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Ein ganz normaler Sommertag im August. Zwei Kinder sind bei den Großeltern in den Bergen untergebracht, während die Eltern die Wohnung in Oslo renovieren. Doch dann wird Edvin, der Sohn, plötzlich krank. Er klagt über heftige Kopfschmerzen. Die Großeltern fahren ins Krankenhaus. Aber jede Hilfe kommt zu spät. Wenige Stunden später ist der Junge tot, kurz vor seinem siebten Geburtstag. Am Morgen seines Todes hatte er noch gelernt, wie man ein Rad schlägt. Wie lässt sich eine solche Erfahrung verarbeiten? Die Schriftstellerin Therese Tungen erzählt, was passiert, wenn man ein Kind verliert. Ihr Buch ist eine intime, schonungslose, tiefgründige und poetische Erkundung des Verlusts und gleichzeitig eine Liebeserklärung und ein Geschenk an alle, die am Leben sind.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Therese Tungen, geboren 1977, arbeitete viele Jahre beim norwegischen Verlag Oktober, wo sie als Lektorin u. a. Karl Ove Knausgårds Min Kampbetreute. Sie hat drei Bücher geschrieben, von denen ihr zweites, Love, or Something Like It, auf der Shortlist für den Literaturpreis der Europäischen Union 2020 stand. Sie lebt in Norwegen.
Ein ganz normaler Sommertag im August. Zwei Kinder sind bei den Großeltern in den Bergen untergebracht, während die Eltern die Wohnung in Oslo renovieren. Doch dann wird Edvin, der Sohn, plötzlich krank. Er klagt über heftige Kopfschmerzen. Die Großeltern fahren ins Krankenhaus. Aber jede Hilfe kommt zu spät. Wenige Stunden später ist der Junge tot, kurz vor seinem siebten Geburtstag. Am Morgen seines Todes hatte er noch gelernt, wie man ein Rad schlägt. Wie lässt sich eine solche Erfahrung verarbeiten? Die Schriftstellerin Therese Tungen erzählt, was passiert, wenn man ein Kind verliert. Ihr Buch ist eine intime, schonungslose, tiefgründige und poetische Erkundung des Verlusts und gleichzeitig eine Liebeserklärung und ein Geschenk an alle, die am Leben sind.
My love is dying; my love
not only a person, but an idea, a life.
What will I live for?
Where will I find him again
if not in deep, dark wood
from which the lute is made.
louise Glück | »lament« | vita nova
Lass uns mit dem Licht beginnen.
Dem Licht in Edvin, Edvin, der leuchtet.
Ich will an einem Bild festhalten, aber es geht nicht.
Ich sehe es vor mir, wie er letzten Sommer war,
immer in Bewegung.
Edvin, der sich bückt
und zärtlich den Hund streichelt.
Edvin, der vorausläuft und den Weg verlässt.
Er sitzt im Gras und schaut nach vorn.
Strickpullover, löchrige Jeans, halblanges Haar.
Edvin, der die Schuhe auszieht,
die Hosen hochkrempelt
und ins eiskalte Wasser steigt.
Irgendwo in der Nähe ist Idun. Edvin und Idun.
Idun und Edvin. Große Schwester, kleiner Bruder.
Und ich, ihre Mama.
Ich sehe, wie Edvin die Arme ausstreckt
und lacht. Und lacht.
Ich kann das Bild nicht festhalten.
Ich hoffe, du freust dich über die Erinnerungen, sagen sie.
Sie verstehen nicht. Die guten Erinnerungen tun weh.
Ich verspreche, ich werde euch Edvin geben, wie er war.
Doch zuerst muss ich vom Ende erzählen.
Es war Montag, der 10. August. In zwei Tagen sollte ich sie abholen. Seit zwölf Tagen hatte ich sie nicht gesehen, und das war etwas zu lang. Eine Woche ohne die Kinder war okay, das konnte ich aushalten, aber mehr machte mich nervös und ungeduldig. Ich sehnte mich nach ihnen, verspürte ein körperliches Verlangen, ihnen nahe zu sein, sie an mich zu drücken. Am Montagabend war ich völlig erschöpft. Als ich von der Arbeit kam, ging es sofort weiter. Unsere Wohnung sah ganz anders aus, alle Zimmer waren umgeräumt. Eigentlich hätten wir mit der Renovierung fertig sein sollen, aber wir hatten es nicht geschafft, und nun würden wir die Kinder zur Nachmittagsbetreuung schicken müssen. Meine zarten Bürohände waren die harte Arbeit nicht gewohnt. Mein ganzer Körper schmerzte, die Beine, die Arme, alles bis in die Fingerspitzen. Ich muss mich kurz vor den Fernseher setzen, sagte ich zu Bår, ich kann nicht mehr.
Ich legte mich aufs Sofa und schaute eine schwedische Doku über den Fall Knutby an. Ich sah in eine Welt aus Betrug und zynischer Manipulation. Wie wenig doch ein Menschenleben für solche Sektenführer galt, und wozu Menschen imstande waren, bloß um anderen zu gefallen, oder aus Angst, ausgestoßen zu werden. Ich blieb eine Stunde vor dem Bildschirm sitzen, während Bår einen großen IKEA-Schrank zusammenbaute. Dann kam eine Frau namens Agnes, um ein paar Dinge zu holen, die ich gratis auf finn.no angeboten hatte. Töpfe und ein Kinderküchenservice, Spielzeug und Kinderschuhe, Kleinigkeiten, für die die Kinder zu alt geworden waren und die niemand aus unserem Bekanntenkreis brauchte. Gut, dass Idun und Edvin nicht sehen, was ich da verschenke, dachte ich, sie wären bestimmt sauer auf mich. Die vielen schönen Sachen! Agnes und ich trugen sie in ihr Auto. Sie hatte einen ausländischen Akzent und freute sich sehr. Vielleicht fühlte ich mich wie ein guter Mensch, aber es war keineswegs selbstlos. Ich hatte ihr alles aufgeschwatzt, obwohl sie nur ein paar Sachen haben wollte. Das war der Zweck der Annonce auf finn.no: Alles oder nichts.
Regnete es oder hatte es gerade geregnet? Ich sehe noch den nassen Asphalt vor mir. Nachdem Agnes gefahren war, ging ich zu Bår, der gerade eine Wand verputzte, das Gesicht und der Bart voller Staub. Wir überlegten, ob wir Pizza bestellen sollten. Wir können es uns doch trotz Renovierung ein wenig gut gehen lassen, sagte einer von uns.
Ich stieg auf den Dachboden, um mehr Kinderkleider zu holen. Sie waren in große Müllsäcke gepackt, die mit Idun + Edvin, abgetragen beschriftet waren. Ich trug die Säcke die Treppe hinunter.
Ich öffnete die Tür.
Ich ging wieder in die Wohnung.
Ich ging in die Küche. Dort klingelte Bårs Telefon. Während ich dies schreibe, spüre ich es wieder. Dieses Gefühl, dass es ernst war, dass wir uns beeilen mussten. Papa rief sonst nie Bår an, selbst mich rief er so gut wie nie an. Ich verstand es nicht. Was war mit Edvin? Bår wiederholte etwas von hohem Blutzucker. Diabetes, dachte ich. Oh nein, dachte ich. Sicher war er kollabiert, weil er Diabetes bekommen hatte. Ich wusste, wie schlimm das bei Kindern sein konnte, bis hin zum Organversagen. Papa hatte Diabetes, und vor einigen Jahren hatte mein Bruder es auch bekommen. Ich hatte schon öfter den Verdacht gehabt. Edvin war immer so durstig, und manchmal war er morgens ganz kraftlos, wenn er nicht rechtzeitig sein Frühstück bekam. Er sollte mit dem Hubschrauber von der Praxis in Vinstra nach Trondheim oder Oslo geflogen werden. Welches Krankenhaus?, fragte ich. Mein Herz schlug wild. Welches Krankenhaus?
Bår legte auf und erzählte mir alles. Sie wussten nicht, was es war. Edvin war plötzlich schlecht geworden, als sie zu Abend aßen. Er hatte sich an den Kopf gegriffen und »Hirn eingefroren« gesagt. Ich glaube, Papa sagte, er sei kaum ansprechbar gewesen. Als wäre er weit fort. Bår hat nichts von einer Ohnmacht gesagt, soweit ich mich erinnere, aber es kann sein, dass ich es nicht mehr weiß.
Nicht Edvin!, rief ich.
Ich schrieb eine Mail an zwei Kollegen im Verlag und sagte, ich würde am nächsten Tag nicht kommen. Edvin sei krank und ich mache mir Sorgen, schrieb ich, aber ich hoffe und glaube, es sei nichts Ernsthaftes. »Wie auch immer, morgen komme ich nicht. Ich muss zu ihm. Wir halten Kontakt.«
Wir erfuhren, dass sie ihn in die Universitätsklinik flogen.
Es würde ungefähr eine Stunde dauern, bis sie dort waren.
Wir hatten eine Stunde.
Im selben Augenblick, als das Telefon klingelte, kam das Dröhnen. Vibrierend, gefährlich. Wie der Lärm eines großen Fahrzeugs, das auf uns zudonnerte. Ich packte einen Koffer. Sandalen und Sommerkleid. Ich brauchte etwas zum Umziehen. Haarbürste und Shampoo. Ein Manuskript, das ich gerade las. Wir würden viel warten müssen, es würde sicher ein paar Tage dauern, wenn es so ernst war. Diabetes. Was konnte Edvin sonst haben? Ich stopfte rasch ein T-Shirt und eine Hose für ihn in den Koffer. Eine Unterhose und eines seiner Stofftiere, Mikkel Fuchs, das er bekommen hatte, als er sich den Schnuller abgewöhnte. Auch Edvin brauchte Kleider.
Wie viel Hoffnung in diesem Koffer lag, dachte ich – nicht in diesem Moment, aber später. Dass Edvin seine eigenen Kleider brauchte. Und seinen Teddy.
Ich winselte leise, die Angst musste heraus. Kann ich schnell duschen?, fragte Bår, der voller Staub war. Ja, sagte ich, wir haben eine Stunde.
Wir waren den ganzen Sommer in Kvamsfjellet, die Kinder und ich, während Bår in Oslo die Wohnung renovierte. Edvin fragte mich oft, wie viele Tage es noch bis zu seinem siebten Geburtstag seien. Wir zählten gemeinsam, und beim letzten Mal kamen wir auf 71 oder 72 Tage. Das dauert noch ein bisschen, sagte ich. Nicht so lange, sagte er und meinte, ich solle schon mal Geschenke kaufen. Er rief ständig den Onlineshop von Outland auf und zeigte mir, welche Lego-Sets er sich wünschte. Ich lachte. Wir haben noch viel Zeit, sagte ich.
Ende Juli schickte ich die Kinder zu meinen Schwiegereltern nach Steinkjer und fuhr nach Oslo, um Bår mit der Wohnung zu helfen, damit alles halbwegs in Ordnung wäre, bis die Kinder heimkamen. Ich ging wieder zur Arbeit, in zwei Wochen würde die Schule beginnen. Beide Kinder sollten ihr eigenes Zimmer bekommen, weshalb wir alles bis auf das Bad umbauen mussten. Die Küche wurde geteilt und zu zwei Kinderzimmern umgestaltet, alle anderen Zimmer wurden umfunktioniert, Böden herausgerissen, Deckenverkleidungen entfernt, Wände gespachtelt und gestrichen. Es hatte schon den ganzen Sommer gedauert, und noch immer herrschte Chaos. Bår und ich beschlossen, den Kinderzimmern Vorrang zu geben, damit die Kinder wenigstens ein Bett und Platz für ihre Sachen hatten. Wir holten die Möbel aus dem Keller, wo sie auf den Gängen standen. Wir stellten alte Dinge auf finn.no ein. Wir kauften gebrauchte Holzbetten für beide Kinder und mussten weit hinausfahren, um sie abzuholen. Jeden Tag schickten wir Bilder an die Kinder, um ihnen zu zeigen, wie es in der Wohnung aussah. Es gab viel mehr zu regeln, als ich gedacht hatte. Die Handwerker hätten eigentlich seit Wochen fertig sein sollen, doch sie kamen und gingen weiterhin. Irgendein Teil fehlte meistens, und dann mussten sie bis zum nächsten Tag warten. Am Sonntag, dem 9. August, waren die Kinder wieder auf Mamas und Papas Hütte im Gudbrandsdal, und wir verabredeten, dass ich in ein paar Tagen den Zug nehmen und sie abholen sollte. Sie schickten uns ein Video, auf dem Idun und Edvin vor der Hütte sitzen und ihre Holzmesser putzen. Die Sonne scheint, im Hintergrund hört man laute Musik aus dem Radio. Sie putzen so schnell, dass man glaubt, jemand habe den Film schneller laufen lassen.
Später an diesem Tag sprachen wir über Facetime mit ihnen. Sie waren glücklich und aufgeregt. Wir gingen mit dem Handy in der Wohnung umher und zeigten ihnen ihre Zimmer. Ich machte einen Screenshot: Bår und ich in dem kleinen Bild unten, Idun auf dem großen und am Rand eine Hälfte Edvin mit halb geschlossenem Auge und verwuscheltem Haar.
Ihre Ranzen standen für den Schulbeginn in einer Woche bereit. In Edvins Zimmer hatten wir eines der alten Betten gestellt. »Aaaaber – ich weiß nicht, ob ich in dem Bett schlafen werde«, sagte Edvin. Ich antwortete nicht. »Ich weiß NICHT, ob ich darin schlafen werde«, wiederholte er. »Ja, ja, ich höre dich, Edvin«, sagte ich und tat, als wäre ich verärgert. Du wirst darin schlafen, dachte ich im Stillen. Edvin mochte alles, was altmodisch war, ein ausziehbares Bett würde bestimmt zu ihm passen.
Jetzt steht es auseinandergebaut im Keller und ist wieder auf finn.no annonciert. Du hattest recht, du würdest nicht darin schlafen.
Montagabend, 12. Oktober. Der Himmel ist dunkel, wenn wir um sieben Uhr aufstehen, und dunkel am Abend. Es ist fast Mitternacht, als ich diese Zeilen schreibe. Vor neun Wochen ist Edvin gestorben. Edvin ist tot. Ich schreibe diese Worte und starre sie an. Es ist das Einzige, woran ich denken kann. Eigentlich wollten wir es uns heute gemütlich machen, Bier trinken und fernsehen, aber ich habe nur geweint, und es hat lang gedauert, bis ich aufhörte. Danach war meine Stimme heiser und hell, als könnte ich die Worte nur noch pfeifen.
Ich vermisse ihn so schrecklich, sagte ich zu Bår. Wir waren uns so ähnlich. Ich kannte ihn so gut.
Ja, sagte Bår.
Ich schaffe es gerade so weiterzuleben.
Denn Edvin ist tot. Er ist fort. Er starb an jenem Abend. Es war kein Diabetes, es war eine Gehirnblutung. Ich weiß noch immer nicht, wann genau er starb, wann alles, was ihn ausgemacht hat, verschwand und nur sein Körper übrig war.
Ich weiß, dass ich aufschreiben muss, was mit uns geschieht. Schreiben ist wie Gehen, ich tue es einfach oder zwinge mich, es zu tun. Ich bin ein schreibender Mensch, denke ich. Ich muss aufschreiben, was mit mir geschieht. Der Gedanke liegt nahe und er bedeutet Bewegung. Wenn ich schreibe, werde ich mich besser an alles erinnern.
Aber was mit mir geschieht, geht über mein Denkvermögen hinaus, das weiß ich.
Wie ich diesen Text schreiben soll, weiß ich noch nicht. Schrift ist eine Linie, sie hat einen Anfang und ein Ende, eine Entwicklung. Doch in dem Augenblick, als Edvin starb, brach die Zeitachse. Die Zeit brach zusammen. Wir befinden uns nicht mehr auf der linearen Achse, sondern in einer Landschaft, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander existieren. Plötzlich liegen meine Kindheitserfahrungen ganz dicht an Edvins Tod. Ich fühle mich wie ein Kind. Ich bin ein kleines Mädchen und denke oft an meinen Sandkastenfreund Edmund, der wie ein zweiter Bruder für mich war. Wenn ich Edvin rufen wollte, hätte ich ihn oft beinahe Edmund genannt, der Name lag mir auf der Zunge. Und mein kleiner Bruder Joachim, ich bin so froh, dass er am Leben ist. Dass nicht alle kleinen Brüder verschwinden.
Edvin ist Edvin, denke ich. Was es bedeutet, weiß ich nicht. Wer ist er nun, da er nicht mehr hier ist? Ich will alles zusammenraffen, was ich finde, um ein Bild von ihm zu schaffen, von ihm und uns, die mit ihm lebten. Es wird kein komplettes Porträt, das ist unmöglich, sondern Stücke und Scherben, wie all die kaputten Porzellansachen daheim, die Bår wieder zusammenklebt. Die Schrift wird keine Kathedrale, sondern eine Holzhütte, eine selbst gezimmerte Hütte, die den geliebten Körper umschließt, das schöne Gesicht, ihn, der nicht mehr hier ist, sondern Asche, die uns davonweht.
Ich will, dass die Leute erfahren, wie er war und was für ein Leben wir zusammen lebten. »Alles zerreißt«, sagte meine Tochter, als sie einmal besonders verzweifelt war. Wenn es Tag ist, zerreißt alles, sagte sie. Es sollte nur noch Nacht sein, sagte sie, und keine Tage mehr geben. Sie sprach aus, was wir alle fühlten.
Ich will erzählen, wie die Trauer ist. Ich will zeigen, wie sie unseren Körper auffrisst, wie sie an einem zehrt und wie die Erschöpfung uns hinabzieht, wenn wir monatelang jede Minute getrauert haben. Ich will zeigen, wie es ist, nicht um zu trösten, sondern um ein Signal an andere zu senden, die es ebenso zerreißt: Wir sind hier, so geht es uns. Und: Wir überleben. Wir sterben nicht an der Trauer. Kommen wir je aus ihr heraus und sind wir dann noch wir selbst?
Ich weiß es nicht.
Vor ein paar Wochen dachte ich: Wenn ich einmal sterbe, muss ich wenigstens nicht mehr um Edvin trauern. Ich bin dreiundvierzig. Wie viele Jahre habe ich noch? Vierzig? Fünfzig? Wie soll ich es aushalten, ohne ihn auf der Erde zu sein? So dachte ich, als ich am Fluss spazieren ging. Das tiefe, reißende Wasser zog mich an wie nie zuvor, ich spürte seinen Sog. Normalerweise bin ich gefasster. Wir schicken einen Brief an Familie und Freunde, in dem steht: »Wir möchten, dass unser Heim wieder ein Ort für Lachen und Freude wird.« Der Wille ist da, er ist stark und er hat uns in den letzten Wochen über Wasser gehalten. Doch der Wille ist auch ein dünner Draht in unserem Inneren, so fest gespannt, dass er zittert. Meine Lippen sind straff, mein Körper ist hart, ich bin immer in Alarmbereitschaft.
Edvin ist tot, und ich weiß noch immer nicht, wann genau er starb, wann alles, was ihn ausgemacht hat, verschwand und nur sein Körper übrig war.
In unserem Schlafzimmer, in dem großen Bett, das Bår gezimmert hat und das bei der kleinsten Bewegung knarrt wie ein altes Segelboot, schlafen Idun und Cherry, der Hund meiner Schwester Elisabeth, ein Labradoodle, den wir für ein paar Tage ausgeliehen haben. Mama hat Gardinen genäht, die wir endlich aufgehängt haben. In Iduns Zimmer höre ich Mama, die Iduns Etagenbett kobaltblau und die Leiter Marlboro-rot streicht. Das Bett, in dem Idun noch immer nicht schläft und vielleicht auch nie schlafen wird. Bårs Vater Erik hat es gezimmert. Er hat dazu Teile des alten Etagenbetts der Kinder verwendet.
Morgen werde ich mit der Ärztin telefonieren, die im Rettungshubschrauber dabei war. Sie wird mich um neun Uhr anrufen. Ich muss sie fragen, ob sie weiß, wann Edvin starb. Ob es im Hubschrauber war oder bei der Landung, wie Mama glaubt. Oder im Krankenhaus. Es ist wichtig für mich zu wissen, wann er starb.
Möchtest du sie auch etwas fragen?, sage ich zu Bår. Auch er fragt sich: Wann starb Edvin?
Aus dem Tagebuch, Freitag 30. März 2018
Ich träumte, wir seien auf einem Badeausflug. Edvin hatte einen Schwimmreif und trieb ein Stück entfernt von uns im Wasser. Wir waren irgendwo im Ausland, rings um uns nur Meer. Der Himmel verdunkelte sich, das Wasser wurde grau und die Wellen stiegen an. Wir müssen Edvin zu uns holen, sagte ich zu Bår. Er trieb davon, verschwand in oder hinter einer Welle. Ich hatte solche Angst, das Meer war so grau.
Wenige Tage nach dem Todesfall suche ich Edvins Namen in meinem digitalen Tagebuch, zwei Word-Dokumente, die sich bis 2011 zurück erstrecken, als Idun geboren wurde. In meinem Tagebuch stehen auch Träume, zumindest manche. Schon seit er klein war, habe ich oft von Edvin geträumt. Ich träumte, er würde uns entrissen, dass wir ihn irgendwo zurückließen und nicht wiederfanden oder dass er aus dem Fenster fiel. Oder in den Wellen verschwand.
Ich erzählte Bår von meinen Träumen und achtete darauf, dass Idun nichts hörte. Du träumst viel öfter von Edvin als von mir, würde sie sagen. Vielleicht hatte sie recht. Aber Edvin war der Jüngste, er war unser Nesthäkchen. Tagsüber, wenn die Sonne schien, hatte ich weniger Angst um ihn, aber in meinen Träumen kam sie wieder. Ich fragte mich selbst, warum ich mehr Angst um ihn als um Idun hatte. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er öfter ohne uns in Kvam war. Manchmal verbrachte er eine ganze oder gar zwei Wochen bei Mama und Papa. Wie einfach es ist, nur ein Kind zu haben, sagten wir dann und hatten sofort ein schlechtes Gewissen. Durfte man so etwas laut sagen? Wir schliefen eine halbe Stunde länger und führten lange zusammenhängende Gespräche mit Idun beim Abendessen. Edvin liebte es, in Kvam zu sein, dort bekam er Honig aufs Brot und durfte zum Frühstück fernsehen.
Manchmal sagte er sogar, er wolle nicht mehr bei uns wohnen oder dass er nicht zur Familie gehöre. Wenn er verzweifelt war, schlug er sich manchmal mit der Faust an den Kopf, bis er weinte. Vielleicht machte ich mir deshalb so große Sorgen. Oder waren es seine Füße, die ihm öfter wehtaten und die ich massieren musste, wenn er nachts aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte? Oh, der Schmerz ist umgezogen!, sagte er einmal, als ich seinen Fuß hielt und ihm plötzlich die Ohren wehtaten.
Nun träume ich wieder von Edvin, von seinem Tod. Ich träume, dass er schon tot ist oder noch am Leben. Oft taucht er nur flüchtig auf, sodass ich kaum mit ihm reden kann. Er ist jede Minute des Tages in meinen Gedanken und jedes Mal, wenn ich im Dunkeln aufwache. Auch wenn ich morgens wach werde, ist er sofort da. Edvin ist tot. Wie oft habe ich diesen Satz schon gedacht? Ich sehe ihn vor mir, wie er tot im Krankenhausbett liegt, angeschlossen an ein Beatmungsgerät. Ich sehe ihn sterbend vor mir, in vielen Szenarien, bei denen ich dabei bin. Wie er ganz plötzlich krank wird, wie ich ihn in Unterwäsche in ein Auto trage. Ich wähle die 113 und erkläre: Wir brauchen Hilfe, schnell. Er stirbt auf immer neue Art und Weise. Der Krisenpsychologe, Kjell Magnus, zu dem Bår und ich seit Edvins Tod gehen, sagt, dies komme wahrscheinlich von dem großen Schock und weil ich nicht dabei war, als es geschah. Ich war nicht dabei und muss es deshalb verarbeiten, indem ich es mir selbst in immer neuen Varianten vorstelle. Mama hat ihn ausgezogen, weil er so heiß war. Sie hat den Arzt angerufen und gefragt, was sie mit ihm tun solle. Sie hat ihn ins Auto getragen und auf den Schoß genommen. Papa ist nach Vinstra hinabgefahren, so schnell er es wagte.
Die Straße vom Kvamsfjell in die Ortschaft ist steil und kurvig. Idun saß auf dem Vordersitz und umklammerte ihren Teddy. Fahr nicht so schnell, siehst du nicht, dass das Mädchen Angst hat?, sagte Mama.
Idun erzählte mir später, dass sie tief und langsam atmete, wie sie es gelernt hatte. Ein meditatives Atmen, um ihre Furcht in Schach zu halten.
Ich spüre, dass mir übel wird, und schüttele den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. Stattdessen versuche ich, eine Sommererinnerung aus Kvamsfjell aufzuschreiben, doch auch davon wird mir übel. Ich muss jeden Tag schreiben, aber es fällt mir leichter, über das zu schreiben, was hier und jetzt geschieht, mit mir und uns, als über Edvin, als er am Leben war. Es ist schwierig, über seinen Tod zu schreiben, aber wenn ich das geschafft habe, kann ich ihn vielleicht wieder beschreiben, wie er im Leben war: humorvoll, selbstkritisch, bisweilen total verrückt.
Ich habe mit der Ärztin aus dem Rettungshubschrauber gesprochen, eine Dreiviertelstunde lang. Seit dem Einsatz hat sie jeden Tag an Edvin gedacht und an uns, sagte sie. Sie hat mir erzählt, was an jenem Tag vom Abflug in Vinstra bis zur Landung in der Osloer Universitätsklinik geschah. Der Helikopter war aus Dombås gekommen. Als er beim Ärztezentrum von Vinstra landete, waren mehr als zwei Stunden vergangen, seit es Edvin beim Abendessen schlecht geworden war. Ohne dass es jemand sehen konnte, breitete sich die Blutung in seinem Kopf aus und verursachte einen solchen Druck, dass kein Blut mehr ins Gehirn nachfließen konnte. Sie sahen nur einen Körper, der sich in Krämpfen wand, einen kranken Jungen mit erweiterten Pupillen und schwachen Reflexen. Aber sie sahen nicht, was hinter seinen geschlossenen Augen geschah. Bevor sie abflogen, erzählte sie, hatten sich seine Pupillen wieder zusammengezogen. Er bekam Stesolid und vielleicht noch etwas anderes zur Beruhigung. Sein Körper entspannte sich. Die Stimmung war ruhig, es gab keine Krise zu diesem Zeitpunkt. Bevor sie abflogen, begrüßte sie noch rasch Idun und Papa, die dabeistanden. Sie sollten wissen, dass sie die beiden gesehen hatte, das sei ihr wichtig gewesen. Mama stieg mit in den Helikopter. Sie musste sich anschnallen, und wenn sie mit der Ärztin kommunizieren wollte, musste sie auf einen Knopf drücken. Von ihrem Sitz aus konnte sie Edvins Hand nicht erreichen. Als der Hubschrauber aufstieg, sah Mama Papas Auto als kleinen Punkt am Boden. Er fuhr erst los, als der Helikopter verschwunden war. So war es, obwohl ich es mir anders vorgestellt hatte. Ich hatte mir vorgestellt, wie Idun dort unten auf dem Asphalt stand, ihren Teddy umklammerte und dem Helikopter hinterherschaute.
So vieles muss korrigiert werden.
Der Flug sei ruhig verlaufen, sagte die Ärztin. Sie mussten herausfinden, wohin sie Edvin fliegen sollten. In dem medizinischen Abschlussbericht schrieb sie »wohnhaft in Oslo« mit einem Fragezeichen in Klammern. Sie waren nicht ganz sicher, glaubten aber, dass die Eltern sich in Oslo aufhielten und flogen dorthin. Sie sah, dass es Edvin schlecht ging, wusste aber nicht, was er hatte. Sie zog Verschiedenes in Erwägung, das die gleichen Symptome verursacht, zum Beispiel Epilepsie oder einen Gehirntumor. Seine Werte waren während des Flugs in Ordnung, er atmete, und sein Blutdruck war akzeptabel. Sie saß neben ihm und streichelte ihn. Er war bewusstlos, aber seine Werte waren okay. Mama drückte auf den Knopf und fragte, ob es vielleicht ein Schlaganfall sein könne. Die Ärztin antwortete nicht, wahrscheinlich hatte sie sie nicht gehört. Wenige Minuten vor der Landung maß sie Edvins Blutdruck für den Bericht, und in diesem Moment schoss er nach oben und Edvin bekam Atemnot.
Als sie auf dem Heliport der Universitätsklinik landeten, hörte er auf zu atmen, und sie »beutelten« ihn – gaben ihm Luft mit einem einfachen, handbetriebenen Respirator.
Ich fragte sie: Als Sie dort im Hubschrauber saßen, dachten Sie nicht, dass dieser Junge sterben würde?
Nein, sagte sie. Ich dachte nicht, dass er sterben würde.
Sie war überrascht, als es ihm plötzlich so schlecht ging.
Ich fragte, wann Edvin ihrer Meinung nach gestorben sei.
Ich glaube, er starb, als wir landeten, sagte sie.
So habe ich es auch verstanden, sagte ich und weinte.
Donnerstag, 2. Juli, die Ferien hatten gerade begonnen. Mama wollte selbst fahren, ich saß auf dem Beifahrersitz. Hinter uns die drei blonden Kinder: Edvin, Idun in der Mitte und rechts Johannes, der jüngste Sohn meines Bruders. Wir wollten einen Monat auf der Hütte verbringen – ganze Tage könnten wir vertrödeln. Wir fuhren die kurvige Straße von Kvamsfjell hinab, wo das große Hochwasser 2013 alles mit sich gerissen hatte, Steine, Bäume, Häuser. Die Flussufer waren neu angelegt, erdrutschsicher planiert, und das Grün hatte die zerstörten Gebiete wieder halbwegs bedeckt. Wir wollten nach Vinstra, um ein paar Sachen einzukaufen. Anstelle der E6 nahmen wir die alte Straße, von der aus wir mehr von der Ortschaft sahen: die längst geschlossene Spanplattenfabrik, die Kirche, die inzwischen ebenfalls geschlossene Tankstelle, die zuerst mein Großvater und dann mein Onkel betrieben hatte, und an der ich und etliche meiner Geschwister gejobbt hatten. Wir waren erst wenige Tage auf der Hütte und wollten den ganzen Sommer dort bleiben, während Bår in Oslo die Wohnung renovierte.
Johannes kaute schmatzend Kaugummi, die Kinder plapperten so laut, dass Mama sie bat, ein wenig leiser zu sein. Johannes erzählte einen Witz über eine Frau, die unter der Dusche stand, als es an der Tür klingelte. Er ließ sich viel Zeit. Als er fertig war, erzählte Edvin einen Witz über die Bewohner der Insel Mols, den er von Großvater gelernt hatte. Es ging um die zwei Volksgruppen, die die Grenze zwischen ihren Gebieten ziehen sollten, indem sie einen Hut vor sich auf den Boden legten. Mols-Witze waren die besten, da waren Edvin und Idun sich einig.
Es war so schönes Wetter, der Himmel war tiefblau. Am Horizont hingen dicke graue Wolken. Auf beiden Seiten der Straße wiegten sich grüne Birken im Wind. Mama wusste von jedem Bauernhof, an dem wir vorbeikamen, wer früher dort gewohnt hatte und wer heute dort wohnte, wer verheiratet und wer geschieden war.
Mama war Vorsängerin. Sie brachte den Kindern ein Lied bei, das sie schon in der Grundschule gelernt hatte. Ich nahm das Telefon und filmte sie. Auf dem Video sieht man zuerst den Himmel und die Straße, dann drehe ich die Kamera um. Da sitzen sie und singen laut und deutlich: »Mit einem Lächeln geht vieles leichter. Mit einem Lächeln erreichst du mehr. Die Welt wird bunter, der Himmel heiter, und vieles scheint nicht mehr so schwer.«
Die Kinder singen das Lied wieder und wieder. Idun mit ihrem zierlichen Gesicht, das mit Sommersprossen wie aus einem Kinderbuch übersät ist, und dann sieht man kurz Edvin, mit schwarzem T-Shirt und langen Haaren, ehe das Video abbricht. Er lächelt mit zusammengekniffenen Lippen, man sieht keine Zähne. Wenn ich mir das Video ansehe, frage ich mich, wann er sich das angewöhnt hatte. Mochte er sein Lächeln nicht? Glaubte er vielleicht, ein großer Junge müsse so lächeln? Es sah so einstudiert aus, seine Schwester hatte das nie getan. Bestimmt gewöhnt er es sich wieder ab, dachte ich damals.
Sommerliche Ausflüge mit dem Auto gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Auch wir saßen zu dritt auf dem Rücksitz, hinter uns im Kofferraum ein Labrador. Aus dem Autoradio kam Countrymusik, und wir fuhren irgendwohin. Oft wussten wir gar nicht, wohin es ging. Nach links oder rechts?, fragte Papa an der großen Kreuzung, wo die E6 abzweigte.
Ende Juni 2020 waren die Kinder voller Erwartungen an den Monat, der vor ihnen lag. Es würde ein ganz anderer Sommer werden, sagten sie mehrmals. Wir werden das Beste draus machen, sagte ich.
Die Hütte, eigentlich ein alter Hof mit Wirtschaftsgebäude, Stall und Scheune sowie einem dazugehörigen Acker, ist komplett eingerichtet, mit Bad, Spülmaschine und allem, was man braucht. Jeden Sommer verbringen wir mindestens eine Woche dort. Sie liegt geschützt, keiner sieht uns, was wichtig ist. Wir können selbst entscheiden, ob die Nachbarn uns sehen sollen oder nicht. So ist es überall in Kvamsfjell. Keine Skipisten, wenig Snobismus, wenig Leute, wenig von allem, außer Natur. Wir wollten wandern, Eis essen und zum Rustugusetra gehen, dem kleinen Café, das nur einen Steinwurf von der Hütte entfernt liegt. Ich hatte Angst, dass es mich zu sehr erschöpfen würde, weil ich wegen Stoffwechselproblemen jeden Tag Mittagsschlaf machen muss. Aber Mama wollte mir mit den Kindern helfen, es würde schon klappen. Ich ertappte mich sogar bei dem Gedanken, dass ich wohl das bessere Los als Bår gezogen hatte. Lieber vierundzwanzig Stunden am Tag allein mit den Kindern, als sich in einer heißen Wohnung in Oslo abzurackern.
Im Einkaufszentrum von Vinstra gab es einen Gardinenladen, wo wir nach Vorhängen für die neuen Kinderzimmer suchten. Als wir die alte Küche aufteilten, teilten wir auch das Fenster. Ein Flügel für das eine, zwei für das andere Zimmer. Ein schmales Zugabteil für jedes Kind, aber ihr eigenes Reich, wo sie einander nicht störten. Idun wollte rosa Gardinen mit weißen, kranichartigen Vögeln. Die Kinder rannten in alle Richtungen, beanspruchten beide meine Aufmerksamkeit und machten es fast unmöglich, mit der Verkäuferin zu sprechen. Ich wollte, dass auch Edvin seine Vorhänge selbst aussuchte. Er sah sich um und zeigte auf einen Stoff mit hässlichen braunen Elchen. Oh nein, dachte ich, wie kann ich ihm das ausreden? Sie waren furchtbar, aber zum Glück entdeckte er als Nächstes das gleiche Muster wie Iduns, nur mit blauem Hintergrund. Ein kleines Wunder, denn Edvin verabscheute alles, was rosa war, wie Nagellack und andere feminine Dinge. Fast alles, was er malte, anzog oder womit er sich umgab, war typisch Junge: lustig oder grotesk anstatt wohnlich oder elegant. Und plötzlich suchte er Gardinen aus, die mir auch gefielen. Ehe er es sich anders überlegen konnte, bestellte ich die Stoffe für beide.
Auf dem Weg aus dem Einkaufszentrum trug Idun Edvin auf dem Rücken. Sie war neun, er sechs, fast sieben. Inzwischen war er fast so groß wie sie. Sie hatten lange dünne Beine und Arme, lachten viel und waren immer auf hundertachtzig. Sie hätten Zwillinge sein können.
Im Spätherbst, als die dunklen Abende allmählich meinen Körper umschlungen, brachte ich den Müll hinaus, zwei Tüten, die ich in den Container vor dem Haus werfen wollte. Ich stand dort mit meinen Müllsäcken, und plötzlich kam ich mir vor wie an jenem Abend im August, als ich vor dem Haupteingang auf das Taxi wartete. Ich sah mich selbst dort stehen, in Jeans und Strickjacke mit dem orangen Koffer neben mir. Bår hatte ich gebeten, mit dem E-Bike zur Uniklinik zu fahren, damit wenigstens einer von uns da wäre, falls das Taxi zu lange brauchte.
Als ich dort wartete, kamen mir die Tränen. Auf einmal begriff ich den Ernst der Lage. Eine Frau kam zu mir und fragte, ob sie helfen könne. Ich sagte, mein Junge sei mit dem Rettungshubschrauber unterwegs ins Krankenhaus, und ich warte auf ein Taxi. Sie bot mir an, mich zu fahren, und ich nahm dankend an. Auf dem Weg zur Tiefgarage gegenüber von unserem Haus sagte sie, alles würde gut mit meinem Sohn. Ich war mir da nicht mehr sicher. Vielleicht wusste ich schon, dass er sich in Lebensgefahr befand. Das Ganze geschah wenige Minuten bevor er starb. Zu diesem Zeitpunkt atmete Edvin noch selbst. Er war in der Luft. Er flog mit einem Helikopter. Er war auf dem Weg zu uns. Ich betrat die große Tiefgarage mit einer unbekannten Frau, um ihr Auto zu suchen. Die Garage war wie ein Betonlabyrinth. Ich war nicht ich selbst. Eine unbekannte Nummer rief an. Es war der Taxifahrer, der draußen auf mich wartete. Ich komme, sagte ich, verabschiedete mich von der Frau, ging mit meinem Koffer hinaus und setzte mich auf den Rücksitz des Taxis. Wir fuhren zur Uniklinik.
Die Abende waren noch hell und die Laubbäume am Straßenrand dunkelgrün. Aus den offenen Fenstern drangen viele Stimmen.
Der Abend, an dem ich mit dem Müll dort stand, war kühl und dunkel. Ich schüttelte die Erinnerung ab und begrüßte einen Nachbarn, der einkaufen ging. Ich konzentrierte mich, schloss den Deckel auf, legte die Tüten hinein und zog den Griff zu mir, sodass der Müll in den Container fiel. Es fühlte sich an, als würde ich etwas Wichtiges wegwerfen, als würde ich einen Fehler machen, ja, als würde ich auch Edvin wegwerfen. Jetzt ist Edvin gestorben, dachte ich, schloss den Deckel ab und steckte den Schlüssel ein. Ich drehte mich um und ging zurück in die Wohnung, wo Idun und Bår warteten. Edvin war schon seit mehreren Monaten tot.
Die Zeit ist ein Tau, das vor mir am Boden liegt und von einem Punkt zum nächsten führt, vom Anfang bis zum Ende, von der Vergangenheit durch die Gegenwart in eine ungewisse Zukunft. Wir wissen, was geschehen ist. Wir können ungefähr erkennen, wo wir stehen, aber wir wissen nicht, was der nächste Augenblick bringen wird. Wir legen ein Brett vor das andere, bauen eine Treppe in die Luft – wie Serafin und Plum in Serafin und seine Wundermaschine – und hoffen, dass sie halten wird.
Am Abend des 10. August 2020 verknotete sich das Tau, es verhedderte sich und zog sich zusammen. Unser Leben kollabierte.
Wie konnte es sein, dass wir ein Kind bekamen, das sterben würde? Wie konnte es sein, dass Idun einen kleinen Bruder bekam, den sie verlieren würde?
Ich kam mit dem Taxi zur Uniklinik, Bår kam kurz darauf mit dem E-Bike. Sie führten uns zur Intensivstation für Kinder im dritten Stock und in ein Zimmer, wo wir mit Masken vor unseren Mündern saßen und warteten. Wir wussten, dass es ernst war und dauern würde. Ein Arzt kam herein und sprach mit uns. Ich konnte nicht richtig durch die Maske atmen und bat um Erlaubnis, sie abzunehmen. Wir sagten, was wir wussten oder was wir zu wissen glaubten. Dass Edvin einen hohen Blutzuckerwert habe, was wir zu diesem Zeitpunkt glaubten, obwohl es sich als falsch herausstellte. Wir dachten, es könne Diabetes sein. Er hielt es ebenfalls für wahrscheinlich. Dann führten sie uns zu einem Zimmer für Angehörige. Kurz darauf kam Mama herein, verheult und zitternd, mit Erbrochenem auf ihrem T-Shirt. Als käme sie aus dem Nichts, als wäre sie auf diese Bühne geschickt worden, wo wir nichts anderes taten als warten. Unsere versteinerten Gesichter, Mamas Zittern. Heftiges Unwohlsein im Bauch. Wir waren völlig ratlos. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir, dass er bei der Landung aufgehört hatte zu atmen. Oder vielleicht hatte Mama uns das erzählt. Dass er nicht selbst atmete, sondern beatmet wurde.