Du musst durch im Leben - Erna Hahn - E-Book

Du musst durch im Leben E-Book

Erna Hahn

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Beschreibung

Erna Hahn, eine starke und mutige Persönlichkeit, geb. 1931, lässt in diesem sehr interessanten und bewegenden Buch ihr ereignisreiches Leben Revue passieren. Ausdrucksstark und mit viel Humor beschreibt sie viele Stationen ihres Lebens. Angefangen von den schwierigen Jahren der Kindheit, geprägt von Krieg und dem frühen Verlust der Eltern, spannt sie den Bogen über die Zeit als junge Frau bis zur Gründung ihrer eigenen Familie. Barbara Macher, am 20. Februar 2017

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ERNA HAHN

Erna Hahn, geb. 1931 in Offenstetten, einem kleinen niederbayerischen Dorf.

Ihr Leben gilt vor allem ihrer Familie und ihren Freunden, die sie mit unglaublicher Kraft, Toleranz, Humor und Liebe durchs Leben begleitet.

Für meine Kinder

Günther, Marion und Ralph

Inhalt

Kapitel 1

Herkunftsfamilie väterlicherseits

Kapitel 2

Meine Herkunftsfamilie mütterlicherseits

Kapitel 3

Meine Eltern

Kapitel 4

Meine Mutter (Zeit zwischen 1937 – 1939)

Kapitel 5

Erna, geb. am 19.08.1931

Kapitel 6

Erna und die Schule

Kapitel 7

Einmarsch der Amerikaner

Kapitel 8

Der Steinbruch

Kapitel 9

Meine Freundin Helga

Kapitel 10

Geschichte von der Heilung des Soldaten

Kapitel 11

Kriegsende

Kapitel 12

Vierter August 1946 Sterbetag von unserer Mutter

Kapitel 13

Erna in Garmisch

Kapitel 14

1956, München

Kapitel 15

Mariandl und Bertl

Kapitel 16

Mein Bruder Heinrich

Kapitel 17

Meine Schwester Marl

Kapitel 18

Mein Bruder Erwin

Kapitel 19

Mein Sohn Günther

Kapitel 20

Franz in Thüringen

Kapitel 21

Franz

Kapitel 22

1961, Erste Begegnung mit Familie Hahn

Kapitel 23

1961, Hochzeitsjahr

Kapitel 24

Schwestern, Heimat und sonstiges

Kapitel 25

Wir waren jetzt eine Familie

Kapitel 26

Mein Mann Franz

Kapitel 27

Meine Tochter Marion

Kapitel 28

Mein Sohn Ralph

Kapitel 29

Reise nach Jugoslawien

Kapitel 30

Krankenhausaufenthalt Straubing

Kapitel 31

60. Geburtstag meines jüngsten Schwagers Walter

Kapitel 32

Wie das Kelheimer Krankenhaus zu seinem Aufzug kam

Kapitel 33

Fortsetzung: Mein Mann Franz

Unsere Urlaube

Kapitel 34

2001 Urlaub auf Mallorca

Kapitel 35

Mein Mann Franz: Krankheiten

Kapitel 36

Kauf von Marions Hochzeitkleid

Kapitel 37

Marions Hochzeit

Kapitel 38

Geschichte von Familie Eder

Kapitel 39

Sprüche von Franz

Kapitel 40

Sprüche von Erna:

Epilog von Tochter Marion:

Wörter, die zu erklären sind:

*Namen und Bezeichnungen von der Autorin geändert.

Kapitel 1

Herkunftsfamilie väterlicherseits

Meine Großmutter hieß Johanna Steinsdorfer, unehelich geborene Rieger aus Regenstauf, Geburtsdatum 22. April 1869, gestorben 1932. Ich bin 1931 geboren und daher sind für mich keine eigenen Erinnerungen vorhanden, sondern nur Überlieferungen von Onkeln und Tanten. Ich bin in aber im Besitz eines Familienfotos, das eine Frau mittlerer Größe zeigt. Um das Gesicht treffend zu beschreiben, würde ich sagen, es zeigt ein slawisches Gesicht. Früher nannte man diese Physiognomie im Volksmund: „Die schaut ja aus wie eine Zigeunerin.“ Das schwarze Haar und die stark braune Hautfarbe taten das Übrige, dieser Beschreibung gerecht zu werden.

Mein Großvater hieß Josef Steinsdorfer, am 27. August 1867 unehelich als Josef Sauer geboren, legitimiert durch seine Eltern Anna und Matthias Steinsdorfer zu Schneeberg, bei Oberviechtach in der Oberpfalz, gestorben 1955 zu Offenstetten. Er ging als junger Mensch nach Neuburg vorm Wald in eine Tuchweberlehre. Später trat er ins Militär ein, in die ehemals königliche bayerische Armee in Augsburg, viertes Feldartillerieregiment.

Nach fünfjähriger Militärzeit trat er wieder ins Zivilleben ein. Zum Broterwerb fing er einen Hausierhandel an. Irgendwann lernte er seine zukünftige Frau Johanna Rieger kennen. Am 27. März 1893 wurde geheiratet. Fortan gingen sie gemeinsam auf die Wanderschaft. Laut Urkunde war zu dieser Zeit das erste Kind schon geboren: Justine, 1892. Das zweite Kind, ein Junge mit Namen Ludwig, war schon unterwegs, wie man so schön sagt. Der Verdienst im Hausiergeschäft verflüchtigte sich im Wandel der Zeit und brachte nicht mehr genug zum Leben, trotzdem nahm die Vergrößerung der Familie nun ihren Lauf. Es wurden noch viele Kinder gezeugt, bestimmt 16 an der Zahl. Davon erreichten jedoch nur zwölf das Erwachsenenalter.

In meiner Kindheit wurde uns glaubhaft gemacht, der Storch würde die Babies bringen. Der arme Langbeiner hätte mit meiner Herkunftsfamilie bei dieser Kinderzahl schon genug zu tun gehabt.

Die Familie hatte keine feste Wohnung, kein Haus. Ihre Behausung war ein Planwagen, der weder von einer Kuh, noch von einem Esel und am allerwenigsten von einem Pferd gezogen wurde, sondern im wahrsten Sinne des Wortes von meinem Großvater, bekannt als der „Stein Sepp“, der später in einer alt bayerischen Heimatpost („Bayerische Originale“ aus dem Jahre 1980) als der Mann mit dem größten Bizeps bezeichnet wurde.

Das hat folgende Vorgeschichte:

Ein Bauer war mit einer Pferdefuhre, voll beladen mit Kartoffeln, auf seinem Acker stecken geblieben. Mein Großvater, grad anwesend und immer hilfsbereit, bot dem Bauer seine Unterstützung an, indem er sich auf den Rücken legte und mit den Beinen dem Fuhrwerk so viel Anschubkraft gab, dass die Pferde das Gefährt rausziehen konnten.

Tagsüber, zum Körbe fertigen, hielt sich die Familie am jeweiligen Ort in einem Heustadel auf. Die Erstgeborenen, schon etwas größer, konnten zwecks Platzmangel nicht mehr im Planwagen schlafen, denn meine Großeltern brauchten für die kleineren Kinder eine Schlafstätte. Also war die Alternative der größeren Kinder der Heustadel und in der kälteren Zeit der Stall, wo sie wenigstens etwas Wärme hatten.

War das Kontingent an Heukörben im Umkreis ihres Standortes gedeckt, wurde in ein anderes Dorf weiter gezogen. So ergab es sich, dass fast jedes Kind einen anderen Geburtsort hatte. Manchmal kehrte die Familie auch nach einiger Zeit zum alten Ort zurück und so hatten auch mal zwei Kinder denselben Geburtsort.

Onkel Hans, ein Bruder meines Vaters, einer von den Erstgeborenen, schilderte das Gebären seiner nachkommenden Geschwister sehr plastisch.

Wenn eine neue Geburt anstand, sagte seine Mutter zu den übrigen Kindern, die gerade anwesend waren, was bei so vielen Kindern wahrscheinlich war: “Geht’s zum Spielen“.

Vom Spiel, oder anderen Tätigkeiten zurückgekommen, hielt sie wieder ein Neugeborenes auf dem Arm.

Ungefähr im zwölften Lebensjahr mussten die Kinder die Familie verlassen. Die Jungs kamen zum nächsten Bauern als Stalljungen, ein damaliger Begriff für Kinderarbeit. Der Vormittag war für die Schule bestimmt. Ab Mittag mussten sie dem Bauer für Hof, Stall und Feldarbeit zur Verfügung stehen. Der Lohn bestand aus Kost und Logis, manchmal ein paar Schuhen oder einem Kleidungsstück, je nach Großzügigkeit des Bauern.

Die Mädchen hatten es vermeintlich schon etwas besser, oder auch nicht. Das kommt auf den Betrachter an. Justine, die Erstgeborene, kam als Hausmädchen zum Herrn Hauptlehrer und seiner Gnädigen nach Inkofen an der Laaber.

Resi und Marie wurden nach Regensburg vermittelt, die eine zum fürstlichen Finanzrat, die andere zum fürstlichen Baurat. Der Tagesrhythmus war derselbe wie bei den Brüdern. Vormittags Schule, nachmittags dienen bei den hohen Herrschaften, für „'nen Appel und en Ei“.

Der Radius, in dem sich meine Großeltern in ihrem Arbeitsleben bewegten, reichte von

Barbing/Reg. (1892/ Justine),

Neueglofsheim (1893/ Ludwig),

Allersdorf/ Mallersdorf (1894/ Resi),

Ettenkofen/ Hofendorf (1896/ Hans),

Gieseltshausen/ Rottenburg an der Laaber. (1897/ Maria,1899/ Johanna),

Regensburg (1902/ Heinrich),

Pfaffenberg/Straubing (1904/ Albert),

Inkofen/Rottenburg an der Laaber, (1907/ Josef, 1909/ Karolina, 1912 Albrecht) und

Adelhausen/ Rohr (1910/ Siegfried).1

Die Kinder, viele inzwischen schon erwachsen, besonders die Töchter, baten die Eltern, das Herumwandern mit dem Planwagen aufzugeben und sich einen festen Wohnsitz an zu eignen.

Meine Großeltern folgten dieser Bitte und begaben sich auf Wohnungssuche.

Der feste Wohnsitz wurde besiegelt im Steinbruch, zugehörig zu Offenstetten. Die Familie Steinsdorfer zog ungefähr 1917 ins „Schrödelhaus“, das wir heute noch als „Kantine“ bezeichnen und welches sich mitten im Wald, ganz in der Nähe vom Steinbruch befindet. Es ist ein Überbleibsel einer Farbfabrik (Keim-Farben), die um die Jahrhundertwende (1900) abmontiert und nach Berlin verkauft wurde.

Familie Schrödel hat dieses Gebäude für ihren Eigenbedarf erworben und der Rest wurde vermietet, unter anderem an meine Großeltern.

Nachdem die Großmutter in diesem Haus verstorben war, beschlossen die drei älteren Töchter, Justine, Resi und Marie für meinen Großvater im Ortsteil See in Offenstetten eine Bleibe zu schaffen. Ein kleines Häuschen mit drei kleinen Durchgangsräumen und einem Vorhaus wurde gebaut. Drei Stufen führten hoch zum Eingang des Häuschens, welches aus Küche und zwei Schlafräumen bestand. Die Küche diente im Winter auch als Arbeitsraum, um Großvaters Heukörbe anzufertigen. Die gute alte Stube war im Winter schön warm, „damit man die Not nicht so spürte“, so ein überlieferter Ausspruch meiner Großmutter. Zwischen unseren Häusern befand sich die Hauptstraße nach Abensberg, die sogenannte Ochsenstraße – heute Kreittmeyer Straße. Wann auch immer ich konnte, ging ich meinen Großvater besuchen.

Ich durfte dann beim Körbe flechten mitarbeiten. Für mich jedes Mal ein großes Erlebnis. Nebenbei erzählte mein Großvater Geschichten aus seinem Leben. Da stand ein Küchenherd, der spendete viel Wärme, eine Schnitzbank und das dazu gehörende Schnitzmesser und das Werkzeug, um das Holz verarbeitungsfähig zu formen. Es roch immer nach frischem Holz. Mein Großvater liebte aber auch den Schnupftabak, was ich wiederum sehr eklig fand. Bei jedem Schnupfvorgang kniff ich die Augen zu und hielt die Ohren zu, um davon nichts zu sehen und nichts zu hören. Er sang dazu: „Der Kautabak, der Schnupftabak, das ist mein Leben, der Kautabak, der Schnupftabak das ist mei Freud!“

Im Sommer fand das Herstellen von Körben im Garten vorm Haus statt.

Die Tochter Hanne, ledig, zog mit ihm in dieses Häuschen, um ihren Vater beim Korbflechten zu unterstützen und nebenbei den Haushalt zu versorgen.

Sie war eine kleine Person, mit viel Humor ausgestattet, trotz ihres schweren Lebens. Zu Fuß brachte sie die schweren Heukörbe, immerhin bis zu drei Stück aufgetürmt, auf ihrem Rücken zu den Abnehmern in die umliegenden Dörfer. Der Weg führte oft bis Helchenbach, Adlhausen, Rohr, Kirchdorf – um nur einige Orte aufzuzählen.

Beim Beziehen dieses Eigenheims pflanzte mein Großvater am Eingang des Grundstücks einen Nadelbaum, eine Föhre, die sich im Wuchs rasch ausbreitete und sich zu einem fast exotischen Gebilde mit verschnörkeltem Geäst entwickelte. Im Stillen machte ich diesen Baum zu meinem Baum. Ich wuchs mit ihm und wurde alt mit meinem „Pseudoadoptivbaum“.

Der Baum aber, von den Jahren gezeichnet, für mich ein Synonym für Familie, fiel 2012 einer Säge zum Opfer, was mich damals sehr traurig stimmte.

1952 verstarb meine Tante Hanne und hinterließ einen unehelichen, volljährigen Sohn Franz. Mein Großvater, auch ins hohe Alter gekommen, durfte nun seinen Lebensabend bei der Tochter Lina mit der Unterstützung der Tochter Maria, verbringen.

1955 verstarb auch der Großvater im Alter von 90 Jahren. Das Häuschen wurde an Hannes Sohn Franz vererbt. Der Erbe machte gleich Nägel mit Köpfen. Ein stattlicher An- und Draufbau ergab ein ansehnliches Gasthaus, der sogenannte „Seewirt“. Nach mehreren Jahren des Eigenbedarfs wurde der „Seewirt“ an den Hofbräu in Abensberg veräußert. Bis zum heutigen Tag versuchten nacheinander mehrere Pächter den Betrieb aufrecht zu erhalten.

Unser richtiger Schreibname wurde im Dorf nie richtig ausgesprochen. Zeitlebens blieben wir bei den Alteingesessenen Offenstettenern die „Steins“. In der Schulzeit nannten uns die bösen Menschen „Zigeuner“. Erst als die Kriegsflüchtlinge ins Dorf kamen, fanden wir mehr Anerkennung, durch unsere damals schon offene und ehrliche Weltanschauung.

Die Steins waren ein lustiges Völkchen. Alle, bis auf paar Ausnahmen, spielten Musikinstrumente wie zum Beispiel Geige, Zither, Gitarre, Ziehharmonika und Bandoneon. Dabei brachten sich stets alle das Instrument autodidaktisch, also selbst bei. Bei Familienzusammenkünften wurde gesungen und Hausmusik gemacht. Die Männer, durch ihr Äußeres, ihren Humor und ihren Charme, entpuppten sich als treulose und verantwortungslose Familienväter. Die Mädchen dagegen fleißig, korrekt und adrett.

Im Ganzen gab es sieben Brüder: Ludwig, Hans, Heinrich, Josef, Albert Siegfried und Albrecht.

Fünf davon waren Kriegsteilnehmer bis zum bitteren Ende. Sie kamen körperlich unversehrt von der Front zurück.

Der älteste – Ludwig – war fünf Jahre in Dachau im Konzentrationslager eingesperrt. Sein Vergehen: Er verteilte heimlich kommunistische Flugblätter gegen Hitler. Er wurde von seiner Frau Veronika denunziert. Sie wollte frei sein für einen anderen Mann, so lautet die Überlieferung seiner Geschwister. Aus Dachau zurück war er nur noch ein Wrack und wurde dadurch nicht zur deutschen Wehrmacht eingezogen.

1939 begann der zweite Weltkrieg. Eines Tages kam von der Wehrmacht der Stellungsbefehl für meinen Vater, obwohl dieser schon im Februar 1937 verstarb.

Welch Ironie!

Fünf Schwestern gehörten ebenfalls zur Familie:

Tante Justine, die Älteste, heiratete einen Martin Feigl aus Naffenhofen in Niederbayern. Ihr Wohnsitz war fortan in Münchsmünster. Einen unehelichen Sohn namens Anton Steinsdorfer brachte sie mit in die Ehe. Sein biologischer Vater ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Er besuchte eine Militärschule und erlangte bei der Wehrmacht den Offiziersrang. Ab und zu schickte er von seinem Wehrmachtssold einen kleinen Betrag an meine Mutter mit den beigefügten Worten, sie möge davon ihren Kindern zu Essen kaufen. Nach Kriegsende ließ er sich durch Heirat in Altenau bei Oberammergau nieder. Er betrieb nach dem Krieg in Altenau ein großes Sägewerk und war dort zugleich 15 Jahre Bürgermeister.

Tante Justines Sohn Anton, genannt Toni hat sich die Gene seiner Mutter voll verinnerlicht. Denn trotz seiner Zeit bei der Wehrmacht, hat er seine Anständigkeit manifestiert, ist mit beiden Beinen auf der Erde geblieben und hat seine Herkunft nie verleugnet.

Ein brillanter Gesellschafter. Für mich in allen Zeiten ein Idol.

Tante Justine hatte aus ihrer Ehe auch noch eine hübsche Tochter, mit Namen Luise. In ihrer Wesensart war sie freundlich, aber distanziert, ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder Anton. Später heiratete Luise in zweiter Ehe einen russischen emigrierten Fürsten mit Namen Andreas de Koy.

Tante Justine war eine kleine humorvolle Frau. Die „Steins“, wie man uns nannte, von der Statur nicht die größten. Ein anderes Merkmal der ganzen „Steinsippe“ war die dunkle Haut, die uns von den übrigen Dörflern ganz klar abhob. Freundlich und humorvoll bis zur heutigen Generation. Dies von mir zu behaupten hat nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern ist allgemein eine Feststellung unserer Umwelt.

Tante Resi kam auch schon frühzeitig nach Regensburg in häusliche Stellung bei der Eisenhandlung Schwarz (Jüdischer Herkunft). Der Werdegang dieser Familie in der NS-Zeit ist mir nicht bekannt. Bekannt ist mir, dass Tante Resi zu einem späteren Zeitpunkt beim Fürsten Thurn und Taxis gearbeitet hat.

Tante Marie, unser aller Anstandswauwau, kein Wunder, hat sie doch ausschließlich bei feinen Herrschaften gedient. Zu den feinen Arbeitgebern gehörte der Herr Kommerzienrat mit Frau und Kindern und bei einem anschließenden Arbeitsstellenwechsel auch noch der fürstliche Baurat mit Familie. Später verehelichte sich Tante Marie mit einem Hans Bachmeier aus Münchsmünster in Oberbayern, seines Zeichens Kaufmann und Musiklehrer.

Diese Ehe blieb kinderlos. Durch die Heirat wurde Münchsmünster bis 1945 ihr bleibendes Domizil. Meine um drei Jahre ältere Schwester und ich durften öfter zu Besuch dort hin. Manchmal mit der Bahn, zwei Stationen, doch wir fühlten uns wie Weltreisende. Drei Parteien wohnten in dem Mietshaus, das in der Bauweise villencharakter darstellte. Einer der Mieter war der Bahnhofsvorstand Herr Bolleininger. Nach Tante Maries Anweisung mussten wir jeden Morgen frisch gewaschen und geschnäuzt Herrn Bolleininger mit Darreichung der rechten Hand „Guten Morgen“ wünschen. Der Herr war entzückt über so viel Nettigkeit. Meine Schwester war in solchen Dingen eher beeinflussbar, ich hatte aber nur Groll im Bauch über so viel Dressur.

Für mein Naturell hätte es gereicht, bei Herrn Bolleininger anzuklopfen, bei Öffnung der Tür stehen zu bleiben und ganz lässig den Herrn zuzurufen: „Guten Morgen“ und dann wieder ab durch die Mitte. Zu viel Förmlichkeit entsprach nicht meiner Person. Es hat sich aber mit den Jahren relativiert.

So lernten wir Manieren, für unser kindliches Empfinden nicht immer ein Genuss.

Um es auf einen Nenner zu bringen: Sie war eine Dame. Ich aber hielt es mehr mit einem Ausspruch vom Müncher Original Weiß Ferdl: Bei uns in Bayern gibt’s koa Dame, do gibt’s blos an Hamme.

1946 verstarb der Ehemann von Tante Marie. Das Mietshaus in Münchmünster wurde veräußert. Tante Marie übersiedelte nach Offenstetten und erbaute als Witwe im Alter von 60 Jahren eine feste Bleibe in Form eines winzigen Häuschens in aller Wohnbescheidenheit. Ein Bad war nicht vorhanden und das Plumpsklo befand sich im Schuppen. Hierin lebte sie bis zu ihrem Ableben im 90. Lebensjahr.

Die Nesthäkchen der Familie Steinsdorfer Johanna und Karolina waren der fremden Welt nicht mehr ausgesetzt und durften in der Familie aufwachsen.

1 Jahreszahlen entsprechen den Geburtsjahren der Kinder

Kapitel 2

Meine Herkunftsfamilie mütterlicherseits

Meine Großmutter:

Die Ursula Weichinger, geb. Bittner, Geburtsort Wildenberg, am 07. Januar 1877, war eine zierliche und unauffällige Frau mit hellroten Haaren, was in früheren Zeiten leider von den Menschen in ihrer Weltanschauung als Makel eingestuft wurde. Nichts desto trotz heiratete mein Großvater Josef Weichinger, geb. 07. August.1875 in Leitenhausen im Kreis Rottenburg an der Laaber, seine Ursula. Der Großvater war ein gutaussehender stattlicher und stiller Mann und von Beruf Schuhmacher. 1920 kamen die Eheleute Weichinger nach Offenstetten, um sich nach mehreren Wohnortswechseln beim Steinbruch, der sich zwischen Offenstetten und Arnhofen befindet, einen festen Platz zu schaffen. Mit dem Erwerb eines Eigenheimes, den sogenannten Bahnhof oder Lokomotivhalle aus der Jahrhundertwende, ein Überbleibsel der Steingewerkschaft, war dieser Wunsch erfüllt. Der Kaufpreis betrug laut notarieller Urkunde für dieses Objekt 7500 Mark plus jährlichen Bodenzins von sechs Reichsmark und einen Pfennig. Sechs Kinder zogen mit in das neu erworbene Haus. Fünf davon stammten aus der Ehe. Da war der Hans, der Sepp, der Heiner, Maria, meine Mutter geb. am 12. August 1908 in Bachl, damals Gemeinde Sallingberg, und zuletzt kam der Sohn Ludwig.

In der Familie gab es auch noch die Barbara, eine uneheliche Tochter meiner Großmutter. Für uns Kinder war sie die Tante Bawett, bayerisch für Barbara. Später heiratete die Bawett einen Märkl*, von Beruf Maurer. Seines Gleichen ein Tyrann in der Ehe. Die einzige Sprache die er beherrschte waren Schikane und tägliche Übergriffe an seiner Frau und Kinder, bis zum Inzest mit seiner kleinen Tochter. Dieser Unmensch bekam eine Gefängnisstrafe, wie viel an Jahren oder Monaten entzieht sich aber meiner Kenntnis. Nach Verbüßung der Strafe kehrte er in die Familie zurück, wurde von seiner Frau jedoch wiederaufgenommen. Die missbrauchte Tochter musste aus dem Haus, denn der Täter betrachtete sich als Opfer.

Von der übrigen Verwandtschaft, Nachbarn und sonst noch Wissenden wurde er geächtet. Er trieb sein Unwesen weiter, bis an ihr beider Lebensende. Und das war nicht zu kurz.

Zwei Weichinger Söhne, Hans und Sepp, mussten in den Krieg nach Russland, dort sind sie auch geblieben und gelten bis heute noch als vermisst.

Sohn Heinrich war bei der Reichsbahn als Streckengeher beschäftigt und wohnte in einem Streckenhäuschen mit Familie an der Bahnstrecke zwischen Arnhofen und Thaldorf. Zur Wehrmacht wurde er nicht eingezogen, denn seine Tätigkeit als Streckengänger war in der Heimat kriegswichtig. An den Zügen konnte man es ablesen, in Form von Propaganda ganz groß angebracht: Räder müssen rollen für den Sieg.

Der Sohn Ludwig leistete ebenfalls seinen Dienst bei der Wehrmacht, aber nur in beschränkter Zeit, denn das Ende des Krieges war „Gott-seis-gedankt“ bald in Sicht.

Wobei sich die Ernährungslage der Bevölkerung zwischen 1945 und 1948 mehr und mehr verschlimmerte. Da wurden wir alle sogar von Kindesbeinen an zu Aktivisten um zu überleben, animiert von unser Weichinger Großmutter, mit ihr auf die abgeernteten Weizenfelder zu gehen um die Ähren zu sammeln. Ob wir es gerne taten oder es nur als Opfergang empfanden, lass ich mal dahingestellt. Jedenfalls zwischen Arnhofen und Teuerting lagen die Felder vom großen Bauern Amann aus Kleedorf. Jede liegengebliebene Ähre wurde von uns aufgehoben, gebündelt und später bei einem Landwirt mit der Dreschmaschine entkörnt, anschließend in eine Mühle gebracht und für Mehl eingetauscht. Der Ertrag war immer um die ein, zwei Kilogramm Mehl.

Abwechselnd versuchten wir unser Glück in den verschiedenen Mühlen in der näheren Umgebung. Einzige Bedingung: Die Entfernung musste für unsere Beine akzeptabel sein. Schließlich mussten wir das alles auf „Schusters Rappen“ erledigen. Manchmal waren die Müller in ihrer Person auch launisch und wir gingen unverrichteter Dinge nach Hause mit dem bitteren Gedanken: „Wo bekommen wir den nächsten Löffel Mehl her?“ Da bot sich die Alternative den längeren Weg in Betracht zu ziehen. Der führte nach Adlhausen zur Schickermühle zehn bis zwölf Kilometer Entfernung – den steinigen Weg mit dem Rucksack auf dem Rücken und der Hoffnung, der Müller ist ein Gutmensch und erbarmt sich unseres „Dackelblickes“. War‘s der Dackelblick oder Tante Anne deren Begleitung ich war, denn dieser Tag war erfolgreich.

Einer von den Müllern war ein Sexist. Kaum hatten wir die Mühle betreten, unsere Bitte geäußert, ging er verbal gleich zur Sache. Er unterbreitete uns sein ungeheuerliches Angebot mit ihm mit dem Aufzug auf den Dachboden zu fahren und seine sexistischen Forderungen zu erfüllen. Da standen wir im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren, entsetzt über dieses skrupellose Schwein, gesteuert von seinen pädophilen Trieben. Sein schlimmes Verhalten hat bei den weiblichen Personen hinter vorgehaltener Hand schnell die Runde gemacht. Aber nicht nur die Weiblichkeit wusste Bescheid, sondern auch viele Männer im Ort. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Für uns gab es in dieser Situation nur Hilfe zur Selbsthilfe in Zukunft betraten wir die Mühle nur zu zweit oder wir wurden zu legalen Erpressern, mit der Drohung auf der Stelle seine Frau zu informieren. Wie alles im Leben ging auch dieser Kelch an uns vorbei. Was dich nicht kaputt macht, stärkt dich mit der bescheidenen Weisheit: So ist das Leben, da musst du durch.

Kapitel 3

Meine Eltern

Um den Steinbruch in Offenstetten herum befand sich ein großes Areal, das den Standort der früheren Farbfabrik und deren Kantine mit einbezog. In dieser Kantine wohnte mein Vater mit Eltern und Geschwistern. So schloss sich eines Tages der Kreis, indem sich meine Mutter, die 19-Jährige Maria Weichinger in den sechs Jahre älteren Heinrich Steinsdorfer verliebte.

Am 04. August 1927 wurde unehelich mein älterer Bruder Heinrich geboren. Am 10. April 1928 heirateten meine Eltern, denn meine Schwester Maria war schon unterwegs und wurde am 08. Oktober 1928 geboren. Das Hochzeitsmahl bestand aus 250 Gramm Fleisch. Das befand sich in einer Einkaufstasche, die an einem Haken an der Zimmertür befestigt war. Ihr Besitz und Habe war, was sie am Körper hatten. Eine Bleibe fanden sie bei meines Vaters Schwester Lina in Offenstetten.

Diese Bleibe, ein winziges Zimmer auf dem Speicher, reichte von den Quadratmetern gerade für meine Mutter und die zwei Kinder zum Schlafen. Mein Vater musste sein Nachtlager außerhalb dieses Raumes aufschlagen, direkt im Speicher. Das Dach war undicht, so spürte er im Winter bei Schneefall heftig den Schnee im Gesicht. Nach Aussage meiner Mutter war der Winter 1928 ein äußerst kalter Winter, der in meiner Mutter die Ängste aufkommen ließ, die beiden Kinder könnten ihr erfrieren. So entstand bei meinen Eltern der Gedanke, so bald wie möglich ein eigenes Dach für sich und die Kinder zu schaffen. Der Gedanke – ein Wunschgedanke in ihrer Position der Arbeitslosigkeit – ein Häuschen zu bauen, und wenn es nur zwei Zimmer wären, war kaum möglich in die Realität umzusetzen. Trotz all der Hindernisse und Ausweglosigkeit traten sie der Herausforderung entgegen. An erster Stelle stand nun ein Grundstück in Offenstetten zu erwerben.

An der Hauptstraße in Richtung Abensberg von Bachl kommend am Ortsende links befand sich ein Gemeindegrundstück. Dasselbe wurde von meinen Eltern für 100 Reichsmark käuflich erworben. Anschließend war ein kleiner Gemeindewald, mit altem Baumbestand, der später für Kriegsflüchtlinge als Heizmaterial abgeholzt wurde. Im Anschluss befand sich die Dorfspielwiese. Ein Platz für größere Ereignisse, der später zum Fußballplatz umfunktioniert wurde. Wie auch immer, stellt sich für mich auch heute noch die Frage, von wem und von wo kam die Finanzierung. Meine Vermutung, dass die Weichinger Großeltern die Geldgeber waren, bleibt wahrscheinlich unbestätigt. Auch meine Recherchen brachten mir dafür keine Gewissheit. Da begann nun zwischen 1928 und 1932 das große Abenteuer ein Häuschen zu bauen, für ihre Familie, die ohne Einkommen, aber inzwischen das dritte Kind, mit dem Namen Erna, geb. am 19. August 1931, aufweisen konnten. Den Erzählungen zu Folge war meine Mutter, wenns um die Wurst ging, immer der große Organisator. Zum Beispiel bei Abrissen von Scheunen oder sonstigen Gebäuden durfte sie die noch brauchbaren Ziegelsteine für sich entnehmen. Ansonsten wurden vom Steinbruch Bruchsteine und Kalk entnommen. Kalk musste mein Vater aus der Erde graben, die noch von der ehemaligen Farbfabrik Keim vorhanden war. Natürlich war diese Tätigkeit mit schwerer Arbeit verbunden. Mein Vater, gesundheitlich schon angeschlagen, spuckte bei dieser Arbeit Blut, was ein Indiz für TBC war. Fenster und Türen wurden ebenfalls aus Abbruchgebäuden zusammengetragen. Somit entstanden zwei Räume mit Vorhäuschen. 1932 wurde die Errungenschaft von unserer inzwischen fünfköpfigen Familie bezogen. Vier Jahre später, am 20. Juni 1936, erblickte der Kleinste mit Namen Erwin das Licht der Welt. Im Februar 1937 verstarb dann mein Vater, im Alter von 34 Jahren an Tuberkulose.

Einige Wochen später erkrankte Erwin mit acht Monaten an Kinderlähmung. Das Schicksal nahm sich im kleinen Häuschen den größten Platz ein. Ein altes Sprichwort heißt: Der liebe Gott schickt das Schwere im Leben scheibchenweise, sonst könnte mans nicht ertragen. In diesem Fall war wohl von Scheibchen nicht mehr die Rede, sondern von Riesenbrocken. Da stand meine Mutter, 28 Jahre jung, mit vier unmündigen Kindern, ohne jegliche finanzielle Unterstützung oder Einkommen. Erwin acht Monate, Erna fünf Jahre, Maria acht und Heiner neun. Sehr früh begannen bei mir die Zweifel über Gott und die Welt, ohne dass ich dies in meinem Kindbefinden einordnen konnte. Wie auch? Die betreffenden Umstände konnten schon die Erwachsenen weder verstehen noch begreifen.

Als Kind, in Unwissenheit eingehüllt, in eine natürliche Schutzhülle, wie ein Fötus im Mutterbauch, um nicht zu zerbrechen, aber zugleich dem, was dich erwartet, voll ausgesetzt. Die Erwartung, ohne zu wissen was dieses Wort genau bedeutet, Mutter ist für uns zuständig, wer sonst, und in meiner kindlichen Hoffnung, sie wird es schaffen.

Für meine Mutter begann nun doch ein Spießrutenlaufen. Der bittere Weg zu den Behörden war unausweichlich. Die Überwindung bei der politischen Gemeinde Offenstetten, so war damals die Bezeichnung, um Hilfe zu bitten. Heute schauert mich diese Bezeichnung „Politische Gemeinde“ und erkenne, darin wie angehaucht, die hitlerische Atmosphäre im Aufbruch, die mittendrin steckte. Der Gang zur Gemeinde brachte das Ergebnis, wöchentlich für fünf Personen, die Unterstützung von 7,50 Reichsmark zu erhalten.

Örtliche Auszahlungsstelle war die Gemeindeverwaltung, betreut von Johann Bründl*. Nach dreiwöchigem Erhalten dieses Minibetrages wandte sich Frau Bründl mit den Worten an meine Mutter: „Schämen sie sich nicht, sich von der Gemeinde unterhalten zu lassen?“ Schließlich wäre sie eine junge Frau und könnte sich einen neuen Mann suchen, der für die Kinder sorgt. Die Antwort meiner Mutter: „Ein anständiger Mensch will mich nicht mit vier Kindern. Einer, der meine Kinder rum schlägt, den will ichnicht.“

Von der politischen Gemeinde kam bald ein Angebot an meine Mutter, zwei Mal die Woche die Reinigung der Dorfschule zu übernehmen. Wir Kinder durften beim Schule Putzen helfen. Ich, inzwischen schulpflichtig, durfte mich mit meinem wachsenden Können einbringen und es machte mir auch Spaß.

Ungefähr zur selben Zeit bekam meine Mutter einen zweiten Job angeboten, der innehatte in neun Ortschaften die Tageszeitung auszutragen. Die Wegstrecke, enorme Kilometer, zusammen gerechnet 32. Per Fahrrad fuhr sie zuerst von Offenstetten nach Abensberg zur Druckerei Kral, um das Produkt Zeitung abzuholen. Von da ging es nach Unter- und Oberteuerting, Buchhofen, Reising, Schambach, Einmuß, Großmuß, Bachl und Scheuern. Im Winter streckenweise zu Fuß über nur vorhandene Schotterstraßen oder Hohlkreppen, die in sehr kalten Wintern tief verschneit zurückgelegt werden mussten. Es gab keine Alternative als Zugang zu den Dörfern. Das war in den Jahren von 1939 bis 1943.

Dies alleine war für sie nicht die einzige Problematik, sondern ihr Tagesablauf und unserer. Während ihrer Abwesenheit mussten wir drei unmündigen Kinder die Obhut des kleinen Bruders Erwin übernehmen. Solange Erwin mit seiner Erkrankung sich zu Hause in der Familie befand, konnte meine Mutter erst ab Mittag ihre Zeitungstour antreten. Da kamen wir Großen aus der Schule und mussten für den Kleinen die Verantwortung übernehmen. Die Belastung für uns Kinder und unsere Mutter, die nicht von einem Psychologen begleitet wurde, hatte einen einfachen Nenner: „So ist das Leben, da musst du durch.“ Jeden Tag saßen wir in der Küche am Fenster auf die Straße schauend und wartend auf die Mutter, die erst bei Dunkelheit nach Hause kam. Später, als mein kleiner Bruder, inzwischen eineinhalb Jahre alt, in eine orthopädische Klinik nach Hohenaschau am Chiemsee zur Behandlung gebracht wurde, ging meine Mutter morgens schon ihrem Job nach und kehrte am Nachmittag heim. Eine schöne Zeit wäre nun für uns angebrochen, mit dem Wissen, die Mutter hat nun mehr Zeit für unsere Bedürfnisse. Wäre da nicht die traurige Gewissheit gewesen, der Kleinste befinde sich 200 Kilometer entfernt in einer Klinik, ohne zu ahnen wie lange es von Dauer ist.

Manchmal waren wir auch des Wartens müde, aber umso größer war dann die Freude beim Nachhause Kommen der Mutter. An einem Tag hatte ich einen Gedanken, der Mutter besondere Freude zu machen. Hätte ich damals den Spruch gekannt: „Wenn man von der Sonne spricht, schickt sie ihre Strahlen,“ hätte ich bei ihrem Nachhausekommen diesen Spruch angewandt. Stattdessen kannte ich nur einen unsensiblen Spruch, der für mich trotzdem liebevoll sein sollte. Kaum war meine Mutter in die gute Stube eingetreten, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf und begrüßte sie mit den Worten: „Wenn man an Esel nennt, kimmt er grennt.“ Ohne große Erklärung fiel bei meiner Mutter der Watschnbaum um. Später lernte ich das andere Sprichwort kennen. Es war zu spät.

1943 änderte sich die finanzielle Lage der Mutter, da mein ältester Bruder mit 16 Jahren zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er wurde vom Hitlerregime als Miternährer anerkannt und somit bekam meine Mutter 80 Reichsmark monatlich vom Nazistaat. Dadurch verbesserte sich die schwere finanziele Situation meiner Mutter und sie beschloss, ein kleineres Gebiet zum Verteilen der Regionalzeitung zu übernehmen, welches aus zwei Ortschaften bestand: Hörlbach und Kirchdorf.

Kapitel 4

Meine Mutter (Zeit zwischen 1937 – 1939)

Mit 28 Jahren Witwe, kein Einkommen, keine Rente, von nirgendwo eine Unterstützung. Was sie hatte, waren vier unmündige Kinder. Der Heiner neun, die Maria acht, ich, mit Namen Erna fünf Jahre und Erwin 8 Monate. Was sie noch hatte: Ein Dach über dem Kopf, dass ihr Eigen war. Gesamtzahl der Zimmer waren zwei, eine Küche und ein Schlafzimmer. Dazu die Not, überall, an allen Ecken präsent. In der unmittelbaren Nachbarschaft wohnte ein Bruder meines Vaters, Onkel Hans mit Familie: Seine Frau Tante Anni und seine beiden Söhne Hans und Heinrich. Sohn Hans arbeitete bei Firma Dendl in Arnhofen, bis er zur Wehrmacht eingezogen wurde und in den Krieg ziehen musste. Er war ein ruhiger angenehmer Mensch, wie seine Mutter Anni. Der Sohn Heinrich befand sich im gegenteiligen Stadium, um zehn Jahre jünger, voller Lebendigkeit, mit überwiegenden Genen seines Vaters. Er wurde mit 20 Jahren in den Krieg als Fallschirmspringer nach Italien eingezogen. Dort wurde er von den Alliierten während eines Absprungs über Italien abgeschossen. Sein Grab liegt 40 Kilometer vor Florenz, 900 Meter hoch auf dem Futa Pass in einem deutschen Soldatenfriedhof mit 31.000 anderen Gefallenen. Heiner nannten wir ihn und wir wuchsen wie Geschwister zusammen auf. Zwischen unseren zwei Häuschen befand sich kein Zaun, wir konnten beide Grundstücke für uns Kinder als Spielraum nutzen. Onkel Hans nahm bei uns auch immer mehr Raum ein, im wahrsten Sinne des Wortes. So erkannten wir Kinder auch nicht sofort, was später zum Trauma wurde. Unsere kindliche Fantasie reichte noch nicht aus, um die Dinge, die um uns geschahen, zu realisieren. Meine Mutter, in ihrer Not, suchte wahrscheinlich Unterstützung von ihrem Schwager, finanziell war in diesem Fall nichts zu erwarten. Er hatte selbst Familie und kein festes Einkommen. Zwischen unserer Mutter und Hans entstand ein Verhältnis, das sich mehrere Jahre hinzog. Von ihrem sozialen Desaster wollte sie sich frei schwimmen und unabhängig werden, von dieser pharisäischen Gesellschaft, die ihr für fünf Personen 7,50 Reichsmark pro Woche aushändigten und das mit Schmach und beleidigenen Worten. Um uns zu ernähren, nahm sie die zwei schon erwähnten Arbeitsstellen an. Der zu diesem Zeitpunkt frei gewordene Job, ein Segen für sie.

An unser Häuschen wurde inzwischen von einer mir unbekannten Behörde, vermutlich dem Gesundheitsamt, ein drittes Zimmer angebaut. Zusammengerechnet betrug die Wohnfläche nun ungefähr 36 - 38 Quadratmeter. Am Eingang stand ein winziges Vorhäuschen, das zugleich als Abstellraum diente. Von da trat man unmittelbar in die Küche, von der Küche ins Schlafzimmer für Eltern und Kinder. Nach dem Tod meines Vaters war zum Westen hin die Mauer durchbrochen worden, um den dritten Raum im Neubau über das Schlafzimmer zu erreichen. Dies Zimmer benutzte nun meine Mutter als Schlafraum. Tagsüber war mein Onkel bei seiner Frau. In der Nacht besuchte er meine Mutter. Diese nächtlichen Besuche zu meiner Mutter erfolgten stets über Fenstereinstieg. Wir Kinder, außer Erwin, der Kleinste, waren nun sehr sensibilisiert und konnten gar manchmal nicht schlafen. Wir lagen auf unseren Strohsäcken, die den Vorteil hatten viel Wärme abzugeben. Selbst eine Matratze hätte uns in diesen kalten Räumen, wo die Zimmerdecken vom Raureif wie ein Winterwald blitzten und die Zudecken mit Bettbezug beim Ausatmen gefrieren ließen, nicht die nötige Wärme gegeben. Im Zimmer meiner Mutter gab es viel Streit und sogar Schläge für meine Mutter. Das waren schlimme Erlebnisse, die uns Kinder schlaflose Nächte bescherten, und gar manches Mal gingen wir unter die Bettdecke auf Tauchstation, hielten uns mit beiden Händen die Ohren zu und nahmen so eine Schutzposition ein.

Fanden derartige Ausbrüche von meinem Onkel am Tag im Hof hinterm Haus statt, war ich bemüht meiner Mutter beizustehen, indem ich diesem Mann einen großen Stein auf den Buckel krachen ließ, oder mit bloßen Fäusten auf ihn einschlug. Was ich aber für diese meine Wehrhaftigkeit nie erlebte, war eine Retourkutsche. Durch die lange Dauer des Krieges erledigte sich dieses Drama von alleine. Onkel Hans wurde trotz schwerer epileptische Anfälle, die er sich im Ersten Weltkrieg mit einer Gasvergiftung zuzog, nach Kroatien in den Partisanenkampf eingezogen. Ende des Krieges war er noch eine kurze Zeit in Gefangenschaft. Als er heimkehrte, befand sich meine Mutter schon im Krankenzustand und war für ihn nun uninteressant. Somit war dieses böse Kapitel abgeschlossen. Die Tante Anni war trotz der seelischen Erniedrigung immer lieb zu uns Kindern. Wir vier Geschwister hatten aber zeitlebens ein Trauma und vermieden es über diesen Lebensabschnitt zu sprechen. Ich glaube dieses Kapitel wurde beim Tod unserer Mutter mit ins Grab gelegt.

Heute, mit 81 Jahren, möchte ich die beteiligten Menschen nicht negativ darstellen, sondern für mich die Bilanz ziehen: So ist das Leben.

In ihrem kurzen Leben war meine Mutter stets bedacht für ihre Kinder gut zu sorgen, mit voller Kraft und davon hatte sie viel. Egal wo wir Kinder uns aufhielten, wurde hervorgehoben, wie schön wir gekleidet, gut genährt und außerdem anständig, ehrlich und geradlinig von ihr begleitet wurden.

Das zum Andenken an meine Mutter.

Kapitel 5

Erna, geb. am 19. August1931

Ein Jahr war ich alt, da zogen wir in unsere bescheidene Hütte, ein Häuschen bestehend aus zwei kleinen Zimmern. Dusche oder Bad – ein fremdes Wort. Klo hinterm Haus, kein Schuppen. Ich denke Haus darf man es nennen, weil´s gemauert war, natürlich mit Bruchsteinen aus dem Steinbruch. Eine Hütte wäre doch aus Brettern gemacht. Ohne Wasser und Strom, zur Beleuchtung eine Petroleum-Laterne, draußen einen Schöpfbrunnen, der im Winter eingefroren war. Bei Bedarf von frischen Wasser mussten wir Schnee und Eis auf dem Holzofen in der Küche erhitzen. Dieses heiße Wasser wurde zum Auftauen der Rohre in den eingefrorenen Schöpfbrunnen geschüttet.

Die winzige Wohnküche wurde zugleich auch als Waschküche genutzt.

Ein extra großer Topf diente als Waschkessel zum Auskochen von weißer Wäsche.

Mit einem Waschbrett wurde die Wäsche in einer größeren Wanne durchgerubbelt und am Schöpfbrunnen in mehreren Wannen durchgespült. In derselben Lauge wurde anschließend auch die farbige Wäsche gewaschen. Das geschah Winter wie Sommer.

Die Kleinkindzeit war von Armut bestimmt (der Vater arbeitslos) – das zog sich so durchs Leben bis ich selbst Geld verdienen konnte.

In dieser Kinderzeit durften meine Schwester Maria und ich öfter zur Tante Lina. Sie war eine Schwester von meinem Vater und wohnte im selben Dorf wie wir. Ihre Ehe blieb kinderlos, das war sehr zum Vorteil für uns, durften wir sie doch des Öfteren besuchen. Für uns Kinder war es immer schön bei ihr. Wir durften sogar manchmal übernachten. Am nächsten Morgen war mein Heimweh so groß, dass ich am frühen Morgen ohne Frühstück gleich den Heimweg antrat, um meine Eltern wiederzusehen. Ich war viereinhalb Jahre alt und meine Schwester Maria siebeneinhalb. Wir waren wieder mal bei Tante Lina. Die Tante ging wie jeden Tag Milch holen beim Bauer in der Nachbarschaft. Kaum allein – da begann ihr Mann Franz P. vor uns seine Hose zu öffnen und forderte meine Schwester und mich auf, sein Geschlechtsteil zu berühren. Ich sah das erste Mal einen nackten Mann, dies galt auch für meine Schwester. Wir wussten nicht, was hier geschah, wir ahnten nur, dass dies was Böses war und weigerten uns der Aufforderung zu folgen. Ein Schutzengel schickte uns die Tante schnell vom Milchholen zurück, was sonst nicht immer so war, denn sie machte auch gerne einen Nachbar-Ratsch. Meine Schwester behielt diesen Vorgang für sich. Ich aber habe bei meinen Eltern gleich berichtet, was vorgefallen war. Was ich genau sagen konnte – Franz P. hat die Hose geöffnet. Was ich dann sah, war für mich undefinierbar. Meine Wahrnehmung und kindliche Phantasie drückten sich so aus: Ich hätte bei Franz P. einen „Porree“ gesehen, den ich anfassen sollte. Die Aufregung bei meinen Eltern war groß. Meines Vaters Entrüstung war kaum zu überbieten. In seiner Enttäuschung ließ er sich zu den Äußerungen hinreißen: „Den Kerl bringe ich um.“ Eine Anzeige wurde dennoch nicht gemacht, der Tante Lina wegen, die doch die Schwester meines Vaters war. Wir durften zu Besuch nur noch dort hin, wenn Franz P. auf Montage war.

Später wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Er kam nach Frankreich, denn Hitler war schon in Frankreich einmarschiert. Eines Tages kam von einem Kameraden die Nachricht: Franz P. hat sich die Pulsadern geöffnet und ist verblutet. Weshalb und warum wurde von der Wehrmacht nicht begründet. Es hieß von offizieller Stelle nur: Fürs Vaterland gestorben.

Ein halbes Jahr später wurde mein jüngster Bruder Erwin am 20. Juni 1936 geboren. Mein Vater fing nun schon an zu kränkeln und wurde bettlägerig. Da geschah, dass ich bei meiner Tante Anni beim Spielen in die Jauchengrube fiel. Die volle Grube reichte in der Tiefe für meine Größe zum Ertrinken aus. Dank meiner Cousine Hilde, die bei ihrer Mutter Alarm schlug, war sofort Hilfe zur Stelle. Meine Tante zog mich unmittelbar aus der stinkigen Brühe und brachte mich zu meinen Eltern. Meine Mutter steckte mich in eine mit warmen Wasser gefüllte Blechwanne und seifte mir den ganzen Körper mit Kernseife ein. „Badedas“ und Shampoo gab es nicht, dementsprechend war trotz der Wäsche noch ein penetranter Geruch vorhanden. Es war schon der Monat Oktober. Die Temperaturen nicht mehr sommerlich und mein kleiner Körper etwas ausgekühlt. Um mich zu erwärmen steckte mich meine Mutter ins Krankenbett zu meinem Vater. Heute höre ich noch die Worte meines Vaters: „Bitte Frau nimm das Kind aus meinem Bett, das Mädchen stinkt ja fürchterlich.“

Als mein Vater 1937 verstarb befand ich mich bei Tante Marie der Schwester von Vater, in Münchsmünster. Dort wohnte noch eine Schwester, Tante Justine. Wir fuhren mit dem Zug von Münchsmünster nach Abensberg. Es waren zwei Stationen – aber für mich eine Weltreise. Es gab von Abensberg bis Offenstetten keine Fahrgelegenheit, also musste ich mit fünfeinhalb Jahren vom Bahnhof bis Offenstetten viereinhalb Kilometer, wie die Erwachsenen, zu Fuß gehen. Meine Gedanken befassten sich mit dem Tod. In meiner kindlichen Phantasie glaubte ich, mein Vater wäre an das Kreuz genagelt. Die Tatsache, dass in unserer kleinen Küche ein Waschbrett auf irgendwelchen Holzblöcken lag, mit einem weißen Tuch darüber, darauf stand ein Sarg, in dem mein Vater lag, das alles wirkte sehr befremdend auf mich.

Kapitel 6

Erna und die Schule

1938 kam ich in die Schule. Stichtag für die Einschulung war 31. Juli 1938. Schulbeginn um Ostern rum.

Mutters Bemerkung: „Deandl, um 19 Tage bist du zu spät geboren, sonst wärst du ein Jahr früher zur Schule gegangen.“

Ich, geboren am 19. August, war also sechs Jahre und neun Monate zu Schulbeginn. Meine Schulsachen bestanden aus Ranzen, Schiefertafel, Griffelschachtel - natürlich mit Inhalt, der bestand aus Griffeln verschiedener Farben. Dazu gehörten ein Bleistift, ein Bleistift-Spitzer, Federhalter, eine Schwammdose und ein Radiergummi, ein Schulheft für Diktat, ein Heft für Schönschrift und nicht zu vergessen - die Tafel hatte einen Holzrahmen. Im Rahmen befand sich ein Loch, um einen Tafellappen zu befestigen. Ich häkelte mir aus Wolle eine 30 cm lange Schnur aus Luftmaschen für meinen Tafellappen, genäht aus einem Stück Stoff.

Wurde die Tafel nach Unterrichts-Schluss verstaut im Ranzen, so musste der Lappen außen vor bleiben, um beim Gehen rumzubaumeln, da er feucht war. Also diente die Baumelei zum Trocknen.

Die formelle Anrede an die Lehrkräfte lautete: Frau oder Herr Hauptlehrer. Wortmeldungen mussten wir stehend an die Lehrer ausführen. Die Schulbänke waren für vier Kinder ausgerichtet. In der Schreibtischplatte eingearbeitete Tintengläser schwappten bei der geringsten Erschütterung über. Kleidung Bänke und Böden wurden sehr zum Leidwesen der Mütter und Putzfrauen in Mitleidenschaft gezogen.

Erster Schultag: Da stand die Lehrerin, ihr Name war Fräulein Aigner. Die Haare waren sehr kunstvoll aufgetürmt wie ein Storchennest. Ich war aber nur noch fixiert auf ihre Beine, die waren so unnatürlich dick. Meine stille Frage: Warum hat die Frau so dicke Beine? Dieselbe Frage stellte ich laut an meine Mutter und wurde etwas leiser mit der Diagnose beantwortet: „Die hat die Wassersucht.“

Ich glaube in meiner Erinnerung zu wissen, Frau Aigner hieß mit ihrem Vornamen: Walburga. Sie hatte eine Villa in Landshut, konnte in der Kirche die Orgel spielen und war mit dem Pfarrer Zollner, zugleich unser Religionslehrer, auch Dorfgeistlicher, sehr im Einklang. Für mich war die Schule nichts Aufregendes. Ich wusste, es musste sein. Aufregender war der Nachhauseweg. Der führte am Schmiedweiher vorbei. Ich denke, dieser Weiher gehörte zur Gemeinde, hieß aber Schmiedweiher, weil nebenan der Dorfschmied sein Anwesen hatte. Da unser Haus das Letzte im Ort auf der linken Seite Richtung Abensberg war, zog sich der Schulweg doch erheblich in die Länge. So war der Schmiedweiher eine gottgegebene und wichtige Zwischenstation für uns auf dem Nachhauseweg.

Im Sommer standen wir bis zu den Waden, manchmal auch tiefer, am Ufer im Wasser und schmissen Steine in den Weiher. Im Winter konnten wir es kaum erwarten bis der Weiher zugefroren war. Nach dem Pürkenauer-Hof begann der Weiher. Also begann für uns beim Nachhauseweg sofort das Abenteuer Eis. Unsere Kleidung war dürftig und nicht für den Winter gut ausgerichtet. Der Grund war zum ersten die Armut, später der Krieg. Unsere Körper erwärmten sich trotzdem, denn die Aktivität auf dem Eis war ungebremst, sehr zum Ärger meiner Mutter – ich kam jedes Mal zu spät zum Mittagessen. Da konnte auch eine Abmahnung seitens der Mutter kein großes Gehör finden. Das Eis war stärker. So plätscherte die Schulzeit dahin. Fräulein Aigner verteilte ihre Tatzen mit dem Stock auf die Hände bei anderen Kindern. Ich selbst, auch meine Geschwister, blieben während der ganzen Schulzeit verschont davon. In einem Schuljahr wurde während der Ferien Fräulein Aigner sehr krank. Bei Krankheit oder Ferien hielt sie sich immer in Landshut auf. Ein Fräulein Römhild wurde uns als Vertretung für drei Monate zugeteilt. Nach dieser Zeit kam Frau Aigner wieder in die Schule zurück. Mit den Worten: „Kinder wisst ihr worin meine Abwesenheit bestand?“ Teils mit „ja“ oder „nein“ beantworteten wir desinteressiert diese Frage. Die Antwort zum Schluss lautete dann doch: „Ja, sie waren krank.“

„Wisst ihr auch was mir gefehlt hat?“, war die Gegenfrage. Keiner wusste es, außer der Angerer Wastl. Er meinte es zu wissen und sagte ganz leise und unverständlich aus der hinteren Bank: „Ja, die Klousucht!“ Die Klousucht ist eine Krankheit bei Rindern und heißt auf hochdeutsch: Maul- und Klauenseuche. Für Fräulein Aigner akustisch unverständlich, rief den Wastl auf, dasselbe nochmal zu wiederholen. Was er natürlich nicht tat. Stattdessen meldete sich die Waltraud Kohl*, erst kürzlich aus Hamburg nach Bayern umgezogen.