Du schaffst das nicht - Gnu - E-Book
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Gnu

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Beschreibung

Als erste deutschsprachige Gamerin mit über 1 Million Abonnentinnen und Abonnenten auf YouTube hat sich Jasmin alias Gnu einen Namen gemacht. Viele kennen sie als witzige, selbstbewusste junge Frau aus dem Internet, schauen vielleicht sogar zu ihr auf. Doch dieser Erfolg ist hart erkämpft. Lange Zeit prägte der Gedanke »Du schaffst das nicht« Jasmins Leben. Sie hielt sich für nicht klug genug, nicht hübsch genug, nicht gut genug. Der Drang, einem aufgezwungenen Idealbild entsprechen zu müssen, wurde zu einer Krankheit, die sie zehn Jahre lang nicht losließ, von der aber kaum jemand etwas wusste. Doch damit ist jetzt Schluss. Jasmin hat es satt, anderen die Kontrolle zu überlassen. Sie will ein selbstbestimmtes Leben führen. Ein Leben, in dem sie sich erlaubt, glücklich zu sein und stolz auf die eigenen Erfolge. Schonungslos offen berichtet sie von eigenen Fehlern, von negativen Einflüssen, aber auch von den guten Zeiten. So will sie denjenigen Mut machen, die ebenfalls nicht daran glauben, aus eigener Kraft etwas auf die Beine stellen zu können. Sie selbst ist der beste Beweis für ihre wichtigste Botschaft: »Lasst euch von niemandem einreden, was ihr schaffen könnt und was nicht. Glaubt mir, das habe ich viel zu lange getan. Der Satz ›Du schaffst das nicht‹ ist eine Lüge.«

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Seitenzahl: 358

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GNU

DU SCHAFFST DAS NICHT

GNU

mit Lisa Ludwig

DU SCHAFFST DAS NICHT

Über Kontrollverlust, Kampfgeist und unstillbaren Hunger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

5. Auflage 2023

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Projektleitung: Mirka Uhrmacher, Nadine König | INSTINCT3

Umschlaggestaltung, Illustration: Nadja Clauberg

Umschlagabbildung: © Lyonel Stief

Satz: Achim Münster, Overath

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96775-084-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96775-085-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96775-086-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Kapitel 1: Die Gnu-Origin-Story

Kapitel 2: Meine erste große Liebe – Videospiele

Kapitel 3: Angst

Kapitel 4: Realitätsflucht

Kapitel 5: Schön sein I

Gastbeitrag von Lisa Ludwig

Kapitel 6: Falsche Freunde

Kapitel 7: Sex

Kapitel 8: Liebe?

Kapitel 9: Kontrollverlust

Kapitel 10: Schön sein II

Gastbeitrag von HandOfBlood

Kapitel 11: Saftiges Gnu

Kapitel 12: Endgegner

Kapitel 13: Kontrolle

Kapitel 14: YouTube als Job

Gastbeitrag von Alicia Joe

Kapitel 15: Eine Million – Do what you can’t

Kapitel 16: Wut

Gastbeitrag von Lara Loft

Kapitel 17: (K)ein Vorbild

Vorwort

Dieses Buch ist eine Art Let’s Play meines Lebens. Ich führe euch durch schöne und schreckliche Zeiten, die euch hoffentlich nicht nur schockieren, sondern auch immer wieder zum Lachen bringen. Ich gebe euch Einblicke und erzähle Dinge, die selbst Leute aus meinem Umfeld noch nicht wissen. Außerdem kommen die Content Creator HandOfBlood, Alicia Joe und Lara Loft sowie die Co-Autorin dieses Buches Lisa Ludwig zu Wort, die Ähnliches durchgemacht haben und bestätigen können: Egal, wie allein ihr euch mit manchen Dingen fühlen mögt, es gibt viele andere Menschen, die genau das gleiche Problem hatten.

Ihr kennt mich als Gnu. Die Frau mit der lauten Lache, die Videospiele im Internet zockt und nie um einen dreckigen Witz verlegen ist. Ich bin Content Creatorin, Streamerin, Influencerin – sucht euch einen Begriff aus. Mit über einer Million Abos bei YouTube wurde ich 2021 Deutschlands reichweitenstärkste Gamerin. Neben dem Zocken teile ich auch privatere Bereiche meines Lebens mit der Öffentlichkeit. Meine Community besteht zu über fünfzig Prozent aus Mädchen und jungen Frauen, viele von ihnen sehen in mir ein positives Beispiel dafür, wie man als Frau mit unerreichbaren Schönheitsidealen, Sexismus und dem Thema Selbstliebe umgehen kann.

Doch da gibt es noch eine andere Seite, einen Teil von mir, den nur mein allerengstes Umfeld kennt. Bis jetzt.

Es gibt in meiner Nachbarschaft eine ältere Frau. Ich habe noch nie mit ihr gesprochen oder sie auf der Straße getroffen. Aber es fühlt sich für mich an, als würde ich sie kennen. Jeden Abend zwischen 19 und 20 Uhr kann ich von meinem Streaming-Zimmer aus sehen, wie sie das Licht in ihrem Bad einschaltet. Ich bin kein Creep oder eine Voyeurin. Ihre Fenster sind groß, sie hat weder Vorhänge noch Jalousien, und es ist schwierig, nicht hinzugucken, wenn plötzlich ein helles Licht angeht. Daher wandern meine Augen ganz automatisch zum gegenüberliegenden Haus, wenn sie in dieser Zeit zwischen 19 und 20 Uhr jeden Tag das gleiche Ritual vollzieht: Sie steht minutenlang vor dem Spiegel und tastet ihren Körper ab. Manchmal kneift sie in Hautfalten hinein, als würde sie nach irgendetwas suchen. Wenn ich sie sehe, kann ich nicht weggucken. Denn ich weiß, wonach sie sucht. Überschüssiges Fett. Vermeintliche Makel, für die sie sich und ihren Körper anschließend bestrafen kann. Aber da ist kein Fett, nur Haut.

Ich will sie in diesem verletzlichen Moment gar nicht beobachten, aber ich kann nicht anders. Sie erinnert mich zu sehr an mich selbst. Was ihr seht, was ihr glaubt, von mir zu wissen, ist das vorläufige Endergebnis von über dreißig Jahren Leben, in denen es viele Höhepunkte, aber umso traumatisierendere Tiefpunkte gab.

Als ich fünf Jahre alt bin, teilen sich meine drei Geschwister und ich ein kahles Kinderzimmer in einer winzigen Wohnung, weil sich unsere Eltern nicht mehr leisten können. Mit zehn Jahren habe ich panische Angst vor Männern und flüchte mich aus der Realität in Computerspiele. Mit vierzehn Jahren mache ich meine erste Diät und werde abhängig von der Zahl, die meine Waage anzeigt. Mit sechzehn Jahren gibt mir ein Mann das erste Mal das Gefühl, nie gut genug zu sein. Mit einundzwanzig Jahren starte ich eine semierfolgreiche Modelkarriere, die mich für zehn Jahre in eine schwere Krankheit treibt. Mit dreiundzwanzig Jahren befinde ich mich mitten in meinem Bachelor-Studium und habe so viel Hyaluronsäure in meinem Gesicht, dass ich mich selbst kaum wiedererkenne. Mit fünfundzwanzig Jahren sagen mir befreundete YouTuber, dass ich es als Content Creatorin nur schaffen werde, wenn ich mit ihnen schlafe. Mit dreißig Jahren treffe ich eine folgenschwere Entscheidung, die mein Leben für immer verändert. Mit einunddreißig Jahren knacke ich die Million Abonnenten auf YouTube und werde die zu dem Zeitpunkt erfolgreichste Gamerin Deutschlands. Mit dreiunddreißig Jahren weiß ich endlich, wer ich bin.

Für mich ist dieses Buch ein emotionaler Striptease, und wer mich kennt, weiß: Eigentlich sitze ich lieber in Jogginghose auf der Couch, als mich auszuziehen. Aber je mehr Menschen mir folgen, je größer meine Reichweite wird, desto größer wird mein Bedürfnis zu zeigen, dass auch in meinem Leben nicht alles so schön ist, wie es scheint. Nicht, weil ich Mitleid will. Was ich verbockt habe, geht allein auf meine Kappe, und ich bin hart mit mir ins Gericht gegangen, um halbwegs meinen Frieden damit zu machen. Ich will auch nicht noch eine Influencerin sein, die den Leuten erklärt, dass Instagram nicht das wahre Leben zeigt und dieser Job viel anstrengender und psychisch viel belastender ist, als man denken würde. Nicht, weil es nicht so wäre. Ich glaube aber, dass diese Erkenntnis nur ein Puzzleteil von etwas Größerem ist, von einer Vergangenheit, die viele von uns teilen: einem Leben unter dem Einfluss von ungesunden Idealen, die nicht erst und nicht allein Social Media mit sich gebracht hat.

Und zuletzt möchte ich hier keine »Frau im Gaming«-Story erzählen, auch wenn das die Frage ist, die ich zu jeder Gelegenheit gestellt bekomme. Das Vorhandensein von Brüsten oder die Abwesenheit eines Penis haben – so meine Erfahrung aus erster Hand – nämlich erst einmal gar keinen Einfluss darauf, ob ich Spaß an Videospielen habe oder nicht. Solange wir aber ständig fragen, wie es denn so ist als Frau im Gaming-Bereich, bleiben wir bei der Annahme, dass die Frau der Ausnahmefall ist, das Ungewöhnliche, manchmal sogar der Skandal. Dieses Signal möchte ich nicht verbreiten. Gaming macht keinen Unterschied zwischen Geschlechtern, sondern ist für alle da. Die Probleme mit Diskriminierung, Sexismus, Machtmissbrauch und geschlechterspezifischen toxischen Schönheitsidealen tauchen nicht nur in der Gaming-Szene auf, sondern sind in der kompletten Gesellschaft verbreitet. Und es sind auch nicht immer die Männer die Arschlöcher und durchweg Täter. Sie können auch selbst zu Opfern solcher Strukturen werden.

Eine Frau besonders hervorzuheben, weil sie den »Mut« hat, sich so einem Umfeld auszusetzen, lenkt in meinen Augen nur davon ab, dass sie in jedem Umfeld mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen haben kann. Schule, Studium, Beruf, Freizeit: Überall begegneten mir dieselben Situationen. Darüber sollten wir als Gesellschaft sprechen, anstatt so zu tun, als hätten einzelne Branchen ein Problem, aber ansonsten wäre eigentlich alles in bester Ordnung.

Ich möchte in meinem Buch daher nicht darüber sprechen, wie reflektiert oder mutig ich bin. Denn lange Zeit traf weder das eine noch das andere auf mich zu. Ich möchte allerdings Mut machen. Ich habe genug Fehler für mehrere Leben angehäuft. Ich habe mich selbst nicht wertgeschätzt, habe mich von anderen kontrollieren lassen und mich viel zu lange nur danach gerichtet, anderen zu gefallen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es, euch, die ihr dieses Buch gerade in den Händen haltet, davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie ich. Falls das ein bisschen zu viel verlangt ist, wäre ich aber auch glücklich darüber, euch zumindest das Gefühl mit auf den Weg zu geben, mit euren Zweifeln und Unsicherheiten nicht allein zu sein. Denn wenn ich mich mit irgendetwas gut auskenne, dann sind es Horrorspiele und Selbstzweifel! Bei beiden gibt es immer einen Weg hinaus, bei beiden lauert irgendwo ein Feind in der Dunkelheit, den man besiegen kann. Selbst dann noch, wenn man sich so ganz und gar nicht mutig fühlt, sich am liebsten die Augen zuhalten will und die Angst riesengroß ist.

Der Feind in meiner Geschichte war die meiste Zeit über ich selbst, und so wie mir geht es vielen. Wenn ich die Frau von gegenüber durch ihr Badezimmerfenster sehe, denke ich daran, was mit mir passiert wäre, wäre mein Leben anders verlaufen. Wenn ich nicht die Unterstützung gehabt hätte, die ich hatte. Wenn mir die Liebe zu Videospielen nicht immer wieder gleichzeitig einen Ziel- und Fluchtpunkt gegeben hätte. Daher zerreißt es mir manchmal das Herz, wenn ich in Nachrichten an mich lese, dass jemand gern so wäre wie ich, aber ja nicht so hübsch oder so witzig ist. Diese Person möchte ich abwechselnd schütteln und in den Arm nehmen. Denn es ist einfach Bullshit. Absoluter Bullshit. Es ist genau der gleiche Bullshit, den ich mir jahrelang eingeredet habe. Dass ich nicht gut genug wäre, nicht schön genug, nicht klug genug. Aber das ist einfach nicht wahr. Und wenn dieses Buch es fertigbringt, auch nur eine Person zu ermutigen, diesen Bullshit weit von sich zu weisen, hat sich alles gelohnt.

Dafür bin ich bereit, sehr viel mehr von mir preiszugeben, als bislang bekannt war. Und ich muss gestehen, dass mich das nicht kaltlässt. Wenn es einmal »da draußen« ist, werde ich es nicht mehr zurücknehmen können. Aber es ist wichtig, auch die Themen anzusprechen, die nicht leicht zu verdauen sind. Vielleicht mache ich mich damit angreifbar, aber gleichzeitig gehören eben auch die unschönen Kapitel zu meinem Leben dazu. Ich kann sie nicht leugnen, aber ich will ihnen auch nicht mehr die Macht geben, über mich zu bestimmen, indem ich sie als dunkles Geheimnis mit mir herumschleppe. Sie haben viel zu dem Menschen beigetragen, der ich heute bin, aber sie definieren mich nicht mehr. Da ich aber weiß, dass einige Themen sensibler zu behandeln sind, gibt es zu Beginn mancher Kapitel in diesem Buch eine Trigger-Warnung, die euch darauf vorbereitet, was euch auf den folgenden Seiten erwartet. Wenn ihr schon wisst oder beim Lesen merkt, dass ihr sehr heftig auf ein Thema reagiert, glaubt bitte nicht, da jetzt allein durchzumüssen. Sprecht mit Menschen, denen ihr vertraut. Falls ihr lieber ganz anonym mit einer neutralen Person reden möchtet, findet ihr am Ende des Buches außerdem Kontaktadressen, bei denen ihr telefonisch oder online Hilfe bekommt oder gleich eine Anlaufstelle vor Ort suchen könnt.

Dieses Buch bietet keinen perfekten Lösungsweg. Den gibt es vielleicht in einem Videospiel, aber nicht in einem Menschenleben. Ich teile meine Geschichte, damit ihr wisst, in welche Fallen ihr besser nicht tappen solltet und welche Umwege ihr euch sparen könnt. Vor allem aber, damit ihr den Satz »Du schaffst das nicht« aus euren Köpfen streicht. Seid ihr bereit? Ja? Dann lasst uns gemeinsam auf »Start« drücken. Willkommen in meinem Leben!

Kapitel 1

Die Gnu-Origin-Story

Jede Geschichte braucht einen Anfang und eine Hauptfigur. Im Idealfall eine Hauptfigur, über die wir etwas in Erfahrung bringen wollen. Bei der uns interessiert, welche Werte ihr vermittelt wurden. Woran sie glaubt. Was für Erinnerungen ihr durch schwierige Zeiten helfen und welche Erlebnisse sie für immer geprägt haben. Diese Figur muss nicht unbedingt herausragend sein oder besondere Fähigkeiten besitzen. Das Leben schreibt viele spannende Geschichten mit ganz normalen Menschen. Wichtig ist nur, dass wir sie auf ihrem Weg ein Stückchen begleiten möchten.

Meine Geschichte beginnt so, wie viele gute Filme enden: mit einer großen Liebesgeschichte. Nicht mit meiner eigenen, dazu kommen wir später. Sondern mit der einen großen Liebesgeschichte, die alles Weitere überhaupt erst möglich gemacht hat.

Es sind die 1980er. Jede zweite Frau verlässt den Friseur mit einer dramatischen Fönfrisur, der Rest trägt ganz unironisch Vokuhila. Musikfans ahnen noch nichts von Spotify. Sie müssen noch die knallharte Entscheidung treffen, welche paar Songs sie auf die eine Musikkassette packen, die in ihren Walkman passt. Ziemlich viele entscheiden sich für »Take on Me« von A-ha und wissen damals noch nicht, dass der Song über dreißig Jahre später eine ganz neue Generation zu Tränen rühren wird. Wie kann ein ehemaliger Party-Hit so traurig sein, Deadpool 2 und The Last of Us Part II? Erklärt mir das mal!

Die 80er sind auch das Jahrzehnt, in dem Zocken langsam ein mögliches Hobby wird. Allerdings noch nicht auf dem PC. Menschen spielen an Arcade-Automaten oder besitzen mit dem Atari ihre erste eigene Videospielkonsole für zu Hause. Statt sich durch fotorealistische Schlachten im Online-Multiplayer zu ballern, sitzt man in den 80ern beeindruckt vor grünen Linien auf einem schwarzen Bildschirm. Was die Technik noch nicht kann, erledigt die Fantasie.

Unsere Geschichte startet in Regensburg, einer dieser mittelgroßen, unspektakulären, ziemlich verschlafenen Städte in Bayern, Entschuldigung, in der Oberpfalz. Nicht viel los, aber gerade noch genug, um nicht wahnsinnig zu werden. Zumindest für die meisten.

Meine Mutter Ursula ist damals einunddreißig Jahre alt und hat keine Zeit für Arcade-Automaten oder Discobesuche in Neonleggings. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Herzen ist sie eigentlich eine ziemlich wilde Person. Doch jetzt mit Anfang dreißig bekommt sie Jugendkultur nur noch von den Studentinnen und Studenten mit, die zur Untermiete in die kleine Einliegerwohnung im Haus ziehen. Im Vergleich zu deren Freiheit fühlt sich ihre Ehe manchmal wie ein Gefängnis an. Dabei sollte Liebe keine Strafe oder Verpflichtung sein. Wenn man in einer toxischen Beziehung ist, vergisst man das schnell. Man sieht die Gitterstäbe nicht mehr. Was eigentlich eine Zelle ist, sieht plötzlich aus wie ein Zuhause. Und wenn man lange genug in der Zelle sitzt, traut man sich da auch gar nicht mehr raus. Vor allem nicht allein.

Als der Medizinstudent Hasan in die kleine Studentenwohnung zieht, ändert sich für Ursula jedoch alles. Hasan ist zwanzig. Ein hochgewachsener Türke mit riesigem Afro, der es durch harte Arbeit und sein Medizinstudium endlich nach oben schaffen will. Genau die richtige Mischung aus Disco und Entschlossenheit. Die beiden reden viel und kommen sich näher. Erst zaghaft, dann immer intensiver. Hasan und Ursula werden in ein paar Jahren meine Eltern sein. Aber das wissen sie da noch nicht.

Hasan ist zwar jung, hat aber keine Angst vor Verantwortung. Zwei Kinder von einem anderen Mann? Kein Problem. Wenn man jemanden wirklich liebt, entscheidet man sich nicht nur für diese eine Person, sondern auch für ihre Familie. Krass eigentlich, wenn ich drüber nachdenke. Mit Anfang zwanzig konnte ich nicht mal Verantwortung für mich selbst übernehmen! Aber das ist eine andere Geschichte. Zu der kommen wir noch.

Wenn die erste Ehe meiner Mutter ein Gefängnis war, ist mein Vater der Schlüssel. Das Umfeld meiner Mutter aber sieht die Beziehung kritisch. Für sie ist die Liebe zwischen Hasan und Ursula ein echter Skandal. Eine zweifache Mutter verlässt ihren Mann ausgerechnet für einen zwanzigjährigen Türken! Wie kann sie nur? Im konservativen Bayern der 80er-Jahre undenkbar.

Doch auch die türkische Familie meines Vaters ist nicht gerade begeistert. Es ist nicht die Herkunft meiner Mutter, die ihnen Sorge bereitet, sondern ihre Situation. Hasan hat noch sein ganzes Leben vor sich. Wie kann er sich für eine Frau entscheiden, die nicht nur elf Jahre älter ist, sondern auch noch zwei Kinder von einem anderen Mann hat?

Meinen Eltern sind die Bedenken anderer egal. Sie wollen zusammen sein. Was bedeutet, dass meine Mutter ihren Mann verlässt. Glücklich waren die beiden sowieso schon lange nicht mehr. Darin steckt eine wichtige Lektion: Löse dich von Menschen, die dir nicht guttun. Das Leben ist zu kurz, um unglücklich zu sein.

Fast schon ironisch, dass ich diese simple Weisheit bereits so früh in meiner Geschichte zum Besten gebe. Merkt sie euch bitte gut, denn sie wird noch sehr wichtig werden. Auch ich werde mich später in Beziehungen gefangen fühlen und schlecht behandeln lassen. Manche Fehler muss man wohl selbst machen. Aber auch dazu komme ich noch.

Wir machen einen Zeitsprung in die 90er. Deutschland ist wiedervereint, lässt sich Arschgeweihe über den Hintern tätowieren, schaut Sailor Moon und Pokémon und füttert Tamagotchis. Meine Mutter hat sich scheiden lassen und meinen Vater geheiratet. Meine Halbschwester bleibt bei ihnen, mein Halbbruder bei seinem Vater. Vorerst. Meine Eltern bekommen zwei gemeinsame Kinder: meine große Schwester und zwei Jahre später mich.

Wir sind in meiner Kindheit oft umgezogen. Doch wenn ich an den ersten Ort denke, der für mich ein Zuhause war, denke ich an Ensingen, ein winziges Dorf mitten im Weingebiet – und so unspektakulär, dass sich der Wikipedia-Eintrag schneller durchlesen lässt als viele Videobeschreibungen bei YouTube. Auch wenn es mir und meiner Familie später ziemlich gut gehen wird, zu diesem Zeitpunkt haben wir kaum etwas. Vor allem kein Geld. Mein Vater ist in den letzten Zügen seines Medizinstudiums, meine Mutter ist zwar berufstätig, verdient als Bürokauffrau aber nicht genug, um unserer Familie ein komfortables Leben zu ermöglichen. Meine Welt besteht aus einem kleinen Kinderzimmer mit kahlen weißen Wänden und einem braunen Teppich. Ich teile es mir mit meinen zwei Schwestern und später zusätzlich mit meinem Halbbruder. Die Situation bei seinem Vater war nach einiger Zeit zu schlimm geworden, sodass er zu uns zog.

Statt in Betten schlafen wir vier auf Luftmatratzen. Wer wenig hat, muss eben improvisieren.

Kindheitserinnerungen fühlen sich manchmal an, als würde man durch ein Kaleidoskop gucken: Man ist sich nie zu einhundert Prozent sicher, was man da sieht. Klar, da sind Farben und Formen, in denen sich einzelne Bilder erkennen lassen. Aber es gibt keine eindeutige Definition, kein richtig oder falsch, mehr ein Gefühl.

Das Gefühl, das ich habe, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, ist Glück. Ich habe alles, was ich brauche. Auch in der kleinen Wohnung mit dem braunen Teppich und den Luftmatratzen. Es ist egal, dass es zu Weihnachten keine teuren Geschenke gibt oder dass ich alles mit meinen Geschwistern teilen muss. Die Kinder im Kindergarten interessieren sich sowieso noch nicht dafür, wer was anhat, woher jemand kommt oder wie jemand aussieht. Meine Kindheit gibt mir das, was ich später viel zu schnell verlieren werde: Sorglosigkeit. Wir spielen im Garten unseres Vermieters oder an dem kleinen Bach, der direkt neben dem Haus vorbeiplätschert. Schrammen, Dreck, aufgeschlagene Knie – alles egal. Aufstehen und weitermachen.

Ich bin schon als Kind kein »typisches Mädchen«. Oder entspreche zumindest nicht dem Bild davon, wie sich Mädchen angeblich zu verhalten haben. Heute werden diese Klischees kritisiert und auseinandergenommen. Zu Recht. Damals gilt in der Regel aber noch, dass Mädchen Kleider tragen, süß aussehen und Puppen mögen. Meine Schwester passt in dieses Bild, ihr ist auch heute noch wichtig, schick auszusehen und immer richtig gestylt zu sein. Chaos-Gnu nicht.

Eine »Mädchen«-Sache haben wir damals trotzdem gemeinsam: Wir sind verrückt nach Polly Pocket. Das kennt ihr heute wahrscheinlich vor allem aus nostalgischen Buzzfeed-Artikeln für Leute wie mich, die sich gedanklich gerne in die sorgenfreie Vergangenheit beamen. Für die Kinder in den 90ern ist Polly Pocket aber der absolute Shit. Kleine Plastikschatullen zum Aufklappen, die im Inneren wie ein Café, eine Mini-Tierklinik oder wie die Art von Jugendzimmer aussehen, von dem wir in unserem Reich aus Luftmatratzen nur träumen können. Manche Elemente kann man ausklappen oder drehen. Die kleinen Menschenfiguren oder Tiere lassen sich herausnehmen. Wenn man fertig ist mit Spielen, wirft man alle losen Figürchen einfach wieder in die Schatulle und klappt sie zu. In der Theorie bedeutete das, immer einen Mini-Koffer voller Spaß dabeizuhaben. In der Realität verliert man die kleineren Teile meistens innerhalb kürzester Zeit. Im Nachhinein ist es eigentlich lächerlich, wie winzig diese Plastikweltchen waren.

Auch Ensingen, das ist uns damals schon klar, ist winzig. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Steinen, die man in einen Bach werfen kann, nur eine begrenzte Anzahl von noch unentdeckten Verstecken im Garten, bevor es langweilig wird. Der Fernsehbildschirm übt deswegen eine magische Anziehungskraft auf uns aus. Mit großen Augen versammeln wir uns vor dem Röhrenfernseher und schalten durch die Programme. Jeder Sender ist eine neue Welt, die so viel größer ist als Ensingen oder die Polly-Pocket-Welt aus Plastik.

Heute kann ich mir kaum noch vorstellen, bestimmte Shows oder Filme nur dann sehen zu können, wenn ich zu einer ganz bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Ort einen ganz bestimmten Sender einschalte. Andererseits schweißt es irgendwie zusammen, zur gleichen Zeit wie alle anderen die gleiche Seherfahrung zu machen. Haben die Kinder von heute so etwas Ikonisches wie den Anime-Nachmittag auf RTL 2, worüber sie sich aufgeregt in der großen Pause unterhalten können? Keine Ahnung. Vielleicht fühlt sich im Nachhinein aber auch immer alles besser an. Es läuft damals nämlich auch ziemlich viel Quatsch im Fernsehen.

Meinen Geschwistern und mir geht es in diesen Momenten aber sowieso nicht darum, uns etwas Grandioses erzählen zu lassen. Wir suchen nach dem perfekten Schauplatz für eine unserer liebsten Beschäftigungen: Jeder sucht sich einen Charakter aus einer Show aus und synchronisiert ihn spontan neu. Quasi die Urform des Reaction-Videos, gemischt mit Rollenspiel-Elementen und dem Wunsch danach, uns selbst auszudrücken. Kein Wunder, dass ich irgendwann mit YouTube angefangen habe. Ich habe seit frühester Kindheit dafür trainiert!

Während dieses gemeinsamen Spiels herrscht immer Einigkeit zwischen uns. Eine Einigkeit, die in der beengten Wohnung ansonsten nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit. Doch egal, wie sehr wir uns streiten und mit Tränen in den Augen anbrüllen, weil irgendjemand irgendwas genommen und nicht zurückgegeben hat – am Schluss vertragen wir uns wieder.

Trotzdem frage ich mich, wie unsere Eltern das mit uns ausgehalten haben. Immer, wenn mir alles zu viel wird, denke ich mir: Du hast Stress? Du hast einen Job, von dem andere träumen. Deine Mutter hat ganz alleine vier Kinder und einen studierenden Mann durchgebracht, und das mit einem Job, mit dem sie einen Bruchteil deines Einkommens verdient hat!

Natürlich geht es einem nicht besser, nur weil man weiß, dass es anderen Personen schlechter ging. Aber manchmal hilft es mir, schwierige Situationen durchzustehen, wenn ich daran denke, was andere schon geschafft haben. Was meine Mutter geschafft hat. Der Respekt, den ich für sie habe, ist riesig. Den Druck, der auf ihren Schultern gelastet haben muss, hat sie sich uns gegenüber nie anmerken lassen. Sie war Mutter und Versorgerin, emotionaler Anker und beste Freundin in einer Person.

Auch mein Vater war ein wichtiger Bestandteil meiner Kindheit. Der riesige Mann mit der Brille und dem großen Afro. Man hätte ihn nicht einmal dann vergessen können, wenn man wollte. Wir waren seine chaotische Patchworkfamilie, für die er neben seinem stressigen Studium und der Ausbildung zum Facharzt immer Zeit gefunden hat. Egal ob die beiden leiblichen Kinder oder meine Halbgeschwister, er war für uns alle da. Unter der Woche arbeitete er hart für sein Studium. Am Wochenende ging’s dann mit uns ins Schwimmbad. Hauptsache raus, Hauptsache irgendwas unternehmen. Seine Liebe so zu zeigen, fiel ihm leichter, als über Gefühle zu reden. Wenn er mich ins Bett brachte, verabschiedete ich ihn jeden Abend mit einem »Hab dich lieb«, bevor ich mir die Decke über den Kopf zog. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft er mir in diesen Jahren das Gleiche geantwortet hat. Sein Herz ist so groß, vielleicht weiß er manchmal selbst nicht, wie er damit umgehen soll.

Ich glaube nicht, dass er jemals bereut hat, meine Mutter in so jungen Jahren geheiratet zu haben. Einfach war es aber bestimmt nicht. Trotz vieler Umzüge bleibt immer spürbar, dass andere ihre Beziehung ablehnen. Rassismus ist auch heute noch ein großes Problem, in den 1990ern ist er aber noch eine ganze Spur alltäglicher. In meiner Jugend gibt es keine Hashtags und öffentliche Diskussionen über Alltagsrassismus. Eingewanderte Menschen und ihre Familien sind damals einfach nur »die Ausländer«, und die kennen viele Deutsche nur aus irgendwelchen Comedy-Programmen im Fernsehen, in denen Menschen wie mein Vater, Menschen wie ich, oft auf Klischees reduziert werden. Auf Faulheits-Stereotype und Slang, der nichts mit meiner Realität zu tun hat.

Die einzige Chance scheint für viele die absolute Anpassung zu sein. Meinem türkischen Großvater war es wichtig, mit seiner Familie nicht in ein klassisches Gastarbeiterviertel zu ziehen. Er wollte unter Deutschen leben, gar nicht erst den Eindruck erwecken, sich nicht in seine neue Heimat einfügen zu wollen. So hat er auch meinen Vater erzogen. Der spricht akzentfreies Deutsch und ist so gut integriert, wie man überhaupt nur integriert sein kann. Sein Abitur besteht er mit 1,0. Auch das Medizinstudium schafft er erfolgreich, trotz finanzieller Sorgen und mittlerweile vier Kindern.

Harte Arbeit lohnt sich, hört man immer. Leistung führt zu Erfolg, wer gut qualifiziert ist, wird auch einen Job bekommen. Doch gut ist nicht gut genug, wenn man den falschen Nachnamen hat.

Als mein Vater mir Jahre später erzählte, wie schwer er es nach seinem Studium hatte, war ich geschockt. Seine deutschen Kollegen schicken im Schnitt fünfzehn Bewerbungen, bevor sie eine Stelle bekommen, sagte er. Er schreibt hundertfünfzig. Als er sich auf Positionen in Bayern bewirbt, wird ihm gesagt: Wir nehmen keine Ausländer.

Schließlich findet er doch eine Stelle als Facharzt in Stuttgart. Meine Eltern haben jetzt zwar beide einen Job, die Stadt ist für eine Familie mit vier Kindern trotzdem zu teuer. Wir ziehen nach Sachsenheim. Mein Vater fährt die dreißig Kilometer bis Stuttgart täglich mit dem Auto. Wir sind jetzt Mittelschicht. Statt Luftmatratzen haben wir richtige Betten. Viel wichtiger ist für mich allerdings, dass ich mit sechs Jahren endlich mein eigenes Zimmer bekomme. Weiße Wände, lilafarbener Teppich. Scheußlich eigentlich, doch für die kleine Gnu ist es der Himmel. Etwas ganz für mich allein, mein eigenes Reich.

Auch für meine Eltern muss der Umzug nach Sachsenheim eine große Erleichterung gewesen sein. Nach einer Odyssee durch viele winzige Wohnungen endlich irgendwo ankommen. Dem Urteil der Außenwelt können sie trotzdem nicht entfliehen. Ich erinnere mich an mehrere Situationen, in denen die Nachbarin von nebenan wütend zu meinen Eltern kommt und behauptet, wir hätten irgendeine Hauswand beschmiert oder etwas kaputt gemacht. Beweise hat sie dafür nicht. Kann sie auch gar nicht haben. Wir haben nichts getan! Für sie ist jedoch klar: In einer weißen Nachbarschaft muss es die deutsch-türkische Familie sein, die Ärger macht. Wegen jedem Schwachsinn klingelt sie bei uns an der Tür. Manchmal schreit sie auch aus dem Fenster, sodass man es durch die ganze Straße hört.

Wenn mein türkischer Großvater zu Besuch ist und mit uns durch die Nachbarschaft läuft, erntet er ihre bösen Blicke. Ihr gehört hier nicht hin, sagen ihre Augen. Offen würde sie das so nicht aussprechen. Denn das wäre rassistisch, und auch in den 1990ern will eine Rassistin sich nicht als Rassistin bezeichnen lassen. Aber sie meint es, und wir wissen es. Meinem Großvater, der alles dafür getan hat, in Deutschland anzukommen, muss es das Herz gebrochen haben.

Mein Vater reagiert auf diese Ablehnung, indem er noch härter arbeitet, erfolgreicher wird, schnell aufsteigt und schließlich seine erste eigene Praxis eröffnen kann. Jetzt steht ein schönes Auto vor unserem Haus. Doch das scheint unsere Nachbarin noch wütender zu machen. Ich spreche hier nur von einer Person, um dem Rassismus ein Gesicht zu geben. Doch die Ablehnung ist immer präsent. Ich bin damals nur zu jung, um zu verstehen, was sie bedeutet.

In meiner Welt sind alle gleich. »Jasmin ist freundlich und offen, sie schließt niemanden aus und spielt mit allen Kindern«, heißt es erst aus dem Kindergarten, später steht es ähnlich in meinen Zeugnissen. Ich bin froh, dass meine Eltern mir diese Lektion beigebracht haben. Dass ich eine sorglose frühe Kindheit haben durfte, in der mir immer vermittelt wurde: Es ist okay, wie du bist. Wir sind eine Familie. Wir lieben dich.

Neben ihrer Liebe und Unterstützung haben sie mir jedoch noch etwas anderes geschenkt, ohne das ich nie zu der Gnu geworden wäre, die ihr heute kennt. Sie haben in mir die Begeisterung für etwas geweckt, was mein Leben für immer verändert hat: Videospiele.

Kapitel 2

Meine erste große Liebe – Videospiele

Wellen, die an einen weißen, endlos wirkenden Sandstrand schwappen. Ich fühle mich, als wäre ich mitten in einem Reisekatalog gelandet. Dazu Gesänge, die klingen, als würde ich inmitten einer riesigen Kirche stehen. Ich fliege über das Meer, immer schneller, bis sich das Blau in eine ausgedörrte Wüste verwandelt. Die Musik wird lauter. Aus dem toten Sand wird eine Blumenwiese. Ich erkenne Menschen. Eine Frau, die nachdenklich in die Ferne starrt. Ein entschlossenes Männergesicht. Plötzlich wird es dunkel. Wo eben noch Blüten und Federn durch die Lüfte getanzt sind, fällt ein Schwert vom Himmel. Kämpfende Krieger. Eine mysteriöse Frau. Schnelle Schnitte zwischen Blut, Krieg und zwei Figuren, die magisch voneinander angezogen scheinen.

Meine Aufregung steigt. Ich widerstehe dem Drang, meiner Schwester einen kurzen Blick zuzuwerfen, um zu sehen, ob sie auch nicht fassen kann, was wir da gerade gemeinsam erleben. Nein, jetzt gerade gibt es nur mich und das epische Abenteuer, das vor uns liegt. Mit großen Augen und offenem Mund starre ich auf den Fernsehbildschirm. Dann taucht ein Schriftzug auf: Final Fantasy VIII. Dahinter der Mann und die Blumenwiesen-Frau aus dem Trailer, die sich in den Armen liegen. Ich kann meine Gefühle kaum beschreiben. In meinen bisherigen zehn Lebensjahren hat mich noch kein Videospiel so sprachlos gemacht. Ich weiß nur: Ich möchte sofort in diese Welt eintauchen.

Nach heutigen Maßstäben sieht das Intro schockierend unspektakulär aus. Die Oberflächen wirken matschig. Die Charaktere sind so überzeichnet, als wollten sie einem auf den ersten Blick verraten, ob sie gut oder böse sind. Die Musik scheppert. Trotzdem ist unsere Playstation 1 an diesem Nachmittag im Jahre 1999 am Maximum ihrer Leistungsfähigkeit. Und ich bin komplett von den Socken. Worum wird hier eigentlich gekämpft? Wer ist die mysteriöse Frau mit dem krassen Outfit? Werden wir in die Haut des Kriegers mit dem Feder-Schwert schlüpfen, um die Frau von der Blumenwiese und den Rest der Welt vor den bösen Mächten zu retten?

Endlich drehe ich mich zu meiner großen Schwester um. Ich brauche ihre Bestätigung nicht, um zu wissen, dass das gerade ein Erweckungsmoment für mich war. Trotzdem will ich wissen, was sie denkt. Ich muss diesen Moment mit jemandem teilen.

»Und?«, fragt mein erwartungsvoller Blick. Ich muss die Worte nicht einmal aussprechen.

Meine Schwester setzt sich auf und schaltet mit einem kurz angebundenen »Ist nichts für mich!« die Playstation aus. Das Thema Final Fantasy ist für sie damit erledigt.

Ich bleibe fassungslos vor dem Fernseher zurück. Wie können wir beide nur verwandt sein?

In den kommenden Wochen zeige ich das Intro all meinen Freundinnen und Freunden. Jedes einzelne Bild ist bereits tief in mein Gehirn eingebrannt, trotzdem kriege ich jedes Mal aufs Neue ein Kribbeln im Bauch, wenn der Titelbildschirm erscheint. Das ist über zwanzig Jahre her. Das Kribbeln ist geblieben. Videospiele sind eine der großen Lieben meines Lebens. Das weiß ich damals noch nicht, ich ahne es nur. Aber ich brauche Verbündete. Ich muss mit jemandem darüber reden können! Also starre ich in die Gesichter meiner Freunde und warte verzweifelt darauf, irgendein Anzeichen von Begeisterung darin zu entdecken.

Es ist nicht so, dass Ende der 90er niemand Lust auf Zocken hätte. Natürlich finden es alle irgendwie cool, vor dem TV-Bildschirm zu sitzen und auf Aliens zu schießen oder mit einem italienischen Klempner durch absurde bunte Level zu hüpfen. Wer einen Gameboy hat, ist nie allein und wird regelmäßig angefleht, ihn mal ganz kurz auszuborgen.

Trotzdem merke ich, dass sich da ein Graben zwischen mir und meinen Freunden auftut, während ich ihnen das Final Fantasy-Intro zeige. Für sie ist es eine pixelige Einführung in irgendeine weitere interaktive Geschichte, von der man sich mit hektischem Knopfgedrücke ein paar Stunden unterhalten lässt, bevor man den Controller gelangweilt in die Ecke feuert und nie wieder über das Spiel nachdenkt. Für mich ist es das Versprechen von etwas Großem, was ich noch gar nicht so richtig fassen kann. Ich möchte nicht einfach nur irgendetwas spielen, ich möchte darin aufgehen.

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich das Intro zu Final Fantasy VIII vorgeführt haben muss. Am Schluss bleibt genau eine Freundin übrig, die meine Begeisterung teilt: Ruby. Manche von euch kennen sie vielleicht sogar von meinem YouTube-Kanal. Wir werden unzertrennlich. Von ihr werde ich euch später noch mehr erzählen.

Final Fantasy VIII ist nicht mein erstes Spiel. Meine Karriere als Zockerin beginnt schon etwas früher. Nach unserem Umzug nach Sachsenheim verdient mein Vater mehr Geld und schenkt uns, was vorher einfach nicht drin war: zwei Videospielkonsolen. Eine Playstation 1 und ein Nintendo 64.

Klingt, als wären meine Eltern die großzügigsten Menschen aller Zeiten, oder? Ganz so uneigennützig handeln sie damit aber nicht. Mein Verdacht ist: Wir haben die Konsolen nur deshalb bekommen, weil meine Mutter im Herzen eine richtige Gamerin ist. Und mit mehreren Kindern in und kurz vor der Pubertät hat sie natürlich die perfekte Ausrede, um sich mit allem einzudecken, was im Videospielbereich gerade aktuell ist.

Für mich ist das der absolute Jackpot. Ich kriege das, wofür andere jahrelang ihr Taschengeld ansparen müssen. Gleichzeitig habe ich mit meiner Mutter die perfekte Spielpartnerin, die mich durch alle schwierigen Passagen lotst. Statt damit zu drohen, mir die Konsole wegzunehmen, wenn ich wieder zu lange spiele, setzt sie sich unter den ungläubigen Blicken meiner Schwester einfach dazu. Schnell finden wir beide ein erstes gemeinsames Lieblingsspiel: Castlevania.

Kommt euch bekannt vor? Kein Wunder, mittlerweile gibt es sogar eine Netflix-Serie dazu! Ich spreche hier aber von dem Spiel, das Ende der 90er für Nintendo 64 erschien. Eigentlich witzig, wenn man mal darüber nachdenkt: Was ich als Kind bis zum Umfallen gezockt habe, holt heute als Serie eine ganz neue Generation ab. Wenn man mir damals gesagt hätte, dass aus der Geschichte um einen Vampirjäger, der sich einmal quer durch das Schloss von Graf Dracula schlachtet, eine Serie wird – ich hätte es sofort geglaubt.

Castlevania auf dem Nintendo 64 hat alles, was ich damals als aufregend und cool empfinde: Werwölfe, Zombies, eine gruselige Atmosphäre und jede Menge Waffen, die ich aus Filmen kenne, die ich mit zehn eigentlich noch gar nicht gucken darf. Wer nur einmal auf meinem YouTube-Kanal vorbeigeguckt hat, weiß: Ich liebe Horrorspiele. Vielleicht hätte ich diese Leidenschaft ohne Castlevania nie entdeckt.

Meine Mutter und ich verbringen zusammengerechnet Tage vor dem Fernseher in meinem Zimmer, die Hände angespannt um den Controller gekrampft. Gemeinsam gruseln macht eben mehr Spaß. Google sagt, die durchschnittliche Spieldauer von Castlevania liegt bei um die neun Stunden. Insgesamt spielen wir das Spiel innerhalb kürzester Zeit bestimmt zehnmal durch.

Ich genieße es als Kind sehr, meine Leidenschaft mit meiner Mutter teilen zu können. Außenstehende hätten wahrscheinlich nie vermutet, dass die kleine, gepflegte Frau mit den Blumenkleidern, die immer so nett ist, ihre Freizeit mit Zocken verbringt.

Als im Jahr 2000 das erste Sims-Spiel für den PC rauskommt, ist die Zeit des gemeinsamen Spielens jedoch erst mal vorbei. Nicht weil ich darin versinke, vielmehr taucht meine Mutter komplett ab und sitzt bis 6 Uhr morgens vor ihrer selbst zusammengestellten Pixel-Familie. Ob ich sie fragen sollte, wie viele ihrer Sims sie damals absichtlich angezündet oder im Pool ertränkt hat? Lieber nicht. Aber falls ihr euch jemals gefragt habt, woher meine große Liebe für soziopathische Sims-Experimente auf meinem YouTube-Kanal kommen könnte, habt ihr nun einen guten Hinweis. Manche Dinge bleiben eben in der Familie.

Auch mein Halbbruder ist ein begeisterter Zocker. Als Kinder verbringen wir sehr viel Zeit gemeinsam vor der Konsole. Heute ist er über vierzig, und ich weiß immer ganz genau, wann seine Frau und seine Kinder nicht zu Hause sind. Dann ploppt nämlich sein Nutzername bei Steam auf, weil er Elder Scrolls spielt. Ob sich seine Kinder vorstellen können, wie ihr Papa als Teenager schreiend einen Controller wegwirft, weil er von seinen kleinen Halbschwestern bei Mario Kart 64 abgezogen wurde? Wahrscheinlich nicht.

Ich habe ihm damals unzählige Spiele geklaut, um sie heimlich in meiner kleinen Zockerhöhle spielen zu können. Für die meisten war ich noch viel zu jung. Natürlich sind meine Raubzüge schnell aufgeflogen, denn ohne das physische Spiel konnte er selbst nicht zocken. Eigentlich ein Wunder, dass wir uns trotzdem so gut verstanden haben. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn sich ständig jemand mit dem aktuellen Resident Evil aus meinem Zimmer schleicht, sobald ich kurz weg bin.

Zocken in den 1990ern ist komplett anders, als wir es heute kennen. Ob ein Spiel gut ist, erfährt man vor allem von Bekannten, die es bereits gespielt haben. Let’s Plays oder Streams gibt es noch nicht, mit denen man sich einen ersten Eindruck verschaffen könnte.

Wenn ich ein Spiel haben will, muss ich zum örtlichen Elektronikgeschäft laufen und darauf hoffen, dass Majora’s Mask nicht schon wieder ausverkauft ist. Entspannt zu Hause sitzen und das Spiel, auf das man gerade Lust hat, einfach runterladen? Undenkbar. Große Webseiten wie Adult Swim oder Newgrounds, auf denen man verschiedene Spiele direkt im Browser spielen kann, kommen auch erst später. Nein, ein Videospiel ist für die kleine Gnu eine aufwendige Besorgung, die wohlüberlegt sein will.

Von meinem Taschengeld kaufe ich mir Lösungsbücher und Gaming-Magazine. Manchmal sind komplette Spiele oder zumindest Demos dabei. Eine Zeit lang gibt es sogar Computerspiele in Kellogg’s-Packungen! Ich spiele alles, was mir in die Finger kommt. Vieles sogar immer und immer wieder, wie Castlevania. Die Spiele sind damals deutlich kürzer als heute. Immerhin müssen sie auf eine überschaubare Anzahl an CDs passen, die deutlich weniger Speicherplatz bieten als die späteren DVDs oder Blu-rays, von Festplattenkapazitäten ganz zu schweigen. Die großen Releases pro Jahr kann man an einer Hand abzählen.

Es gibt keine riesengroßen Maps, auf denen hinter jeder Markierung eine neue Mission wartet. Keine Skyrims oder Assassin’s Creeds, die Hunderte Stunden pro Playthrough schlucken, wenn man jede kleine Nebenmission mitnimmt. Die meisten Videospiele wollen noch keine filmähnlichen großen Geschichten erzählen. Die Tatsache, dass man eine Figur auf einem Bildschirm durch zunehmend komplizierter werdende Level steuern kann, ist Verkaufsargument genug. Einer der größten Story-Twists der damaligen Zeit ist die Tatsache, dass sich Samus aus Metroid am Ende des Spiels als Frau entpuppt.

Eigentlich schade, dass das so eine große Überraschung war. Aber Videospiel-Protagonisten waren im Zweifelsfall eben männlich. Vor allem, wenn sie stark sein mussten. Frauen waren die, die gerettet wurden oder zumindest hübsch auszusehen hatten. Selbst Lara Croft musste ihren Badass-Status hinter riesigen Brüsten verstecken. Aber darüber sprechen wir noch.

Auch wenn es für die kleine Gnu Ende der 90er nur wenige Charaktere gibt, mit denen sie sich wirklich identifizieren kann: Videospiele sind die ultimative Machtfantasie für mich. Nicht, weil ich als Vampirjäger in Castlevania lauter krasse Monster besiegen kann, gegen die ich im echten Leben nie eine Chance hätte. Also, wahrscheinlich auch, um ehrlich zu sein. Aber nicht nur. Das größte und für mich wichtigste Versprechen ist, in eine Welt abtauchen zu können, die ich komplett kontrolliere. Ich werde mit keiner Situation konfrontiert, die ich nicht lösen kann. Und wenn ich es beim ersten Mal nicht hinkriege, Graf Dracula seine Eckzähne sprichwörtlich in den Hintern zu rammen, probiere ich es eben so lange, bis es klappt. Ich fühle mich meiner Figur zwar näher, je stressiger es wird. Aber im Gegensatz zu ihr kann ich selbst entscheiden, was als Nächstes passiert.

Wenn ich es mir in Decken eingewickelt vor der Konsole in meinem Kinderzimmer gemütlich mache, weiß ich, dass mich nichts überraschen kann. Zumindest nicht so richtig. Horrorfilme können einen kalt erwischen. Wenn plötzlich der Clown aus Es auftaucht, verschwindet mein Kopf schneller unter der Decke, als ein roter Luftballon zerplatzen kann. Mit heftig pochendem Herzen warte ich dann darauf, dass eins meiner Geschwister mir Entwarnung gibt. Oder die Dialoge aus den Fernsehboxen klingen, als wäre die gruselige Situation vorbei.

In Games, das merke ich schnell, kündigen sich selbst die schlimmsten Überraschungsmomente an. Die Musik wird plötzlich lauter, leiser oder generell stressiger. Das Sichtfeld verzerrt sich oder wird dunkler. Manche pixeligen Videospielgänge schreien einem fast entgegen: Achtung, hier springt gleich total überraschend ein gruseliges Monster raus! Gleich wirst du dich richtig erschrecken, versprochen!

Es sind diese Momente, in denen Schisser-Gnu für einen Moment innehält. Ich bereite mich innerlich auf eine Situation vor, in der ich ziemlich sicher Angst haben werde. Ich kann es hinauszögern oder verhindern.

Wenn eine Freundin, mein Halbbruder oder meine Mutter neben mir sitzen, kann ich ihnen den Controller geben. Oder mir zumindest die Gewissheit abholen, dass wir uns gleich gemeinsam in die Hose machen. Selbst das hilft ja manchmal. Sobald ich meinen Spielcharakter weiterlaufen lasse, habe ich die bewusste Entscheidung dazu getroffen, bereit zu sein. Bereit für was auch immer mich gleich erwartet.

Ich wünschte, das echte Leben wäre ähnlich. Wissen, wann es schlimm wird, und sich vorher darauf einstellen können. Eine Situation einfach pausieren, wenn sie unerträglich wird, und erst mal nachdenken. Wenn ich aus meiner Erfahrung mit Horror-Games etwas gelernt habe, dann vielleicht das: Laufe nie blind in eine Gefahr hinein. Wenn ein Gang aussieht, als würde gleich etwas Gruseliges passieren, dann passiert es wahrscheinlich auch. Wenn wir im echten Leben die Chance bekommen, innezuhalten, bevor wir uns einer Situation stellen, sollten wir das viel öfter tun. Leider fehlt viel zu häufig der Pause-Knopf.

Schon als Kind merke ich: Am meisten macht mir Zocken Spaß, wenn ich es mit jemandem teilen kann. Wenn ich zu einem großen Abenteuer aufbreche, wenn es in meinen Händen liegt, die Welt zu retten oder eine Prinzessin aus dem Schloss einer bösen Riesenschildkröte – so was mache ich doch nicht allein!

Ich weiß nicht, ob ich irgendwann mit YouTube angefangen hätte, wenn meine ersten Erfahrungen mit Spielen nicht so viel mit Gemeinschaft zu tun gehabt hätten. Früher saß ich bis spät in der Nacht mit einer Freundin oder meinen Geschwistern oder meiner Mutter vor der Playstation oder dem Nintendo 64. Heute spiele ich mit anderen Leuten von YouTube oder Twitch. Meine Community schaut mir über die Schulter. Ich kann den Controller nicht abgeben, wenn ich mich fürchte oder nicht weiterkomme. Aber ich bin nicht allein. Ich kann meine Erfahrungen teilen.

Als wir irgendwann in der Schule gefragt werden, was wir später mal werden wollen, schreibe ich »Gaming-Moderatorin« auf einen Zettel. Spätestens seit meinem Final Fantasy-Moment weiß ich, dass es nichts gibt, was mich mehr fasziniert. Ich frage mich, was mein Vater damals dachte. Er mit seinem Einser-Schnitt und dem Medizinstudium und die kleine Gnu, die einfach nur zocken will. Aber Games, das zeichnet sich damals schon langsam ab, sind ein richtiges Berufsfeld.

Im Fernsehen läuft seit Ende 2000 GIGA Games, 2006 folgt Game One mit Budi und Simon. Wenn die das können, warum sollte ich das nicht auch schaffen? Irgendwie, irgendwann? Über fünfzehn Jahre später werde ich bei Rocket Beans TV sitzen und mit den Leuten zocken, die ich früher angebetet habe. Kneift mich mal bitte, damit ich weiß, dass das kein Traum ist!