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Als Baby wird die kleine Victoria adoptiert, doch schon sehr früh zeigt sich, dass ihre Adoptivmutter Victoria und ihre Geschwister tyrannisiert und quält. Sie schlägt sie brutal, würgt die Kleinen aus purer Freude und lässt sie hungern. Victoria wird dringend benötigte medizinische Versorgung verweigert, und sie muss teilweise wochenlang eingesperrt auf dem Dachboden verharren. Es ist die pure Hölle und erst nach 18 Jahren gelingt es Victoria sich aus den Fängen ihrer sadistischen Adoptivmutter zu befreien.
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Seitenzahl: 508
Victoria Spry findet den Mut, über die Höllenqualen ihrer Kindheit zu berichten. Das Mädchen wird von ihrer Adoptivmutter tyrannisiert und täglich gequält. Wie es ihr gelang, sich nach 18 Jahren zu befreien und wie sie es geschafft hat, ihrem Leben einen Sinn zu geben, erzählt sie in diesem Buch. Die Autorin lebt heute in London, hat drei Hunde, die ihr Halt und Lebensmut geben.
Victoria Spryund Kate Moore
DU NANNTEST MICHTEUFELSKIND
Wie mir meine sadistische Mutter meine Kindheit stahl
Aus dem Englischen vonAxel Plantiko
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © Victoria Spry 2015
Titel der englischen Originalausgabe: »Torture«
Originalverlag: Ebury Press, an imprint of Ebury Publishing
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Titelillustration: © getty-images/Lauren Rosenbaum
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2371-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Ollie und Alfie und MillyIhr werdet immer einen Platz in meinem Herzen haben
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Tatsachenbericht, basierend auf dem Leben, den Erfahrungen und Erinnerungen von Victoria Spry. In einigen wenigen Fällen wurden die Bezeichnungen von Personen, Orten oder Daten geändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen.
Ich war noch kein Jahr alt, als Eunice Spry meine Pflegemutter wurde. Im Alter von fünf Jahren adoptierte sie mich und wurde zu meiner Erziehungsberechtigten. Achtzehn Jahre lang nannte ich sie »Mama«. Daher benutze ich den Namen auch in diesem Buch noch.
Manche Menschen warfen mir vor, dieses Wort statt des Namens Eunice zu gebrauchen, nachdem jedermann weiß, was sie getan hat. Glauben Sie mir, ich weiß, dass sie die Bezeichnung nicht verdient hat. Ich weiß, dass sie auch nicht im Entferntesten eine gute Mutter war.
Doch manche Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen.
Sie war einfach die einzige Mama, die ich je kennengelernt habe.
Ich möchte, dass Sie Ihre Augen schließen und sich in eine imaginäre Welt versetzen. Stellen Sie sich eine Realität vor, in der alles nicht so ist, wie es erscheint. In der Spielzeug nicht zum Spielen da ist. In der liebevolle Eltern ein Traum bleiben. In der ein Hilferuf so ziemlich das Gefährlichste ist, was man tun kann.
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der der metallische Klang von Dosen mit gebackenen Bohnen, die Ihre Mutter auspackt, nicht Ihr Essen signalisiert, sondern eine Bedrohung wie mit Waffengewalt. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der der Stock, den Ihre Mutter schwingt, nicht als Utensil eines Fantasiespiels mit Piraten oder Spionen dient, sondern als etwas weit, weit Übleres. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das unmissverständliche Rauschen des Wassers in der Badewanne nicht zu einer genussvollen Planscherei und dem Glucksen eines Kindes inmitten knallbunter Quietscheentchen führt. Stattdessen sollten Sie sich auf ein quälendes Geräusch aus der Kehle eines Mädchens einstellen, dessen Kopf unter Wasser gedrückt wird, ein ums andere Mal, bis es sich schließlich tot stellt, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Willkommen in meiner Welt.
»Was machst du denn da?«
Meine Hand schoss von der silbern glänzenden Konservendose zurück. Mein Blick senkte sich automatisch zu Boden. Ich war erst drei Jahre alt, doch ich hatte gelernt, den Blick zu senken, senken, senken.
Unter den Wimpern hervor sah ich die Dosen, die auf den roten Fliesen unseres Küchenbodens aufgereiht standen wie die Soldaten eines Regiments: einige groß, andere klein, wieder andere gedrungen, und jede in identischer silberner Uniform. Verstreut um sie herum lagen ihre Aufkleber. Ich hatte sie einen nach dem anderen abgepult. Nicht aus Ungezogenheit; vielleicht Neugier. Vielleicht, da ich mit keinem der Spielzeuge im Haus spielen durfte, und so schuf ich mir eben meine eigene Zerstreuung. Die bunten Aufkleber, entweder mit dem leuchtend türkisfarbenen Logo der gebackenen Bohnen von Heinz oder dem lächelnden Gesicht einer Katze oder eines Hundes, gefielen mir irgendwie.
Während ich da auf dem Boden saß, spürte ich, wie sich Mamas Blick in meinen Nacken bohrte.
»Jetzt weiß ich nicht mehr, was in welcher Dose ist«, sagte sie stocksauer.
Ich riskierte einen Blick zu ihr empor. Meine Mutter, Eunice Spry, war eine kleine Frau, doch sie überragte mich jetzt gewaltig, ihr ausgemergeltes, abgehärmtes Gesicht loderte vor Wut, die dunklen Augen waren stechend und kalt. Plötzlich schoss ihre Hand hervor, und ich spürte einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Ich schaute wieder so schnell wie möglich zu Boden, während mir der Schädel brummte. Aber ich heulte nicht.
Ich tat es nie mehr.
»Nimm eine Dose«, befahl sie in ihrem schweren Gloucestershire-Dialekt.
Verwirrt, aber in dem Bewusstsein, dass es besser war, nicht zu fragen, griff ich nach der erstbesten Dose. Sie wog schwer in meiner kleinen Hand. Sie entriss sie mir und ging zum Küchentisch, um sie zu öffnen.
»Setz dich auf den Stuhl dort. Du wirst jetzt essen, was in dieser Dose ist. Egal, was es ist. Du isst es auf!«
Das knirschende Geräusch des Dosenöffners füllte die Küche, während sich seine Metallzähne in den Deckel bissen. Stumm schlich ich zu dem Stuhl und versuchte unter Schwierigkeiten, auf den hohen Sitz des Korbstuhls zu klettern. Mama verlor die Geduld angesichts meiner Bemühungen. Sie kam herüber, zog mich am Arm, riss mich hoch in die Luft und stieß mich dann auf den harten Sitz.
Ich schniefte und fuhr mir mit der Hand über die laufende Nase. Ich war wieder mal erkältet. Ich war ständig erkältet. Das war auch so etwas, worüber sich Mama immer aufregte; noch so etwas, das ich ihr nie recht machen konnte. Ich musste strammstehen, während sie mir den Kopf nach hinten bog und Olbas-Tropfen in meine Nase kippte, wobei sie mich festhielt, weil ich dem fürchterlichen Gestank zu entrinnen versuchte und mir jedes Tröpfchen die Sinne raubte. Doch irgendwie lief meine Nase nur umso mehr, nachdem mir eine ganze Flasche von dem Zeug einverleibt worden war.
Mama schob die geöffnete Dose zu mir hin. »Iss das!«, befahl sie.
Ich schielte hinein. In Gelee eingelegte braune Fleischbrocken glitzerten mir entgegen, und der strenge Geruch von Katzenfutter stieg in meine kränkelnden Nasenlöcher. Schon der Gestank reichte, mich zum Würgen zu bringen.
Doch ich wusste, ich musste es essen. Was ich aß, wann ich aß und wie ich aß, das kontrollierte Mama seit dem Moment, als ich ihr im Alter von acht Monaten an ihrer Tür übergeben worden war, dem Schutzbereich einer Pflegemutter überlassen, nachdem meine leiblichen Eltern der Sache nicht gewachsen waren. Während meiner frühen Säuglingszeit, so wurde mir später erzählt, lag ich unbeachtet in meinem Bettchen; nie wurde mit mir gespielt, es gab kaum Nahrung und Kleidung, so lag ich einfach nur auf dem Rücken in einer schmutzigen Windel: friedlich, still, schicksalsergeben und gewiss, dass nie jemand kam.
Heute mache ich ihnen keinen Vorwurf, dass sie mich weggaben. Es war deutlich, dass sie mit mir und meinem älteren Bruder Tom überfordert waren, und deshalb wurden wir in Pflege gegeben. Tom kam zu einer anderen Familie – einer Familie, die auch mich adoptieren wollte.
Doch das geschah nicht. Stattdessen kam ich zu Eunice.
»Iss jetzt!«, zischte sie mich an.
Ich griff nach der Gabel, die sie auf den Tisch geworfen hatte. Meine winzigen Finger spielten mit dem Besteck, doch ich hütete mich, es fallen zu lassen – ich wollte nicht von Mama gefüttert werden. Obwohl ich keine genaue Erinnerung daran hatte, entsann sich ein Teil von mir, wie sie mich im Alter von achtzehn Monaten gewaltsam gefüttert hatte, wie sich der scharfe Metalllöffel in mein Zahnfleisch bohrte und das Blut an meinem Gesicht herabrann. Gewöhnlich presste sie mich auf den Boden und zwängte mir den Löffel in den Mund.
»Mach voran, du autistischer Schwachkopf!«
Ich senkte den Kopf und schob die Gabel in das Fleisch.
Ich war nicht autistisch, doch niemand, nicht einmal die Ärzte konnten Mama vom Gegenteil überzeugen. Ihrer Meinung nach war ich ein autistischer Schwachkopf, ein zurückgebliebenes Kind, das dümmste Mädchen, dem sie je begegnet war.
Aus erster Ehe hatte Mama zwei normal aufgewachsene Töchter, Judith und Rebekah, und beide waren helle Köpfchen. Mit zwei Jahren hatten sie lesen gelernt. Sie hatten private Mädchenschulen besucht, sprachen mehrere Sprachen, ritten Pferde und beherrschten Musikinstrumente. Als ich im Dezember 1986 auf ihrer Türschwelle landete, nachdem Mamas zweite Ehe gescheitert war – sie übernahm von diesem Ehemann den Namen Spry, doch ansonsten kaum etwas, und da er zu Hause nie erwähnt wurde, erfuhr ich erst viel später etwas über ihn –, war ich verschlossen und ernst, und ich wusste nicht, wie ich meine kleinen Arme und Beine benutzen sollte, da ich nie ermutigt worden war, zu krabbeln, zu sitzen oder zu spielen. Mama aber ging sofort davon aus, Gott habe ihr ein Teufelskind geschickt, das sich schlichtweg weigere, ihren hohen Erwartungen zu entsprechen. Sie war überzeugt, ich sei autistisch. Obwohl der Sozialdienst sie gewarnt hatte, meine Entwicklung sei aufgrund der mangelnden Fürsorge verzögert, und obgleich die Ärzte mich als völlig normal einstuften, wollte sie nichts davon wissen. Sie beharrte auf Tests und Diagnosen; sie sagte, ich sei halsstarrig und weigere mich zu lernen. Und wenn sie mich schlug, sagte sie, sie tue es, um mir etwas Verstand einzubläuen.
Ich hob die erste volle Gabel an meinen Mund. Sofort meldete sich wieder der Brechreiz, doch ich würgte das Zeug hinunter. Es lag mir kalt und schleimig auf der Zunge, das Gelee war glibberig und feucht. Es schmeckte ekelhaft. Ich schaffte einen zweiten Bissen und war mir bewusst, dass Mama mich beobachtete. Ihr Haar war schwarz gefärbt und wie gewöhnlich zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie wirkte zufrieden – und selbstgerecht. Sie glaubte an das, was sie tat; sie glaubte, sie handle absolut richtig.
Und ich glaubte es auch. Denn ich war ja ungezogen gewesen; ich war ein böses Mädchen.
Es geschah mir recht, dass ich bestraft wurde.
Obwohl ich wusste, dass dies die Strafe nicht erleichtern würde, zwang ich mir eine weitere Gabel Katzenfutter in den Mund und kämpfte gegen den Würgereflex an, der meinen Rachen sich krampfhaft zusammenziehen ließ. Tränen liefen mir die Wangen hinab, doch ich gab keinen Laut von mir außer dem Röcheln meiner Würgerei. In meinen drei Jahren auf diesem Erdball war es mir vielleicht schwergefallen, die Errichtung eines Turms aus Bausteinen zu lernen oder wie ich auf meinen zwei Füßen gehen sollte, aber ich beherrschte die Kunst, vollkommen geräuschlos zu weinen.
Aus einem anderen Raum im Haus drang Musik an mein Ohr. Wahrscheinlich schaute sich meine fünfjährige Schwester Charlotte einen Disney-Film an. Charlotte war Mamas Adoptivtochter. Im Gegensatz zu mir, die ich verschmutzt und geschädigt zu ihr gekommen war, war Charlotte von Geburt an in Mamas Pflege genommen worden. Mama hatte sie zur Welt kommen sehen, umhegte sie mit Deckchen und Liebe und rauschte mit ihr zu unserem Haus im George Dowty Drive 24, wo sie verhätschelt und geknuddelt und nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Charlotte war Mamas Liebling. Sie besaß Spielzeug und hübsche Kleidchen und ein eigenes Zimmer mit Paddington-Bär-Tapete und ein Etagenbett, das Mama extra für sie gebaut hatte.
Charlotte brauchte nie Katzenfutter zu essen.
Was dann geschah, konnte ich nicht verhindern. Als ich einen weiteren Bissen hinunterwürgte, stieg mir mein Mageninhalt durch den Rachen und die Nase und ergoss sich über den Küchentisch. Ich bekam Schluckauf, das Erbrochene vermischte sich in meinem Gesicht mit den salzigen Tränen, und in meinem blonden Haar bildeten sich klebrige Strähnen.
Mama und ich starrten auf die Bescherung.
»Du bist ein derart ungezogenes Kind. Kein Wunder, dass Rebekah ausgezogen ist. Meine wundervolle Becky ist abgehauen, weil du so ein widerspenstiges, ungezogenes Mädchen gewesen bist, schon von Anfang an. Du hast uns allen nur Unglück gebracht, und du tust es immer noch. Hörst du?!«
Es war meine Schuld, dass Rebekah unsere Familie verlassen hatte – Mama hatte es mir oft genug gesagt. Kurz bevor ich auf Mamas Türschwelle erschien, hatte ihre jüngste leibliche Tochter mit dem Studium an der Universität begonnen, und gleichzeitig hatte sie einen Brief an die Kirche geschickt, der wir alle angehörten, in dem sie mitteilte, sie könne nicht mehr zu den Versammlungen der Zeugen Jehovas kommen. Sie hatte noch Kontakt zu uns, von Zeit zu Zeit besuchte sie uns sogar kurz, doch ich hatte sie weltzugewandt gemacht, und das bedeutete, dass sie sterben würde, wenn Armageddon, der Weltuntergang, über uns hereinbrach.
Alles, was Mama mir auftrug, machte ich falsch, jeden Tag, und vielleicht fühlte ich mich deshalb am schuldigsten. Tag für Tag lebte ich mit dieser Schuld. Ich hatte Becky nicht nur aus unserem Haus vertrieben, ich hatte sie auch verdammt: Bei der Auferstehung würden wir ihr nicht begegnen.
Mama betrachtete voller Ekel das Erbrochene auf dem Tisch, bevor sie mich mit stechendem Blick fixierte. »Du isst das jetzt auf der Stelle auf«, sagte sie.
Ich wollte den Kopf schütteln. Ich wollte brüllen und schreien. Doch ich hatte diesen Kampf bereits früher ausgefochten. Daher beugte ich stattdessen meinen Kopf auf die Tischplatte und schlabberte das Erbrochene in mich hinein, in einem fort, genau wie mir befohlen worden war. Verzweifelt versuchte ich, bei ihr gut angeschrieben zu sein. Ein liebes Mädchen zu sein.
Das ist meine erste Erinnerung an mein Zusammenleben mit meiner Mama; meine erste Erinnerung, basta. Das Katzenfutter, die Kotze und ihr kalter, durchdringender Blick, mit dem sie jede meiner Bewegungen verfolgte.
Ratatatata!
Judith böllerte an die Haustür unserer Nachbarn. Wir sahen, wie sich eine Gardine bewegte, doch niemand erschien, um auf ihr Klopfen zu reagieren. Die Lippen zu einem dünnen Lächeln gewölbt, packte mich Judith am Handgelenk und zerrte mich den Weg entlang zum nächsten Haus.
Wir taten Dienst für unsere Kirche, indem wir in unserer örtlichen Nachbarschaft von Tür zu Tür gingen und andere Menschen zu ermutigen versuchten, zu einer Erkenntnis der Wahrheit zu kommen. Es war ein bitterkalter Tag, und meine Hände waren schon ganz rot. Ich hatte keine Handschuhe, keine Kopfbedeckung. In meinem marineblauen Mäntelchen zitternd, rieb ich mit meinem eiskalten Handgelenk den ständig tropfenden Schnodder weg, der aus meiner Nase lief. Die Beine taten mir weh. Ich war immer noch sehr klein, und wir waren bereits seit Stunden unterwegs.
»Judith, warum hast du nicht den Kinderwagen mitgenommen?«
Dies kam von Sandy, die gemeinsam mit uns an den Versammlungen der Kirche teilnahm. Sie hatte fuchsrotes Haar und freundliche Augen, obwohl es mir nicht gestattet war, einen Blick auf sie zu werfen. Schau nach unten, schau nach unten, sagte Mama fortwährend zu mir.
»Sie ist furchtbar faul, sie braucht die Bewegung«, blaffte Judith.
Judith stand Mama sehr nahe. Mit Mitte zwanzig wohnte sie immer noch zu Hause. Sie liebte ihre kleine Schwester Charlotte, doch ich war ihr lästig, das wusste ich. Wenn ich ruhig auf der untersten Treppenstufe saß, schubste sie mich einfach grob zur Seite. Sie war immer rabiat mir gegenüber – so wie sie es auch jetzt wieder war, als sie sich zu mir hinabbeugte, um mir mit einem Taschentuch die Nase zu putzen. Ich jammerte vor Schmerzen, weil sie mit ihren Fingern meine Nase quetschte.
»Wie kannst du behaupten, dass sie faul ist? Victoria ist doch noch ein kleines Mädchen«, hielt Sandy dagegen.
»Mama sagt, dass sie faul ist, und Mama hat immer recht«, meinte Judith gelassen. »Jede Nacht muss sie die Treppe rauf und runter rennen, weil die Kleine faul ist. Und Faulheit ist Jehova zuwider. »›Der Faulpelz will zwar viel, erreicht aber nichts; der Fleißige bekommt, was er sich wünscht, im Überfluss.‹« Judith war das Echo ihrer Mutter mit einem Bibelzitat, und das Wort Gottes bereitete dem Ganzen natürlich ein Ende.
Mama deckte mich immer mit Bibelzitaten ein. Sie streckte mir dann ihr Gesicht entgegen und brüllte, bis sie außer Atem war. Ich konnte sie von ganz Nahem betrachten: ihre große, speckige Nase voller Mitesser; ihre bleiche unreine Haut. Sie hatte gelbe Zähne und Mundgeruch, und ihre wütende Tirade wurde von einem widerlichen Atemstoß begleitet, während sie mir den Spruch über die Zuchtrute zubrüllte: »Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute haust, so wird man ihn nicht töten.«
Mama war davon überzeugt, als Familie seien wir die perfekten Zeugen Jehovas. Daher mussten wir alle den Wachtturm intensiv lesen und die Antworten einstudieren, die wir in der Kirche bei den wöchentlichen Versammlungen geben würden. Wenn ich mal ein Wort nicht richtig aussprach, wurde ich auf den Mund geschlagen, bis meine Lippen wie zwei dicke Würstchen anschwollen.
Die Zusammenkünfte selbst, die in den Wohnungen unterschiedlicher Mitglieder stattfanden, waren sehr anstrengend – zumindest für mich. Mama wachte immer wie ein Habicht über mich, falls ich eine falsche Antwort gab, was häufig geschah, da ich so nervös war. Zu Hause wurde ich dafür bestraft: Dann ging es ab ins Wohnzimmer, wo die Gardinen stets zugezogen waren, um die Außenwelt draußen zu lassen, und ich wurde auf dem Fußboden verprügelt, wobei Mama sich auf meine Kehle stellte, um sicherzugehen, dass niemand meine Schreie hören konnte.
Allerdings glaube ich, dass Charlotte die Zusammenkünfte ziemlich genoss. Nach der Bibelstunde, bei der sie eng an Mama gekuschelt auf dem Sofa gesessen hatte, gab es Limonade und Plätzchen für die Kinder. Ich hingegen bekam keine Limonade; Mama meinte, ich hätte sie nicht verdient.
Eines Abends waren wir zusammen mit Sandy in einer Arbeitsgruppe. Obwohl man davon ausging, dass man sich immer an dieselbe Gruppe hielt, handhabte Mama es anders. Wir wurden jeweils in andere Gruppen geschickt – möglicherweise damit keine zu große Nähe entstand. Ich saß auf dem Boden, und Sandy lächelte zu mir hinab, sodass meine blauen Augen ihrem freundlichen Blick begegneten. Ich schaute schnell wieder zu Boden … doch es war zu spät; Mama hatte es bemerkt. Ich spürte, wie sich ihre kräftige dürre Hand schwer auf meine Schulter legte, ihre Fingernägel bohrten sich mit aller Gewalt in meine Jacke. Der Druck vermittelte: Ich warne dich!
Mama war bereits im Königreichssaal, unserem offiziellen Versammlungsraum, mit Sandy aneinandergeraten. Als ich noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war, zu klein, um mich daran zu erinnern, hatte mich Sandy in meinem Kinderwagen angelächelt. Mama hatte eine Decke hervorgezogen und den Wagen damit zugedeckt, sodass mich kein Lächeln mehr erreichen konnte, und die Welt um mich herum wurde dunkel. Sie hatte ein wachsames Auge auf Sandy, denn sie glaubte, Sandy könne Unannehmlichkeiten bereiten.
Es war sehr heiß in dem Raum, aber Mama ließ mich meine Jacke nicht ausziehen. Tags zuvor hatte sie mich geschlagen, und an meinem Arm zeugten noch überall Blutergüsse davon. Mir wurde immer heißer und heißer, und mein Gesicht lief immer röter an. Ich durfte nichts trinken, und ich durfte niemanden anschauen. Plötzlich riss mich Mama hoch und begann mich an sich zu pressen. Ich lief noch röter an, da mir die Luft aus der Lunge gequetscht wurde. Mama war eine schlanke Frau, doch sie war körperlich stark, und sie benutzte jede Muskelfaser, um mich an sich zu drücken. Tränen schossen mir in die Augen und rannen lautlos meine Wangen hinab.
»Was machen Sie denn da mit dem Kind?«, sagte Sandy schließlich. Außer ihr war in dem Raum voller Zeugen nichts zu hören.
»Bei ihr wurde Autismus diagnostiziert«, log Mama selbstsicher, ohne den Griff auch nur für einen Moment zu lockern. »Das muss man mit ihnen machen, sie ganz fest an sich pressen.«
Ich gab keinen Mucks von mir, doch insgeheim wollte ich, dass Sandy den Mund hielt. Bitte, sag nichts, dachte ich, weil sie mir sonst noch mehr wehtut. Sie würde mir noch viel mehr wehtun, als sie es jetzt schon tat. Denn jedes Mal, wenn jemand sie fragte – obwohl das nicht häufig geschah –, war es meine Schuld, dass sie in Verlegenheit kam.
Doch de facto war es so, dass sie kaum jemand fragte – denn meine Mutter war eine einschüchternde Frau, mit herrischer Miene und sehr verschlossen. Dabei verstand sie es ausgezeichnet, zu manipulieren, je nachdem, welche Rolle der Situation gerade angemessen war, entweder aggressiv oder berechnend oder allerliebst und unschuldig. Und so kam es – obwohl die Kindertagesstätte (die ich nur acht Mal besuchte, bevor Mama mich abmeldete) sich ohne mein Wissen über den »harschen Umgangston« meiner Mutter mir gegenüber beschwert hatte, obwohl die Ärzte gesagt hatten, sie sei keine geeignete Pflegemutter für mich, obwohl die Arztberichte besagten, ich würde nie lächeln, obwohl dem Gesundheitsdienst der Zugang zu unserem Haus verwehrt blieb und obwohl bei mir eine unerklärliche Prellung im Gesicht festgestellt wurde –, dass Mama trotz all dieser Dinge im Januar 1990 direkt nach meinem vierten Geburtstag durch die zuständige Kommission die Zustimmung zur Adoption erteilt wurde. Der Verwaltungsapparat begann zu arbeiten, um mich für immer ihrer Obhut zu übergeben.
Wäre ich mir dessen bewusst gewesen, hätte ich kaum etwas dagegen einwenden können. Mama hatte mir alles über meine leiblichen Eltern erzählt: dass mein Vater ein Mörder und meine Mama eine Psychopatin und drogenabhängig war – und dass sie mich nie hätten haben wollen. All dies war gelogen, doch damals wusste ich das ja nicht.
Wohin also hätte ich gehen sollen? Wer sonst wäre möglicherweise bereit gewesen, ein ungezogenes, übles Teufelskind wie mich zu nehmen?
»Torrie, komm und spiel mit mir!«, rief mir Charlotte aus dem Garten zu. Es hatte geschneit, und durchs Küchenfenster sah man, dass der ganze Rasen wie mit Zuckerguss bedeckt war.
Auf der Türschwelle blieb ich zögernd stehen. Draußen fror es, und ich hatte keine warme Kleidung, keine Handschuhe und auch keinen Schal, die mich hätten warm halten können. Charlotte hingegen war in Schichten aus rosa Wolle verpackt wie ein Michelin-Männchen.
»Torrie, komm endlich!«, schrie sie.
Was immer Charlotte bei uns zu Hause wollte, bekam sie auch. Sie wurde von allen vergöttert – einschließlich mir. Sie war meine Schwester, zuweilen meine Spielkameradin, das Mädchen, dem ich mich anschloss, immer in der verzweifelten Hoffnung, auf diese Weise hinter ihr Geheimnis zu kommen. Ich bewunderte sie. Schließlich machte Charlotte immer alles richtig; bei Mama war sie immer gut angeschrieben. Vielleicht würde ich es ja auch schaffen, wenn ich von ihr lernen konnte, mich wie sie zu verhalten.
»Komm, lass uns draußen spielen!«
Wie von mir verlangt, rannte ich los und gesellte mich zu ihr. Und wir spielten im Schnee, zwei kleine Mädchen, die ihren Spaß hatten, Schneemänner bauten und Schnee-Engel auf den Rasen zauberten. Charlotte bestimmte, was wir spielten, und sie kommandierte mich herum, doch daran war ich ja gewöhnt. Sie war herrisch und gebieterisch, aber meine einzige Gelegenheit, überhaupt einmal zu spielen, bestand darin, dass sie mich dazu aufforderte, und deshalb tat ich, was sie von mir verlangte. Auch wenn ich immer den Bösewicht abgeben musste, während sie die engelhafte Heldin darstellte: Etwas Spielzeit war immer noch besser als gar keine.
Doch nach einiger Zeit wurden meine nackten Hände durch den kalten Schnee, mit dem wir spielten, rot und eiskalt, und ich begann zu heulen, weil ich fürchterlich fror. Ich wollte nicht mehr weiterspielen.
»Mama!« Charlotte stand stocksteif im Garten und brüllte mit gebieterischer Stimme in Richtung Haus, wo sie unsere Mutter erreichte, die ihr zu Hilfe eilte. »Mama, Torrie spielt nicht mit mir, sie spielt nicht mit mir!«
Mama packte mich am Arm und zerrte mich in die Küche. Ich starrte sie entgeistert an – weshalb sorgte sie nicht dafür, dass ich im Garten blieb?
Ich sollte es bald herausfinden. Sie öffnete den großen Kühlschrank und schob meine Hände in das Gefrierfach. »Bleib hier stehen«, sagte sie. »Ich werde dir zeigen, was kalte Finger sind.«
Und ich tat, was sie mir befohlen hatte. Als so kleines Wesen wehrt man sich nicht. Ich war ungezogen gewesen, ich hatte nicht mit Charlotte gespielt – ich war ein böses Mädchen.
Ich wusste, dass dies der Wahrheit entsprach, denn die Beweise waren doch offensichtlich, da gab es nichts zu leugnen. Ich sah, wie Judith und Charlotte von Mama behandelt wurden: überschüttet mit Geschenken, mit Lächeln und Umarmungen und Zuneigung. Wer tanzte aus der Reihe? Ich. Es war meine Schuld. Folglich akzeptierte ich widerspruchslos, dass ich ihrer Liebe nicht würdig war. Ich versuchte immer wieder, lieb genug zu sein, ich hoffte, vielleicht diesmal … doch ich schaffte es nie. Und so gehorchte ich ihr auch an diesem Nachmittag, als Mama mir die Schuhe und Socken auszog und mir befahl, barfuß im Garten herumzulaufen.
»Wenn du dich bewegst, wird dir schon warm«, sagte sie zu mir mit vollendeter Logik, als sie die Hintertür zuknallte und sich zu Judith und Charlotte ins Wohnzimmer begab, wo sie sich gemeinsam Mamas heißgeliebte Seifenopern reinzogen.
So setzte ich also meine armen kalten Füße in Bewegung, und ich rannte und rannte und rannte und versuchte, noch irgendwo Energiereserven zu mobilisieren, um weiter durch den Winterabend laufen zu können, wobei ich den nagenden Hunger in meinem Inneren zu ignorieren trachtete.
Ich hatte ständig Hunger. Mama sagte mir, eine Erkältung müsse man aushungern – und ich war immer erkältet. Daher musste ich auch beständig hungern. Damit meine ich nicht, dass ich ab und zu eine Mahlzeit verpasste. Ich meine damit Wochen hintereinander ohne Essen.
Natürlich überlebt man dergleichen nicht lange, wenn man nicht hier und dort einen Happen stibitzt, einen Brotkanten klaut oder Süßigkeiten aus den unteren Küchenschränken mitgehen lässt, weil ich ja nicht höher reichen konnte. So war ich denn nicht nur autistisch und faul, sondern auch eine Diebin.
Ich sagte doch, dass ich böse war.
Um Mama gegenüber fair zu sein, muss ich gestehen, dass sie sich bemühte, die Bestrafungen den Vergehen anzupassen. Wenn sie mich dabei erwischte, dass ich Essen gestohlen hatte, erzählte sie mir alles darüber, wie in islamischen Ländern Diebe bestraft wurden, indem man ihnen die Hände abhackte. Allerdings wäre es Mama trotz ihrer Manipulationskunst vielleicht schwergefallen, zu erklären, wie eine Vierjährige eine Hand verlieren sollte – und so erfand sie ihre eigene Herangehensweise.
Wenn sie mich also beim Essensdiebstahl erwischte, zitierte sie mich in die Küche und stellte die Herdplatte an. Während sich diese erwärmte, erteilte sie mir eine Lektion.
»In Arabien hackt man jemandem den Finger ab, wenn er Essen stiehlt«, sagte sie. »Man hackt immer nur einen Finger ab. Dann aber hackt man die Hand ab, und schließlich hackt man den ganzen Arm ab. Wenn man immer wieder Essen stiehlt, wird das so gemacht.«
Mittlerweile – die Zeit hatte gereicht, um zu kapieren, was sie vorhatte – war die Herdplatte fertig, gefährlich rot glühend. Mama nahm meine Hand und trennte den Zeigefinger von den anderen. Mit klinischer Präzision presste sie ihn kräftig auf die glühende Platte und hielt ihn dort fest.
Pulsierender Schmerz schoss mir durch den Körper. Instinktiv riss ich meine Hand aus ihrem Griff los und außer Reichweite der sengenden Hitze, die brannte und brannte und brannte.
»Los jetzt«, sagte Mama. »Du wirst ihn eine Minute lang dort halten. Hör auf, ungezogen zu sein.«
Mama verstand nicht, dass ich mich bewegt hatte, weil es so schmerzhaft war; sie glaubte, ich hätte mich absichtlich gegen sie aufgelehnt, ich sei rebellisch, ich wolle nicht tun, was von mir verlangt wurde. Erneut nahm sie meinen Finger und presste ihn auf die glühende Platte.
Wieder hielt ich es nicht aus und riss mich los.
Mama schaute mich voller Abscheu und Enttäuschung an. »Zwei Minuten«, sagte sie unmissverständlich. Wenn man sich gegen ihre Bestrafungen wehrte, verdoppelte sie die Strafe automatisch.
Ein drittes Mal nahm sie meine Hand und presste den Finger auf die sengende Hitze.
»Eins, zwei, drei …«, begann sie zu zählen.
Die Herdplatte war nicht die einzige Strafe bei Essensdiebstahl. Sie ließ mich so oft hungern, und ich suchte so regelmäßig Zuflucht im Klauen, dass sie mich mit allem verprügelte, was gerade in Reichweite war. Sie hämmerte mit einer Dose gebackene Bohnen auf mein Gesicht ein. Sie zwang mich, alles zu erbrechen, was ich gegessen hatte, sodass sie an meinem halb verdauten Erbrochenen erkennen konnte, was ich zu mir genommen hatte. Und dann deutete sie auf den Klumpen alten Brots oder was immer ich ergattert hatte, und sagte: »Na, Fräulein, das also möchtest du essen? Du willst es wirklich essen? Nur zu, dann iss mal schön.« Und ich würgte und würgte, und sie erklärte mir, ich sei ein Weichei, weil ich wegen meiner eigenen Kotze würgen würde. Ich weinte und schluckte verzweifelt, und sie sagte, es sei reine Willenssache, ich sei einfach zu schwach.
Eines Tages allerdings hatte sie einen neuen Plan, der sich von allem Bisherigen unterschied. Mama hatte mich zur Strafe in Charlottes Schlafzimmer eingeschlossen, für einige Tage bis zu einer Hungerperiode von drei Wochen. Ich weiß nicht mehr, was ich angestellt hatte, es kann irgendetwas oder nichts gewesen sein. Ich saß auf dem Fußboden und starrte auf das wunderschön gesprenkelte Schaukelpferd, auf dem sich Charlotte so gerne vergnügte, auf dem ich aber nie reiten durfte. Mein Blick klebte an den Spielsachen, die hoch oben in einem Regal aufgereiht waren. Puppen mochte ich am liebsten. Ich hatte ein großes Herz, und ich stellte mir begeistert vor, wie ich eine Babypuppe in eine Decke wickeln und sie küssen und herzen würde, und dass ich sie zum Fressen gern haben würde. Doch ich durfte mit diesen Spielsachen nicht spielen. Manchmal überreichte Mama Charlotte und mir kunstvoll eingewickelte Geschenke. Wir packten sie aus, und Charlotte durfte mit ihren Sachen spielen, während meine konfisziert wurden. Mama sagte mir, vielleicht könne ich sie mir eines Tages verdienen, wenn ich lieb sei.
Mein Magen knurrte, und so war mein Kopf zu sehr mit dem Hunger beschäftigt, als dass ich mich auf die verbotenen Schätze im Schlafzimmer hätte konzentrieren können. Ich lauschte gespannt. Im Haus war alles ruhig und still. Vielleicht, ganz vielleicht, falls Mama die Tür abzuschließen vergessen hatte, konnte ich auf Zehenspitzen nach unten schleichen und etwas zu essen finden.
Ich kroch zur Tür und lauschte erneut. Stille. Ich zog an der Türklinke, und die Tür öffnete sich. Nachdem ich die Treppe so schnell wie möglich hinuntergetrippelt war, grapschte ich mir das Brotende – das Mama den »Knust« nannte – aus dem Brotkasten und sauste wieder nach oben, und ich war ganz wild darauf, es endlich zu schmecken. Ich stopfte es mir in den Mund, gleichzeitig rissen meine kleinen Hände Streifen davon ab und ließen sie im Mund verschwinden.
Es dauerte nicht lange, bis Mama meine Missetat entdeckt hatte. Langsam kam sie die Treppe zu Charlottes Zimmer herauf. Ich hörte jeden ihrer Schritte auf jeder Treppenstufe, und ich wusste, dass sie auf dem Weg zu mir war. Ich stellte mich kerzengerade hin und versuchte, unschuldig dreinzuschauen.
Die Tür öffnete sich. »Wo ist der Knust?«, fragte sie mich äußerlich ruhig.
»Ich habe ihn nicht, Mama«, sagte ich.
»Mutter«, verbesserte sie mich kalt. »Ich habe dir schon tausend Mal gesagt: ›Mama‹ ist ordinär. Du hast mich ›Mutter‹ zu nennen«.
»Ich habe ihn nicht, Mutter«, sagte ich wieder, diesmal gehorsam.
Blitzartig griff sie nach mir und schleuderte mich zu Boden. Ich begann zu schreien, doch das war unangebracht an einem Ort wie dem George Dowty Drive, wo sich in einer Vorstadtstraße adrette Backsteinhäuser aneinanderreihten. Jemand könnte mich hören.
»Judith!«, rief sie. Meine Schwester kam angerauscht. Ich versuchte wegzulaufen, doch Mama erwischte mich und schleuderte mich in eine Ecke, als wäre ich eine Stoffpuppe. Ich war vier Jahre alt und ihr in keiner Hinsicht gewachsen.
»Judith, stell dich auf ihre Kehle, sieh zu, dass sie zu schreien aufhört«, befahl Mama. Judith führte den Befehl aus, wie es jeder tat, wenn Mama etwas verlangte. Sie nagelte mich auf dem Fußboden fest und drückte mir ihren Fuß mit dem dicken grünen Stiefel auf die Luftröhre. Der Schrei wurde zu einem Lallen und erstarb mir im Hals.
Mit einem Ruck hob Mama meine Füße hoch, sodass ich auf dem Rücken lag und meine Beine in der Luft hingen. Sie verschwand für einen kurzen Moment und kam dann mit einem Stück Holz zurück. Judith machte Tischlerarbeiten – eines ihrer vielen Talente –, daher lagen immer irgendwelche Holzteile im Haus herum. Tatsächlich lagen überall im Haus irgendwelche Sachen herum: Mama warf nie etwas weg, und die Wohnung quoll von allem möglichen Zeug über, das in jedem Zimmer an den Vorhängen lehnte, die stets geschlossen blieben.
»Ich war mal Krankenschwester«, sagte Mama jetzt drohend zu mir, »und während der Zeit auf den Stationen habe ich einiges gelernt. Möchtest du wissen, was ich gelernt habe?«
Ich versuchte mit dem Kopf zu schütteln, doch Judiths großer Fuß auf meinem Hals hinderte mich daran.
»Ich habe gelernt, dass es an den Füßen keine Blutergüsse gibt. Wenn ich dir dort Prügel verabreiche, wird also niemand feststellen können, was ich getan habe. Niemand wird es sehen können. Niemand wird jemals dahinterkommen, was hier vorgegangen ist.«
Ich starrte sie in sprachlosem Entsetzen an. Und dann hielt sie meine kleinen Füße fest und schlug mit dem Stück Holz heftig auf sie ein.
»Vernachlässige nicht die Disziplin. Denn wenn du ihn mit der Rute haust, so wird man ihn nicht töten«, psalmodierte sie.
Der Schmerz durchzuckte mich: dumpfer, betäubender, pochender Schmerz, der von meinen Fußsohlen ins Gehirn und wieder zurück wanderte. Ich versuchte zu schreien, doch Judiths Fuß erstickte den Schrei im Keim. Ihr Fuß schob meinen Kopf auf eine Seite, sodass meine Wange in den Teppich gepresst wurde und ich nicht mehr atmen konnte, was tief in mir Panik aufkommen ließ. Mama schlug ein ums andere Mal mit dem Holz auf mich ein. Es war die härteste Bestrafung, die sie mir jemals zugefügt hatte. Es war das erste Mal, dass sie meine Füße traktierte.
Es sollte nicht das letzte Mal sein.
Ich saß am Fenster, und Tränen rannen mir über das Gesicht. Doch ich weinte nicht, weil ich geschlagen worden war, oder weil ich fror oder Hunger hatte.
Ich weinte, weil ich meine Mama vermisste.
Sie hatte Charlotte nach Disneyland mitgenommen – natürlich ohne mich. Ich war schließlich nicht die Sorte Kind, die es verdient hatte, nach Amerika mitgenommen zu werden, um dort Mickey Mouse zu begegnen. Und außerdem, wie hätte ich denn als autistisches Kind dieses Erlebnis genießen oder schätzen können?
Während ihrer Abwesenheit saß ich jeden Tag in der Wohnung meiner Oma am Fenster und bettelte weinend darum, meine Mama möge wieder nach Hause kommen.
»Ach komm, Torrie«, sagte Oma zu mir, und ich wandte mich vom Fenster ab und sah, wie sie mit einer neuen Puppe im Arm auf mich zukam.
Ich liebte meine Oma. Die Zeiten mit ihr waren die einzigen Lichtblicke in meinem Leben. Sie war großherzig, und sie war freundlich und schlicht, ganz anders als ihre Tochter. Zusammen mit meinem Opa lebte sie zehn Häuser von uns entfernt den George Dowty Drive hinab in einem bescheidenen Backstein-Bungalow. Sobald man zur Tür hereinkam, roch es nach Oma. Es war der schönste Geruch der Welt, eine Duftwolke aus frischer Wäsche und Apfelkuchen: sauber und anheimelnd und warm.
In Omas Haus durfte ich mit Puppen spielen. Oma kaufte sogar einige für mich: Alle paar Wochen nahm sie ihre Rente und marschierte zur Post, wo sie diese Porzellanpuppen mit Kleidern aus aller Welt erstand, und die zeigte sie mir dann. Sie wanderten in einen Koffer auf dem Kleiderschrank, und jedes Mal, wenn ich sie besuchte, zeigte sie mir die Puppen und äußerte die Hoffnung, meine Mama würde sie mir eines Tages überlassen und mich für würdig erachten, dieses Vergnügen zu genießen. Meine Oma wusste, dass Mama sehr streng mir gegenüber war, daher hütete sie sich, mir die Sammlung zu geben. Ich sollte sie nicht mit nach Hause nehmen. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen spielte, zwinkerte sie mir zu und flüsterte: »Erzähl deiner Mama nichts davon.«
Oma wusste nicht, was wirklich vor sich ging. Zumindest kannte sie nicht das ganze Ausmaß. Sie wusste, dass ihre Tochter strenggläubig und äußerst rigoros war, und zuweilen sprach sie sie auch darauf an und machte sich für mich stark. Charlotte brauchte nie häusliche Pflichten zu erledigen, und Oma sagte dann: »Weshalb muss Victoria ständig die Arbeiten im Haushalt machen? Das ist nicht fair, sie ist zwei Jahre jünger. Warum lässt du nicht Charlotte ein paar Sachen erledigen?«
Meine Mama erfand dann irgendwelche Entschuldigungen oder erzählte Oma, ich sei ungezogen gewesen und müsste bestraft werden, oder sie machte ihr eine heftige Szene. Wenn wir anschließend nach Hause kamen, wurde ich verprügelt, da ich für Spannungen in der Familie gesorgt hatte; ihre eigene Mutter habe sich jetzt gegen sie gewandt.
Mein Großvater war wie seine Frau sehr nett. Er konnte ziemlich streng sein, aber er nahm mich immer auf den Schoß und nannte mich seinen kleinen Schatz. Er nahm den Schraubverschluss von seinem Flachmann und forderte mich zum Spaß auf, daran zu riechen. Ich rümpfte dann die Nase ob des widerlichen Geruchs, der aus dem silbernen Behälter stieg, und er lachte, sodass ich auf seinem Schoß auf und nieder hüpfte, während er mich knuddelte.
Mama war erbost über die Tatsache, dass ihr Vater das kleine Mädchen liebte, das sie so sehr verachtete. Und noch schlimmer war, dass die beiden mich lieber zu haben schienen als Charlotte – oder zumindest, dass Charlotte nicht für das engelhafte Mädchen gehalten wurde, das Mama aus ihr machte. Charlotte war in dem Bewusstsein erzogen worden, sie sei etwas Besonderes und sie alles bekomme, was sie haben wollte. Daher war sie oft fordernd und herrisch, wodurch sie sich bei meinen Großeltern nicht beliebt machte, obwohl diese so großherzig waren, dass sie sie gleichermaßen liebten.
Wenn Mama mich auf Opas Schoß sitzen sah, zog sie mich herunter und sagte: »Das hat sie nicht verdient.« Sie schickte mich weg und ließ mich in der Ecke sitzen: »Dreh dich um und schau an die Wand.«
Und Oma, sie sei gepriesen, setzte sich dann für mich ein und meinte: »Sie hat doch überhaupt nichts getan! Eunice, du bist zu hart zu ihr.«
Und schon gab es wieder eine Auseinandersetzung und Prügel für mich.
Doch momentan war Mama nicht hier. Und meine Oma hielt ein ganz besonderes Geschenk für mich bereit.
»Das ist für dich, Torrie«, sagte sie und überreichte mir die Puppe. Ich wagte kaum, danach zu greifen und sie anzufassen, doch ich vertraute Oma. Mit vor Verwunderung weit aufgerissenen blauen Augen schaute ich zu ihr hoch, und sie nickte mir bestätigend zu. Also nahm ich die Puppe in die Hände und starrte sie an, um alle Details in mich aufzusaugen.
Es war keine Porzellanpuppe wie die aus der Sammlung, die ich nicht mitnehmen konnte. Es war eine Stoffpuppe, weich und nachgebend. Sie hatte gelbe Haarflechten aus Wolle und ein getupftes rosa Oberteil mit Rock. Vom ersten Moment an schloss ich sie in mein Herz.
»Wie wirst du sie nennen?«, fragte Oma.
Ich zögerte nicht. »Katie«, sagte ich. Das war der Vorname meiner Oma.
»Das hier habe ich auch für sie gemacht«, sagte Oma und überreichte mir eine gestrickte Puppendecke aus weißen und pfirsichfarbenen Vierecken. Ein so schönes Geschenk hatte ich zuvor noch von niemandem bekommen. Vorsichtig wickelte ich Katie in die Decke ein und bettete sie an meiner Brust.
»Vielen Dank, Oma!«, sagte ich, und sie gab mir einen Kuss auf den Kopf.
Ab diesem Abend schlief ich mit Katie neben mir. Ich hütete mich, Mama merken zu lassen, was sie mir bedeutete. Ich lernte es, sie zu verstecken, unter der Treppe oder verborgen im Bettzeug, und ich versuchte zu verheimlichen, dass sie wichtig für mich war.
Natürlich entdeckte Mama den Zuwachs in unserer Familie. Ihren Augen entging nichts. Als ich ihr erzählte, dass ich sie nach Oma benannt hatte, blaffte sie mich abschätzig an: »Mein Gott, du bist so krank, du autistischer Döskopp! Weshalb musst du denn Namen aussuchen, die du schon mal gehört hast? Weshalb kannst du dir nicht selbst welche ausdenken?«
Wie gewöhnlich senkte ich den Kopf und sagte nichts. Doch schon bald würde ich Gelegenheit haben, mir selbst Gedanken zu machen: In jenem September kam ich in die Schule.
Die Overbury School ist eine schmucke Dorfschule, errichtet aus zitronengelben Natursteinen an den südlichen Hängen des Bredon Hill in Gloucestershire. Im September 1990 begleitete mich Mama zur Einschulung und befahl mir, mit niemandem zu sprechen. Die anderen Kinder seien weltzugewandt, sagte sie mir, und in der Bibel heiße es, dass »schlechter Umgang gute Gewohnheiten zerstört«.
Sie überreichte mir ein Lunchpaket, in dem sich mit Marmite, einem Hefeextrakt, vollgekleisterte Sandwiches befanden. Ich hasste diese dicken Marmite-Sandwiches, aber das entsprach genau Mamas Vorgehensweise. Für sie war es wie ein Spiel, wie ein Krieg; es ging um Kontrolle. Mama musste immer alles unter Kontrolle haben.
Dennoch glaubte ich in diesem September zum ersten Mal, ich sei vielleicht ihrer Kontrolle entzogen, zumindest ein wenig. Ich war immer noch sehr still, und ich hatte so viel Angst vor ihr, dass ich versuchte, mich an das zu halten, was sie von mir verlangte. Trotzdem erlebte ich es, dass beim Spielen ein anderes Mädchen zu mir kam und »Hallo« sagte, oder dass sich eine Lehrerin zu mir hinabbeugte und mich freundlich ansprach, während ich allein auf einer Bank saß. Ich wagte es auch, das Lächeln eines anderen Kindes zu erwidern oder ein Spiel zu beobachten, mit dem die älteren Kinder beschäftigt waren.
Ziemlich früh zu Beginn des Schuljahrs kam ich aus der Schule nach Hause, und Mama wartete auf mich.
»Geh nach oben«, sagte sie. »Zieh deine Schuhe und Socken aus.«
Gehorsam flitzte ich los. Die Treppenstufen in unserem Haus waren von einem schmutzigen grünen Teppich bedeckt, doch er reichte nicht ganz bis zum obersten Absatz – oben gab es einen schmalen Streifen aus blankem Holz. Dort musste ich mich hinstellen, und sie setzte sich auf die Stufen unterhalb von mir, meine nackten Füße direkt vor ihrem Gesicht.
»Hast du heute mit irgendjemandem in der Schule geredet?«, fragte sie. Ihre Stimme war ruhig und klang neugierig.
Ich dachte an das kleine braunhaarige Mädchen, das um die Mittagszeit versucht hatte, mich in ein Spiel einzubeziehen. Doch Mama war ja nicht in der Schule gewesen – also konnte sie unmöglich davon wissen.
»Nein«, log ich. »Mit niemandem.«
Sie schaute zu mir hoch. »Lüg mich nicht an«, warnte sie mich.
»Mit niemandem«, piepste ich.
»Lügnerin!«, brüllte sie. Sie hob die Hand, und ich bemerkte darin ein hölzernes Stuhlbein. Mit voller Wucht schlug sie auf meine Zehen. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu weinen, während mir der Schmerz fast die Sinne raubte.
»Falsche Leute halte ich nicht in meinem Hause; die Lügner gedeihen bei mir nicht«, zitierte sie aus der Bibel. Dann schlug sie erneut zu, Dutzende harter Schläge auf meine Zehen, bis die Zehennägel blutrot anschwollen. Ich blickte nach unten und sah das Blut zwischen ihnen hervorquellen. Plötzlich war ich froh, auf dem blanken Holz zu stehen; nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn ich den Teppich mit Blut beschmutzen würde.
»Mach, dass du nach unten kommst, du Lügnerin. Ich werde dir den Mund auswaschen, aus dem solche dreckigen Lügen kommen.«
Vorsichtig ging ich zur Küche hinab, wobei mir jeder Schritt Schmerzen an den Füßen bereitete. Mama stellte mich neben das Abwaschbecken und griff nach dem Geschirrspülmittel. »Kopf nach hinten«, befahl sie. Ich legte den Kopf in den Nacken, hielt den Mund aber fest verschlossen. »Mund auf!«, befahl sie. Als ich ihn bockig geschlossen hielt und mein Körper noch gegen die Bestrafung ankämpfte, während der Geist bereits aufgab, drückte sie mir die Nase zu, bis ich den Mund öffnen musste, um zu atmen. Sofort schob sie mir die Plastikflasche zwischen die Lippen und rammte mir die Spitze gegen die Zähne. Sie drückte kräftig, und die klebrige Zitronenflüssigkeit rann mir in die Kehle. Ich würgte.
»Stell dich nicht so zimperlich an!«, brüllte sie mich an. »Trink!«
Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder und wieder zu schlucken. Sie pumpte das Zeug in mich hinein, die gesamte Flasche. Als ich mich in das Waschbecken übergab, zwang sie mich, das Erbrochene zu essen, und dann drohte sie mir, sie würde dasselbe mit einem Bleichmittel anstellen, falls ich wieder krank würde.
»Untersteh dich, mich jemals wieder anzulügen«, warnte sie. »Ich habe ein magisches Auge; ich kann sehen, was du tust. Ich habe ein magisches Auge; ich weiß genau, was du tust.«
Und so war es denn auch an jedem einzelnen Schultag. Irgendwie wusste sie, mit wem ich zusammen gewesen war und wenn irgendjemand mich angesprochen hatte. Ich wagte es nie wieder, mich mit irgendjemandem zu unterhalten. Als Erwachsene kam ich zu der Überzeugung, dass sie mir nachspioniert haben muss. Als Kind konnte ich nur davon ausgehen, dass sie mir die Wahrheit gesagt hatte: Sie besaß ein magisches Auge, und sie konnte mich in jeder Minute jeder Stunde an jedem Tag sehen. Sie war ein allgewaltiges, alles sehendes Wesen. Ich konnte mich nie und nimmer ihrem Blick entziehen.
Das Schuljahr nahm seinen Lauf. Bald lag Frost in der Luft, und die Klassenzimmer hallten von dem begeisterten Geplapper der Kinder in Vorfreude auf Weihnachten und den baldigen Besuch eines Mannes namens Nikolaus wider.
Als Zeugen Jehovas feierten wir Weihnachten nicht – übrigens auch keine Geburtstage. Mama hatte mir schon wiederholt wegen der bevorstehenden Feiern die Leviten gelesen. »Du bist eine Zeugin Jehovas, du musst standhaft bleiben«, sagte sie. »Du erweist dich nur als würdig, wenn du dich nicht beteiligst.«
In jenem Dezember gab es eine Weihnachtsfeier für die ganze Schule. Die Lehrer führten uns alle im Gänsemarsch in die Aula, und ich folgte widerspruchslos. Eins hatte mir Mama zweifellos beigebracht: Erwachsenen musste man gehorchen, und man hatte das zu tun, was einem aufgetragen wurde. Also nahm ich an der Feier teil, und als wir nachmittags Weihnachtsbasteleien machten, bemalte ich sogar eine Kugel für den Weihnachtsbaum.
Sobald ich die Schule verließ und meinen Tannenbaumschmuck umklammerte, ahnte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Mamas Blick … Sie würde furchtbar wütend sein. Als ich nach Hause kam, wusste ich, was mich erwartete.
Sie zerrte mich hinein, kaum dass die Haustür geöffnet war, und ich segelte wie meine Stoffpuppe Katie durch den Korridor. Dann verprügelte sie mich auf dem Fußboden, und jeder Schlag betonte ihre Worte. »Du. Bist. Teuflisch. Jehova Gott missbilligt es, irgendetwas mit Weihnachten zu tun zu haben. Du hast es gerade getan und sie angemalt. Eine. Weihnachtskugel.« Sie war außer sich vor Wut.
So sehr, dass aktenkundig ist, dass sie mich fünf Tage vor Weihnachten 1990 aus der Overbury School abmeldete, um mich zu Hause zu unterrichten.
Niemand würde mir besseren Unterricht zuteilwerden lassen als sie.
Aus irgendeinem Grund kam ich dann doch wieder ins öffentliche Schulsystem, zumindest für einige Zeit. Ich wechselte in die Northway Infant School in Tewkesbury, und Mamas Vorschrift, mit niemandem zu reden und den Blick immer zu senken, wurde erneuert. Allerdings brauchte mir das eigentlich nicht mehr gesagt zu werden.
Ohne mein Wissen erfuhr ihr magisches Auge für sie in Northway noch eine Aufwertung, denn es gab dort einen Parkplatz, der direkt an den Spielplatz grenzte. Mama parkte hier jeden Tag und beobachtete mich. Ich wusste nichts von ihrer Anwesenheit, ich merkte nur, dass sie immer genau wusste, was ich getan hatte.
Mama setzte ihre Strafaktionen durch Hunger fort. In der Schule war die Versuchung der Lunchpakete der anderen Kinder zu groß, daher begann ich, ihnen Essen zu klauen, weil ich so hungrig war. Natürlich wurde Mama benachrichtigt. Und ich wurde nicht nur bestraft, weil ich Obst geklaut hatte, sondern auch, weil ich ihr Ansehen als Mutter beschädigt hatte: Ich hatte sie beschämt. Für Mama, die immer darauf bedacht war, besser als jede andere Mutter und jede andere Familie zu scheinen, war dies eine unverzeihliche Sünde.
Von da an musste ich zur Mittagszeit nach Hause zum Essen kommen, doch eines Mittags stand ich im George Dowty Drive vor verschlossener Tür; sie hatte mich vergessen. Eine Weile saß ich auf der Türschwelle und wartete, wobei ich überlegte, ob ich Ärger bekäme, wenn sie nach Hause käme und mich nicht vorfinden würde. Schließlich rannte ich zum Haus meiner Oma, aber die war auch fort. Also hetzte ich letzten Endes ziemlich spät zurück in die Schule und erklärte dort unschuldig: »Mama war nicht zu Hause.« Ich wurde gefragt, ob ich gegessen hätte, und als ich verneinte, bekam ich eine Schulmahlzeit.
Dafür wurde ich auf dem Fußboden des Korridors herumgestoßen. »Was fällt dir ein, den Leuten zu erzählen, ich sei eine schlechte Mutter!«, geiferte sie. Meine Lippen schwollen an, als ihre Stiefel mein Gesicht trafen. Am nächsten Tag durfte ich nicht zur Schule, und auch an anderen Tagen, wenn die Blutergüsse zu offensichtlich waren, musste ich zu Hause bleiben. Sie war eine clevere Frau, meine Mama; sie wusste immer genau, wie weit sie gehen konnte.
Eines Morgens kamen wir zu spät zur Schule. Wie immer war es meine Schuld: Ich hatte ins Bett gemacht. Ich machte ständig ins Bett, da mich Albträume vom Satan plagten, der kam, um mich zu holen. Er kam über die Auffahrt und durch die Diele und die Treppe hinauf und packte mich und verschwand mit mir durchs Fenster. Jedes Mal wurde er von einem Gewittersturm begleitet, und ich dachte, der Weltuntergang sei eingetreten. Und besonders als ich älter wurde, zeigte mir Mama Horrorfilme, in denen Menschen starben, einer nach dem anderen in blutigen, gewalttätigen Sequenzen, und dann sagte sie: »Geh und bete zu Gott, denn du bist heute richtig ungezogen gewesen, und morgen früh bist du vielleicht nicht mehr hier.« An diesem speziellen Morgen marschierte Mama mit mir und meinem klatschnassen, uringetränkten Hemd in die Schule und hielt es vor der ganzen Klasse in die Höhe.
»Dies ist der Grund, weshalb wir zu spät kommen. Das ist es, was dieses schmutzige Kind getan hat«, trompetete sie. Verschämt und erniedrigt ließ ich den Kopf hängen – doch ich konnte mir nur selbst die Schuld geben. Solange ich mich erinnern konnte, hatte Mama versucht, mein Bettnässen zu beenden. Wie in meiner gesamten Entwicklung fiel mir das Lernen furchtbar schwer. Es dauerte lange, bis ich mich ans Töpfchen gewöhnt hatte, obwohl sie mich den ganzen Tag über zu meinem Töpfchen schleppte. Wenn es mir dann dennoch passierte, rubbelte sie mein Gesicht in dem Pipi auf dem Boden, rieb danach mit dem nassen Schlüpfer über mein Gesicht und steckte ihn mir dann in den Mund. Zur Bestrafung musste ich schließlich mit dem durchnässten Schlüpfer im Mund sitzen bleiben.
Als ich älter wurde und immer noch ins Bett machte, musste ich als Strafe für dieses Verbrechen ihren Urin trinken. Sie pinkelte ihren tiefdunklen Harn in die Toilette und zitierte mich dann herbei, um ihn zu trinken. Sie nahm einen Becher, ich musste ihn im Klo füllen und anschließend austrinken. Und ich würgte und weinte, und ich spuckte es aus, doch je mehr ich spuckte, desto heftiger bestand sie darauf, dass ich es austrank; es gab kein Entrinnen.
Doch meinem Bettnässen setzte das kein Ende. Stattdessen hatte ich mehr Albträume als je zuvor, und immer häufiger wachte ich morgens mit dem niederschmetternden Gefühl dieser verräterischen kühlen Feuchtigkeit an der Rückseite meiner Beine auf. Mama tobte und raste dann und meinte, ich wolle nur Aufmerksamkeit erregen. Und eines Sonntags hatte sie schließlich die Nase voll.
Wie üblich wurden wir für die Kirche angezogen. Judith und Charlotte wurden wie Pfauen herausgeputzt, in schmucken, mit Schleifen verzierten Kleidern, und hübsche Hauben flatterten um ihre lächelnden Gesichter. Sie wirkten wie ein Duo, wie das doppelte Lottchen. Ich kämpfte mich in meine dreckigen und zerlumpten Klamotten aus dem Secondhandladen, die immer zu klein oder zu groß waren – gewöhnlich zu groß, da mich Hungerbestrafungen zu einem dürren kleinen Mädchen gemacht hatten, nur noch Haut und Knochen in einem aufgetragenen Mäntelchen.
Als wir fertig waren, sagte mir Mama, ich solle mich umdrehen, und dann befestigte sie einen handgeschriebenen Zettel an meinem Rücken. Danach machten wir uns auf den Weg zum Königreichssaal. Wir waren spät dran und suchten uns Plätze im hinteren Teil. Sandy saß in der Reihe hinter mir. Ich verhielt mich ruhig und hatte den Kopf gesenkt, und sie konnte jedes einzelne Wort lesen, das klar und deutlich geschrieben war.
Dies ist ein Teufelskind. Es möchte Aufmerksamkeit erregen. Beachten Sie es nicht und reden Sie nicht mit ihm.
Für Sandy war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Sie rief beim Jugendamt an. Sie war der Meinung, irgendetwas müsste wegen dieser Frau unternommen werden.
Zwei Wochen später erhielt Sandy einen Anruf vom Jugendamt. Man sagte ihr, es habe eine Untersuchung stattgefunden, man sei aber zu dem Schluss gekommen, dass es keine Probleme gebe. Am Ende hieß es: »Was erwarten Sie von uns? Uns fehlen Pflegemütter.«
Ich erinnere mich an Besuche des Jugendamts bei uns – nicht unbedingt wegen Sandy; sie erschienen ziemlich regelmäßig. Ein Mitarbeiter kam dann und klopfte an die Haustür des George Dowty Drive, während ich in der kalten Küche saß und das Gespräch an der Haustür mitbekam. Oder sie riefen an, und ich hörte, wie meine Mutter das Telefonat beendete. Mir graute jedes Mal davor, wenn sie auftauchten, denn Mama sagte dann immer, ich hätte für Ärger gesorgt, weil meinetwegen wieder jemand bei uns erschienen sei, und so bekam ich erneut Prügel von ihr.
Die Besuche der Mitarbeiter des Jugendamts sollten immer zum falschen Zeitpunkt stattfinden. »In der Woche bin ich gerade im Urlaub«, sagte Mama unmissverständlich, wenn sie vorher anriefen, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. Oder: »Nein, es tut mir leid, aber jetzt passt es mir überhaupt nicht. Sie werden später wiederkommen müssen«, wenn sie unangekündigt an der Haustür erschienen. Das sagte sie dann an einer nur einen Spalt breit geöffneten Tür, um nichts von unserer Welt preiszugeben.
Natürlich passte es »später« aus dem einen oder anderen Grund auch nie. Ich hörte diese Gespräche mit an und saß dort, übersät mit Blutergüssen am ganzen Körper, und fragte mich, weshalb sie nicht hereinkamen … doch ich kannte den Grund: meine Mutter. Meine Mutter und ihre Machenschaften. Sie wurden eingeschüchtert und geschickt beeinflusst. Niemand verstand es besser als meine Pflegemutter, die Mitarbeiter des Jugendamts um den Finger zu wickeln.
Allerdings sollte sie nicht mehr lange meine Pflegemutter bleiben. Ihr Adoptionsantrag machte Fortschritte. Dennoch erlitt ihr Plan im Dezember 1991 einen erheblichen Dämpfer, als die für mich zuständige Mitarbeiterin des Jugendamts Mama plötzlich mitteilte, sie werde die Adoption aufgrund von »Bedenken« bezüglich Mamas Sorgfaltspflicht mir gegenüber nicht unterstützen – und stattdessen eine sechsmonatige Begutachtung meiner Betreuung anordnete.
Doch sie machten die Rechnung ohne meine Mutter. Sie weigerte sich einfach – erneut –, die Mitarbeiterin des Sozialamts vorzulassen, die die Begutachtung durchführen sollte. Sehr viel später erfuhr ich zudem, dass das Jugendamt seine Akte über mich erst verspätet dem Richter vorlegte, der über den Adoptionsantrag zu entscheiden hatte; man schaffte es einfach nicht, den Vorgang rechtzeitig abzuliefern.
Und so wurde meine Adoption gerade einen Monat nach den offiziell geäußerten Bedenken formell genehmigt. Ab jetzt war Eunice Spry meine rechtliche Mutter – und ich war auf mich selbst gestellt.
Ticktack, ticktack, ticktack.
Die Uhr tickte laut in dem heißen, senfgelben Volvo. Ich saß alleine im Auto und betrachtete den Bauernhof jenseits des Fensters, auf den Familien gekommen waren, um sich Obst für ein einfaches Abendessen zu pflücken. Ich sah, wie sie sich amüsierten und lachten, während sie in der offenen Scheune herumliefen, in der der Bauer, John Drake, das geerntete Obst wog und ihnen einen guten Tag wünschte. Wir waren in Eckington, auf einem 13 Morgen großen Bauernhof nahe der Grenze von Worcestershire, etwa 20 Kilometer vom George Dowty Drive entfernt. Angesichts der fröhlich in der frischen Sommerluft herumhüpfenden Familien erschien es mir bedeutend weiter weg.
Mama und Charlotte waren losgezogen, um Erdbeeren zu pflücken, während ich in dem abgeschlossenen Auto hatte bleiben müssen. Ich schwitzte in der Sonne. Ticktack, ticktack, ticktack. Plötzlich hörte ich, dass die Tür geöffnet wurde: Mama war zurückgekommen. Ihr Gesichtsausdruck war irgendwie komisch. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass sie sich mit John Drake angefreundet hatte.
Danach begannen Charlotte, Mama und ich, ziemlich regelmäßig zu dem Bauernhof zu fahren. Mama machte sich dann daran, für John das Abendessen zu kochen. Er war ein erheblich älterer Mann, bei dem Lungenkrebs diagnostiziert worden war, und er war ledig und lebte ganz alleine auf all diesen Morgen Land und mit all seinem Geld auf der Bank. Mama fackelte nicht lange und nistete sich dort ein. Ich erinnere mich an ihn als einen schroffen, aber recht gutherzigen Mann. Außerhalb der großen Scheune befand sich ein Sandkasten, in dem er für uns Kinder Marsriegel versteckte. Natürlich nahm mir Mama den Riegel, sobald ich einen gefunden hatte, sofort ab und sagte: »Der ist nicht für dich, der gehört Charlotte.« Und Charlotte hatte nichts Besseres zu tun, als ihr schwarzes Haar über die molligen Schultern zu werfen und zu kichern, während sie nach der Süßigkeit griff. Ihr wurde es erlaubt, mit John Drake auf dem Trecker zu fahren, mir nicht. Aber ich grollte deswegen nicht, ich akzeptierte es: Ich glaubte wahrhaftig, jedes Wort sei wahr, wenn Mama sagte, ich hätte es nicht verdient.
Das Bauernhaus war ein altes viktorianisches Gebäude aus rotem Ziegelstein, das direkt an der Hauptstraße stand. Obwohl der Bauernhof in hügeligem Gelände lag, befand sich das Haus selbst direkt am Dorfrand, gegenüber einer Kinderkrippe und einem anderen Haus; es war also nicht am Ende der Welt angesiedelt. Es war richtig groß, mit fünf Schlafzimmern und altmodischen Schwingfenstern, die im Wind klapperten. Es roch nach einem alten Mann und war immer sehr kalt, da es dort keine Heizung gab.
Die Küche war der einzige warme Raum, denn dort heizte John Drake mit seinem cremefarbenen Kohlenherd ein. Abends saß er neben dem Ofen und las in seiner Zeitung, und auf dem Küchentisch stand eine traditionelle Butterdose. Wenn wir kamen, bereitete ihm Mama ein Essen, und ich beobachtete den kleinen Jack-Russell-Terrier, der ihm zu Füßen auf den roten Fliesen des Küchenbodens lag.
Ich liebte Hunde. Wir hatten einen kleinen Terrier namens Meggie, ein Kläffer, für den ich mich allerdings aus irgendeinem Grund nie richtig erwärmen konnte. Andere Hunde begeisterten mich hingegen schlichtweg. Ich mochte es, wie sie meinem Blick begegneten, wenn ich sie anschaute, und sie schienen nie ein Urteil zu fällen. Meine Lieblingshunde waren Labradore. Mein größter Wunsch auf der Welt war ein Labrador für mich ganz allein.
Eines Abends, als ich zuschaute, wie John es sich schmecken ließ, meldete sich mein hungriger, knurrender Magen. »Mama, ich habe Hunger«, sagte ich, fast bevor ich wusste, dass ich den Mund geöffnet hatte.
John Drake versuchte, mir etwas zu essen zu geben.
»Nein, nein«, ging Mama dazwischen. »Sie bekommt nichts.«
»Ach komm, sie ist doch noch so klein«, protestierte er.
»Nein«, sagte Mama fest. »Sie bekommt nichts.«
John schaute in ihre kalten, durchdringenden Augen, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und gab nach. Ein trockener Husten, Symptom seines Krebsleidens, griff seine kranke Lunge an, sodass er die Sache auf sich beruhen ließ.
Als wir an diesem Abend in den George Dowty Drive zurückkamen, fasste mich Mama bei den Haaren und schlug meinen Kopf gegen die Tür.
»Was soll das, fremde Leute um Essen zu bitten?«, zischte sie. »Du bist ein unverschämtes kleines Gör.«
Da ich noch so jung war, wusste ich nicht, dass es unhöflich war, im Haus anderer Leute um etwas zu essen zu bitten. Wie gewöhnlich missfiel es ihr, dass ich sie schlecht hatte dastehen lassen, wie eine schlechte Mutter. Sie hatte es gehasst, in Verlegenheit gebracht und bloßgestellt zu werden.