie packte ihre Kosmetiktasche aus und stutzte plötzlich.

„Oh, verflixt. Ich habe die Sonnenmilch vergessen. Hast du welche?“

Hanna nickte und deutete auf ihre Kosmetik, die sie auf dem Wandbord aufgereiht hatte.

„Darf ich deine Sonnenmilch mitverwenden?“

„Warum fragst du überhaupt?“

„Weil ich mich nicht einfach an deinen Sachen vergreife.“

„Ach ja? War das jetzt eine feine Spitze gegen mich? Und geht das jetzt die ganze Reise so weiter? Dann kann das ja ein feiner Urlaub werden.“ Hanna funkelte sie an. „Du glaubst sicher, du hast jedes Recht, wütend auf mich zu sein, aber du weißt nichts! Gar nichts!“ Schnaubend wirbelte sie herum und verließ das Zimmer.

Bestürzt schaute Jenny ihr nach.

Was hatte das denn jetzt wieder zu bedeuten?

***

Warum ist Hanna denn so wütend auf mich? Ich habe ihr doch nichts getan!

Jenny schob die Hände in die Taschen ihrer Wanderhose und stapfte erregt bergauf. Es hatte sie nicht länger in ihrem Zimmer gehalten. Aufgebracht war sie zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Ich verstehe, dass sie mir grollt, weil ich mich nur wegen Großmutters Villa bei ihr gemeldet habe. Ich wäre auch enttäuscht, wenn sich jemand nur als Mittel zum Zweck mit mir versöhnen würden will. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Aber warum ist Hanna denn noch zusätzlich auf mich wütend? Das verstehe ich nicht!

Ratlos lief sie weiter, bis sie sich plötzlich umsah und stutzte.

Ach herrje! Die Wege sahen alle gleich aus! Baumbestand gab es hier oben so gut wie gar nicht mehr. Nur grüne Wiesen, zwischen denen sich die Wanderwege schlängelten. Die Frage war nur: Wo musste sie hin? Sie hatte in ihrer Erregung überhaupt nicht darauf geachtet, wo sie hingelaufen war!

Einfach umkehren und bergab laufen, dann müsste ich schon zurück zur Hütte finden, machte sie sich selbst Mut und kehrte um. Allerdings erwies sich ihr Vorhaben als nicht so einfach wie gedacht, denn schon bald gelangte sie an die erste Abzweigung und musste sich entscheiden.

Links oder rechts? Nach unten führten beide Wege, und keiner kam ihr wirklich bekannt vor. Jenny lief auf gut Glück weiter und ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte weder einen Hut zum Schutz vor der Sonne auf, noch hatte sie sich vor ihrem Aufbruch eingecremt. Inzwischen begann ihre Haut zu spannen. Wie dumm von ihr, so unvorbereitet loszustürmen!

War sie hier überhaupt noch richtig? Nach zwei weiteren Abzweigungen schüttelte Jenny erschrocken den Kopf. War sie wirklich so weit gelaufen? Oder hätte sie die Hütte längst erreichen müssen? Sicherlich warteten die anderen bereits auf sie. Andreas hatte etwas von einem Entlastungstag und einer Einführung gesagt, die er ihnen geben wollte. Und nun hielt sie alle auf!

Sie machte größere Schritte und wünschte sich, sie hätte wenigstens ihr Handy eingesteckt. Vielleicht hätte es ihr geholfen, sich zu orientieren. Dass es hier oben aber auch weder Höfe noch andere Hütten gab! Auch Wanderer, die sie nach dem Weg hätte fragen können, kamen ihr nicht entgegen …

So weit war sie gerade mit ihren Gedanken gekommen, als ein brauner Hund vor ihr um die Kurve flitzte und geradewegs auf sie zukam. Jenny lachte erleichtert auf.

„Nelly? Wo kommst du denn her?“

„Dreimal darfst du raten“, brummte Pascal.

„Oh! Ich bin so froh, euch zu treffen. Ich dachte schon, ich hätte mich verirrt. Bin ich zu spät für die Einführung?“

„Ganz und gar nicht. Alles okay. Die anderen packen noch aus und quatschen miteinander.“

„Und du?“

„Oh, ich bin nicht so der Typ für Smalltalk. Ich weiß immer gar nicht, was ich sagen soll. Außerdem brauchte Nelly eine Runde an der frischen Luft. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um allein loszuziehen.“ Er nestelte an seiner Brille.

„Wird Nelly eigentlich auch fasten?“

„Nein. Ich glaube nicht, dass das etwas für Hunde ist.“

„Ich glaube auch nicht, dass das etwas für Menschen ist.“ Jenny lächelte schief. „Jedenfalls wird Nelly in den nächsten Tagen wohl die beste Verpflegung von uns allen haben.“

„Vermutlich, ja. Jetzt sollten wir aber wirklich zurückgehen, sonst verpassen wir die Eröffnungsrede.“ Er deutete den Weg hinunter, und sie strebten nebeneinander bergab. Es zeigte sich, dass Jenny es fast geschafft hatte. Sie mussten nur wenige Minuten gehen, um die Hütte vor sich zu sehen.

Die übrigen Teilnehmer der Reise waren schon in der Bauernstube versammelt. Sie saßen auf Holzbänken an den Holztischen und schauten zu Andreas, der vor ihnen stand und zu einer Erklärung ansetzte. Rasch nahmen Jenny und Pascal hinten Platz. Hanna schaute nicht zu ihnen herüber.

„Ich möchte euch nicht mit umständlichen Reden langweilen“, setzte der Bergführer an. „Ihr sollt nur eine Vorstellung bekommen, was euch heute und in den nächsten Tagen erwartet. Ab morgen starten wir um acht Uhr mit einer leichten Gymnastik in den Tag. Danach gibt es heißen Fastentee. Um zehn Uhr brechen wir zu unseren Wanderungen auf.“

Er lächelte aufmunternd.