Drei Frauen träumten vom Sozialismus - Carolin Würfel - E-Book

Drei Frauen träumten vom Sozialismus E-Book

Carolin Würfel

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Beschreibung

Christa Wolf, Brigitte Reimann und Maxie Wander – Carolin Würfel porträtiert diese drei Ikonen der DDR-Literatur und wirft einen modernen Blick auf das große Versprechen des Sozialismus.

Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxie Wander – waren sie Träumerinnen oder Macherinnen, diese drei Frauen, die zu Ikonen der DDR-Literatur wurden? In ihrem atmosphärischen Porträt zeigt Carolin Würfel drei Schriftstellerinnen, die im Temperament unterschiedlicher kaum sein könnten und die doch eines eint: die Begeisterung für das Versprechen des Sozialismus, die Bereitschaft, den Traum vom neuen Menschen in ihrem Alltag, ihrer Arbeit und ihren Beziehungen umzusetzen. Mit welchem Selbstbewusstsein diese Frauen in den 1950er- und 1960er-Jahren ihre Ziele verfolgen, sich dabei als Freundinnen stützen – wie ihre Träume aber auch platzen, davon erzählt Carolin Würfel inspiriert und mitreißend und lässt ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden.

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Das ist das Cover des Buches »Drei Frauen träumten vom Sozialismus« von Carolin Würfel

Über das Buch

Christa Wolf, Brigitte Reimann und Maxie Wander — Carolin Würfel porträtiert diese drei Ikonen der DDR-Literatur und wirft einen modernen Blick auf das große Versprechen des Sozialismus.Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxie Wander — waren sie Träumerinnen oder Macherinnen, diese drei Frauen, die zu Ikonen der DDR-Literatur wurden? In ihrem atmosphärischen Porträt zeigt Carolin Würfel drei Schriftstellerinnen, die im Temperament unterschiedlicher kaum sein könnten und die doch eines eint: die Begeisterung für das Versprechen des Sozialismus, die Bereitschaft, den Traum vom neuen Menschen in ihrem Alltag, ihrer Arbeit und ihren Beziehungen umzusetzen. Mit welchem Selbstbewusstsein diese Frauen in den 1950er- und 1960er-Jahren ihre Ziele verfolgen, sich dabei als Freundinnen stützen — wie ihre Träume aber auch platzen, davon erzählt Carolin Würfel inspiriert und mitreißend und lässt ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden.

Carolin Würfel

Drei Frauen träumten vom Sozialismus

Maxie Wander Brigitte Reimann Christa Wolf

Hanser Berlin

Soll den Mund verziehen, wer will: Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben.

Christa Wolf, Nachdenken über Christa T.

Teil I

Politisches Erwachen

Brigitte

Burg

Die Geschichte von Brigitte Reimann fängt in Burg an, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit engen Gassen, schiefen Fachwerkhäusern, einer Kirche namens »Unser lieben Frauen«, einer Handvoll mittelalterlicher Türme und einem halben Dutzend Schuhfabriken. Der idyllischste Ort: der Flickschuhpark. Im Frühling blühen Tulpen unter zotteligen Trauerweiden, und die ungeheuren Eichen wölben sich darüber wie ein grüner Dom. Das große Rathaus, am Fuß des Weinbergs, dessen Grundmauern seit dem 13. Jahrhundert stehen, erzählt von den experimentierfreudigen Bauherren des Mittelalters und die holprigen Treppen, die Berg und Tal verbinden, gehören zu den wenigen kühlen Orten, an denen es sich im Sommer ohne verschwitzte Oberlippe küssen lässt.

Burg ist ein idealer Schauplatz für Märchen und Legenden. Eine der bekanntesten spielt im alten Hexenturm, der im 17. Jahrhundert als Gefängnis für Frauen mit angeblich magisch-teuflischen Kräften benutzt wurde. Seitdem sollen in Vollmondnächten die Schreie einer jungen Frau zu hören sein, die verzweifelt um ihr Leben ringt, und in gewisser Weise passt diese Legende zu Brigitte Reimann, die hier in Burg am 21. Juli 1933, einem sonnigen Freitag als älteste Tochter von Willi und Elisabeth Reimann auf die Welt kommt — mit seinem Mund und ihren Augen. Auch sie wird um ihr Leben kämpfen, mehr als einmal, und sich — wie ihre unbeugsamen Vorfahrinnen — dem obersten Gebot der Kleinstadt früh widersetzen: Du sollst nicht aus der Reihe tanzen.

Das Jahr ihrer Geburt prägten politische Umbrüche. Im Mai hatte auf dem Schützenplatz eine öffentliche Bücherverbrennung stattgefunden und bei den Wahlen im selben Monat stimmte mehr als ein Drittel der Bevölkerung für die NSDAP. Ein immerhin genauso großer Teil setzte das Kreuz neben die SPD. Brigittes Vater Willi gehörte nicht dazu. Er war Teil der ersten Gruppe.

Willi Reimann, ein großer Mann, mit hoher Stirn, tiefen Geheimratsecken und sanften Augen, hatte dem Druck früh nachgegeben und war in die nationalsozialistische Partei eingetreten. In der Familie wurde dieser Akt des vorauseilenden Gehorsams damit entschuldigt, dass er als Verlagsmitarbeiter gar keine Wahl hatte. Anfang der dreißiger Jahre hatte der gelernte Bankangestellte die Branche gewechselt und war seitdem Journalist und Redakteur beim Verlag August Hopfer und dessen Zeitung Tageblatt, wo er die Ressorts Politik und Unterhaltung verantwortete und Bildbände layoutete. Schon sein Vater Gustav — ein alteingesessener Burger, mit strengem Blick und Zweifingerbart — hatte für den Verleger-Patriarchen als Buchdrucker gearbeitet.

Jeden Mittag, wenn Willi Reimann zum Essen aus dem Verlag kam, warteten Brigitte und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Lutz bereits voller Sehnsucht vor dem großen Haus in der Neuenburger Straße 2 auf das scheppernde Klingelzeichen, das die Ankunft des schwarzen Herrenrads schon vor der Kurve ankündigte, und hofften darauf, dass er ihnen entweder eine neue Geschichte oder die Schokoladenzigarren mitbrachte, mit denen sich, versteckt zwischen den Bücherschluchten des väterlichen Arbeitszimmers, bittersüßes Erwachsenenleben imaginieren ließ. An den Wochenenden saßen die große Schwester und der kleine Bruder oft ehrfürchtig auf Willis Schoß und hörten zu, wie er ihnen vorlas. Sprache, das verstand Brigitte Reimann dank ihm früh, öffnete Welten und war ein Instrument, das den Horizont der Kleinstadt Burg verschieben und erweitern konnte.

Eine Geschichte, die immer und immer wieder erzählt werden musste, war Tamerlan der Große von dem englischen Dramatiker Christopher Marlowe. Sie geht in Kurzform so:

Es war einmal ein persischer Architekt, der sich unsterblich in eine chinesische Prinzessin verliebte. Diese Prinzessin war aber auch die Lieblingsfrau seines Auftraggebers Tamerlan. Eines Tages sah der Architekt die Prinzessin mit unverschleiertem Gesicht und konnte nicht länger an sich halten. Sein Kuss war so leidenschaftlich, dass er ein Brandmal auf ihrer Wange hinterließ. Als Tamerlan das Mal entdeckte, sollte der Architekt sterben. In höchster Not flüchtete er sich schließlich auf die Spitze eines Minaretts und warf sich mit ausgebreiteten Armen in die Luft, und weil seine Liebe so groß und aufrichtig war, wuchsen ihm Flügel und er konnte zurück nach Persien fliegen.

Ein Leben lang wird Brigitte Reimann sich diese Geschichte ins Gedächtnis rufen. Immer dann, wenn die Unruhe übermächtig wird, wenn sie sich nach wer weiß wohin und wer weiß wem sehnt und sich darauf besinnen will, was für sie in ihrem entschiedenen Kinderherzen zählte: bedingungslos leben, bedingungslos lieben.

Anders als der Vater blieb ihre Mutter Elisabeth, erst Sekretärin, dann Hausfrau, parteilos. Rundes Gesicht, gedrungene Statur, die Haare stets in einem Knoten, Brille. Sie war das Zentrum der Familie, genannt »Liebe Mu«. Ihre Eltern waren am Ende der Belle Époque aus dem Rheinland nach Burg gekommen, Kaufleute mit einem Sinn für den Osten. Wann immer Brigittes Großmutter Franziska sich aufregte oder schimpfte und in ihren alten Kölner Dialekt verfiel, offenbarte sich diese Herkunft. Aber auch die hechtgrauen Seidenkleider, die sie ausschließlich trug, und ihre Perlen verrieten den wohlhabenden westdeutschen Ursprung der Familie, genau wie die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Ehemann Wilhelm, Reimanns Großvater und Eigentümer einer Goldleistenfabrik, jeden Mittag um zwölf ins feinste Hotel von Burg einkehrte. Kapitalist war schon damals ein Schimpfwort, das hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Im Vergleich zu anderen hatten die Reimanns einfach mehr. Mehr Bücher, mehr Schmuck, mehr Fantasie, mehr bürgerliche Tradition. Jedenfalls bis die Auswirkungen des Krieges sich auch in Burg bemerkbar machten.

Vor allem in den letzten Kriegsjahren muss Brigitte Reimann oft an Marlowes Tragödie gedacht haben. 1943, kurz nach der Geburt ihrer kleinen Schwester Dorothea, wurde ihr Vater zum Kriegsdienst einberufen. Mit ihm verschwand der Rest an Normalität, den sich die Familie bewahrt hatte, und wenn nichts mehr da ist, was Sehnsucht oder einfach nur Hunger stillt, kann man sich als Kind, umgeben von Konflikten, eigentlich nur wegträumen. Vielleicht liegt es auch an Geschichten wie Tamerlan der Große, dass so wenig lebendige Erinnerungen an diese schrecklich dunklen Tage in ihren Aufzeichnungen und Briefen zu finden sind.

Was man weiß: Brigitte Reimann hat das Brummen der Bomberpulks nie vergessen und die Nächte im Keller. Morgens sammelte sie die Silberstreifen ein, die von den Amerikanern zur Verwirrung der deutschen Radarsysteme abgeworfen worden waren, und zu ihrem Geburtstag gab es auf einmal keine Erdbeeren mit Schlagsahne mehr. Im Sommer 1943 machte sie trotz allem ihren Freischwimmer und behauptete in einem Feldpostbrief an den Vater, schon vom Fünf-Meter-Turm zu springen, eine fantastische Übertreibung, die aber mindestens genauso aufregend klang wie der märchenhafte Sprung des persischen Architekten. 1945 büßte sie ihre geliebte Armbanduhr bei Plünderungen ein, und als im Mai die Rote Armee einmarschierte, sollen sie und ihr Bruder Lutz gerade an den Gleisen gespielt haben. Ein Eisenbahner entdeckte sie und schickte sie sofort nach Hause in die Neuenburger Straße 2. Dort wurde ein weißes Laken ins Fenster gehängt, und Brigitte und Lutz warteten mit Todesangst engumschlungen auf die Ankunft der Besatzer. Sie, die als Kinder immer von den gleichen Gedanken und Gefühlen bewegt wurden, wollten zusammen sterben, so viel stand fest.

Als die Russen kamen und sich in Burg einquartierten, hieß es Platz machen. Von einem geräumigen Haus blieb ihnen ein einziges Zimmer für Mutter und Kinder, und weil der Vater in der NSDAP gewesen war, mussten sie auch ein Stück Gartenland abgeben. Aus bürgerlichen Verhältnissen wurde Armut auf Zeit und Hunger wurde Alltag. Morgens gab es bloß zwei Schnitten, abends nur einen halbvollen Teller Graupensuppe. Das Schlimmste: die Kartoffelnot. Das Allerschlimmste für Brigitte Reimann: die jungen Frauen und Mädchen, die im Sommer mit den russischen Soldaten am Fluss knutschten und mit ihnen schmusend übers Wasser ruderten. Brigitte fand das schändlich. Das Wort »Russenliebchen« zog in ihr Vokabular ein.

Während ihre Mutter versuchte, Holzkohlen aufzutreiben oder den Familienschmuck gegen Essbares einzutauschen, musste Brigitte Reimann als älteste Tochter zum ersten Mal Verantwortung übernehmen. Eine Rolle, die sie nicht ausfüllen konnte und wahrscheinlich auch nicht wollte. Sie sollte das Haus putzen und auf die beiden kleinen Geschwister aufpassen, aber statt anzupacken und für Ordnung zu sorgen, stellte sie sich lieber einen Stuhl auf den Küchentisch, las dort oben einfach weiter, entschwand hinter Buchrücken. Unterdessen tobten die Baby-Schwester Dorothea und der acht Jahre jüngere Bruder Ulrich durch die Küche und ließen das Chaos noch größer werden. Egoistisch? Vielleicht. Auf jeden Fall eine vitale Weigerung, am Boden der alltäglichen Tatsachen zu kleben. Der Boden bebte. Bücher ruhten in ihren Händen und Lesen war Flucht in eine Welt ohne Bedrohungen, Hunger und Bittgebete.

Im Herbst 1947 überschlugen sich für Brigitte die Ereignisse und die Gefühle. Sie erfuhr zum ersten Mal, was es heißt, für jemanden zu brennen und übersteigerte Liebe zu empfinden — und welcher Schmerz damit verbunden sein kann. Ihre liebste Schulfreundin Veralore Weich, die zwischenzeitlich an Tuberkulose erkrankt war und mit ihrer Mutter zur Kur nach Bad Pyrmont gegangen war, schrieb, dass sie nicht nach Burg zurückkommen würde. Der Vater war im Westen wieder aufgetaucht und die Familie entschied, dort zu bleiben. Es war Brigitte Reimanns erster Abschied von einer geliebten Person, die sie sich selbst ausgesucht hatte, und ein Abschied in Gedanken, Worten, Zeilen, Briefen: »Veralore, ich bin todtraurig! Wenn ich Dir bloß sagen könnte, wie lieb ich Dich habe und wie es mir das Herz zerreißt, nun immer von Dir getrennt zu sein.«

Nun muss sie allein aufs Gymnasium wechseln, in eine Klasse, in der es plötzlich auch Jungs gibt und einen Haufen Mädchen, die sie nicht kennt und auch gar nicht kennenlernen will, weil sie eben nicht Veralore sind. Auf neue Kontakte hat ihr stures Herz keine Lust.

Anfang Oktober kehrte dann der Vater aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurück. Als er an einem Samstagabend plötzlich vor ihnen stand — ohne fröhliche Fahrradklingel, ohne elegantes Herrenrad —, trauten sich weder Brigitte noch ihre drei Geschwister, dem Vater um den Hals zu fallen. Alles an diesem Menschen erschien Brigitte Reimann fremd. Seine Kleidung: Holzschuhe, Lodenmantel. Sein Körper: knochig, elend. Die Haare: abgeschoren. Sogar seine Sprache war anders als in ihrer Erinnerung. Bescheiden. Karg. Leise. Wo war die große Anrede »Ihr Helden« geblieben, die er für seine Kinder stets benutzt hatte? Wieso war dieses neue Wort »Ostfront« auf einmal so wichtig? Und als sei diese unbekannte finstere Gestalt, die nun jeden Morgen am Frühstückstisch saß und sich die schrecklichen Schwarz-Weiß-Bilder in den Zeitungen vors Gesicht hielt, nicht genug, starb Ende Oktober auch noch der Großvater, der alte Kapitalist.

Anfang Dezember erwischt es schließlich sie selbst. Spinale Kinderlähmung. Krankenhaus. Isolierstation. Einzelzimmer. Während sich die Welt langsam von den Verheerungen des Krieges erholt, sich von den Trümmern befreit und in Ostdeutschland eine neue Zone unter sowjetischer Herrschaft ausgerufen, ein neues, sozialistisches System versprochen wird, entpuppt sich der eigene Körper als Krisengebiet. Zeitweise ist Brigitte Reimann bis zum Hals vollständig gelähmt. Wochenlang liegt sie allein im Krankenhaus, die meiste Zeit des Tages ist es dunkel, der erste Schnee fällt und kündigt den Winter an. Ihre Beine sind bald so dünn wie Drahtstängel und hängen schlaff an ihr herab. Wenn die Krankenschwester sie aus dem Bett hebt, schämt sich Brigitte ihres armseligen Anblicks. Abends, bevor sie einschläft, betet sie, obwohl sie gar nicht an Gott glaubt, aber die Sorgen wenigstens über Nacht in scheinbar größere Hände zu legen, hilft ihr dabei, ruhiger zu schlafen. Besuch darf sie wegen der Ansteckungsgefahr nur selten empfangen, doch statt ernsthaft zu verzweifeln und die Eltern um Hilfe zu bitten oder wie die junge Frau im Hexenturm laut zu schreien, bewahrt sie nach außen Haltung und schreibt abgeklärte Briefe nach Hause:

Ihr braucht Euch keine Sorgen um mich zu machen. Es geht mir so weit ganz gut. Die Schwestern sind sehr nett und das Essen gut und reichlich. Gleich als ich gestern gekommen bin, hat mir der Arzt das Rückenmark punktiert. Es hat zwar scheußlich weh getan, aber ich habe ordentlich die Zähne zusammengebissen. (…) Schade, dass ich Euch nun keine Weihnachtsgeschenke machen kann, aber das werde ich nachholen.

Doch die Erfahrung »Kinderlähmung« wird ihr ganzes Leben und ihr ganzes Sein prägen. Im Englischen heißt das Werk einer Schriftstellerin body of work. Für Reimann wird der eigene Körper ihr Leben lang ein body of work sein. Idealerweise tragen Körper durchs Leben. Bei Reimann war es anders — sie ertrug ihn. Körper war Ballast, schwer wie Beton. Kriegstrümmer lassen sich wegräumen. Die Spuren der Kämpfe eines Körpers bleiben. Wie steht ein Mensch aus den eigenen Trümmern auf? Im Fall von Brigitte Reimann lautet die Antwort ganz einfach: mit Literatur.

Natürlich, Reimann hatte auch schon während des Kriegs ein Buch nach dem anderen verschlungen, dank Christopher Marlowe gedanklich Fliegen gelernt und mit Kindheitshelden wie Mark Twain oder Edgar Allan Poe Weltflucht erprobt. Aber das Aufstehen und das Weiterleben erfordern jetzt andere Geschichten, keine Abenteuer und Märchen aus fernen Ländern, sondern Erzählungen aus der Gegenwart.

Reimann liest, im Krankenhaus liegend, Zeitgenossen und -genossinnen wie Jean-Paul Sartre, Ernest Hemingway und Anna Seghers. Ihre Bücher beschreiben eine gegenwärtige Welt, die sie nun neu betrachten und anders begreifen muss, auch weil in ihr nichts mehr so ist, wie es einmal war. Beim Lesen von Anna Seghers’ Das siebte Kreuz — der Geschichte über sieben Häftlinge, die aus einem Konzentrationslager flüchten — weint sie bitterlich. Stundenlang lässt sie dem Schmerz freien Lauf. Anders als Willi Reimann gelingt es Anna Seghers, für das Geschehene eine Sprache zu finden.

Vielleicht ist das Bild noch nicht deutlich genug: Ein Mädchen, vierzehn Jahre alt, mit schwarzem langen Zopf, liegt gelähmt im Bett, gefangen in einem Körper, der sich nicht mehr bewegen will, und wird lesend mit dem vollen Ausmaß des Nationalsozialismus konfrontiert. Draußen findet unterdessen einer der größten und bedeutungsvollsten gesellschaftlichen Umbrüche der Moderne statt und räumt ebenfalls mit allen Illusionen auf, die sich Familien wie die Reimanns über die Nazijahre gemacht haben.

Es erscheint fast stimmig, dass die einzig mögliche Bewegung in diesen Tagen ein Kopfschütteln ist. Immer wieder bewegt Reimann ihren Schopf von rechts nach links, vergleicht das Gelesene mit den eigenen Erinnerungen und kann die Ungeheuerlichkeiten, die vor allem Seghers darstellt, kaum fassen. Vielleicht versteht sie in diesen Momenten, warum dem Vater die Kunst des Erzählens abhandengekommen ist.

Brigitte Reimann liest, um zu verstehen. Sie liest aber auch gegen die Einsamkeit des stillen Krankenzimmers und für ein Gefühl von Teilhabe an dieser Welt, die sich ja trotz allem irgendwie weiterdrehen muss. Dass sie das wird — sich weiterdrehen —, daran glaubt Reimann unbedingt, schon allein um ihrer selbst willen. Anna Seghers, das große Vorbild, ist seit Herbst ja auch wieder zurück aus dem Exil in Mexiko und in Berlin angekommen, und wenn jemand wie Seghers noch an Deutschland und die Bürgerinnen dieses Landes glaubt, muss sie das auch tun.

Diese Hoffnung, an der sie als Vierzehnjährige so entschieden festhält, wird sie einige Jahre später in ihrem ersten Roman Die Frau am Pranger formulieren. Diese Hoffnung wird vor Kitsch und Pathos triefen. »Eines Tages«, heißt es in dem Buch, »wird es kein Elend mehr geben, keine Feindschaft und keinen Hass. Die Menschen werden in Frieden leben, sie werden satt sein und glücklich. Wir müssen daran glauben (…) und dafür kämpfen, — dann dürfen wir wieder träumen.«

In dem Roman, der sie im Alter von 23 Jahren über Nacht berühmt werden lässt, erzählt sie die tragische Liebesgeschichte zwischen der Bäuerin Kathrin Marten und dem russischen Kriegsgefangenen Alexej Iwanowitsch Lunjew, eine Liebe, die ihn das Leben kosten wird und ihr ein neues Leben als Mutter schenkt. Es ist das erste Buch einer jungen Frau, die nichts Geringeres will, als mit Sprache eine neue, bessere Zukunft an den Horizont zu zeichnen. Der Ursprung dieser Geschichte liegt ganz sicher in den endlosen Krankenhauswochen im Winter 1947/48. Hier wird der gedankliche Grundstein für ihre zukünftige Karriere gelegt. Am 25.12.1947 verkündet sie ihrer liebsten Freundin Veralore Weich per Brief: »Ich habe große Pläne. Wir haben über meinen Beruf gesprochen, und ich will gerne Schriftsteller werden, aber nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf.«

Christa

Landsberg an der Warthe Bad Frankenhausen

Vor ihr liegt Das siebte Kreuz, eine zerfledderte Ausgabe, gedruckt auf dünnem Zeitungspapier. Christa Ihlenfeld, neunzehn Jahre alt, hat zwei Sätze dick mit Bleistift unterstrichen: »Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns.«

Es sind Sätze aus dem ersten Kapitel des 1942 erschienenen Romans von Anna Seghers. An den Rand hat Christa ein Ausrufezeichen gesetzt, obwohl ein Fragezeichen passender wäre.

»Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Was heißt das, wenn man als junge geflüchtete Frau plötzlich in einer neuen Stadt und einer neuen Oberschule sitzt und einer neuen Ideologie beim Wachsen zuschaut, obwohl die andere, die alte, nationalsozialistische noch tief sitzt und sich in den ungünstigsten Momenten ins Gedächtnis spült?

Es ist Frühjahr 1948. Christa Ihlenfeld — schmale Lippen, ernster Blick, die Augen so grau, grün, blau wie dunkler Nadelwald im Nebel — sitzt auf einer Schulbank im thüringischen Bad Frankenhausen, wo sie seit einem Jahr lebt, umgeben vom Kyffhäusergebirge und von Mitschülern und Mitschülerinnen, die alle mindestens zwei Jahre jünger sind als sie. Jünger, unbefangener und irgendwie fröhlicher.

Zwei Jahre machen in diesem Nachkriegsdeutschland einen großen Unterschied. Wer erinnert sich woran? Wer hat was bewusst erlebt? Eine Zehnjährige im Nordosten hat den Beginn des Krieges 1939 anders wahrgenommen als ein damals Achtjähriger im Herzen dieses deutschen Mittelgebirges. Das weiß Christa und spürt, dass sie und ihre Klasse etwas trennt. Scham ist ein Gefühl, das sie in diesen Tagen immer wieder beschleicht.

Die neue Deutschlehrerin hat gesagt, nach Goethe, den Ihlenfeld sehr liebt, und Rilke müsse nun auch dieses Buch durchgenommen werden. Heutzutage sei das einfach Pflicht. »Bitte keine Vorbehalte.« Sie hat den merkwürdigen Titel und den Namen der Schriftstellerin mit ihrer altmodischen Handschrift groß an die Tafel geschrieben und Christa denkt, wie anders diese junge Frau ist im Vergleich zu ihrer ehemaligen Deutschlehrerin in Landsberg an der Warthe.

Überhaupt hat Christa Schwierigkeiten mitzukommen. Früher war sie diejenige, die ständig den Arm hob und Antworten wusste. Sie war diejenige, die in allem immer die Beste sein wollte und es auch war. Jetzt fällt das Antwortengeben schwer. Aus Sätzen voller Gewissheiten sind Sätze geworden, denen man nicht trauen kann. Vor allem die Diskussionen um diesen Roman, der von sieben Männern erzählt, die aus dem Konzentrationslager Westhofen geflüchtet sind und versuchen dem Tod zu entkommen, stellen ihre bisherige Weltsicht radikal in Frage. Diese Geschichte will einfach nicht zu ihrer Erinnerung passen und zu jenem Bild, das sie von Deutschland in den Jahren des Krieges hat. Hat sie sich von der deutschen Sache so blenden lassen? Hat sie damals wirklich nicht genau hingesehen oder trügt sie die Erinnerung, jetzt da sich die Scham über alles legt? Kann es sein, dass Menschen wie die Hauptfigur Georg Heisler auch bei ihnen, in ihrer alten Heimat, um ihr Leben gelaufen sind? Gehörten die Erwachsenen, mit denen sie aufgewachsen ist, zu jenen, die Heisler ausgeliefert hätten, oder hätten sie ihn geschützt und damit ihr eigenes Wohl aufs Spiel gesetzt?

»Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Das war nicht nur eine Ansage, sondern tatsächlich auch eine Frage. Die Frage danach, was in Deutschland lebendig und wandlungsfähig geblieben war. Es war eine Frage, die sich auch direkt an Kinder oder junge Erwachsene wie Christa Ihlenfeld richtete und ein brennend widersprüchliches Gefühl in ihr auslöste: Was für ein Glück, dass ich noch lebe. Was für eine Qual, nach dieser Katastrophe weitermachen zu müssen.

Vielleicht geht Weitermachen so: Sie muss die Katastrophe, den Nationalsozialismus, ganz zurücklassen und lernen, sich radikal von diesen Jahren abzugrenzen. Sie muss werden wie Anna Seghers, die Kommunistin und Marxistin, und sich einem gesellschaftlichen Gegenentwurf anschließen, der maximal weit entfernt vom Faschismus ist.

In der Schule werden Christa Ihlenfeld, ihre Mitschüler und Mitschülerinnen in den nächsten Monaten auch die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels lesen. Zum Beispiel: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Texte wie dieser werden Ihlenfeld entflammen. Ihr einleuchten. Nicht, weil sie — wie einst der Nationalsozialismus — etwas »Großes« versprechen. Sie werden ihr einleuchten, weil sie Vergangenes Vergangenes sein lassen und zuallererst von Selbstverwirklichung und Selbstermächtigung erzählen. Beides will sie unbedingt. Sein aus sich selbst heraus, nicht aus den Umständen, die mal waren. Den Preis, den auch dieser Ismus mit sich bringen wird, kennt und ahnt sie noch nicht. Hauptsache, ein neuer Mensch werden, eine bessere, freiere junge Frau. Oder wie Engels es entwirft: »An die Stelle der absterbenden Wirklichkeit tritt eine neue, lebensfähige Wirklichkeit.«

Um dieser Euphorie tatkräftiges Gewicht zu verleihen und die Theorie in die Praxis zu überführen, wird Ihlenfeld im Herbst 1948 als eine der Ersten in die FDJ (Freie Deutsche Jugend) eintreten. Im Frühjahr 1949 wird sie Mitglied der SED werden, sechs Monate vor der offiziellen Gründung der DDR am 7. Oktober. Noch vor dem Abitur im gleichen Sommer. Neustart in allen Lebenslagen. Ihre Haltung: Ein Hakenkreuz an deutschen Häuserwänden darf es nie wieder geben.

Etwas irre ist dieser radikale Ideologiewechsel, den die junge Ihlenfeld da innerhalb kürzester Zeit vollzieht, natürlich schon. Im Prinzip tauscht sie eine Ideologie gegen eine andere ein, in der Hoffnung, damit die verblendeten Schritte, die sie ein Jahrzehnt zuvor als Mädchen gegangen war, wiedergutmachen zu können. Der Ideologiewechsel ist auch ein Akt gegen das schlechte Gewissen.

Zehn Jahre vorher, 1939, war sie mit Begeisterung zum Bund Deutscher Mädel (BDM) gegangen, hatte ein Ausbildungslager in Küstrin absolviert und sich bei den Übungen so eifrig eingebracht, dass sie zur »Führeranwärterin« aufstieg. Wörter wie »Kameradschaft« und das Gefühl von Zugehörigkeit gefielen ihr. Als der Krieg und die Herrschaft der Nationalsozialisten 1945 zu Ende ging, hatte sie große Schwierigkeiten auf einmal wieder »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen« zu sagen statt »Heil Hitler«. Ideologien verschwinden — trotz Zusammenbruch — nicht einfach über Nacht, vor allem wenn sie so eng mit dem eigenen Aufwachsen verbunden sind wie bei ihr.

Die Geschichte ihrer Kindheit geht so: Christa Ihlenfeld kam am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe auf die Welt, einer beschaulichen Stadt zwischen Stettin und Cottbus, die damals zum Deutschen Reich gehörte. Es war eine Stadt mit niedrigen Zäunen, ungepflasterten Straßen, ein paar Hügeln und einem Park, in dem, laut Christa, der schönste Baum der Welt stand: eine riesige Trauerweide. Trauerweiden sind frosthart, auch wenn sie die Äste vor Kummer hängen zu lassen scheinen.

Ihre Mutter, Herta Ihlenfeld, nannte sie stets »ihr Revolutionsbaby«, weil ihr Geburtstag mit dem Jahrestag der Revolution von 1848 zusammenfiel, die den Siegeszug der bürgerlichen Demokratie in Europa eingeleitet hatte. Bürgerlich waren auch Herta und ihr Ehemann Otto. Bürgerlich und protestantisch und oft ein bisschen unterkühlt. Sie, zwei Kaufleute, denen der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen war, taten alles für ihre Kinder, nur Gefühlsausbrüche und ausgesprochene Wärme gehörten nicht dazu.

Christa war ein gut erzogenes Kind, ihrem Ehrentitel »Revolutionsbaby« entsprechend aber ein bisschen aufmüpfig. Aufmüpfig in dem Sinn, dass sie an bestimmten Standpunkten verbissen festhielt. Als ihre Mutter sie 1939 bat, das Angebot zur »Führeranwärterin« beim BDM abzulehnen, widersetzte sie sich.

Rückblickend, wird Ihlenfeld sagen, war ihre Kindheit von einer doppelgleisigen Erziehung geprägt. Auf der einen Seite die Hitlerjugend, die versuchte, Härte zu erzeugen. Auf der anderen Seite die protestantische Erziehung zu Hause, die humanistischer, allerdings ebenfalls nicht sehr sanft war. Beide Seiten hatten die gleiche Erwartung: Sie sollte ein glückliches Mädchen sein. Was Glück tatsächlich war, darüber sprach niemand. Intuitiv verstand Ihlenfeld wohl die schlichte Forderung, auf dankbare Weise zurechtzukommen. Als »durchschnittlich glücklich« wird sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens später bezeichnen, sich selbst als »durchschnittlich angepasst«. Wichtig war vor allem: nicht unangenehm auffallen.

Bei Hitlers Machtübernahme lebte die Familie noch in einer Wohnung, in einem Eckhaus am Sonnenplatz 5 von Landsberg. Im Erdgeschoss unterhielten die Eltern einen Lebensmittelladen und verkauften Malzkaffee und Suppenwürstchen. Bald, 1933, trat der Vater Otto in die Partei ein, weil sein Ruderclub wie alle Sportvereine in die NSDAP-Gliederung integriert wurde und Parteizugehörigkeit das Leben einfacher machte. Nazis, wird Christa wie Brigitte Reimann nachträglich sagen, seien die Eltern nie gewesen. Sie wird aber auch sagen: »Das war nicht Hitler, das waren wir alle.« Und diese Aussage schloss ehrlicherweise auch die eigenen Eltern und sich selbst ein.

1934 sollte Adolf Hitler Landsberg besuchen. Die Stadt schloss ihre Geschäfte, stellte den Straßenbahnbetrieb ein und trieb ihre Bewohnerinnen und Bewohner mit einem Lautsprecherwagen auf die Straßen, wo sich sehnsüchtige Rufe nach der Ankunft des Führers zu einem Chor verbanden. Auch die fünfjährige Christa Ihlenfeld schrie mit und fühlte, wie sie mit dieser Masse zu einer Einheit verschwamm. Warmer Bauch. Klopfendes Herz. Dass Hitler nicht kam, weil er in einer anderen Stadt aufgehalten worden war, machte nichts. Der Funke war übergesprungen.

Mit der Einschulung im Sommer darauf wurde dann das Feuer lehrplangerecht geschürt, Christa lernte nationalsozialistische Benimmregeln, Lieder und weltanschauliche Sentenzen, die sich ins Gehirn einbrannten. Ein Spruch war: »Seele ist Rasse von innen gesehen. Rasse ist Seele von außen gesehen.«

1936 zog der Wohlstand im Hause Ihlenfeld ein. Das Geschäft der Eltern lief so gut, dass sie ein Haus in der Soldiner Straße, oberhalb der Stadt, beziehen konnten und in den Folgejahren neue Möbel und ein schickes Radio kauften. Christa bekam ein eigenes Zimmer und konnte von ihrem Fenster aus über ganz Landsberg blicken. Es war ein Leben, für das alle Beteiligten sich nicht nur glücklich zu schätzen hatten, sondern dankbar sein mussten, auch wenn man nach den eigenen, tiefen Wünschen nie gefragt wurde. Dankbarkeit war protestantische, bürgerliche und nationalsozialistische Pflicht. Zu Weihnachten bekam sie mal ein Akkordeon, das sie überhaupt nicht wollte und überhaupt nicht mochte, aber sie heuchelte Begeisterung und ging brav zum Unterricht, weil das das mindeste war zu zeigen, wie froh man sein konnte, in diesen als paradiesisch deklarierten Zeiten aufwachsen zu dürfen.

Als in der Nacht vom 9. November 1938 die Synagoge von Landsberg angezündet wurde, sah Christa zum ersten Mal in ihrem Leben ein brennendes Gebäude. Was ein Rabbiner war und wer all die Männer mit langen Schläfenlocken waren, die aus der Synagoge rannten, wusste sie nicht, niemand erklärte es ihr und sie stellte dazu auch keine Fragen.

Wenige Monate später trat sie in den BDM ein. Die wichtigste Lektion dieser Mitgliedschaft: »dass Gehorchen und Geliebtwerden ein und dasselbe ist«.

Im August 1939 erhielt Otto Ihlenfeld seinen Einberufungsbescheid. Er war 42 Jahre alt. Die Mutter, die sich bis dahin mit politischen Äußerungen im Beisein der Kinder zurückgehalten hatte, obwohl sie keinen Hehl daraus machte, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn ihre Tochter sich nicht so für den BDM begeisterte, rief: »Ich scheiß auf euren Führer.«

Im September dann marschierten Soldaten der deutschen Wehrmacht in Polen ein. Der Krieg begann. Auf dem Weg zogen sie durch Landsberg. Christa warf ihnen Zigarettenschachteln zu, wie alle anderen Kinder. Und in der Schule sprachen sie ausführlich über den Darwinismus und die Überlegenheit der sogenannten nordischen Rasse. Eines ihrer Lieblingsfächer war Deutsch, weil sie die Lehrerin, eine glühende Nationalsozialistin, so toll fand. Sie hörte das Wort »Konzentrationslager«. Auf der Straße wandelten die Leute das Wort in »Konzertlager« um. Christa fragte wieder nicht nach. Der Vater kam zurück von der deutsch-polnischen Grenze und wurde Unteroffizier in der Schreibstube des Wehrbezirkskommandos in Landsberg.

1942 schickte die Mutter ihre beiden Kinder zum Nachhilfeunterricht bei einem jüdischen Studienrat, der suspendiert worden war. Nachhilfe brauchte Christa gar nicht, trotzdem bestand die Mutter darauf. Menschen helfen, wenn man helfen kann, gehörte zu ihrer protestantischen und humanistischen Grundhaltung.

Im selben Jahr las Christa in einer Zeitschrift einen Bericht über blonde Frauen, die sich SS-Männern hingaben, um sogenannte reinrassige Kinder zu zeugen und dem nationalsozialistischen Staat ein Geschenk zu machen. Christa rief empört: Das mache ich nicht. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie nicht mit dem Machtapparat übereinstimmte. Doch als im Juli 1944 das Attentat auf Adolf Hitler verübt wurde, zogen sich Christa und die Mädchen ihrer Klasse aus Solidarität und als Zeichen ihrer Treue ihre weißen BDM-Blusen an und banden sich das schwarze Dreieckstuch um. Andere Fünfzehnjährige stahlen sich schon davon, ahnten, dass es nichts zu gewinnen gab, begaben sich in die innere Emigration und schalteten, wenn die Propaganda sie anschrie, innerlich ab. Sie nicht. Sie tat wieder, was von ihr erwartet wurde und glaubte in dieser Frage unbedingt an kollektive Selbstaufgabe.

Der Krieg rückte näher. Die Fliegeralarme wurden länger. Die Fahnenappelle hatten längst Glanz und Kraft verloren. Die ersten Geflüchtetenzüge kamen in Landsberg an. Christa meldete sich freiwillig zum Entladen der Lastwagen, um die geliebte Deutschlehrerin zu beeindrucken.

Einmal hob sie ein Baby vom Wagen, eingewickelt in Decken, und übergab es der Mutter des Kindes, die sofort zu schreien anfing. Das Baby war auf der Reise gestorben, kalt und steif. Christa verstummte. Krieg war grausam. Krieg war etwas anderes, als die Lehrerinnen in der Schule behauptet hatten. Christa wurde krank, wie immer, wenn ihr etwas zu viel wurde. Die Diagnose: Nervenfieber. Wochenlang lag sie im Bett. Sie fing an Gedichte zu schreiben. Gedichte, die nach dem Glück suchten.

Zum Jahreswechsel 1945 flüchteten immer mehr Menschen aus Ortschaften, die noch weiter östlich als Landsberg lagen. Als sie aus den vorbeiziehenden Zügen und Wagen Namen von Städten und Dörfern riefen, die man auch als Landsbergerin kannte, war klar, dass Hoffnung in diesem Krieg ein Gespenst war und die eigene Flucht unmittelbar bevorstand. Die Rote Armee näherte sich.

Am Morgen des 29. Januar 1945 wurde die Räumung der mit über 50.000 Menschen überfüllten Ortschaft angeordnet und Landsberg zur »offenen Stadt« erklärt. Christa und ihr kleiner Bruder Horst flüchteten mit dem Onkel in einem Pritschenwagen Richtung Westen. Die Mutter blieb zurück, weil sie sich nicht von Haus und Laden losreißen konnte, der Vater kam in sowjetische Gefangenschaft. Landsberg brach zusammen. Es kam zu Raub, Plünderung, Vergewaltigungen und Erschießungen. Große Teile der Innenstadt brannten nieder. Christa ahnte auf dem Pritschenwagen des Onkels sitzend schon, dass sie nie wieder hierher zurückkehren würde, und reagierte auf eine Weise, die niemand verstand: Sie lachte. Je weiter sie sich von Landsberg entfernten, desto stärker wurde ihr Lachen. Ihr Onkel fühlte sich gekränkt. Die Augen des restlichen Trecks betrachteten sie argwöhnisch. Christa schämte sich für ihr lautes Glucksen. Sie verstand es ja selbst nicht, aber sie konnte es eben auch nicht unterdrücken. Es gurgelte nur so aus ihr heraus. Und mit diesem Lachen, das über sie kam, das sie nicht kontrollieren konnte, endete irgendwie auch die Kindheit. Endgültig und unwiderruflich.

Die erste Station eines anderen Lebens war Grünefeld bei Berlin. Wie durch ein Wunder konnte die Mutter unversehrt zu ihnen stoßen. Christa ging wieder zur Schule. An einem Tag fehlte sie wegen Krankheit. An diesem Tag wurde die Schule bombardiert. Glück haben hieß auch: nicht sterben.

Die nächsten Monate lebte sie in einem Niemandsland. Die Familie zog weiter Richtung Schwerin, um sich bei den Amerikanern in Sicherheit zu bringen. Es hieß, die Rote Armee würde Frauen die Brüste abschneiden.

Auf dem Weg in den Norden wurde ihr Treck von Tieffliegern angegriffen. Christa sah, wie der Vater eines gleichaltrigen Jungen erschossen wurde. Ohne Gebet und ohne Gesang wickelte man ihn in eine Plane und vergrub ihn am Waldrand. Dann zog der Treck weiter. Keine Zeit für Tränen. So machte man das, wenn Krieg war. Irgendwo in Mecklenburg, zwischen Dörfern, Feldern, Birkenwald sah sie auch zum ersten Mal Menschen aus einem Konzentrationslager. Menschen aus Oranienburg. Menschen, denen man alle Menschlichkeit abgesprochen hatte. Über diese Begegnung hat Christa später geschrieben: »Dann sahen wir die KZler. (…) Sie standen am Waldrand und witterten zu uns herüber. Wir hätten ihnen ein Zeichen geben können, daß die Luft rein war, doch das tat keiner. (…) Sie sahen anders aus als alle Menschen, die ich bisher gesehen hatte, und daß wir unwillkürlich vor ihnen zurückwichen, verwunderte mich nicht. Aber es verriet uns doch auch, dieses Zurückweichen, es zeigte an, trotz allem, was wir einander und was wir uns selber beteuerten: Wir wußten Bescheid.«

Kurz vor Schwerin standen dann tatsächlich die Amerikaner. Was heißt standen. Sie standen natürlich nicht, sondern kamen, wie in allen Erzählungen aus dieser Zeit, kaugummikauend in einem Jeep angefahren. Maximal gelangweilt vom Anblick dieses Trecks aus Verlierern und Mitläuferinnen, die nun um Schutz baten, weil die Welt nicht erobert, aber auch nicht untergegangen war. Damit hatte keiner gerechnet. Weder Christa noch ihr Onkel noch irgendwer sonst auf diesen Wagen, die von müden Ochsen und abgemagerten Pferden gezogen wurden.

Christa wurde wie alle anderen von einem amerikanischen Offizier abgetastet, nach Waffen (was sie ein bisschen stolz machte) und nach Schmuck. Er wollte wissen, ob sie eine Uhr bei sich trug. Die Offiziere kannten die Tricks, Wertvolles zu verstecken. Sie log ihm ins Gesicht und warf ihr kindliches Prinzip, stets die Wahrheit zu sagen, zum ersten Mal über Bord. Sie habe ihre Uhr bereits seinem Kollegen gegeben. Er glaubte ihr. Es war eine Machtfrage, die sie nicht verlieren wollte. Wenigstens in dieser Angelegenheit war sie, das deutsche Mädchen, der Sieger, dachte sie. In dieser Hinsicht war Christa ganz anders als Brigitte Reimann, die vor Todesangst ja fast starb, als der russische Offizier ihr die Armbanduhr abnahm, und die anschließend vor Trauer tagelang heulte. Christa heulte nie.

Als sie schließlich nach zig Zwischenstationen in Schwerin ankamen, musste sie zum ersten Mal arbeiten. Mittlerweile sechzehn Jahre alt, wurde sie Schreiberin im Bürgermeisteramt, führte eine Einwohnerzählung durch und glaubte heimlich immer noch an den Endsieg. Am 8. Mai endete der Krieg dann doch.

Den Sommer verbrachte die Familie auf Bauernhöfen, in Scheunen und Dachböden in und um Schwerin. Sie war auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen, musste Fremde um Obdach bitten und ihnen zur Last fallen, ohne im Gegenzug etwas zurückgeben zu können. Ein eigenes Zuhause, einen sicheren Rückzugsort gab es nicht mehr. Ein Gefühl der Bedrückung nistete sich in Christas Brust ein. Trauer statt Erleichterung. Und: Schock. Sie hatte so glühend geglaubt, war der Lehrerin so brav und blind gefolgt, um am Ende alles zu verlieren? Wem hatte sie da nur angehangen? An was hatte sie da bloß festgehalten? Und welchen Wert hatte ihr Pflichtbewusstsein? Wo war die Gemeinschaft, die ihr so ein warmes Gefühl im Bauch beschert hatte, auf einmal hin? Wieso fing sie niemand auf? Gestrandet in einem Niemandsland ohne Ziele und ohne Versprechen — brutaler hätte das Aufwachen aus der Ideologie für Christa nicht sein können.

Im März 1946 konnte sie endlich wieder zur Schule gehen. Lernen versprach Ablenkung. Lernen war aber kaum möglich. Hunger ließ Mitschülerinnen an der Schweriner Oberschule in Ohnmacht fallen. Nachrichten über das, was gewesen war, erschütterten die eigenen Grundfesten immer weiter, bis nur noch Trümmer übrig waren. Trümmer innen und außen. Wie bei Brigitte Reimann, nur anders.

Es kann kein Zufall sein, dass Christa in dieser Stimmungslage ernsthaft erkrankte. An Tuberkulose, wie Veralore Weich und so viele andere schlecht ernährte Kinder. Ihre dicken schwarzen Haare fielen aus. Den Sommer verbrachte sie lesend unter Apfelbäumen und entdeckte die Gedichte von Goethe für sich. Sie probierte sich wieder an eigenen Versen und begann vorsichtig in die Zukunft zu blicken.

Als der Vater aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehrt, ist er auf 38 Kilo abgemagert, kahlgeschoren. Auch er ein fremder Mann für die Familie, deren Lebenssituation sich erst ein Jahr später wieder bessert.

Der Vater bekam eine Anstellung als Leiter eines Kinderheims, inklusive Dienstwohnung — der vorerst letzte Umzug führte nach Bad Frankenhausen in Thüringen. Normalität kehrte in kleinen Dosen zurück. Langsam. Christa ging wieder in die Oberschule und aus einem Kind, das mit Herzblut beim BDM mitmischte, wird innerhalb eines Jahres dank Seghers, Marx und Engels und der neuen Deutschlehrerin eine junge Kommunistin und Sozialistin, die davon träumt, selbst Lehrerin zu werden, um ihr neues Wissen und ihren neuen Glauben an andere weitergeben zu dürfen. Das Gefühl der Bedrückung verflüchtigt sich. Sie lernt, dass es auch wieder ein leichtes Leben geben kann.

1963, sechzehn Jahre später, wird Christa Ihlenfeld, die mittlerweile Wolf heißt und eine vielversprechende DDR-Autorin ist, das Nachwort für eine Neuauflage von Seghers’ Das siebte Kreuz schreiben. Es ist ein Nachwort voller Bewunderung für diesen Roman und diese Schriftstellerin und endet mit diesem Satz: »(…) der Stoff, aus dem dieses Buch gemacht ist, ist dauerhaft und unzerstörbar wie weniges, was es auf der Welt gibt. Er heißt: Gerechtigkeit.«

Maxie

Wien

Aus dem Arbeiterkind Elfriede Brunner soll etwas Besseres werden. Sie soll raus aus Hernals, diesem Wiener Vorstadtviertel, raus aus dem Gemeindebau in der Wattgasse, raus aus der Umgebung des Schuftens und der Armut. Sie soll Abitur machen, eine ordentliche Ausbildung absolvieren und als Erste der Familie den Weg in eine gesicherte, bürgerliche Existenz finden. Davon träumen jedenfalls ihre Eltern Käthe und Alois.

Die Sache ist nur: Elfriede Brunner, siebzehn Jahre alt, geboren am 3. Januar 1933, will nicht raus. Sozialer Aufstieg und Bürgerlichkeit interessieren sie nicht und sie versteht auch nicht, wieso ihre Mutter und ihr Vater sie in eine satte, verklemmte Welt drängen wollen, die der eigenen so fremd ist und über die zu Hause ehrlicherweise nur gespottet wird.

Ihr Milieu, das ist, seit sie denken kann, die Kommunistische Partei Österreichs, die KPÖ-Jugend, die Hernalser Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Türen immer offen stehen, der Sportplatz, die Tanzschule »PÖ«, das Volkskino. Zusammen mit ihrer ältesten Freundin Anni durch die Straßen ziehen, mit Jungs vom Block flirten, knutschen, Eis essen, rauchen, sich raufen, Feste mit der ganzen Nachbarschaft veranstalten, DEFA-Filme mit den sympathischen Schauspielern aus der DDR schauen. Das gefällt ihr. Das liebt sie. Das ist Heimat, auch wenn das Pflaster nicht immer gemütlich ist, aber Wärme, das hat sie früh kapiert, entsteht halt an Reibungsflächen.

Das Gymnasium und die Aussichten, die ein Abitur versprechen, langweilen sie. Fein gekleidete Mädchen mit geschminkten Gesichtern findet sie ätzend, Leute, die in großen Wohnungen mit zu viel Platz leben, peinlich.

Lernen, Stillsitzen, Erwartungen entsprechen macht keinen Spaß. In Mathe schreibt sie ohnehin bloß Fünfen. Das vergangene Schuljahr musste sie wiederholen, weil nichts im Kopf bleiben wollte. Nur in Deutsch quält sie sich nicht. Aufsätze schreiben fällt ihr leicht, aber deshalb noch fast zwei Jahre bis zur Matura durchhalten? Manchmal fragt sich Elfriede Brunner in diesen Tagen des Jahres 1950, ob es ihr einfach an Selbstdisziplin fehlt oder ob es tatsächlich so ist, dass sie sich unterbewusst mit aller Kraft gegen den Druck von außen wehrt, ein Vorzeigekind sein zu müssen.

Mit Druck konnte sie noch nie gut umgehen. Druck macht sie trotzig und aggressiv. Druck lässt sie verstummen. Das wissen ihre Eltern und können es trotzdem nicht lassen. Sie bezahlen ihr Nachhilfeunterricht, nehmen finanzielle Entbehrungen in Kauf, um die sie nie gebeten hat, und fangen an zu toben, wenn sie lieber aus dem Fenster schaut und sich wegträumt, statt alles für die Hochschulreife zu tun. Die Explosion steht kurz bevor. Das spürt Elfriede Brunner. Sie kennt die Mechanismen. Es wäre nicht das erste Mal.

Vor ein paar Jahren wollte ihre Mutter unbedingt, dass sie ein Instrument lernt. Da fing das gut gemeinte Drängen in sogenannte bessere Kreise an. Klavier wäre die bevorzugte Wahl gewesen, doch dafür fehlte natürlich das Geld und der Platz in der kleinen Wohnung, also wurde eine gebrauchte Geige gekauft. Aber anders als Christa Wolf, die ihre Musikstunden mit dem dämlichen Akkordeon brav absaß, um den Hausfrieden nicht zu gefährden, stellte sich Elfriede Brunner stur. Sie mochte ihre Lehrerin nicht und erfand ständig Ausreden, um nicht spielen zu müssen. Der Streit war vorprogrammiert. Ihre Mutter zwang sie zum Üben, richtete feste Zeiten ein, wachte über die Uhr, ließ sie nicht aus den Augen, bevor Töne erklangen. Elfriede Brunner weigerte sich mit allen Mitteln und irgendwann eskalierte die Situation. In rasender Wut hieb die Mutter mit der Geige auf den Rücken ihrer Tochter ein. Das Instrument zerbrach. Elfriede lag schmerzverzerrt auf dem Boden. Beide heulten. An ihrer gegenseitigen Liebe zweifelte keine, aber schon daran, wie lange sie, die zwei Unbändigen, noch weiter unter einem Dach leben könnten.

Konflikte werden bei den Brunners oft mit Gewalt ausgetragen. Die Mutter schlägt, der Vater schlägt, Bruder Herbert schlägt. Gewalt ist Alltag, Teil der Familiengeschichte und Teil des Hernalser Milieus. Gewalt zu Hause. Gewalt auf der Straße. Gewalt als Ausdruck von Widerstand. Gewalt als Ausdruck der Dominanz und des Aufbäumens. Dahinter steht auch: sich um keinen Preis der Welt unterkriegen lassen, von nichts und niemandem. Es ist ein Satz, der vor allem die Biografie der Eltern maßgeblich bestimmt.

Elfriedes Vater, Alois Brunner, geboren 1902, kommt aus bitterarmen Verhältnissen. Er ist das Kind von Kleinstbauern aus Transdorf im Tullnerfeld, einer von der Donau angeschütteten Schotterfläche in Niederösterreich. Er wuchs auf dem Feld und im Stall auf. Mit vierzehn ging er als halber Analphabet von der Schule ab. Das musste sein. Das war keine Frage der Wahl. Arbeiten und Geld verdienen war in seiner Familie überlebensnotwendig. Richtig lesen und schreiben lernte er erst mit zweiundzwanzig Jahren als Freiwilliger beim österreichischen Bundesheer. Das war sein Ausbruch von ganz unten. Er holte seinen Bürgerschulabschluss nach und wurde Schiffsheizer bei der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft.

Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Hans zog er schließlich nach Wien. Beide fingen an, sich in der kommunistischen Partei zu engagieren und sich dafür einzusetzen, dass Leute wie sie mehr Rechte bekamen.