Du wachst auf, und dein Leben ist weg - Max Rinneberg - E-Book

Du wachst auf, und dein Leben ist weg E-Book

Max Rinneberg

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Beschreibung

Durch einen Treppensturz verliert der 17-jährige Max Rinneberg sein Gedächtnis. Als er nach kurzer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus aufwacht, erkennt er seine Eltern und Freunde nicht mehr. Auch seinen früheren Hobbys, wie Marathonlauf und Fußball, kann er nichts mehr abgewinnen. Zwar kann er noch sprechen und schreiben, kennt die Dinge des Alltags, aber sein biografischepisodisches Gedächtnis, das Archiv der persönlichen Lebensgeschichte, ist gelöscht. Mühsam muss der heute 26-Jährige sich Vergessenes zurückerobern und sich selbst neu erfinden. Das geht nicht ohne eine existenzielle Krise. Wie lebt man ohne Vergangenheit? Ist man noch derselbe? Ist es nur ein Verlust oder auch eine neue Freiheit? Eine ergreifende Lebensgeschichte, die die Frage nach der eigenen Identität auf ungewohnte Weise neu stellt.

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Max Rinneberg mit Ulrich Beckers

Du wachst auf, und dein Leben ist weg

Die Geschichte meines Gedächtnisverlusts

Patmos Verlag

Inhalt

AUFWACHEN

STIMMEN

FLASHBACK

CHRISTINA

PAPA ANTE PORTAS

EXKURSION

CUT

JUGENDALBUM

ASCHAFFENBURG

FLUG AN DIE THEMSE

SCHRÄG

REIZE

ERSTER SCHULTAG

ACHTZEHN

FREMDES FEST

PANTOFFELN IM SCHNEE

BAD GLEISWEILER

REDEN UND SÄGEN

HERZKLOPFEN

HALBZEIT

HEIMELIGER ABSTURZ

RETTUNGSANKER

WOHLFÜHLORT

LIEBESFLUCHT

KARIBISCHE FREIHEIT

LETZTE AUSFAHRT ELBA

FLIESEN UND DRINKS

ZWEI PAAR SCHUHE

HINTER DER THEKE

ZUM SCHLUSS

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

VORWORT

Stell dir vor, du wachst auf …

Jeden Morgen unseres Lebens passiert genau das: Wir tauchen auf an die Oberfläche, unser Bewusstsein meldet sich zurück. Und doch ist es unbeschreiblich: Was genau ist da los?

Wir waren weit weg und wir kommen wieder. Kaum zu fassen, was da alles geschieht, was unser Hirn leistet in einem einzigen Augenblick, dem des Erwachens:

Während der Körper langsam hochfährt und Beweglichkeit und Funktionsfähigkeit wiederherstellt, passieren in unserem Bewusstsein seltsame Dinge: Gerade noch waren wir im Nichts, waren Namenlose in schwarzer Leere, hatten kein »Ich« – und jetzt, einen Lidschlag später, setzt sich alles auf wundersame Weise zusammen: Wir erkennen uns wieder, benennen wieder Dinge, vernetzen alles mit allem, wissen und erinnern uns: Wer wir sind und wie wir heißen und wer die anderen sind, wie spät es ist, wo wir sind und was das alles zu bedeuten hat. Wir stellen erste Vermutungen an, was der heutige Tag uns wohl bringen wird. Eben noch waren wir ein unbeschriebenes Blatt und einen Moment später ist dieses Blatt voll, ist da wieder ein Skript, ein hochkomplexer Plan.

Wir erfinden uns neu und sind doch die Alten, bei jedem Erwachen, von null auf hundert im Bruchteil einer Sekunde.

Stell dir vor, du wachst auf. Und all das passiert nicht.

Wer sind wir – ohne die Erinnerung an unsere Lebensgeschichte? Ohne das innere Fotoalbum, die unzähligen Geschichten, Querverbindungen und Episoden? Ohne unseren Namen, ohne das Vertrauen in unsere Liebsten? Sind wir dann überhaupt »jemand« – oder fängt alles bei null an?

Ist so etwas wie Identität ohne die unzähligen Zusammenhänge unserer Lebensgeschichte überhaupt vorstellbar?

Die Idee, die eigene Vita auf Reset zu setzen, ist eine oft bemühte Fantasie. Man kennt sie als Handwerkszeug von Thrillerautoren: Der feindliche Spion gerät in Gefangenschaft und wird seiner Persönlichkeit beraubt; nach der Gehirnwäsche und mit neuer Identität ausgestattet, wird er zum perfekten Instrument seiner neuen Auftraggeber.

Ganz andere Gründe, zu vergessen, haben Menschen mit schweren Traumata: Für sie ist ihre Vergangenheit ein Quell des Leidens, sie sehnen sich nach der Befreiung aus den Klauen ihrer eigenen Geschichte. »Dissoziativ« nennt man diese Form der Amnesie, sie ist eine Art Notfallprogramm: das Vergessen als Ausblenden des Unerträglichen. Hypnose und andere Verfahren können in Einzelfällen helfen, traumatische Erlebnisbereiche neu zu entdecken, vielleicht auch neu zu bewerten.

Nicht wenige Berühmtheiten haben solche schweren Traumata im Gepäck ihrer Vita: Celebritys wie Michael Jackson haben ein Leben lang daran gearbeitet, sich selbst neu zu erfinden, um nicht die Last der alten Identität ertragen zu müssen.

Und dann sind da noch die Weisheitslehrer, die Philosophen und die Zen-Buddhisten: Für sie ist die Idee der eigenen Vergangenheit – genau wie die einer Zukunft – ein Produkt des Verstandes, eine Illusion. Die Vorstellung eines individuellen Selbst, das sich aus seiner eigenen Geschichte speist, empfinden sie als mentale und spirituelle Begrenzung, die es zu überwinden gilt: Nur das Jetzt zählt. Die Vergangenheit ist nicht real. So wenig wie die Zukunft. Nur im Moment gibt es die Befreiung von der Illusion einer eigenen Identität.

Aber was bleibt von uns – ohne diese Identität?

Als Max Rinneberg am 24. 10. 2008 nach einem Sturz auf den Kopf im Krankenhaus erwacht, sieht zunächst nichts nach einem medizinischen Drama aus: Der Siebzehnjährige hat nur eine kurze Phase in der Bewusstlosigkeit verbracht, es wird ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten bis dritten Grades diagnostiziert. Die medizinischen Untersuchungen lassen auf keine direkte Hirnschädigung schließen, sein Körper ist nur leicht verletzt. Und er hat Schwierigkeiten, sich an irgendetwas vor dem Unfall zu erinnern.

Die Ärzte diagnostizieren das Ausbleiben der geistigen Orientierung als retrograde und temporär begrenzte Amnesie – das ist nichts Ungewöhnliches nach einer Gehirnerschütterung.

Doch das Vergessen entpuppt sich als langfristiges Problem: Max’ Erinnerungen an sein altes Leben bleiben auch nach Wochen aus. Das prozedurale Gedächtnis als Hort der Fähigkeiten und der Großteil der Wissenssysteme haben nur leichten Schaden genommen. Aber das biografisch-episodische Gedächtnis, das Archiv der persönlichen Lebensgeschichte, scheint komplett gelöscht.

Medizinisch ist der Fall ein Rätsel: Das »Vergessen« der eigenen Lebensgeschichte, also das dissoziative Verdrängungsvergessen ist normalerweise Folge einer psychischen Schädigung. Etwaige psychische Traumata sind aber in Max’ Leben nicht feststellbar.

Wie wird ein siebzehn Jahre junger Mann fertig mit dieser Situation? Was sind Max’ Schritte zurück ins Leben? Und was gibt ihm die Hoffnung wieder?

Stell dir vor, du wachst auf – und dein Leben ist weg.

AUFWACHEN

Am Anfang ist der Atem.

Es hebt und senkt sich, immer wieder. Luft strömt aus und ein. Macht wieder Platz für neue Luft, die einströmt und wieder hinausweicht.

Es ist ein Auf und Ab, ein tiefer Rhythmus, etwas, das aus sich heraus lebt und pulsiert. Es ist beruhigend und köstlich: Frische Luft belebt mich. Sie ist alles, was ich brauche.

Der Sauerstoff ist mein Elixier: Wie leuchtende Flüssigkeit strömt er in meine Lungen, fließt durch alle Bahnen, Adern, Verästelungen, wie ein breiter Strom mäandert er sich bis in die tiefsten Niederungen meiner Körperlandschaft; er vergoldet alles und erweckt es zum Leben.

Mir wird warm und ich habe ein gutes Gefühl.

Ich atme.

Mein Körper erwacht, die Organe regen sich. Ich spüre das Herz, das auf dem Weg ist und schlägt, eine tiefe Trommel in meiner Mitte, es ist im Einklang mit dem Atem. Ich muss nichts tun: Es arbeitet und lebt aus sich. Mein Körper hat einen Plan, alles ist im Fluss. Und ich stehe am Rande dieses Flusses, staunend und sprachlos.

Der Fluss ist stark und er ist eine Einladung an mich: Willkommen im Leben.

Ich habe ein gutes Gefühl. Ich lebe und ich will leben.

Irgendwo setzt das Denken ein.

Worte bilden sich, klar und deutlich, sie reihen sich aneinander, bilden Sätze, einfache Gedanken. Es sind Vermutungen und Fragen.

Wie arbeitet dieser Körper? Bin ich sein Bewohner? Wie hängt das alles zusammen?

Bewusstsein meldet sich: Wer ist das, der diese Fragen stellt? Bin das ich? Und wer ist ich?

Da ist diese weite Ahnung, dass etwas auf mich zukommt: das Leben. Ich bin dabei, Erfahrungen zu machen. Ich bin neugeboren. Ich bin unwissend und neugierig.

Ich bin frei.

Mein Denken macht jetzt eine Pause. Irgendwo ist da noch etwas Größeres, etwas außerhalb von mir. Ich kann es spüren. Es ist im ersten Moment anders und es verängstigt mich, mein Atem stockt: Da ist Umgebung: die Welt draußen, außerhalb meines Körpers.

Gerade noch war ich tief im Innen, zeitlos und im tiefen Frieden. Nun ist es das Jetzt, das Hier, der Moment: Ich erwache.

Ich lasse mich darauf ein, beginne, diesen Moment, diesen Ort wahr werden zu lassen. Da ist ein deutlicher Unterschied: Das, was ich im Innern spüre, in meinem Körper. Und dann das andere, das, was außer mir ist. Was ist da?

Ich rieche, lausche, fühle.

Ich liege da, auf meinem Rücken, mein Körper ist gebettet. Von allen Seiten ist er in eine Hülle verpackt, in ein Zelt aus Watte. Irgendwo unten, an meinen Zehenspitzen, fällt diese mollige Temperatur ab, die Zehen sind kühler, fast ein bisschen frisch ist es dort. Dort endet der Kokon, öffnet sich dem Außen. Meine Arme liegen links und rechts passiv neben meinem Körper, lang und ausgestreckt. Der linke fühlt sich kühler an als der rechte. Wie an den Zehenspitzen zieht es auch dort, scheint auch der linke Arm nicht unter diesem wärmenden Schirm von Watte zu liegen. Und noch etwas ist anders. Ein leise pochender Schmerz meldet sich. Irgendetwas Spitzes steckt dort in meinem linken Unterarm. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß, dass es da ist. Eine Flüssigkeit dringt durch diesen Kanal in meinen Arm und breitet sich von dort mit jedem Schlag meines Herzens in meinem Körper aus. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es tut mir gut.

Vom Hals abwärts bin ich eingepackt in diesen Schutzmantel; das, worauf ich liege – was immer das ist –, bietet mir weichen Halt und Schutz, die Watte um mich herum ist meine zweite Haut, mein Pelz, meine Höhle. Ich weiß, dass ich diese Hülle brauche: Sie bietet mir Schutz und Wärme. Ich brauche diese Energie, um zu leben. Alles ist gut.

Da sind noch andere Empfindungen. Die sind nicht gut.

Ich spüre ein schmerzhaftes Pochen und Stechen an meinem Kopf. Am Kinn nervt da außerdem ein Kratzen, ein Jucken. Auch hier scheint etwas in mir zu stecken. Es ist ein anderes Stecken als das im linken Arm. Da spannt sich etwas quer über die Haut: Irgendwas wird hier zusammengezogen, geklammert.

Viel größere Sorgen macht mir dieses Stechen im Kopf; es ist intensiver als alles andere. Irgendwo im Zentrum meines Kopfes wohnt es, von hier sendet es seine Wellen wie ein Funksignal, bestrahlt die äußeren Zonen meines Schädels. Wo genau sitzt dieses Ding? Der Schmerz breitet sich knapp links der Mitte meines Kopfes aus. Es ist ein präsenter, pulsierender Schmerz, er ist stark und fordernd, er raubt mir Kraft und Nerven. Ich mache mir Sorgen: Der Schmerz saugt meine Energie auf. Werde ich dieser Attacke auf die Dauer gewachsen sein? Noch liege ich geschützt in meinem Wattenest, aber der Feind ist in meinem Kopf.

So kann es nicht weitergehen. Ich beschließe, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf das, was da noch ist, außerhalb von mir.

Meine Zehen, mein Kopf, mein linker Arm sind offenbar nicht im Innern des Schutzzeltes, sie ragen irgendwo ins Außen.

Da ist kühle, frische Luft.

Ich sauge die Raumluft ein, schnüffele sie prüfend.

Ich rieche! Seltsam klar und streng, fast beißend ist die Luft. Wo bin ich, was ist das für ein Raum? Es ist der Geruch von Sterilität und Hygiene. Noch kann ich diesen Geruch nicht zuordnen.

Jetzt öffnet sich ein weiterer Kanal: Der Druck weicht aus meinen Ohren, sie sind frei und tasten den Raum ab …

Ich höre – zum ersten Mal in meinem Leben! Was ist da, in diesem Raum?

Es ist ruhig – aber es ist nicht still. Was ich höre, ist nicht hier drinnen. Es kommt von draußen: Da ist ein Rauschen, Streicheln und Rascheln, mal leise und zart, dann wieder kräftig und bestimmt. Es ist der Wind.

In meinem Innern lausche ich weiter dem Pulsieren meines Herzens, dem Auf und Ab des Atmens; es ist wie Musik, ruhig und sanft. Und diese Musik löst in mir einen tiefen Frieden aus.

Die Neugierde meldet sich: Was ist das überhaupt für ein Raum, in dem ich hier liege? Und woher kommt dieses Windgeräusch?

Ich will es sehen.

Meine Augenlider sind träge, sie wollen nicht loslassen voneinander.

Schließlich öffne ich die Lider, zum ersten Mal.

Blendend hell ist es da draußen, ich schließe die Augen wieder, wage blinzelnd einen zweiten Anlauf: Es ist die weiße Decke über mir, einfarbig und flach; sie ist alles, was ich sehe.

Doch einfach weiß ist sie nicht: Der helle Putz ist geriffelt, gestreift, mal glatt, dann wieder pockennarbig und unregelmäßig wie eine Mondlandschaft. Tausend Geschichten stehen da geschrieben, eine ganze Welt auf eineinhalb Quadratmetern. Wie kann so etwas Simples so komplex sein? Wahnsinn.

Ich senke den Blick, in dem ich meinen Kopf anwinkele. Ich bin in einem mittelgroßen Zimmer: weiße Einbauschränke, eine Nische mit Sitzgruppe, eine Tür. Und da ist das große Fenster zu meiner Linken, mein Auge in die Welt da draußen.

Ich sehe einen wunderschönen Herbstmorgen. Himmelblau strahlt das Firmament, schwere Wolkenberge in bleigrau, taubenblau, schieferfarben türmen sich davor auf, ziehen vorbei wie eine massige Herde. Bäume wiegen sich, tanzen ausgelassen mit goldenem, orangem, gelbem Blattwerk. Es ist eine Sinfonie und der Wind ist ihr heimlicher Dirigent. Ich kann mich kaum sattsehen an so viel Schönheit.

Ich lasse ab von der berührenden Welt da draußen, kehre zurück in den Raum. Ich bin gespannt auf meinen Körper. Ich habe ihn von innen erforscht und jetzt kann ich es kaum erwarten, das Erspürte von außen wahrzunehmen.

Ich schaue an mir hinab, entlang der blassgelben Bettdecke.

Weit unten, am Ende des Lakens sehe ich zwei Füße. Irgendetwas stimmt hier nicht: Wenn das meine Füße sind, wieso sind sie dann so weit weg von mir? Ist das überhaupt mein Körper?

Ich prüfe nach, wackele mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß, bewege die große Zehe auf beiden Seiten: kein Zweifel, das sind meine Füße, das bin ich.

Ich kann es kaum fassen: Ich stecke offenbar im Körper eines Erwachsenen! Das ist zutiefst verwirrend! Bin ich nicht gerade erwacht, habe ich nicht eben zum ersten Mal gerochen, gehört, gesehen? Wie kann das sein, wie passt das alles zusammen?

Die gelbe Bettdecke reicht mir bis zum Hals hinauf, sie umschließt meinen ganzen Körper. Das erklärt, wie dieses wohlige Gefühl der Schutzhülle zustande kommt. Nur der linke Unterarm schaut aus der Daunendecke heraus. Und auch hier erkenne ich den Grund der Kühle, des metallischen Stechens im Arm. Dort steckt eine kleine Nadel, an der ein Schlauch hängt. Von dort rinnt etwas in meinen Körper. Die Flüssigkeit tut mir gut. Alles ist gut, ich bin einverstanden.

Was mich weit mehr beunruhigt, ist dieses Gefühl, in falschen Körper zu wohnen.

Sollte ich nicht ein kleines Baby sein, das im den Armen seiner Mutter, seines Vaters liegt? Schutzbedürftig und zart? Bin ich nicht gerade erst geboren worden?

Es befremdet mich. Unerklärlich ist das alles, ich habe quälende Fragen und keine Erklärung. Bis hierhin war doch alles gut: Ich bin aufgewacht und angekommen; ich will leben, teilnehmen an der Welt da draußen. Und jetzt das.

Etwas macht sich in mir breit. Es ist ein neues, unangenehmes Gefühl, das keinen Namen hat. Und dieses Gefühl ist eindeutig nicht gut.

Ich bin verwirrt. Die behütete Geborgenheit, die unschuldige Neugier des Erwachens ist verloren, sie ist etwas anderem gewichen, sie lässt mich erkalten. Etwas Größeres hat den Raum betreten und stellt mich vor unlösbare Fragen.

STIMMEN

Doch ich habe keine Zeit, mich weiter damit zu beschäftigen, denn da ist eine andere Wahrnehmung.

Ich höre Stimmen, zwei Stimmen. Verstehen kann ich sie nicht, sie klingen gedämpft, sind zu weit weg. Sie kommen von irgendwo außerhalb dieses Zimmers. Jetzt werden sie lauter und klarer. Nun sind sie unmittelbar vor der Zimmertür. Ich bilde mir ein, die ersten Wortfetzen zu verstehen. Doch dann verstummen sie mit einem Mal. Warum reden die Stimmen nicht weiter? Haben sie etwas zu verheimlichen? Ahnen sie mein Lauschen? Es fühlt sich nicht gut an.

Einen kurzen Moment später registriere ich das mechanische Klicken der Türklinke. Ein kleiner Windhauch stößt in den Raum, bewegt die Luft bis zu meinem Bett. Dann höre ich Schritte auf dem kautschukartigen Boden, gepaart mit leisem Quietschen. Sind das Gummistiefel? Noch kann ich niemanden sehen, jetzt öffnet sich die Tür und die beiden Unbekannten kommen herein.

Eine Frau und ein Mann betreten den Raum. Ich schätze beide auf Mitte oder Ende vierzig. Mein Blick wandert vom Gesicht der Frau zu dem des Mannes und wieder zurück; ich kenne weder sie noch ihn. Beide Gesichter sind gezeichnet von einer gewissen Hilflosigkeit, vielleicht ist es auch Müdigkeit. Ich bemühe mich, etwas Markantes in ihren Gesichtern zu entdecken, etwas, das ich schon kennen könnte. Es misslingt.

Die Frau und der Mann stehen jetzt auf der rechten Seite meines Bettes; die Frau auf der Höhe meiner Hüfte, der Mann zwei Schritte dahinter, am Fußende. Er bückt sich kurz, stellt einen Rucksack ab. Jetzt schauen mich beide an. Es fühlt sich noch immer nicht gut an. Was passiert hier?

Die Frau greift jetzt mit ihrer Rechten nach meiner Hand, die ich inzwischen aus der Bettdecke genommen habe. Ich lasse sie gewähren. Ihre Hand ist warm und trocken, sie umfasst meine Finger, umschließt dann die ganze Hand. Es fühlt sich gut an.

Die Frau schenkt mir ihre ganze Aufmerksamkeit, da ist viel Wärme in ihrem Blick.

Sie fragt: »Wie geht es dir?«

Es sind meine ersten, klar gehörten Worte. Es ist eine Frage. Und ich bin gemeint. Ich will so ehrlich wie möglich antworten – und forme meine ersten Worte auf dieser Welt:

»Mir tut der Kopf weh. Er pocht unglaublich stark und es drückt. Mein Daumen hier« – ich zeige ihr den rechten Arm und recke den Daumen hoch –, »der pocht auch sehr. Mein Kinn, das Knie aber auch. Außerdem bin ich sehr müde.«

Die Antwort der Frau ist ein aufmunterndes Lächeln, ein bestätigendes Nicken.

»Das wird alles wieder.«

Ich schaue den Mann an, auch er nickt jetzt und bemüht sich um ein Lächeln. Er wirkt ein wenig unbeholfen, aber ich habe, genau wie bei der Frau, keinen Zweifel daran, dass er es ehrlich meint: Beide möchten mir offenbar ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe vermitteln. Das ist gut.

Die Frau hat fast schulterlanges, kastanienbraunes Haar. Sie trägt eine schwarze, rechteckige Brille, ihre Nase ist etwas breiter als die des Mannes. Von der Nase abwärts zu den Lippen verlaufen zwei Lachfalten; offenbar hat sie Freude im Leben. Ihre braunen Augen strahlen Güte aus, aber da ist auch Sorge in ihrem Blick. Sie trägt eine weiße Bluse und eine braune Fleecejacke, dazu graublaue Jeans.

Der Mann hat dünnes, braunes Haar, das stellenweise ins Graue wechselt, er trägt einen Dreitagebart. Sein Blick ist unstet, er wirkt nervös.

Gekleidet ist er klassisch: kariertes Hemd, darüber ein Rundhals­pullover in schlichtem Grau, dunkle Jeans und braune Schuhe. In seiner Hemdtasche scheint etwas zu stecken, vielleicht ist es ein Mobiltelefon. Über seinem Arm trägt er noch die beiden Jacken. Doch das alles sagt mir nichts, ich kenne diese Menschen nicht.

Meine rechte Hand ruht noch immer in den Händen der Frau. Jetzt spüre ich etwas Eigenartiges. Es ist ein kurzer, warmer Impuls, der von der Frau ausgeht. Ich weiß nicht, ob sie dasselbe spürt wie ich: Sie entzündet in mir etwas, es ist ein Funken, ein Lichtlein; ich nenne es die Flamme des Vertrauens. Es ist ein sehr gutes Gefühl.

Mein Blick wandert zurück zum Gesicht der Frau. Ich will nur das eine wissen – es platzt aus mir heraus, seit Minuten kann ich nichts anderes denken:

»Wer bist du?«

Die Frage trifft die Frau wie in Faustschlag. Sie starrt mich an, ihre Augen füllen sich mit Tränen und ich kann fühlen, dass sie kurz davor ist, die Fassung zu verlieren. Doch sie ringt mit sich, erlangt die Kontrolle wieder. Währenddessen lässt sie meine Hand nicht los.

»Ich bin deine Mutter. Und das ist der Thomas«, sagt sie fest und sie tut es mit dem herzlichsten Lächeln; dieses Lächeln brennt sich in mein noch frisches Gedächtnis. Es ist der schönste Satz der Welt.

Doch mein Verstand schlägt Alarm: Das ist meine Mutter? Und dann ist Thomas also mein Vater? Wieso kenne ich diese Menschen nicht? Wie kann das sein?

Während mein Denken sich aufbäumt und nicht begreifen kann, hält die Frau weiter meine Hand und es meldet sich in mir ein Gefühl: Ich spüre, dass dies ein besonderer Moment ist. Es ist der Anfang von etwas, das dauern wird und nicht vergeht. Die zarte Flamme des Vertrauens leuchtet, bekommt Nahrung. Es war nur ein kurzer Dialog, es sind nur Momente. Mir erscheint das alles wie vergrößert, verlangsamt, wie eine Ewigkeit.

Überwältigt schlafe ich ein, die ersten Eindrücke meines Lebens haben mir einiges abverlangt.

Donnergeräusche wecken mich. Hat sich das Wetter so schnell verschlechtert, dass es nun gewittert?, frage ich mich und schaue aus dem Fenster. Der goldene Herbstmorgen ist zu einem nüchternen Vormittag ergraut. Aber es ist still draußen, der Donner kann unmöglich von dort kommen. Dann poltert es schon wieder. Und einen kurzen Augenblick später noch einmal. Immer wieder. Es ist ein lautes Donnern, ein Grollen. Langsam wird mir bewusst: Es ist nicht das Wetter – es rumort in mir! Und es wird sogar noch lauter, noch heftiger. Es knallt und hallt, poltert direkt in meinem Kopf. Das ganze Spektakel erschüttert mich, lässt mich am ganzen Körper erzittern. Ich bekomme eine Gänsehaut!

Ich spüre ein sehr großes Nichtgut.

Was hat das zu bedeuten – und was soll ich tun?

Ich schließe meine Augen und hoffe, dass es so weniger wird, leiser, erträglicher. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird noch heftiger! Und dann, wie aus dem Nichts, schießt ein Blitz dazwischen, ein blendend weißes Aufleuchten, grell wie ein Magnesiumblitz, direkt hinter meinen geschlossenen Lidern. Dieses Licht ist enorm weiß; ich öffne die Augen – und sehe trotz allem nichts anderes mehr als dieses grelle Licht!

Das Blitzen wiederholt sich, es ist heller und stärker als die Sonne: ein unerträglich hartes, schmerzhaftes Weiß. Ich öffne die Augen, ich schließe sie: Es bleibt, wie es ist. Es gibt kein Entkommen.

Dann gibt es eine Pause und Stille kehrt ein. Ich entspanne mich langsam.

Doch die Ruhe trügt. Denn jetzt – vollkommen unvermittelt – überfällt mich eine Monsterwelle aus Licht und Krach, sie bricht sich über mir, begräbt mich unter sich. Sie haut mich in Stücke, ich bin wehrlos, ich spüre nichts mehr, außer Schmerz. Mein Kopf, meine Arme, und Beine sind taub, bis in die kühlen Zehenspitzen nehme ich nichts mehr wahr.

Irgendwann – endlich! – klingt das innere Wetterleuchten ab, fährt der Lärmpegel herunter, nimmt das Weiß an Leuchtkraft ab. Wie lange hat das gedauert? Ich habe kein Zeitgefühl.

Aber was dann kommt, ist nicht besser:

Ich sehe und höre nichts mehr, bin taub und blind. Wo bin ich?

So schwebe ich irgendwo in düsterster Schwerelosigkeit, losgelöst im Nichts. Um mich ist Totenstille, große Leere.

Ich kann nicht vor oder zurück, der Zustand ist absolut, ohne Alternative: Ich bin gefangen. Das Absurde an diesem Gefängnis ist, dass es weder Mauern noch Zäune, weder Decken noch Böden braucht, um mich zu halten: Es ist die Orientierungslosigkeit, die mich zum Sträfling macht; ich bin ihr Opfer. Ich kann nichts tun, ich kann mich nicht befreien. Alles, was ich tun kann, ist, ruhig bleiben, Geduld üben. Warten.

Es muss einen Grund geben, warum ich hier gestrandet bin, selbst wenn ich ihn ad hoc nicht erkennen kann. Es muss eine Antwort geben.

Aber die Leere schweigt, bleibt mir jede Erklärung schuldig. Das stimmt mich traurig: All das wundervolle Fühlen und Spüren, das ich gerade erst in mein neues Leben gelassen habe, all das ist nicht mehr da. Mir wird kalt ums Herz. Ich versuche, die entzündete Flamme des Vertrauens in meinem Herzen zu finden, meinen Anker, die Verbindung. Ich hoffe, ich kann das alles hier, in der tiefsten Schwärze, wiederbeleben, die Flamme durch diese Nacht retten. Doch ich habe sie verloren. Fernab höre ich wieder Donnergrollen, es ist wie ein Nachhallen, dann bin ich wieder allein mit der Stille.

Eine halbe Ewigkeit. Nichts passiert.

FLASHBACK

Plötzlich zieht mich etwas aus der Leere nach oben. Als würde mich jemand an einer Schnur, die an meinem Rücken befestigt ist, an die Zimmerdecke hieven. Aber was heißt das: »oben«? Wo ist das überhaupt: »oben«? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht zieht es mich auch nach unten. Oder sonst wohin. Ich kann noch immer keine Grenzen spüren. Es gibt keine Orientierung, keine Richtung. Aber immerhin, es gibt Bewegung.

Etwas baut sich jetzt unter mir auf: Es ist ein Panorama, das Puzzle einer Landschaft: sattgrüne Wälder, gewundene Flussläufe, entlegene Gehöfte und winzige Dörfer, bunte Felder, sandige Wege, Wiesen, Straßen und Berge. Eine wunderbare Welt entsteht unter mir aus dem Nichts! Ich bin jetzt weit oben, schwebe über dieses namenlose Land. Mal dickere, mal dünnere Wolkenbänder schieben sich in mein Sichtfeld, während unter mir das Band aus Landschaft vorbeiwandert. Bin ich es, der sich bewegt? Oder ist es die Landschaft unter mir? Ich weiß es nicht. Aber mein Flug scheint ein klares Ziel zu haben. Immer schneller fliege ich über diese wunderbare Märchenwelt, ich passiere türkisblaue Seen und massive Gebirge, städtische Siedlungen, qualmende Schornsteine, winzige Ortschaften, kahle Anhöhen, Bergkämme und schneebedeckte Gipfel. Es geht entlang an Flüssen, breiten Straßen und Autobahnen, hinweg über Felder und Wüsten. Noch einmal werde ich fortgezogen – bis die Reise unvermittelt endet: Über dem Zentrum eines Städtchens, oberhalb der Kirche, komme ich zum Stillstand. Es scheint später Abend zu sein, die Straßenlaternen leuchten gelblich und nur aus wenigen Häusern dringt noch Licht. Alle Blendläden sind verschlossen. Auch hier herrscht, wie überall bei meinen Flug, völlige Ruhe. Es gibt nirgendwo ein Lebenszeichen: Kein Mensch ist unterwegs, kein Tier streunt herum, nichts bewegt sich.

Ich schwebe über der großen, rotbraunen Kirche. Sie ist mit Abstand das höchste Gebäude des Städtchens. Von oben betrachtet sieht sie aus wie ein Kreuz. An der Spitze des hochgereckten Kirchturms dreht sich ein goldener Hahn im Wind.

Vor der Kirche breitet sich ein gepflasterter Marktplatz aus, groß genug, um viele hundert Menschen aufzunehmen; er liegt etwas tiefer als die Straße, die ihn begrenzt; eine dreistufige Einfassung umrandet das Areal.

Der ganze Ort liegt unter mir wie ein 3D-Stadtplan: Fasziniert studiere ich die Häuser, Balkone, Dächer, Hinterhöfe und Gassen, präge mir jedes Detail ein. Bäume säumen die Straßen, die Äste und Zweige haben bereits einen Teil ihres Blattkleides abgeworfen. Ist hier Herbst – so wie in meinen anderen Leben?

Ein Gebäude fällt mir besonders auf. Es ist ein älteres Haus und es ist nicht mehr im besten Zustand. Aus zwei Fenstern scheint noch Licht, dort zieht es mich hin. Als ich mich auf das Gebäude konzentriere, weicht mit einem Mal die letzte Farbe aus dieser fahlen Welt. Was gerade noch herbstlich bunt war, ist jetzt nur noch schwarz, grau und weiß.

Mit heftigem Donnern und grellem Aufblitzen wird das ganze Bild des Ortes vor meinen Augen gelöscht. Alles dröhnt in mir, es schmerzt mir in Augen und Ohren. Es ist nur ein einzelner Flash, ein Schlaglicht. Als die Wirkung des Blitzes wieder nachlässt, stelle ich fest, dass ich immer noch über dem Kirchplatz schwebe. Ich bin jetzt auf einer Höhe mit dem sich immer noch drehenden Wetterhahn. Doch etwas hat sich verändert. Da steht, mitten auf dem Platz, ein junger Mann. Seine Bewegungen sind wie eingefroren. Als hätte jemand die Pausentaste gedrückt.

Der junge Mann setzt sich jetzt in Bewegung, er steuert die drei Stufen an, die den Kirchplatz umranden.

Das Pflaster glitzert vor Feuchtigkeit. Überall liegt nasses Laub, unter den Bäumen, auf dem Platz. Als der Mann kurz vor den drei Stufen ist und diese hinaufsteigen will, kommt er plötzlich ins Straucheln. Jetzt verlangsamt sich die Szene; ich beobachte alles und zeitgleich durchzuckt es meinen Körper: Der Mann macht einen großen Schritt zur obersten Stufe, er will offenbar die Treppe mit einem einzigen Satz überwinden – aber er verliert das Gleichgewicht: Er stürzt!

Im selben Moment weiß ich, dass ich den Schmerz des Mannes gleich spüren werde. Dieser junge Kerl da unten, das bin ich! Oder: Das war ich.

Jetzt stürzt er, es geschieht ganz langsam. Ich weiß, was kommt – und bin doch zum Zuschauen verdammt, ich kann weder warnen noch eingreifen: Jetzt ist er in der Schwebe, er hat die Balance eingebüßt und kann sich nicht mehr retten. Schließlich stürzt der Körper. Doch Arme oder Beine sind weit zurück. Mit dem Kopf prallt er ungeschützt auf die steinerne Kante der obersten Stufen auf. Erst danach folgt der Rest des Körpers, landet unsanft auf dem harten Stein. Der Schmerz durchfährt mich bis ins Mark. Alles zieht sich in mir zusammen, mir wird eiskalt. Alles Leben in mir ist mit einem Schlag wie ausgelöscht.

Da liegt er, bewegungslos ausgestreckt, über die drei Stufen. Nichts regt sich mehr. Ich will etwas tun. Ich will zu dem Mann hinunter und ihm helfen. Aber ich kann nicht: Noch immer schwebe ich über dieser Szene, zur Passivität verurteilt.

Eine Ewigkeit scheint diese Situation einzufrieren. Dann beginnt es auch hier wieder, ich kann es entfernt hören: Das Aufziehen des Gewitters. Das Grollen und Poltern in meinen Ohren.

Und dann bewege ich mich. Irgendwer nimmt mich an die Hand. Sanft und ganz ruhig werde ich zu dem jungen Mann geleitet.

Ganz langsam tauchen wir hinunter zu dem Körper. Ich spüre, dass ich nicht alleine bin. Gleich sind wir also da, am Ort des Unglücks. Knapp oberhalb des Körpers kommen wir zum Stehen. Ich bin jetzt nahe genug, um ihn zu berühren, ihm zu helfen. Ich will meine Hände zu ihm ausstrecken. Kann es aber nicht. Ich will um Hilfe schreien. Und bleibe doch stumm.

Dann werde ich von einer Kraft, gegen die es kein Mittel gibt, fortgezogen, weg vom Unfallort. Das Donnern ist wieder da, es begleitet mich, während ich aufsteige; der Körper des Verunglückten bleibt schemenhaft zurück. Ich bin bitter enttäuscht: Ich war nah dran, den jungen Mann zu retten, aber jetzt habe ich ihn verloren, ich hatte keine Chance, ihm zu helfen! Ich drifte fort vom Ort des Geschehens, die schwarze Leere saugt mich erneut ein. Ich falle in tiefen Schlaf.

Ich erwache ohne Raum- und Zeitgefühl. Es ist kein erholtes Erwachen. Wie lange habe ich geschlafen?

Ich halte meine Augen geschlossen und hoffe, nicht wieder in diesem sterilen Raum aufzuwachen, nicht wieder in diesem Körper zu stecken, der nicht meiner ist. Ich muss doch ein Neugeborenes sein, verdammt noch mal!

Da ist noch etwas anderes. Es ist das kindliche Vertrauen, dass da etwas Gutes auf mich zukommen wird. Dass das Leben mich einlädt! Woher kommt dieses Gefühl? Ich weiß es nicht, aber es ist Gewissheit.

Mein Körper zeigt Zeichen der Erschöpfung, er zittert und bebt. Das Geträumte hat mich mitgenommen und erschöpft.

Noch halte ich die Augen geschlossen; alles, was ich wahrnehme, ist tiefes Schwarz.

Aber jetzt ist es ein anderes Schwarz; nicht das bodenlos finstere der Leere. Es ist einfach das Schwarz, das man sieht mit geschlossenen Augen, es ist nicht bedrohlich.

Und da ist noch etwas, was mir Mut macht: Es ist wärmer hier in diesem Raum, es ist ein weiterer Hinweis, dass dies nichts mit dem schrecklichen Zustand der namenlosen Verlorenheit gemein hat: Ich bin in Sicherheit.

Ich spüre, dass jemand da ist. Ruhiges Atmen ist zu hören, ich bin nicht allein.

Ich öffne die Augen.

Die Frau, die sagt, dass sie meine Mutter ist, und der Thomas, sie waren die ganze Zeit bei mir. Auf zwei Stühlen sitzen sie da, am Fußende des Bettes und in Halbschlaf versunken. Ich studiere ihre Gesichtszüge, suche nach Vertrautem – und gebe erneut auf: Ich erkenne sie nicht. Die Frau nimmt als Erste wahr, dass ich aufgewacht bin.

»Hallo«, grüßt sie freundlich und schenkt mir ein Lächeln.

Ich antworte ihr mit dem Versuch eines Lächelns. Es tut unendlich gut, dass sie beide hier sind.

Die Frau strahlt mich an und ich habe wieder dieses Gefühl von Geborgenheit in mir. Hier ist die Verbindung: Ich bin nicht verloren. Ich werde ihr immer dankbar sein.

Neben dem Bett entdecke ich auf dem Nachttisch mein Frühstück: Brot, Käse, Wurst, Marmelade. Aus einer Tasse dampft es. Es riecht nach Pfefferminztee.

Ich setze mich etwas auf, meine Mutter – ich nenne sie jetzt so – hilft mir, das Nachttischchen mit dem daran befestigten Tablett so zu drehen, dass es über meinem Bett schwebt.

Die Speisen sind schlicht, nicht gerade die feine Küche. Aber es ist meine erste feste Nahrung. Und das allein lässt alles köstlich erscheinen.

Seltsam: Ich weiß, was Pfefferminze ist und wie sie riecht, wie man ein Brot schmiert und dass das hier Graubrot, Butter, Emmentaler Käse und Lyoner Wurst sein müssen. Und trotzdem weiß ich nicht, wer diese beiden Menschen sind, die für mich da sind, mir zur Seite stehen und die ich doch kennen sollte. Es ist absurd.

Ich lasse es mir also schmecken. Mein Appetit ist begrenzt, aber ich scheine tatsächlich Hunger zu haben und esse alles auf.

Die beiden beobachten mich. Es macht mich verlegen.

Nach dem Frühstück bittet die Frau, meine Mutter, den Thomas, den Rucksack zu holen. Thomas stellt ihn ans Fußende aufs Bett. Der Sack enthält Kleidung. Meine Kleidung, nehme ich an.

»Welcher Schrank gehört denn dir?«, will meine Mutter wissen.

Ich schaue mich um. Zu meiner Linken steht ein Einbauschrank, er hat vier Türen. Ich zucke mit den Schultern: keine Ahnung.

Die Mutter schaut den Thomas an, auch der weiß keine Antwort.

Es gibt noch ein zweites, unbenutztes Bett zu meiner Rechten. Auf den Schranktüren entdecken wir je zwei rote und zwei grüne Punkte, genau die gibt es auch am Kopfende meines Bettes. Meine ist also die »grüne Seite«.

»Ist doch eigentlich egal«, sage ich, »ich bin hier alleine.«

Ich bin hier alleine. Seltsam schwingt der Satz in mir nach. Ich, der Neugeborene im erwachsenen Körper. Das Riesenbaby, sprechend und doch unwissend. Intelligent und orientierungslos. Hier, in diesem sterilen Raum lebe ich, dann wieder schwebe ich in meinem kalten Gefängnis, der schwarzen Unendlichkeit. Losgelöst, einsam.

Die Frau, meine Mutter, nimmt meine Verwirrung nicht wahr, sie ist beschäftigt.

Sie öffnet die beiden grün markierten Türen, nimmt T-Shirts, Boxershorts und Socken aus dem Rucksack und stapelt alles sorgfältig im Schrank. Sie hält mir ein blaues Sporttrikot entgegen, schaut mich auffordernd an. »Und?«

»VFL Bochum 1848«, lese ich und »DWS Investment«.

Ich habe keinen Schimmer, was das heißen soll. Warum präsentiert sie mir gerade dieses Hemd?

»Das ist deine Lieblingsfußballmannschaft!«, erklärt sie mir. Sie lächelt mich ermutigend an, sie scheint auf eine Reaktion zu warten.

Ich bringe lediglich ein »Aha, okay« heraus. Was soll das heißen: Sind wir hier in Bochum?

Die Mutter scheint enttäuscht von meiner Antwort. Sie faltet das Trikot, verstaut es im Schrank und setzt sich wieder hin.

Wir schauen uns an, sie wirkt ratlos.

Nach einer Weile schlafe ich ein.

Als ich wach werde, bin ich allein.

Auf dem schwebenden Tablett steht ein abgedeckter Suppenteller.

Die lauwarme Gemüsesuppe schmeckt fade. Ich habe wieder keinen Appetit. Aber ich bin dankbar für die Stärkung und löffle den Teller aus.

Eine stämmige Frau mit rostroter Bobfrisur und ein älterer Mann betreten mein Zimmer; beide sind weiß gekleidet. Zwei jüngere Ärzte folgen ihnen. Alle vier halten Klemmbretter, Ordner und Kulis bereit.

Am Kopfende meines Bettes baut sich das Quartett auf. Die Rothaarige beginnt:

»Unser nächster Patient ist Maximilian Rinneberg, geboren 14. 12. 90. Er wurde gestern Nacht gegen 0.45 Uhr mit Verdacht auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, Frakturen und offenen Wunden eingeliefert. Bei der Erstversorgung stellte man eine retrograde Amnesie fest. In der Notaufnahme wurde dann ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten bis dritten Grades diagnostiziert sowie Platzwunden an Stirn, Kinn, rechtem Daumen und Schürfwunden an rechter Hüfte und linkem Knie. Das Kinn wurde mit fünf Stichen genäht, die Stirn getackert, der Daumen ruhiggestellt und die Schürfwunden desinfiziert und versorgt. Die Amnesie ist vermutlich dissoziativ retrograd bis zur Geburt beziehungsweise zum Kindesalter. Seine Eltern erkannte er nicht.«

Wie eine Auflistung von Schlagzeilen rattert die Ärztin die Diagnose herunter. Es fällt mir schwer, ihr zu folgen. Hat sie davon erzählt, was ich spüre – diese Schmerzen? Sagte sie »Amnesie«? Ist das der Begriff für das Nichterkennen der Frau und des Mannes? War das gerade mein Name, den sie da erwähnt hat? Heiße ich Maximilian?

Schweigen. Alle vier Augenpaare sind jetzt auf mich gerichtet. Sie studieren mich wie ein Laborkaninchen; es scheint, als warte man auf meine Reaktion. Sollte ich etwas dazu sagen?

Der alte Grauhaarige ergreift das Wort: »Wie geht es Ihnen?«, fragt er und blickt dabei in die Akte seiner rothaarigen Kollegin.

Ich warte, bis sich sein Blick von der Akte auf mich richtet, und antworte: »Ich habe starke Kopfschmerzen. Es ist wie ein Pochen und Stechen. Dazu schmerzt das Kinn, der Daumen, Knie und Hüfte.«

Alle vier Ärzte nicken, als fühlten sie sich bestätigt. Sie lassen mir Zeit – so, als warteten sie auf mehr.

»Und ich kann mich an nichts erinnern«, ergänze ich.

Erneut herrscht Schweigen. Habe ich das Richtige gesagt? Was wollen sie hören?

Endlich meldet sich der Grauhaarige: »Das wird schon. Machen Sie sich mal keine Sorgen.«

Sorgen? Wer sagt denn, dass ich mir Sorgen mache? Ich möchte einfach nur wissen, was hier los ist! Was ist verdammt noch mal passiert? Und warum gewittert es andauernd in meinem Kopf? All diese Fragen brennen mir unter den Nägeln. Doch ich kann sie nicht formulieren, ich bin befangen. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, lähmt mich.

Wieder macht sich in mir das Nicht-gut-Gefühl breit. Wen soll ich fragen?

Ist der Graue der Chefarzt? Oder ist er vielleicht doch nicht der Weiseste der vier? Hat er mich überhaupt richtig verstanden? Oder habe ich es einfach nicht geschafft, mich klar auszudrücken?

Der Alte berät sich im Flüsterton mit den Kollegen und der Kollegin. Dann wendet er sich noch einmal an mich und wiederholt: »Das wird schon.«

Er dreht auf dem Absatz um und steuert auf die Tür zu, der Rest der Mannschaft folgt ihm.

War es das jetzt?

Ich will ein »Halt, stopp!« dazwischen schreien, die Truppe zum Anhalten zwingen, ich habe einen Sack voller Fragen, aber ich bleibe stumm. Das Quartett ist auf und davon. Ich bin wieder allein.

Was mache ich denn nun? Jetzt beginnt es plötzlich wieder zu donnern. Ich will hier nur noch raus. Ich will hier nur noch weg.

Ich schlafe ein – mit Gewitter im Kopf.

Als ich wieder aufwache, steht eine junge Krankenschwester an meinem Bett, sie handhabt etwas oberhalb meines Blickfeldes. Offenbar wechselt sie den Infusionsbeutel. Als sie bemerkt, dass ich aufgewacht bin, begrüßt sie mich mit einem herzlichen »Hallo«.

»Hallo«, gebe ich zurück und bemühe mich um ein Lächeln.

Draußen tanzen noch immer die Blätter im Wind, verfangen sich vor dem Fenster und verwehen wieder.

Ich beobachte die Laubchoreografie, dann wieder die Schwester bei der Arbeit. Dann fasse ich mir ein Herz: »Ich denke, der Arzt hat mich vorhin nicht richtig verstanden.«

Sie hält inne, schaut mich fragend an; ich empfinde das als Aufforderung.

»Also, ich sagte vorhin zu ihm, dass ich mich an nichts erinnern kann. Und ich denke, dass hat er falsch verstanden.«

Die Schwester mustert mich weiter. Sie runzelt die Stirn und sie schweigt. Warum versteht mich denn keiner? Drücke ich mich so falsch aus?

»Ich meine, dass ich nicht nur vergessen habe, was passiert ist. Nein, ich weiß gar nichts mehr. Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Nicht daran, wer ich bin, wie ich heiße und auch nicht daran, wer meine Eltern sind.«

Noch immer hält die Frau den leeren Infusionsbeutel in den Händen, sie wirkt überfordert.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie begriffen hat, was ich meine. Schließlich verspricht sie mir, den behandelnden Arzt darüber zu informieren, was ich gesagt habe, und verlässt das Zimmer.

Reglos liege ich auf dem Bett. Wie soll ich etwas erklären, das ich selbst nicht begreife? Ich bin hilflos, ich weine.

Aus den ersten Tränen wird ein ganzer Bach. Der Bach nimmt mich mit in den Schlaf.

CHRISTINA

Beim neuerlichen Erwachen halte ich die Augen geschlossen. Ich bin nicht mehr neugierig, die Welt da draußen zu erkunden, mir fehlt schlicht die Kraft.

Aber jetzt ich bin nicht allein, das kann ich spüren.

Auf der linken Seite meines Bettes sitzen drei Menschen: die Frau, meine Mutter, der Mann, der Thomas heißt – und ein junges Mädchen. Das Mädchen ist am dichtesten bei mir. Thomas hat sich einen Platz weiter hinten gesucht. Er scheint die ganze Situation zu beobachten. Ich schaue alle drei an und mustere sie. Dem Mädchen schenke ich die meiste Aufmerksamkeit: Es ist ein neues Gesicht in meinem Leben. Und ein wichtiges, denn sonst wäre sie nicht mit der Frau gekommen, die meine Mutter ist. Meine drei Besucher reden nicht, aber es ist ein einvernehmliches Schweigen; sie lassen mich sie anschauen.

Das Mädchen hat schulterlanges, braunes und welliges Haar. Es ist gepflegt und ordentlich. Ihr Gesicht gefällt mir, es ist rund mit vollen Backen und einem süßen Lächeln. Braune, kraftvolle Augen schauen mich an. Eine Spur Melancholie liegt in ihrem Blick.

Ich suche nach bekannten Merkmalen – wieder vergeblich. Ich kenne die junge Frau nicht.

»Weißt du noch, wer das ist?«, bricht meine Mutter das Schweigen und nickt in Richtung des Mädchens. »Leider nicht«, antworte ich. Die Situation macht mich verlegen, ich schaue auf meine Hände.

»Max, das ist Christina, deine Schwester.«