Draußen zu Hause - Johannes Likar - E-Book

Draußen zu Hause E-Book

Johannes Likar

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Beschreibung

Einfach mal raus, aussteigen, irgendwo allein im Wald leben! Davon träumen viele Menschen, besonders wenn sie in einem hektischen Berufsalltag stecken. Johannes auch. Doch er träumt nicht nur, er tut es: Ein Jahr allein in einem Zelt in den schwedischen Wäldern, allein auf einer einsamen Insel. Einmal alle Jahreszeiten draußen in der Natur erleben, nicht abgelenkt von Job, anderen Menschen, To-do-Listen. An die eigenen Grenzen gehen. Herausfinden, ob das geht. Wie das geht. Ob er das Zeug dazu hat. Was bleibt, wenn er alles Menschengemachte weglässt, alle (vermeintlichen) Sicherheiten? Was braucht er wirklich zum Leben? Wie fühlt es sich an, tatsächlich allein zu sein? Begleite Johannes durch ein Jahr voller unverhoffter Abenteuer, atemberaubender Schönheit, aber auch Ängste, Zweifel und Einsamkeit - und zu den großen Fragen des Lebens. "Die Insel in diesem Jahr ist vielleicht nur ein Symbol für eine Reise, von der ich nicht weiß, wo sie hingeht oder wo ich ankommen werde. Ich bin noch am Beginn dieser Reise. Deshalb kann ich auch noch nichts vorweisen. Aber was ich habe, ist die Sicherheit, dass das, wo ich bin, und das, was ich mache, das absolut Richtige für mich ist. Das Einzige, was ich machen kann, ist einfach da zu sein - zu hören, zu sehen, aufzunehmen, und gespannt zu sein auf das, was der Autor meiner Geschichte mit mir vorhat." Johannes Likar

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel

Impressum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2024 adeo Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im Juni 2024

ISBN 978-3-8633-4876-2

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter ∙ grafikbuero-sonnhueter.de

Umschlagmotiv: Johannes Likar

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.adeo-verlag.de

Inhalt

1 Prolog

2 Kälte, Stille, Einsamkeit

3 Wenn jemand eine Reise tut, so kann sich was verändern

4 Umzug nach Schweden

5 Zeltleben – der Probewinter

6 Wie man eine Insel findet

7 Wie man (k)einen Zeltplatz wählt

8 Mai – der Umzug

9 Juni – die ersten Wochen

10 Juli – eine Umgebung reich an Geschichte

11 August – die Zeit der Besucher

12 September – ein Fenster zur Welt

13 Oktober – allein und das Auto

14 November – ein Gespräch mit dem Autor

15 Dezember – die dunkelste Stunde

16 Januar – ein neues Lied

17 Februar – krank

18 März – eine andere Welt

19 April – Ideen

20 Mai – macht alles neu

21 Juni – Abschlusskonzert

22 Juli – eigentlich war es nicht erlaubt

23 Zwei Sommer auf dem Floß

24 Abschied vom Zelt

Anhang

Über den Autor

Bildteil

1Prolog

Der Schein des Feuers flammt wieder auf, als noch einmal Holz nachgelegt wird. Es ist schon dunkel, wir sitzen im Kreis um das Lagerfeuer, jemand spielt Gitarre, und ich kaue an den letzten Resten meines etwas zu teigigen Steckerlbrots. Auch nach vielen Jahren als aktiver Pfadfinder bleibt es für mich immer noch eine hohe Kunst, den Teig am Stock mit genügend Geduld im richtigen Abstand über der Glut zu halten. Doch bis zum nächsten Lagerfeuer werde ich das wohl wieder vergessen haben. Zwei Wochen Zeltlager vergehen einfach viel zu schnell. Auch wenn wir alle etwas übermüdet sind und eine warme Dusche gebrauchen könnten, genieße ich die Wärme im Gesicht und Kühle am Rücken, das Gefühl der Füße auf der Erde, die sich gerade wieder ans Barfußlaufen gewöhnt haben, den Geruch von Lagerfeuer in Kleidern und Haaren. Bald wird alles wieder nach Zivilisation und Waschmittel duften, die Haut wieder empfindlicher werden und die Kratzer an Händen und Beinen verheilt sein. Dann bleiben nur die Erinnerung und die Vorfreude auf nächstes Jahr.

Könnte man nicht auch einfach so weitermachen? Warum kann ein Zeltlager nicht den ganzen Sommer dauern? Als Kinder hätten wir uns sofort dafür begeistern lassen, und hätte ein Lager über die gesamten Sommerferien zur Auswahl gestanden, es hätten sich genügend von uns gefunden, die sich so etwas nicht entgehen lassen würden. Ein paar Jahre später, nun als Erwachsener in Leitungsposition, an ähnlichen Lagerfeuern, war es dann aber auch ganz gut, wenn man die Kinder nach zwei Wochen wieder nach Hause entlassen durfte.

Nun gibt es in meiner Pfadfinderorganisation auch Angebote für Erwachsene. Und das erlaubt uns, weiterhin Kind zu sein. Kind sein im Erleben, aber mit aller Erfahrung und all den Fähigkeiten, die wir über die Jahre angesammelt haben. Wenn das eigene Denken dann nicht mehr von externen Einflüssen beschränkt wird, wie etwa der Dauer der Sommerferien, wandeln sich die Möglichkeiten von Lagerfeuerträumen ins scheinbar Unendliche. Warum also sollte das Wohnen im Zelt nur auf Ferien und Urlaub beschränkt sein? Könnte man nicht auch ein Zelt zu seiner Wohnung erklären – etwa auch für ein ganzes Jahr?

Ein Gedanke, den wir gern träumten, manche konkreter als andere. Ich erinnere mich, dass Mark, einer der leidenschaftlichsten Pfadfinder, die ich kenne, schon weit vorangeschrittene Pläne hatte. Er hatte bereits genaue Vorstellungen, wie er eine Jurte, eine der typischen Pfadfinderzeltformen, einrichten würde. Mit doppelten Wänden zur Wärmedämmung im Winter, Nasszelle zum Duschen, Feuerplatz und allem, was dazugehört. Bevor sich für Mark aber die Möglichkeit ergab, seinen Plan in die Tat umzusetzen, hat er, ebenfalls an einem Lagerfeuerabend, eine nette Pfadfinderin kennengelernt. Ihre Hochzeitstafel einige Zeit später stand auf einer Wiese in einer großen Zeltburg, und wir Pfadfinderfreunde erschienen natürlich in unserer Kluft.

Diese Hochzeitsfeier fand im Sommer 2017 statt. Ein halbes Jahr vor einer Reise nach Skandinavien, die für mich zum Auslöser wurde, einen neuen Weg in meinem Leben einzuschlagen. Einen Weg – so unerwartet, so wunderschön, so erfüllend und so herausfordernd. Einen Weg, für den alle Zeltlager zuvor zwar eine gute Vorbereitung waren, der mir aber auch meine Grenzen aufzeigte und neue Perspektiven und Ausblicke eröffnete. Einen Pfad, den zu finden ich mir damals am Lagerfeuer sehr wohl hätte erträumen können, dessen Bedeutung ich aber erst jetzt, im Rückblick, zu verstehen beginne. Einen Weg, der mich mit der Natur und mit mir selbst konfrontiert und der fundamentale Veränderungen in mir bewirkt hat.

Der erste große unbeabsichtigte Schritt hin zu dieser Veränderung war meine bis dato längste Reise in den Norden im Januar 2018. Eine Reise, bei der ich Puzzlestücke zu sammeln begann, die sich bald zu einem Bild meines späteren Lebens zusammenfügen würden. Eine Reise, in der ein Same gesät wurde, der im darauffolgenden Frühjahr zu keimen begann, meine anscheinend tief verwurzelte Veränderungsscheu aufbrach und mich ein Jahr darauf allein in ein Zelt auf eine unbewohnte Insel führen würde.

3Wenn jemand eine Reise tut, so kann sich was verändern

Nach einer kurzen Erholungsphase in einer kleinen Hütte auf einem Campingplatz mit echtem Bett, Dusche und Sauna suchte mein Blick auf der Landkarte das nächste Ziel. Eine ursprünglich angedachte Route wäre gewesen, die Ostsee ganz zu umrunden und über Finnland und das Baltikum zurück nach Mitteleuropa zu fahren. Dafür erschien mir die verbleibende Zeit allerdings zu kurz, deswegen wollte ich in der Gegend bleiben. Zum Nordkap trieb es mich nicht, solche Extrempunkte wie das Höchste, Tiefste oder Nördlichste erschienen mir immer schon zu touristisch.

Da ich in christlich geprägtem Umfeld aufgewachsen bin, in einer Kirche, die sich samstags zum Gottesdienst trifft, und meine Eltern, wenn wir auf Reisen waren, immer nach der nächstgelegenen Adventgemeinde für den Sabbat gesucht hatten, wusste ich um die Vorzüge, auf der ganzen Welt Orte zu finden, wo man willkommen war. Nicht nur als Möglichkeit, Gleichgesinnte zu treffen, sondern auch – und ich würde nicht die ganze Wahrheit schildern, würde ich es verschweigen –, um danach vielleicht zum Mittagessen eingeladen zu werden. Eine kurze Suche im Internet bestätigte die Annahme, dass der Norden einerseits sehr dünn besiedelt ist, Schweden andererseits ein sehr säkulares Land ist. Die nächstgelegene Gemeinde war in Leknes auf den Lofoten in Norwegen. Von diesen Inseln, die sich vom Festland aus in einem Bogen Richtung Süden in den Atlantik ausdehnen, meinte ich schon mal etwas gelesen oder gesehen zu haben.

Die rund 600 Kilometer nach Leknes ließen sich in einem Tag zurücklegen, Distanzen sind auf Roadtrips ja sehr relativ, und ans Meer zu fahren klingt zu jeder Jahreszeit attraktiv. Über Kiruna und Abisko kam ich spät am Abend ans Meer und suchte mir einen Parkplatz, auf dem ich im Auto übernachten konnte. Auch wenn ich mit meiner Reise keine besonders konkreten Erwartungen verbunden hatte, gab es doch einen Punkt, den zu erleben ich mir gewünscht hatte: Ich wollte zu gern einmal Nordlichter sehen. Einmal zuvor hatte ich in Trondheim bereits das Vergnügen gehabt, ein sehr fahles grünes Schimmern am Horizont zu erkennen.

Am Abend meiner Ankunft am Meer war es dann so weit. Der grüne Schein war zum größten Teil von dem riesigen Berg verdeckt, vor dem ich geparkt hatte. Also schnell den Fahrersitz wieder freigeräumt, um einen besseren Ort zu finden, in der Hoffnung, dass das Leuchten am Himmel nicht verschwinden würde. Dankenswerterweise hatten die elektrisch geladenen Teilchen Geduld und zeigten mir ihr Spiel noch einige Minuten lang.

Selbst aufgeladen von Freude, wie ich war, waren alle Anstrengungen der Kälte der vergangenen Woche vergessen, und ich wusste: Hierherzukommen war eine gute Entscheidung. Das bestätigte sich auch am nächsten Tag, als ich die nette Gemeinschaft in der Kirchengemeinde genießen konnte und es tatsächlich ein gemeinsames Mittagessen danach gab, zu dem ich gern bleiben durfte. Ein wunderbares System globaler Fürsorge, zumindest an Wochenenden.

Da die Inseln nur durch schmale Fjorde voneinander getrennt sind, gelangt man über Brücken bis zum am äußersten Spitz gelegenen Ort mit dem wunderbaren Namen „Å“.

Durch das Meer sind die Temperaturen auch um vieles milder als im Landesinneren, meist um die -5 °C. Es lag sehr wenig Schnee, dafür gab es viel Eis.

Im Auto im feinen Schlafsack liegen, das Meer rauscht, der Wind umweht das Auto, und aus dem Fenster beobachtet man Nordlichter. Schöner, kitschiger, romantischer kann es allein nicht werden.

In dem Wissen, dass ich wohl einige Tage hier sein würde, besorgte ich mir Wanderkarten und erkundete das imposante Gebirge, das sich auf den Inseln hier direkt aus dem Meer erhebt. Die Tage waren gefüllt mit dem Besteigen von Bergen, dem Versuch, die Landschaft, die von dem wunderbar flach einfallenden Licht modelliert wird, im Bild festzuhalten, und der Suche nach offenen Toiletten an Rastplätzen.

Bis jetzt blieb die tiefe innere Erkenntnis der Reise noch aus. Vielleicht lernt der Held dies erst bei der Rückkehr in die alte Welt oder bei den Freunden und Mentoren, die er am Weg kennengelernt hat. Vielleicht ist die Erkenntnis aber auch die, dass er nicht von den großen Leeren und Fragezeichen davonlaufen kann.

Etwas traurig macht ihn das, unseren Helden. Aber die eine oder andere Träne im Auge könnte genauso gut von der Kälte und dem Wind kommen.

Ein weiteres Ereignis stand auf dieser Reise noch an: mein 30. Geburtstag. Dieser fiel genau auf den Tag, an dem ich am nördlichsten Punkt meiner Reise angekommen war, zu Gast als Couchsurfer auf der Insel Andøya. Es war angenehm, wieder Zeit mit Menschen zu verbringen und in einem richtigen Bett zu schlafen. Wie viele andere Erlebnisse mit Menschen auf Reisen, entweder als Gast oder Gastgeber, war auch dieses ein besonderes. Schnell kommen bei solchen Begegnungen auch tiefere Gesprächsthemen auf, und so erzählte mir mein Gastgeber von den großen Schwierigkeiten in seinem Leben. Herausforderungen in seinem Glauben an Gott, denen ich selbst nie gegenüberstehen musste – ich bin wohl sehr behütet aufgewachsen. Das Einzige, was ich in solchen Momenten, in denen mir jemand sein Herz ausschüttet, tun kann, ist zuhören. Und vielleicht ist das auch das einzig Richtige.

Es tut gut, solchen Situationen ausgesetzt zu sein. Es zeigt einem, dass man eigentlich keine Antworten hat.

Vielleicht musste ich heute an meinem 30. Geburtstag hier sein. Ein Anfang, ein Umdenken. Die Umkehr am nördlichsten Punkt, und dann denselben Weg zurück, nur aus anderem Blickwinkel. Viele, viel zu große Wörter und Gedanken für so ein kleines Buch, so einen kleinen Menschen. Zu große Ideen, um sie in Worte zu fassen, zu wenig Zeit. Das Bewusstsein, man wird nie ankommen, nirgends. Alles wird nur größer, komplexer, dichter. Aber vielleicht kristallisieren sich auch Klarheiten heraus, grundlegende Fundamente, auf denen alles basiert. Ich weiß gar nicht mehr, was ich hier eigentlich beschreiben will, aber es tut gut. Vielleicht ist es Gott, vielleicht ist es Liebe. Vielleicht hat mir das gefehlt. Nein, keine erotische Liebe, eine bedingungslose Liebe den Mitmenschen gegenüber. Wenn es das ist, was man weitergeben kann, dann kann man wohl sagen, man hat gut gelebt.

Ich bin schon seit längerer Zeit auf der Suche, welche Bedeutung mein Glaube an einen Gott eigentlich für mein Leben hat. Auch wenn ich ein großes theoretisches Wissen über die Bibel habe, bringt mir das wenig, wenn ich anderen Menschen nicht mit Liebe begegnen kann. Ich habe auch den Eindruck, dass ich eine Antwort darauf nicht im religiösen Umfeld finden kann. Vielleicht war diese Begegnung ein Wegweiser, in welcher Richtung ich Zufriedenheit mit einem praktischen Glauben finden kann. Aber erst mal geht es wieder heimwärts.

Am nächsten Morgen war eine frühe Abfahrt geplant, um das Tagesziel zu erreichen. Noch etwas verschlafen fuhr ich über die leere und vereiste Landstraße, als plötzlich ein Elch von links aus dem Gebüsch aufschreckte und auf die Straße sprang. Im Bruchteil von Sekunden waren die Gedanken, die ich mir zu genau solchen Situationen oft gemacht hatte, gegenwärtig. Bei Tieren, die nicht über Stoßstangenhöhe reichen, ist es sicherer, nicht zu versuchen auszuweichen, um nicht ins Schleudern zu kommen, vor allem auf vereister Fahrbahn mit mittelmäßigen Winterreifen. Auch keine Vollbremsung hinzulegen da die einen Reifen auf Eis, die anderen doch auf Asphalt sein könnten und man in einem Auto ohne moderne Assistenzsysteme schnell die Kontrolle verlieren kann.

Hier allerdings hatte ich es mit einem Elch zu tun. Ein Wesen, das gut zwei Meter Schulterhöhe haben kann. Sein Rumpf, wenn man ihn denn träfe, würde ungebremst auf die Windschutzscheibe prallen und sie vermutlich durchschlagen. Den Blick auf das Tier fixiert, trat ich auf die Bremse, gerade genug, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Als der Elch nach dem ursprünglichen Aufschrecken für sich scheinbar keine Gefahr erkennen konnte, blieb er auf meiner Fahrspur stehen. Dass Elche vor Autos keine Angst haben, ist mir später in Schweden noch öfter aufgefallen. Aus dem Auto heraus kann man sie gut beobachten, nur sobald man aussteigt, ergreifen sie die Flucht. Für ein kurzfristiges Aussteigen war in dieser Situation nun aber wirklich keine Zeit. Ich weiß nicht, wie weit ich von meinem Tempo von 80 km/h bereits heruntergebremst hatte, jedenfalls stand außer Frage, dass ich nicht rechtzeitig zum Stehen kommen würde. Die einzige Möglichkeit, die ich sah, war der Versuch, auf die Gegenfahrbahn auszuweichen. Ich konnte die Richtung des Fahrzeugs noch so weit ändern, dass ich annahm, ich würde das Hinterteil des Elches nur mit der Beifahrerseite streifen, von meinem rechten Außenspiegel hatte ich mich gedanklich aber schon verabschiedet.

In meiner Erinnerung sehe ich alles in Zeitlupe noch einmal vor mir ablaufen: meinen Blick im Augenwinkel auf den Hintern des Elches fixiert, der an der Stoßstange vorbei, den Seitenspiegel verpassend aus meinem Blickfeld verschwindet. Im Rückspiegel sehe ich, dass der Elch unbeschadet auf der Straße steht, es kann sich nur um wenige Zentimeter gehandelt haben. Ich halte nicht an, was sollte ich ihm auch sagen? Fahre weiter, etwas langsamer als vorher, und bin hellwach. Dankbar darüber, dass kein anderes Auto entgegengekommen war. Bevor ich an diesem Tag dem ersten Auto begegnet bin, sah ich noch weitere Elche am Straßenrand, die allerdings zum Glück auch alle dort blieben, wo sie waren.

Meine Gastgeber an diesem Tag waren ein junges Paar mit einem dreijährigen Sohn. Ein Besuch, der mich nach der eindrucksvollen Zeit, in der ich mich vorwiegend mit mir selbst beschäftigt hatte, wieder etwas auf den Boden des menschlichen Daseins zurückgeholt hat.

Sehr herzliche Menschen, auch ihr unkomplizierter Umgang mit dem Kind. Ein einfach scheinendes Leben von Arbeit, Haus und Kind hat auch eine Schönheit. Eine Schönheit, die den Tag genießt und nicht abgehoben in irgendwelchen Sphären nach Antworten sucht. Aber bin ich so ein Mensch? Das Wort des Tages jedenfalls lautet: Familie.

Die Rückreise verging nun gefühlt um vieles schneller als die Herfahrt. Die nächste Station machte ich bei einer Gastgeberin in Schweden, die ich auf der Hinreise schon kennengelernt hatte. Mit ihr, ihrem Freund, ihrem Hund und Pferden hatte ich mich auf Anhieb gut verstanden. Nun konnte ich ein paar Tage bleiben, um vor der langen Rückfahrt noch etwas Ruhe zu finden.

Während sie tagsüber arbeiteten, kümmerte ich mich um die Tiere. Rufus, der Hund, konnte mich beim Langlaufen als Schlittenhund ziehen, den Pferden habe ich mich etwas vorsichtiger angenähert. Ich habe mit ihnen zu reden begonnen, wobei ich mir nicht sicher war, ob zu schwedischen Pferden eine Sprachbarriere vorhanden ist. Zumindest konnte ich zum ersten Mal nachvollziehen, warum Menschen Pferde interessant finden. Große, starke Tiere, die aber doch sehr gefühlvoll erscheinen, denen man am besten begegnen kann, wenn man selbst ruhig und gelassen ist.

Weiter südlich auf der Rückreise, nach einer Pause in einem Fast-Food-Restaurant, während draußen ein Schneesturm tobte, setzte ich mit meinem Auto aus der Parklücke zurück – etwas zu weit in den Neuschnee hinein. Ich steckte fest. Nach all den Kilometern im hohen Norden, die ich in Schnee und Eis bewältigt hatte, kam ich nun nicht mehr vom Fleck, auf einem Parkplatz einer Pizza-Hut-Filiale in Sundsvall. Es hätte heroisch klingendere Plätze für ein derartiges Missgeschick gegeben. Aus vorangegangenen Reisen gelernt, hatte ich diesmal zumindest ein Abschleppseil mit dabei. Ein Radlader, der die benachbarte Tankstelle freiräumte, konnte mir so aus der Patsche helfen.

Die letzte Station dieser Reise in Schweden führte mich vom Freizeitdenken langsam wieder zurück in die Arbeitswelt. Durch eine Kollegin hatte ich von einem kleinen schwedischen Fernsehsender gehört, bei dem sie einmal gearbeitet hatte, und da im Medienbereich ein gutes Netzwerk von Vorteil ist, wollte ich dort einen Besuch abstatten. Für Kost und Logis konnte ich ein paar Tage vor Ort bleiben und habe für die drei Volontäre eine spontane Schulung in Kameratechnik und Bildgestaltung abgehalten.

Ich weiß schon, warum ich kein Lehrer geworden bin. Zumindest ist es etwas unspannend, die ganzen Grundlagen erklären zu müssen.

Auf jeden Fall scheine ich einen guten Eindruck hinterlassen zu haben. Vor meiner Abreise wurde mir von Claus, dem Chef, die Frage gestellt, ob ich mir vorstellen könnte, hier zu arbeiten. Eine Frage, die mich kurz überlegen ließ. Da ich aber in Salzburg beruflich genügend Pläne hatte, mir die Landschaft um Malmö herum nicht wirklich zugesagt hat und der Arbeitsplatz auch nicht sehr viel Potenzial und Attraktivität ausgestrahlt hatte, fiel es mir leicht, dankend abzulehnen.

Nach fünf Wochen in nördlichen Gefilden war ich also wieder zurück in meiner gewohnten Umgebung, meiner gemütlichen Wohnung in einem Holzhaus unter einer großen Linde am Stadtrand von Salzburg.

Es bleibt noch viel über die vergangenen Wochen nachzudenken. Die Erlebnisse, die Orte, aber vor allem die Menschen. So ist das hier nun, nach 8500 gefahrenen Kilometern, das Ende einer Reise – aber wohl der Beginn einer neuen Ära.

War es die Landschaft oder waren es die Menschen – ich kann es nicht genau sagen. Der entscheidende Gedanke, im Tagebuch nie ausformuliert, der auf den Lofoten seinen Ursprung genommen hatte, war dieser: Ich konnte mir nun durchaus vorstellen, eines Tages aus Salzburg wegzuziehen. Konnte erahnen, dass es andere Orte gab, an denen ich mir ein Leben ausmalen konnte. Für mich, der ich mich meiner Heimat doch immer verbunden gefühlt hatte und der außerdem äußerst veränderungsscheu war, war das geradezu revolutionär. Aber einmal aufgetaucht, begann dieser Gedanke in meinem Kopf Wurzeln zu schlagen und zu reifen, bis im Frühjahr das entscheidende Puzzlestück auf den Tisch kam, das den Ausschlag dafür geben sollte, den Gedanken in die Tat umzusetzen.

4Umzug nach Schweden

Zurück in Österreich, wieder im gewohnten Leben integriert, bemerkte ich nach einigen Wochen einen wachsenden Wunsch nach Veränderung. Die vergangenen acht Jahre meines Lebens waren mehr oder weniger gleichmäßig verlaufen. Es war geprägt gewesen von Arbeit und Freizeitaktivitäten, ich hatte mehr in den Tag hineingelebt als ein großes Ziel verfolgt. Diesen Lebensstil hatte ich sehr genossen, forderte er doch wenig Verantwortung und Initiative von mir. Nun war ich aber an einem Punkt angelangt, an dem ich spürte, dass ich satt geworden war – nicht im Sinne von es sattzuhaben, sondern gesättigt wie nach einer guten Mahlzeit, wenn es köstlich geschmeckt hat und man merkt, dass es genug gewesen ist. Es entstand der Wunsch nach einem Umbruch.

Der erste Schritt war der, dass ich mir einen Büroplatz mietete, um eine Trennung zwischen Beruf und Privatleben herzustellen. Ich überlegte, meine Tätigkeit als Cutter beim Fernsehen zu beenden, um eigene filmische Projekte umzusetzen. Doch so weit kam es gar nicht. Im Mai 2018 erfuhr ich von der Kollegin, durch die ich Kontakt zu dem schwedischen Fernsehsender bekommen hatte, dass sie von ihrem Standort im Süden Schwedens in ein um vieles größeres Gebäude in Värmland umziehen würde. Als ich die Bilder von diesem alten Tonstudio sah, umgeben von Wald und See, war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss: Dort wirst du hingehen.

Ich kannte diese Gegend bereits. Im nahegelegenen Glaskogen Nationalpark hatte 2012 meine Faszination für den Norden auf einem Pfadfinderlager ihren Anfang genommen. Seitdem war ich des Öfteren dort gewesen – zum Kanufahren und Wandern im Sommer, auch zu meiner ersten Winterreise in diesem weitläufigen Gebiet von Seen, Wäldern und Sümpfen. Die nächsten Abende waren geprägt von Träumereien und Gedankenspielen. Wie wäre es denn wohl, würde ich tatsächlich diesen Schritt wagen? Eine Entscheidung dieser Größenordnung hatte ich bis dahin gefühlt noch nie getroffen. Ich war immer sehr lange in gewohnten Situationen verblieben, bevor ich etwas geändert habe. Aber wenn sich einmal eine mögliche Veränderung herauskristallisiert hatte, dann ging es oft schnell. So schrieb ich wenige Tage später eine E-Mail nach Schweden – Betreff: „Eine hypothetische Frage“ –, um zu erfahren, ob das Arbeitsangebot noch bestünde. Nach kurzem Hin und Her, was wohl nur dazu diente, den Anschein zu erwecken, nicht unvernünftig und vorschnell Entscheidungen zu treffen, stand fest: Ich ziehe in den Norden, ab Oktober, erst einmal für ein Jahr. Und plötzlich erschien alles in anderem Licht. Eine neue Tür war geöffnet, ein vielversprechender Ausblick tat sich auf, und ich konnte es kaum erwarten, über diese Schwelle zu gehen.

Ich finde es interessant zu beobachten, wie sich die Sicht auf das Jetzt ändern kann, wenn ein neuer Ausblick auf die Zukunft besteht. Was zuvor mühsam und wie eine endlos wiederkehrende Schleife des ewig Gleichen erschien, hat nun einen Horizont, ein sichtbares Ende. Dadurch wird aus etwas Unbegrenztem etwas Limitiertes, in gewisser Weise eine Wertsteigerung. Der letzte Arbeitstag, die letzten Klettertouren, die letzten Spieleabende und der letzte Wohnungsputz (für den ich mich an dieser Stelle auch noch mal recht herzlich bei meiner ganzen Familie bedanken möchte! Und bei meiner Schwester entschuldige ich mich dafür, dass sie den Kaktus, den sie mir beim Einzug geschenkt hatte, bei dieser Gelegenheit vertrocknet vorfand).

Etwas hinter sich zu lassen, ist auch oft mit Wehmut verbunden. Platz und Zeit sind limitiert, und wer beide Hände voll hat, kann nicht nach Neuem greifen. Das, was ich bis dahin in Händen gehalten habe, meinte ich nun schon gut genug zu kennen. So ist mir das Loslassen wohl leichter gefallen als zum Beispiel meinen Eltern, die mir immer ein sicheres Zuhause geboten haben, für das ich jetzt im Erwachsenenalter immer dankbarer werde. Auch wenn ich es sehr schätze, wirklich verstehen, was es bedeutet, Kindern diese Geborgenheit zu geben, kann ich wohl erst, sollte ich einmal selbst Kinder großziehen. Mit auf diesen Weg nehme ich mir den Spruch einer Karte von der Pinnwand in der Küche meiner Eltern. „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Was meine Wurzeln waren, wusste ich. Nun war es an der Zeit zu fliegen.

Nun, allerdings nicht wörtlich – denn ich fuhr mit dem Auto nach Schweden. Vollgepackt mit Kisten voll Brauchbarem, Nostalgischem und so manchem Unnötigen, ließ ich Salzburg hinter mir und spulte Hunderte Kilometer deutscher Autobahn ab. Zur Musik der Gruppe Tag7, für die ich am Abend zuvor noch spontan ein Konzert gemischt hatte, nachdem deren Tontechniker ausgefallen war. Als Dankeschön bekam ich eine CD ihres neuen Albums, das nun zum Soundtrack meines Abschieds und Neuanfangs werden sollte. War es die Musik mit Textzeilen wie „Neues Leben starten, unerforschte Wege gehen, du sollst Mögliches ergreifen und dir Flügel verleihen“ oder meine melancholische Ader – auf jeden Fall fügte sich alles wunderbar zu einer emotionalen Autofahrt zusammen, deren Grundstimmung die Freude und Spannung auf das Kommende war.

Mit im Gepäck waren nicht nur mein reduziertes Hab und Gut, sondern auch eine Idee. Nachdem für mich nun sowieso alles neu werden würde, wollte ich diese Gelegenheit nutzen, um den schlummernden Gedanken eines Lebens im Zelt aufzuwecken. Es erschien mir die beste Gelegenheit dafür.

Erstens musste ich mich ohnehin in einer neuen Umgebung zurechtfinden. Ob das jetzt eine neue Wohnung, ein Zimmer oder Zelt wäre, war unerheblich. Zweitens war mein Besitz auf das Nötigste reduziert, ich brauchte nicht viel Platz. Drittens bot die Lage des Arbeitsplatzes die Möglichkeit, im Wald nebenan das Zelt aufzustellen, die Sanitäranlagen zu nutzen und tagsüber drinnen im Warmen zu arbeiten. Es erschien mir die perfekte Möglichkeit, das Zeltleben auszuprobieren. Manche Freunde und Familienmitglieder, denen ich von dem Vorhaben erzählte, waren davon begeistert, bei anderen meinte ich eine vorsichtige Skepsis zu erkennen, einen Blick, der diese doch eher ungewöhnliche Idee nicht einzuordnen wusste. Meinem Arbeitgeber erschien ich wohl auch überzeugt genug, dass er zustimmte. Außerdem bekam ich alle Unterstützung von Platz und Werkzeug für mein Vorhaben und die Zusage, bei Bedarf jederzeit wieder zurück ins Gebäude ziehen zu können. Für den ersten Monat würde ich eines der Gästezimmer des Hotels beziehen, das neben den Studioräumen angeschlossen war.

Abgesehen davon, dass ich mich in meinen neuen Job einfinden musste – ich war neben vielen Nebentätigkeiten vorrangig für den technischen Aufbau von Studio- und Regieraum zuständig –, waren die Abende gefüllt mit den Planungen für mein Leben im Zelt. Die wichtigste Entscheidung war die, was für ein Zelt ich denn überhaupt nehmen würde. Klar war mir, dass es ein Stoffzelt sein sollte. Nicht nur weil der Baumwollstoff im Gegensatz zu Kunststoffzelten atmungsaktiv ist und sich dadurch ein angenehmeres Raumklima ergibt. Vor allem aber kann man in Stoffzelten einen Ofen installieren, neben dem Zelt selbst der wohl wichtigste Gegenstand, um einigermaßen angenehm über den Winter zu kommen. Des Weiteren sollten der Zelteingang und die Lüftungsschlitze mit Fliegengitter versehen sein, da in Schweden Gerüchten zufolge die ein oder andere Mücke anzutreffen sein soll. Der Zeltboden sollte auch fest mit der Zeltwand verbunden sein, um Nagetiere draußen zu halten.

Mit all diesen Anforderungen dünnte sich das Angebot an Zelten schon deutlich aus, und so entschied ich mich für ein Sibley Bell Tent der belgischen Firma CanvasCamp. Diese Zeltform hat eine Mittelstange und eine kreisrunde Grundfläche, ähnlich einem Tipi, mit dem Unterschied, dass die Zeltbahn nicht durchgehend von der Spitze bis zum Boden reicht, sondern durch eine kleine Seitenwand von 60 Zentimeter Höhe abgesetzt ist. Dadurch ergibt sich mehr nutzbarer Raum bis an den Rand. Von der Größe her erschien mir das Modell mit fünf Meter Durchmesser passend. Die Mittelstange hatte dabei rund drei Meter Höhe, was mir in der Mitte einen gewissen Radius gab, in dem ich mit meinen 1,86 m Körperlänge noch aufrecht stehen konnte.