Du rockst, ich roll - Bettina Unger - E-Book

Du rockst, ich roll E-Book

Bettina Unger

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Beschreibung

Kranksein ist nichts für Feiglinge

Als Bettina Unger mit 23 Jahren erfährt, dass sie multiple Sklerose hat, taumelt sie zwischen Verzweiflung und Schockstarre. Doch irgendwann stellt sie sich der unheilbaren Krankheit, beendet ihr Studium, promoviert, lernt, mit dem Rollstuhl zu fahren, und verliebt sich. In ihrem Buch schreibt Bettina Unger voller Humor und messerscharf beobachtend über Höhen und Tiefen eines Lebens, dessen Herausforderung sie jeden Tag neu meistert.

Es beginnt mit einem Schleier auf dem linken Auge. Scheinbar harmlos. Doch die Sehnerventzündung ist nur ein Symptom und die Diagnose wird Bettina Ungers Leben von einem Tag auf den anderen aus den Angeln heben: multiple Sklerose, eine unheilbare Autoimmunerkrankung, Ursache bisher ungeklärt. Bettina ist zu jung, um aufzugeben, und doch bricht die Angst vor der Zukunft über sie herein. Bis sie versteht, dass nur ihr Lebenswille helfen kann. Natürlich hat sie immer wieder Einbrüche, der Rollstuhl, in dem sie mit dreißig sitzt, ist zunächst schrecklich. Aber plötzlich kann sie wieder überallhin fahren, und sie lernt Sandro kennen, den Mann aus Neapel, der sie liebt, egal, wohin sie rollt. Spannend und hoffnungsvoll schreibt die Autorin, wie sie ihr Schicksal annimmt und das Leben auch mit MS genießt.

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Seitenzahl: 304

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Bettina Unger

Du rockst,

ich roll

Mein Leben auf vier Rädern

BRIGITTE-Buch im Diana Verlag

Copyright © 2012 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Regina Carstensen

Umschlaggestaltung | Eisele Grafik∙Design, München

unter Verwendung einer Illustration von © Mascha Greune, München

Autorenfoto | © Klaus Fehling

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-07335-0

www.diana-verlag.de

für Sandro

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

Auf einmal konnte ich nicht mehr sehen

2. Kapitel

Im Diagnosekarussell

3. Kapitel

Haltlos

4. Kapitel

Ein lauter Schrei um Hilfe

5. Kapitel

Halbseitige Lähmung und Krankenhausblase

6. Kapitel

»Ein kleiner Rest wird bleiben«

7. Kapitel

Neubeginn mit einem Rollator

8. Kapitel

Langsam und pummelig

9. Kapitel

Ein weiterer Schub

10. Kapitel

In einer Selbsthilfegruppe – Frauen am Spritzen

11. Kapitel

»Ein Drittel genügt«

12. Kapitel

Auf einmal war ich behindert

13. Kapitel

»Der Rollstuhl ist ein Transportmittel und kein Sitzmöbel«

14. Kapitel

Liebe macht vieles möglich – mehr, als man denkt

Epilog

Ein Leben im Rollstuhl – ein vorläufiges Fazit

Dank

Prolog

Berlin, April 2001

Es begann ganz klassisch.

Paula hat mich zu einem der Essen eingeladen, die sie in unregelmäßigen Abständen veranstaltet. Oft sage ich kurzfristig ab, weil es mir nicht gut geht, ich nicht das Gefühl habe, mich in einer größeren Runde von Menschen behaupten zu können. Aber an diesem Abend parke ich mein Auto direkt auf dem Gehsteig vor ihrem Haus. Früher hätte ich Hemmungen gehabt, dies zu tun, heute ist es für mich selbstverständlich geworden. Nachdem ich meine Gehhilfe vom Beifahrersitz in die Hand genommen und den Wagen verriegelt habe, gehe ich langsam und vorsichtig die wenigen Schritte bis zur Haustür. Ich drücke auf den Klingelknopf, der neben dem Nachnamen meiner Freundin angebracht ist.

»Hallo?«, fragt Paula über die Sprechanlage.

»Ich bin es, Bettina«, antworte ich und stütze mich auf meine Gehhilfe.

»Warte, ich bin gleich unten.«

Mit strahlenden Augen öffnet Paula wenig später die Tür.

»Warst du beim Friseur?«, fragt sie, während sie mich eingehend betrachtet. »Sieht toll aus, die Haare ein bisschen kürzer. Hätte ich nur so schöne Locken wie du … Aber was reden wir hier draußen über Frisuren. Jetzt komm rein, ich freue mich, dass du da bist.«

Paula hält mir nicht nur die Tür auf, sie hilft mir auch beim Hinaufsteigen der Eingangstreppe. Ganz selbstverständlich, das war seit unserer ersten Begegnung nicht anders. Während sie mich begrüßt, mir zwei Küsse auf meine Wangen gibt und mich unterhakt, denke ich weiter über unsere Haare nach. Früher hätte ich viel darum gegeben, so glattes dunkles Haar zu haben wie Paula, nicht meine Locken, die in alle Richtungen standen und oft auch jeden Tag anders. Glattes, fast schwarzes Haar, das war mir immer elegant und zugleich sexy vorgekommen. Überhaupt: Mit ihrer jungenhaften Figur erinnert Paula mich oft an die französische Schauspielerin und Sängerin Charlotte Gainsbourg, nur ihr Gesicht hat etwas von einer italienischen Renaissance-Madonna.

Die Eingangstreppe ist geschafft, Paula zieht mich in den Hausflur, ich stütze mich zugleich auf meiner Gehhilfe ab. »Das Auto kann auf dem Bürgersteig stehen bleiben«, sagt sie. »Das parkt Bernhard dann später an einem anderen Ort, wo es niemanden stört oder behindert.« Bernhard ist Paulas Mann.

Wir haben das Treppenhaus erreicht. Meine Freundin klemmt sich die Gehhilfe unter die Achseln, nimmt mich fester am Arm, und wir gehen gemeinsam hinauf zu ihr in den zweiten Stock. Ich halte mich am hölzernen Handlauf des Geländers fest. Stufe für Stufe bewältige ich, spüre, wie Paula sich sofort meinem Rhythmus anpasst. Der Aufstieg ist mühsam, dauert mehrere Minuten, bis es endlich geschafft ist.

Ehrlich gesagt, mir war auch an diesem Abend nicht nach Gesellschaft. Ich hatte mich mit meinen Eltern gestritten und konnte die Gedanken daran nicht wegschieben. Es war nicht das erste Mal, dass wir uns in den Haaren hatten, und die Auseinandersetzung beschäftigte mich mehr, als mir guttat. Stets ging es um meine Zukunft – sie hatten andere Vorstellungen als ich. Die Diskussionen waren jedes Mal zermürbend und die Tage nach den Streits mehr als deprimierend. Nur mit Mühe konnte ich die vierundzwanzig Stunden bewältigen, und stets hatte ich das Gefühl, zu nicht mehr als genau diesem fähig zu sein: den Tag einfach zu überstehen. Meine Freundinnen, die nicht viel älter oder genauso alt waren wie ich, also Anfang dreißig, hatten nicht diese Probleme mit ihren Eltern. Sie vertraten ihre Meinungen selbstbewusst, aber sie waren auch nicht auf Gehhilfen, Rollstühle und andere Menschen angewiesen.

Die letzten Differenzen mit meiner Mutter und meinem Vater hatten mir besonders zugesetzt. In der vergangenen Woche hatte ich mich vollkommen eingeigelt und die Wohnung nicht mehr verlassen, nicht einmal für einen kurzen Besuch in einem Café oder zum Einkaufen. Als Paula dann anrief, um mich daran zu erinnern, dass an diesem Abend ja ein paar Freunde von ihr kämen und ich doch wohl nicht die Einladung vergessen hätte, dachte ich an die letzten einsam verbrachten Tage. Ich hatte keinen großen Appetit gehabt, und so aß ich mittags und abends lustlos Käsebrote (die Marmeladenbrote zum Frühstück waren geradezu eine Abwechslung). »Hallo, Bettina, bist du noch dran?«, fragte Paula. Schließlich gab ich mir einen Ruck und sagte, natürlich hätte ich die Einladung nicht vergessen, sie könne mit mir rechnen. Meine Stimmung würde, so überlegte ich, dadurch bestimmt nicht besser, aber wenigstens käme ich unter Leute – und die Aussicht auf ein gutes Essen erschien mir auch nicht ganz nebensächlich.

Paula öffnet die angelehnte Haustür, führt mich in den Flur. Vorher hatte sie mir meine Gehhilfe zurückgegeben. An der Garderobe hängen bereits einige Jacken, die Gästen gehören müssen. Sie sind mir fremd. Ich lehne die Stütze in eine Ecke des Flurs und überlasse der Freundin meinen schwarzen Trenchcoat, den sie zu den anderen Sachen hängt. Danach betritt sie mit mir das Wohnzimmer. An dem großen ovalen Tisch sitzen einige Leute. Auf der weißen Tischdecke registriere ich Weinflaschen, Gläser, Besteck und Servietten, eine Karaffe Wasser und Schälchen mit Nüssen. »Bedient euch«, sagt Paula und deutet auf die Sachen. Dann blickt sie mich an und fügt hinzu: »Das ist übrigens meine Freundin Bettina.« Unbekannte Gesichter sehen mich an. Paula hatte mir schon bei unserem Telefonat vor einigen Stunden erklärt, dass ich die meisten ihrer Gäste nicht kennen würde. Wissen sie etwas von meinen Problemen? Von meiner Krankheit? Noch während ich das überlege, verwerfe ich diese Gedanken. Paula hatte bestimmt nichts davon erzählt. Über andere Menschen derart zu reden, das passt nicht zu ihr. Sie ist der Ansicht, dass sich jeder sein eigenes Urteil über einen anderen bilden solle, ohne vorgefasste Charakterisierungen.

Sie verlässt das Zimmer und kommt nach einer Weile mit einem Teller Oliven, eingelegten Tomaten und Brot zurück. Es klingelt erneut. »Wenn ihr etwas anderes trinken wollt, gebt Bescheid«, sagt sie im Hinausgehen.

Verhalten bedienen sich die Gäste. Die Gespräche gehen kaum über ein »Gibst du mir bitte die Oliven?« hinaus. Ich schaue mich in der großen Wohnung um. Hohe Decken, gedämpftes Licht, über der Couch unter den beiden Fenstern ein weißer Überwurf, daneben, auf dem Boden, ein alter Tonteller mit Zitronen. Paula und Bernhard haben einen guten Geschmack. Mir gegenüber sitzt ein Pärchen und schweigt. Die Frau heißt Imma, so stellt sie sich mir gegenüber vor. Von Imma habe ich zuvor gehört, sie sei eine alte Freundin von Paula.

»Und was machst du so?«, fragt Imma. Ich habe das Gefühl, dass sie dies nicht aus wirklicher Neugierde wissen will, sondern um nicht länger schweigen zu müssen.

»Ich will meine Doktorarbeit beginnen«, erwidere ich.

»Genau wie Paula.« Etwas mehr Interesse ist der Stimme zu entnehmen.

»Ja, genau wie Paula.«

Ich stoße diese Worte regelrecht aus, will sie am liebsten gar nicht gesagt haben, weil ich keineswegs weiter darauf eingehen will. Möglicherweise werde ich noch gefragt, über welches Thema ich promovieren will. Aber genau darüber möchte ich nicht sprechen. Die Promotion war nämlich einer der Streitpunkte mit meinen Eltern gewesen. Sie konnten nicht verstehen, warum ich mir bei meinem »gesundheitlichen Zustand so etwas antun« wolle. Ich solle doch lieber etwas »Behindertengerechtes« machen. Aber eine Promotion war angesichts meines »Zustands« genau das Passende.

Wäre mir heute danach, Small Talk zu betreiben, hätte ich Imma leicht zu einer Plauderei über dieses oder jenes einladen können, hätte ich gekonnt von der Dissertation ablenken können. Beispielsweise hätte ich erzählen können, wie ich Paula kennengelernt hatte, und dann hätte ich fragen können, bei welcher Gelegenheit sie, also Imma und Paula, sich getroffen hätten. Ja, das hätte ich tun können. Aber ich mache es nicht. Es ist mir zu anstrengend. Jedes einzelne Wort bereitet Mühen. Ich fühle mich von den Meinungsverschiedenheiten mit meinen Eltern immer noch erschöpft und wie betäubt.

Ich seufze leise und sehe mich zerstreut in der Runde um – ein höfliches Verhalten ist etwas anderes. Imma hat es sofort wahrgenommen und schaut sich ebenfalls um.

Inzwischen sind weitere Gäste eingetroffen. Zwei Paare nehmen am anderen Tischende Platz. Die jeweiligen Frauen nickten Imma und ihrem Freund zu, ohne mich zu beachten oder sich vorzustellen. Paula verschwindet mit zwei Freunden, die vor meiner Ankunft schon da gewesen waren, lachend und gestikulierend in der Küche.

Mit fragendem Blick hält mir Immas Freund die geöffnete Weinflasche hin. Ich nicke nur, ohne weiter mit ihm in Kontakt zu treten. Du hättest ruhig nach seinem Namen fragen können, rüge ich mich selbst. Doch den richtigen Moment habe ich verpasst. Er schenkt ein, und ich ergreife das Glas, trinke einen Schluck und blicke mich weiter um. Links neben dem Sofa hängt ein Gemälde. Auf grauem, flächigem Untergrund sind Teile eines Getriebes zu sehen – Motor, Schrauben, Muttern, Verbindungselemente. Links davon ist ein rotes Huhn platziert. Es kommt mir vor, als könnte mich jeder an diesem ovalen Tisch so mustern: in Einzelteile zerlegt. Ich fühle mich bloßgestellt.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich jetzt Imma. Sie ist sehr schlank, streicht sich wieder und wieder die Bluse glatt und die Tweedhose, fast zwanghaft. Unablässig sieht sie zu ihrem Partner, wenn auch nur kurz, aber noch immer sprechen sie nicht miteinander. Anschließend beugt sie sich zu einem der Männer, mit denen Paula zuvor ins Zimmer zurückgekehrt war.

»Ciao, Bruno, wie geht’s?«, fragt Imma.

»Danke, und dir?«

»Nicht anders.«

Nervös sieht sie erneut zu ihrem Freund, der allerdings weiterhin keine Regung erkennen lässt. Wenigstens bin ich nicht die Einzige, die an diesem Abend nicht sehr kommunikativ ist.

Ich trinke einen weiteren Schluck Rotwein, greife mir ein paar von den Nüssen und nehme nun Imma und Bruno unter die Lupe. Auch sie sind um die dreißig. Brunos Haare sehen so aus, als wolle er in Konkurrenz mit schwarz glänzender Kohle treten, er trägt Jeans und ein weißes, frisch gebügeltes Hemd. Imma und Bruno unterhalten sich inzwischen auf Italienisch. Ich verstehe nichts. Erneut setze ich das Glas an.

Nach jedem Schluck wird mir wohler, die anderen Gäste rücken in die Ferne.

Ich nehme wahr, wie sich die Stimmen – immerhin kommt die Unterhaltung langsam in Gang – vermischen. Einzelne Worte und Sätze kann ich nur schwer unterscheiden.

Plötzlich werde ich wieder wach. Paula stellt einen Teller Suppe vor jeden der Gäste. Minestrone mit Tortellini. Ich bin erleichtert, jetzt kann ich mich mit etwas beschäftigen, fühle mich nicht mehr verpflichtet, mich zu unterhalten. Mein Nachbar bietet mir Parmesan auf einer Reibe an, ich greife zum Käse, reibe ihn über die Suppe und lege ein Stück Brot neben den Teller. Alle löffeln nahezu still und andächtig.

»Ah – jetzt kommen die Letzten«, sagt Paula, als es abermals klingelt. Während sie zur Haustür geht, löffeln alle weiter.

»Da sind eure Plätze«, bemerkt meine Freundin, als sie erneut das Wohnzimmer betritt. Sie zeigt auf die letzten beiden freien Stühle. Begleitet wird sie von zwei Männern. Den einen kenne ich sehr gut, es ist Paulas Mann Bernhard. Wie immer hat er einen der Anzüge an, die er sich aus einem schweren Stoff nähen lässt und dessen weit geschnittene Hosen an die Dreißigerjahre erinnern. Wahrscheinlich kommt er direkt von der Arbeit, er ist bei einem IT-Unternehmen beschäftigt. Bevor er den Tisch ansteuern kann, nimmt ihn Paula zur Seite. Kurze Zeit später verlässt ihr Mann die Wohnung, ich höre die Haustür zuschlagen. Prima, denke ich, er wird jetzt mein Auto woanders parken.

»Und das ist übrigens Sandro.« Im Gegensatz zu Bernhard ist mir Sandro fremd. Mehrmals hat mir Paula von ihm vorgeschwärmt, doch bislang bin ich ihm nie bei ihren Einladungen begegnet. Sandro, so hatte sie mir berichtet, stamme wie sie aus Süditalien, jedes Treffen mit ihm würde ihr das Gefühl geben, Kontakt zur Heimat zu haben. Er trägt, wie ich feststelle, eine schwarze Lederjacke, um den Hals hat er ein rotes Nickituch gebunden, in der Hand hält er einen silbernen Motorradhelm – einen dieser lässigen Helme, die unter dem Kinn mit einem Riemen aus Leder geschlossen werden. Er scherzt mit Paula, die laut lacht. Sein Gesicht hat etwas Verschmitztes. Das gefällt mir. Richtig gut sogar.

Nach der Suppe macht Paula Platz für zwei Platten mit Lamm und ein Blech, auf dem Rosmarinkartoffeln liegen. Es duftet köstlich, und gleich darauf steigt der Geräuschpegel am Tisch. Langsam habe ich das Gefühl, mich richtig entschieden zu haben. Ich hätte etwas versäumt, wäre ich nicht hierhergekommen.

Zweimal nehme ich nach, so gut schmeckt es. Schließlich lege ich Besteck und Serviette beiseite und lehne mich zufrieden zurück. Während ich ein zweites Mal das Huhn betrachte, das in seiner roten Farbe und in seinen klaren Konturen aus dem Bild hervorsticht, lasse ich meine Gedanken fließen. Leider. Denn meine Eltern fallen mir wieder ein und unsere hitzigen Diskussionen. Seit Jahren fragen sie, wann ich denn endlich mit dem Studium fertig sei. Nicht so bald, hatte ich geantwortet und erklärt, dass ich noch meinen Doktor machen wolle. Voller Entrüstung erwiderten sie: »Doktor in Literatur? Was soll das denn sein? Das ist doch gar kein richtiger Doktor!« Und dann kam die alte Leier: warum ich denn nicht schon längst »einen Beruf« suchte, wie sie es nannten. Ich gab ihnen zu verstehen, dass ich weiter an der Uni forschen möchte, dass es genau das sei, was ich im Moment machen wolle. Wie üblich verhedderten wir uns in unseren jeweiligen Argumentationen, endeten mit Vorwürfen, die nur wehtaten. Diese Meinungsverschiedenheiten rauben meine Energie, von der ich nicht so viel habe wie andere.

Im Nachhinein betrachtet wäre es gut gewesen, ich hätte nicht auf ihr Verständnis gepocht. Dazu sind Eltern oft nicht die geeigneten Ansprechpartner. Sie lieben uns, aber das heißt nicht, dass sie die Welt anderer und deren Zusammenhänge verstehen. Besonders dann nicht, wenn man mit einer Krankheit wie MS auf einen eigenen Weg angewiesen ist, um mit ihr umgehen zu können.

Aus der Küche höre ich lautes Reden und Lachen, Teller und Tassen klirren aneinander.

»Das ist eine Spezialität meiner Oma«, ruft Sandro, als er kurz darauf mit Paula und einem Tablett mit dampfenden kleinen Tassen ins Zimmer tritt. »Das ist cremina di caffè«, erklärt er weiter, während er das Tablett auf den Tisch stellt und sich zu mir setzt, da mein Nachbar seinen Platz verlassen hat. »Den ersten Tropfen Kaffee, der aus der caffettiera steigt, in eine Tasse abgießen und ihn mit viel Zucker schlagen, schnell und mit Kraft, bis sich eine crema densa bildet – später gibt man diesen Schaum dann löffelweise auf den in Tassen eingeschenkten Espresso.« Sandro hat dunkelbraunes, rötlich schimmerndes gewelltes Haar, im Mund stehen kleine Zähne kreuz und quer, die Augen glänzen in einem warmen Braun, Ton in Ton mit den Haaren. Augen wie Pralinen.

Er hat CDs mitgebracht, legt, nachdem er mir eine Espressotasse gereicht hat, eine mit neapolitanischem Rock in den Player. Die Stücke erhalten mit ihren arabisch anmutenden Klängen eine eigenwillige Interpretation. Darüber liegt kämpferischer Wortgesang, den er mir übersetzt, als er erneut neben mir ist. Was er sagt, verstehe ich kaum, sehe nur seine Augen.

Plötzlich nimmt der Abend eine unerwartete Wendung. Ich höre Musik, rede mit einem Mann, der mir von Anfang an sympathisch war, und vergesse alles um mich. Erst als ich Aufbruchsgeräusche bemerke, Gläser abgestellt und Stühle auf dem Parkett nach hinten geschoben werden, schrecke ich auf. Auch ich werde mich verabschieden müssen. Und wo ist Bernhard? Schließlich ist er derjenige, der mir das Auto wieder vor die Tür bringen muss. In diesem Moment höre ich, wie Paulas Mann sagt: »Kommst du schnell mit, Sandro? Ich hole den Wagen von Bettina.«

Wider Erwarten war ich in den letzten ein, zwei Stunden in eine beschwingte Stimmung versetzt worden – doch auf einmal ist alles vorbei. In meinem Kopf rauscht es nur. Ängste tauchen auf, Scham dringt ins Bewusstsein. Brüsk erinnere ich mich an meine Gehschwierigkeiten, die mich buchstäblich seit mehreren Jahren lähmen. Ob Sandro, mit dem der Abend so angenehm und angeregt endete, wohl weiß, warum am Eingang von Paulas Wohnung eine Gehhilfe steht? Weiß er, dass es meine ist und warum ich sie benötige? Und wenn er nun den Rollstuhl im Auto sieht und sich fragt, warum der dort liegt?

1. Kapitel

Auf einmal konnte ich nicht mehr sehen

Köln, Juni 1991

Träge lagen mein Mitbewohner Kalle und ich in seinem Zimmer auf der Matratze vor dem Fernseher. Es war Sonntagabend, der Abend, an dem ich das Wochenende nach vielen Verabredungen und nächtlichen Ausflügen in verschiedene Discotheken gern zu Hause ausklingen ließ. Ich liebte es, angenehm gelangweilt bei einem Tatort oder einem Herz-Schmerz-Spielfilm in die kommende Woche zu gleiten. Dieses Ritual pflegte ich seit Jahren – so auch in diesem Sommer 1991. Bevor der Krimi anfing, hatte sich Kalle erhoben und war polternd zwei Treppen nach unten gegangen, in eine Imbissbude, die sich praktischerweise in unserem Mietshaus befand. Wenig später kehrte er zurück und schüttelte die strähnigen Haare mit einer gekonnten Bewegung aus dem Gesicht. »So«, sagte er zufrieden, stellte einen Stoffbeutel ab und zog sich die Trainingshosen höher. »Einmal Pommes weiß für dich und einmal Pommes rot für mich.« Außerdem platzierte er noch zwei Flaschen Bier neben seine Bettseite – wunderbar, nichts sprach gegen einen entspannten Abend. Kalle studierte an der Kölner Sporthochschule, was aber nicht bedeutete, dass er sportlich aussah. Dem Klischee gemäß trug er zwar am liebsten Sporthosen, aber die weiten T-Shirts verhüllten kaum seinen Bauch.

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