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Hans-Joachim Watzke

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Beschreibung

BVB-Boss Watzke spricht Klartext: brisante Insiderinformationen aus dem deutschen Fußball

Kaum jemand kennt den Bundesliga-Spitzenclub Borussia Dortmund besser als »Aki« Watzke, der ihn seit 2005 lenkt. In »Echte Liebe« erzählt er von seiner tiefen Freundschaft mit Jürgen Klopp, dem Gewinn des Doubles, der Niederlage im Champions-League-Endspiel gegen die Bayern, der Rivalität zu Uli Hoeneß sowie dem niederschmetternden Attentat auf den BVB-Bus, vom entfesselten Kommerz, der das Herz des Fußballs zu verraten droht, und davon, wie man ihn für den »normalen« Fan retten kann.

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Niemand kennt den Bundesliga-Spitzenklub Borussia Dortmund besser als »Aki« Watzke, der ihn seit 2005 lenkt. Echte Liebe erzählt, wie es gelang, in einer immer zynischeren Geld- und Glamourbranche eine Stadt und eine ganze Region aufs Engste mit dem bodenständig gebliebenen BVB-Fußball zu verbinden. Der BVB-Boss berichtet außerdem von seiner tiefen Freundschaft mit Jürgen Klopp, dem Gewinn des Doubles, der Niederlage im Champions-League-Endspiel gegen die Bayern, der Rivalität zu Uli Hoeneß sowie dem niederschmetternden Attentat auf den BVB-Bus, als er kurz vor seinem Rücktritt stand, vom entfesselten Kommerz, der das Herz des Fußballs zu verraten droht, und davon, wie man ihn für den »normalen« Fan retten kann.

HANS-JOACHIM (»AKI«) WATZKE, Jahrgang1959, war nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre als Unternehmer tätig. Beim Traditionsclub Borussia Dortmund amtierte er ab 2001 als Schatzmeister, bevor er 2005 Geschäftsführer wurde.

MICHAELHORENI, Jahrgang 1965, ist Sport-Korrespondent der FAZ und veröffentlichte u. a. »Klinsmann« (2005) und »Die Brüder Boateng« (2012).

Hans-Joachim Watzke ∙ Michael Horeni

ECHTE LIEBE

EIN LEBEN MIT DEM BVB

C. Bertelsmann

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Ein Dank geht an die Autoren Sascha und Frank Fligge sowie den Econ Verlag für die Titelnutzung von »Echte Liebe«.

© 2019 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Bürosüd nach einem Entwurf von Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv:© Sven Grundmann/dpa (Porträt) © imago/DeFodi/Alex Gottschalk(Tribüne – 10.11.2018, BV Borussia Dortmund – FC Bayern München)

Bildredaktion: Annette Baur

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24952-6V004

www.cbertelsmann.de

In Erinnerung an Franz und Hans, unsere Väter

VORWORT

Aki Watzke sieht müde aus. Eine Saison, die niemand vergessen wird, ist bald geschafft. Und sie hat ihn geschafft. Ein einziges Spiel steht noch aus, dann ist das Ziel erreicht. Nach den schwierigsten und aufreibendsten Monaten in seiner Zeit als BVB-Geschäftsführer atmet Watzke nun erstmals auf, zumindest ein bisschen. Der größte Druck scheint von ihm abzufallen. Doch diese Monate haben Spuren hinterlassen. Watzke wirkt seltsam bedrückt, und auf eine unterschwellige Weise, die er nicht in Worte fasst, tief beunruhigt. Die Krise hat Watzke zugesetzt. Als würde Corona aus Menschenjahren auch Hundejahre machen.

Am Wochenende zuvor hat Borussia Dortmund hervorragend gespielt und mit 2:0 bei RB Leipzig gewonnen. Der BVB hat den neuen Herausforderer auf Abstand gehalten und sich endgültig Platz zwei gesichert, wie immer hinter dem FC Bayern. Damit kann Watzke leben. Ist okay, sagt er. Noch zur Winterpause hatte Leipzig an der Spitze der Bundesliga gestanden, die Borussia nur auf Rang vier. Das konnte er nicht akzeptieren. Doch diese Zeit, obwohl erst sechs Monate her, wirkt nun auf ihn, als ob sie in einem anderen Leben gespielt hätte. In einem Fußballleben, das er sich zurückwünscht, mehr als alles andere.

Doch im Sommer 2020 kann niemand sagen, wann es zurückkehren wird. 2021? 2022? 2023? Oder vielleicht: nie wieder?

Fußball in einem ausverkauften Stadion wird jedenfalls auf unabsehbare Zeit nicht mehr so unschuldig sein, wie er mal war. Mit einer gelben Wand, die vor Glück explodiert. Wo geschrien und gesungen wird. Sich die Menschen in den Armen liegen und vor Freude abküssen. Wo man Lebensfreude sucht und spürt. Gemeinsam, in einer wogenden Masse, wie das nur an wenigen Orten möglich ist. Oder besser: möglich war, bis zum März 2020.

Es war der 26. Spieltag, der im Fußball die Zeit in ein Davor und Danach teilte. An einem Freitag, dem 13., wurde der komplette Bundesliga-Spieltag abgesagt. Darunter auch das Spiel des Jahres im Ruhrpott, das Derby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04.

Dann stand die Zeit still.

Und die Bundesliga rotierte. Und Watzke auch.

Das waren epochale und zehrende Monate. Jetzt fühle ich mich ziemlich leer. Das macht mich selbst betroffen, dass es so ist. Denn wir stehen in der Pandemie ja erst am Anfang des Weges, und nicht am Ende. Die Krise ist nicht abgeschlossen, noch lange nicht. Corona ist und bleibt virulent. Und was die Angelegenheit enorm erschwert, ist die Tatsache, dass man immer im halben Blindflug unterwegs ist.

Es ist das erste Mal, seit ich im Profifußball bin, dass über meinen Geburtstag am 21. Juni hinaus noch gespielt wird. Diese Zeit war in den vergangenen 15 Jahren immer die Phase für mich, in der ich nach der Saison ein bisschen abschalten und zur Ruhe kommen konnte. Doch ausgerechnet nach diesem intensivsten Jahr, das ich je erlebt habe, ist gar keine Erholung möglich. Ich kann doch in so einem Sommer nicht in den Urlaub fahren. In so einer Krise verlasse ich nicht die Brücke, das kann ich einfach nicht. Ich weiß aber, dass das auch physisch für mich zu einer großen Herausforderung wird.

Wir wissen heute überhaupt nicht, wann wir wieder den vollständigen Geschäftsbetrieb aufnehmen und zu den alten wirtschaftlichen Größenordnungen zurückkehren können. Bei der Rettung des BVB vor der Insolvenz kannten wir im März 2005 wenigstens alle Rahmendaten. Das ist heute viel schwieriger. Denn wer kann heute sagen, wie sich eine Pandemie entwickelt? Niemand! Tatsache ist: Wir haben nach wie vor eine hochexplosive Situation. Da muss man sich nichts vormachen.

In die Saison gestartet war Borussia Dortmund mit den schönsten Hoffnungen. Watzke hatte nach dem zweiten Platz im Vorjahr, als die deutsche Meisterschaft am letzten Spieltag noch möglich gewesen war, den Titelgewinn als Ziel ausgegeben. Dafür investierte der BVB kräftig in seine Mannschaft und holte unter anderem Mats Hummels zurück und Julian Brandt hinzu. Als zur Winterpause das Ziel trotzdem aus dem Blick zu geraten drohte, verstärkten die Dortmunder ihren Kader nochmals, diesmal mit Erling Haaland und Emre Can.

Doch als das Virus im März auch in Deutschland zum Lockdown führte, begann in der Bundesliga eine neue Zeitrechnung. Nun ging es nicht mehr um sportliche Siege, es ging ums wirtschaftliche Überleben. Und in dieser Zeit des Stillstands machte der Profifußball, der es über Jahrzehnte gewohnt war, mehr zu wollen und mehr zu bekommen als andere, noch eine ganz neue Erfahrung: Die Liebe der Fans zum Fußball war plötzlich nicht mehr bedingungslos. Der Lieblingssport der Deutschen geriet unter Legitimationsdruck. Die Menschen hatten nun andere Sorgen, ihre eigenen, und die waren existenziell. Als die Fußball-Macher den Neustart planten, merkten sie, dass sie umdenken mussten. Corona hatte König Fußball in die Rolle des Bittstellers gezwungen.

Der Stimmungsumschwung erwischt Watzke auf dem falschen Fuß. Am ersten Bundesliga-Wochenende, das dem Virus zum Opfer fiel, ist er zusammen mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet in einer Sondersendung der ARD-Sportschau. Es ist der Tag, als die Bundesregierung ankündigt, die Grenzen nach Frankreich, Österreich und zur Schweiz zu schließen. Hamsterkäufe in den Grenzgebieten sollen damit unterbunden werden. Zudem wird die Schließung von Schulen, Kitas, Clubs, Discotheken und Schwimmbädern verfügt. Die Kanzlerin empfiehlt den Bürgern dringend, soziale Kontakte zu vermeiden. Der Lockdown droht. Die Ereignisse überschlagen sich.

Watzke unterstützt in der Sendung ausdrücklich die von der Politik getroffenen Entscheidungen. Doch während sich das Land darauf einstellen muss, seinen Betrieb immer weiter runterzufahren, hält der BVB-Chef es nicht für sinnvoll, das Training schon in dieser Phase einzustellen. In anderen Ländern ist das schon beschlossene Sache. »Wir müssen alles unter der Prämisse machen, dass wir irgendwann zur Normalität zurückkehren. Wir müssen die Spieler bezahlen, und wir müssen die Spieler in eine vernünftige Form bringen. Wir sollten es auch nicht übertreiben. Denn die aktuelle Gesundheitsgefahr für eine Mannschaft, die aus Athleten besteht, die auf dem Rasen trainieren, würde ich, auch ohne Virologe zu sein, als nicht so gravierend einschätzen«, sagt Watzke. »Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.«

Watzke erläutert in der ARD, dass er bis zuletzt weiter für eine Fortsetzung des Spielbetriebs plädiert habe, selbstverständlich ohne Zuschauer. Das Derby gegen Schalke hätte man im Dortmunder Stadion mit insgesamt 80 Leuten über die Bühne bringen können. Doch andere Klubs hätten das anders gesehen und für die Verschiebung des Spieltags plädiert. Diesem Wunsch sei man schließlich gemeinsam gefolgt. Die Moderatorin konfrontiert Watzke daraufhin mit Prognosen von Virologen, wonach innerhalb von wenigen Monaten die Hälfte aller Erwachsenen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert sein könnten. Und damit auch die Hälfte aller Bundesligaprofis. Was er sage, klinge, als wolle er auf Zeit spielen, sagt sie. Was sie sagt, klingt, als agiere Watzke unsolidarisch. »Wir werden uns über alle Szenarien Gedanken machen. Ich lasse mich nicht nur von meinen persönlichen Gefühlen leiten. Ich schaue auf die Fakten«, entgegnet Watzke. Als Geschäftsführer des BVB trage er die Verantwortung für 850 Mitarbeiter, und damit für viele normale Menschen. Nicht nur für diejenigen, die gut kicken könnten. »Man muss die Dinge ohne Denkverbote durchgehen können. Wenn wir in dieser Saison noch mal spielen, dann werden es Geisterspiele sein. Das ist völlig klar. In ein paar Wochen, bei gesicherter medizinischer Datenlage, müsse man sich fragen können, ob man sich Geisterspiele vorstellen kann oder nicht.«

Watzke spricht von der größten Krise des Fußballs, von existenzbedrohenden Schwierigkeiten für einige Klubs, falls die Saison abgebrochen werden müsste. Er sagt aber auch, dass die Klubs trotz der Krise auch »Konkurrenten« blieben, dass man aufpassen müsse, dass nicht diejenigen, die in den vergangenen Jahren kein Polster angelegt hätten, in der Krise dafür belohnt würden. Watzke lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Bundesliga in der Pandemie in einer gemeinsamen Verantwortung stehe. »Wir werden das lösen in der DFL.« Doch in jenen Tagen, in denen überall im Land von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung in der Krise die Rede ist, klingen Watzkes Worte für viele kalt. Und unangemessen. Nach der Sendung erlebt er einen Shitstorm.

Der markanteste Punkt in der Krise war für mich das erste Wochenende, an dem ursprünglich das Derby gegen Schalke stattfinden sollte. Nach der Absage war ich am Sonntag in der Sportschau. Ich habe in der Sendung Dinge gesagt, die hundertprozentig gestimmt haben, auch im Nachhinein. Aber mir ist danach fehlende Empathie vorgeworfen worden. Dabei ist eigentlich alles so eingetroffen, wie ich es damals gesagt hatte. Ich habe mir die Sendung danach noch mal angeschaut, um sicherzugehen, aber ich muss inhaltlich wirklich kein Wort zurücknehmen.

Dass sich manche an mir danach abgearbeitet haben, war nicht so schlimm. Denn wenn ich der Meinung bin, dass das, was ich sage, richtig ist, dann sage ich es. Ob es den Leuten passt oder nicht. Ich lasse mich nicht verbiegen. Ich habe nach der Sendung auch viel Zustimmung bekommen, doch das waren meistens Leute, die Briefe schreiben. Und Bashing findet nicht in Briefen statt, das findet in sozialen Medien statt.

Allerdings, das muss ich zugeben, bin ich mit der Erwartung dorthin gefahren, die Sportschau ist ja ein TV-Partner der Liga, dass auch die ARD ein Interesse daran hat, dass es mit der Bundesliga weitergeht. Die Atmosphäre empfand ich dann fast schon als feindselig gegenüber dem Fußball. Ein Sportphilosoph erklärte in der Sendung, dass die Gesellschaft den Fußball nicht braucht – batsch! Dieser These wird aber gar nicht widersprochen, nicht einmal von der Moderatorin. Sie wurde als Fakt einfach anerkannt.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt, dass es einen gesellschaftlichen Mainstream gab, an dessen Spitze sich dann die ARD in den kommenden Wochen auch mit ihren Talkshows gesetzt hat, der eine Rückkehr des Fußballs abgelehnt hat und ihn verhindern wollte. Auf diese Haltung war ich nicht eingestellt. Ich habe das als eine Provokation empfunden. Doch nach der Sportschau-Sendung und den Reaktionen in den sozialen Medien wusste ich: Die Rückkehr wird schwierig. Aber nicht, wie schwierig sie werden würde.

Watzke versteht in jenen Tagen die Fußballwelt nicht mehr. Der gesellschaftliche Gegenwind, der dem Profifußball und seinen Akteuren entgegenschlägt, wird von Tag zu Tag schärfer. Seine lange große und stetig wachsende Bedeutung sowie sein wirtschaftlicher Erfolg, die den Fußball über viele Jahre geprägt hatten, helfen ihm in der Krise nicht mehr. Im Gegenteil. Plötzlich stehen die Exzesse, zu denen es in den vergangenen Jahren während eines ungebremsten Wachstums gekommen war, im Mittelpunkt der Diskussionen. Erstmals seit Jahren werden die Fehlentwicklungen, die in anderen europäischen Ländern allerdings oft noch weit drastischer ausgefallen sind, von einem großen Teil der Bevölkerung kritisch hinterfragt. Der Tag der Abrechnung ist gekommen.

Von einem Tag auf den anderen scheint auch vieles von dem, wofür Watzke als Geschäftsführer in Dortmund über 15 Jahre gearbeitet hat und wofür er stehen will – die Bodenständigkeit des BVB in einem boomenden Milliardenmarkt bei optimalem sportlichen Erfolg so weit wie möglich zu erhalten –, plötzlich keine Rolle mehr zu spielen. Der Fußball, das verhätschelte Kind der Deutschen, wird zum gesellschaftlichen Buhmann in der Pandemie. Dazu hatte auch das ignorante Verhalten von einigen Klubs und deren Profis unmittelbar vor Abbruch der Liga beigetragen, als manche Kicker nach den ersten Geisterspielen trotzdem mit ihren Fans vor dem Stadion feierten und Funktionäre dafür auch noch Verständnis zeigten. Und Geisterspiele oder gar Spielabsagen rundweg ablehnten, obwohl sich das Virus in Deutschland und in Europa schon rasend schnell ausbreitete. Es schien, als fühlte sich der Fußball immun gegen alles. Als gesellschaftlich relevanter Faktor hatte er damit in dieser Krise ausgespielt, noch bevor sie richtig begonnen hatte.

Die größte Problematik war definitiv, dass wir die Geisterspiele gebraucht haben, um wenigstens das Fernsehgeld zu retten. Wenn wir das nicht geschafft hätten, wären bei vielen Klubs die Lichter ausgegangen.

Am Anfang hatte ich geglaubt, dass es für einen Neustart der Bundesliga eine größere Zustimmung bei den Leuten gibt. Das war jedoch überhaupt nicht so. Das hat dann auch die Politik verunsichert. Als wir sagten, dass wir mit der Bundesliga wieder beginnen wollen, war die Stimmung noch extrem auf Lockdown gerichtet. Das war dann wirklich ein harter Ritt.

Jeden Abend bekam man zu dieser Zeit, das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich dabei besonders hervorgetan, irgendwelche Apokalyptiker vorgesetzt, die den Leuten erzählt haben, wie unverantwortlich unser Konzept sei, dass es niemals funktionieren könne, dass spätestens nach zwei Wochen die Liga endgültig abgebrochen werden müsse. Eine ohnehin durch die Krise verunsicherte Bevölkerung wurde von dieser Panikmache zusätzlich mit Unsicherheit infiziert. Ich war wirklich sehr dankbar, dass die Politik in dieser Phase einen klaren Blick behalten hat und den richtigen Weg gegangen ist.

Nur gut zwei Wochen nach dem abgesagten Bundesliga-Spieltag, dem wegen ursprünglich vorgesehener Länderspiele eine längere Pause folgte, trat DFL-Geschäftsführer Christian Seifert am 31. März nach einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der Deutschen Fußball Liga vor die Öffentlichkeit und verkündete die Pläne des Profifußballs. Die Saison solle, falls medizinisch vertretbar, mit einem entsprechenden Hygiene- und Sicherheitskonzept bis zum 30. Juni ohne Zuschauer beendet werden. Im Land schüttelten die meisten mit dem Kopf. Ins allgemeine Unverständnis mischten sich auch Empörung und Wut. Einige Politiker, Virologen und Medien haben ihr Urteil über die Pläne des Fußballs schnell gesprochen: unverantwortlich.

Der Zeitpunkt, zu dem der Fußball erklärt, dass er wieder spielen will, hätte nicht ungünstiger sein können. Ende März ist das öffentliche Leben in Deutschland seit bald zwei Wochen vollständig zum Erliegen gekommen. Schulen, Kitas, Shopping-Center, Unternehmen, Restaurants und Cafés sind geschlossen, sogar Spielplätze. Alte Menschen in Pflegeheimen dürfen nicht mehr besucht werden. Künftige Väter werden in Kliniken von der Geburt ihres Kindes ausgeschlossen. Bei Beerdigungen dürfen selbst nächste Verwandte am Grab nicht mehr Abschied nehmen, weil nur zehn Menschen zugelassen sind. Wenige Tage bevor die Bundesliga ihren Rückkehrplan bekannt gibt, ist die Lage so angespannt, dass der Ethikrat eine Triage in Deutschland noch für möglich hält. Die Zahl der Neuinfektionen steigt in dieser Zeit auf den höchsten Stand während der gesamten Pandemie, über 6000 Infizierte werden täglich in Deutschland gemeldet. Die Kanzlerin befindet sich in Quarantäne.

Watzke zieht in jenen Tagen an vielen Fäden, damit die Bundesliga und der BVB wieder ins Geschäft kommen. Er ist in der CDU seit Jahrzehnten hervorragend vernetzt. Zu Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat er einen guten Kontakt, ebenso zu Armin Laschet, dem Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslands, aus dem sieben Bundesligaklubs kommen. Zwei Politiker, die in der Pandemie entscheidende Rollen spielen.

Die Zeit zwischen Ende März und Anfang Mai war sehr schwer. Zum einen musste man gegen einen massiven gesellschaftlichen Mainstream ankämpfen, zum anderen wusste man ja auch nicht, was in den nächsten Wochen mit dem Infektionsgeschehen passiert. Da habe ich auch oft daran gezweifelt, ob wir das tatsächlich hinkriegen, dass wir wieder spielen dürfen. Ich konnte mir ausmalen, was es heißt, wenn wir es nicht hinkriegen: Die Bundesliga wäre den Bach runtergegangen.

In der Zusammenarbeit mit der Politik konnte ich in dieser Phase natürlich ein bisschen helfen. Ich habe mich da mit DFL-Geschäftsführer Christian Seifert sehr gut und sehr oft ausgetauscht. Er hat das Hygienekonzept gedanklich entworfen. Die Mediziner und die anderen Mitarbeiter haben es dann umgesetzt. Er hat das außergewöhnlich gut gemacht. Ich habe meine Rolle in der Krise so verstanden, dass ich ihn unterstützte, wo ich konnte.

Wenn man bei Politikern um Vertrauen wirbt, hilft es zweifellos, wenn man sie seit vielen Jahren kennt. Denn am Ende geht es immer um Vertrauen. Wenn diese Leute wissen, dass du keinen Quatsch erzählst und sie sich auf dich verlassen können, dann hilft das auch in so einer Krise.

Ich hatte in dieser Zeit nicht ein einziges Gespräch und kein einziges Treffen zum Thema ›Re-Start‹, ohne vorher und nachher mit Christian Seifert gesprochen zu haben. Ich habe darüber nicht mit anderen Leuten aus der Liga gesprochen, mein Ansprechpartner war immer Christian Seifert. Zudem habe ich mich natürlich auch mit den Champions-League-Klubs, dem FC Bayern, Bayer Leverkusen und RB Leipzig, ausgetauscht und abgestimmt. Zusammen haben wir in einer Solidaritätsaktion 20 Millionen Euro für Härtefälle in der ersten und zweiten Liga bereitgestellt. In diesen Wochen haben wir geackert ohne Pause.

Die Politik hofft, dass eine Rückkehr der Bundesliga auf breite Zustimmung bei den Leuten stößt. Die Bundeskanzlerin und die führenden Ministerpräsidenten gehen davon aus, dass sich die Menschen nach Kontaktverboten und einem Leben weitgehend in den eigenen vier Wänden auf ein bisschen Abwechslung freuen. Doch den Deutschen steht in jenen Tagen in ihrer übergroßen Mehrheit der Sinn überhaupt nicht nach Fußball. Vielmehr kommen in der Krise tiefsitzende Vorbehalte gegenüber dem Profifußball zum Vorschein, gegenüber seinen Auswüchsen: Der mediale Gigantismus, die astronomischen Gehälter und Ablösesummen sowie die Abgehobenheit mancher Stars, die sich Goldsteaks auftischen lassen und ihren Reichtum maßlos zur Schau stellen, stehen nun im schärfsten Kontrast zu einem Leben, das von Unsicherheit und Ängsten geprägt ist.

Viele Fans fragen sich auch, wie es möglich sein kann, dass einer Branche, in der bis zuletzt die Milliarden sprudelten, der Kollaps droht, wenn ein paar Spiele abgesagt werden. Doch selbst das reale Schreckensszenario, dass mehr als ein Dutzend Profiklubs der ersten und zweiten Liga bei einem Saisonabbruch vor der Insolvenz stehen, kann die Stimmung im Land nicht drehen. Selbst das starke gesellschaftliche Engagement, das Borussia Dortmund und viele andere Klubs in der Krise an den Tag legen, verschafft dem Profifußball keinen neuen Kredit. Der BVB wandelt schon früh in der Pandemie einen Teil seines Stadions in ein Corona-Behandlungszentrum um. Die Profis unterstützen ältere und damit besonders gefährdete Anhänger, indem sie ihnen den Einkauf abnehmen. Nach der Geschäftsführung verzichten die Stars freiwillig auf rund 20 Prozent ihres Gehaltes. Die Spieler verbinden diesen Verzicht mit dem Wunsch, dass keiner der BVB-Mitarbeiter auf Kurzarbeitergeld gesetzt wird. Doch es hilft nichts: Der Widerstand gegen den Fußball bleibt massiv.

Ich finde diese Ablehnung im höchsten Maße ungerecht. Einerseits, weil wir beim BVB der Politik zehn Jahre lang bei ungezählten Kampagnen geholfen haben. Wir haben bei Borussia Dortmund schon Kampagnen gegen Rassismus gemacht, da war das noch kein großes Thema auf der Straße. Wir sind von der Politik in der Vergangenheit immer wieder gebeten worden, bei sozialen Kampagnen mitzumachen, weil es hieß: Der Fußball prägt die Gesellschaft, der Fußball bildet die Gesellschaft ab. Das sollte plötzlich nicht mehr gelten.

Wenn sich unsere Spieler dann, als die Liga wieder lief, mit George Floyd und gegen Polizeigewalt in Amerika solidarisierten, war der Fußball wieder ganz toll. Aber wenn dann einer dieser Spieler ein paar Tag später nach einem Besuch beim Frisör die Maske für ein Foto abnimmt, werden die Spieler wieder als verantwortungslose Gesellen hingestellt. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist mir viel zu extrem.

Und andererseits: Wenn der Lufthansa, einem kerngesunden Unternehmen, in sechs Monaten das komplette Geschäft wegbricht, weil sie keine Leute mehr im Flieger hat – wie wir keine mehr im Stadion –, dann ist doch klar, was passiert, wenn so eine Krise länger dauert. Wer den Fußball liebt und trotzdem billigend in Kauf nimmt, dass es dann bald keine Bundesliga mehr gibt, weil man den Klubs das Wasser abgräbt, auch für den hatte und habe ich kein Verständnis. Dass man als Fußballexperte nicht erkennt, dass diese Krise vom ersten Moment an eine existenzielle war, ist mir bis heute unverständlich.

Außerdem müsste man erkennen, dass Exzesse, wie die extrem hohen Ablösesummen, vor allem von den arabischen Staatsklubs und Oligarchen ausgehen. Die zahlen diese Summen, nicht wir. Der Mehrheit der Bevölkerung sehe ich eine undifferenzierte Haltung in diesen Fragen nach, aber nicht den Experten. Denn wenn dieses Ablösesystem kollabiert, ist das in Wahrheit schlecht für die Bundesliga. Die Bundesliga nämlich verkauft mehr Spieler, als sie einkauft.

Außerdem wird niemand gezwungen, sich Fußball anzusehen. Jeder kann zu Hause bleiben. Niemand muss den Fernseher einschalten. Das ist auch in Ordnung. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung ist, der Fußball ist nicht mehr wichtig, werden irgendwann die Einnahmen sinken. Daraus folgt, dass dann auch die Gehälter sinken. Das ist völlig klar. Das geht zwar nicht in sechs oder zwölf Monaten, weil wir das vertraglich nicht hinbekommen. Aber es wird passieren. Das wird sich dann regulieren.

Die Lage im Frühjahr 2020 ist im Fußball paradox. In Dortmund wie an anderen Bundesligastandorten wird das Engagement der Klubs und vieler Kicker ausgesprochen wohlwollend und anerkennend aufgenommen. Doch an der Ablehnung, die der Profifußball insgesamt erfährt, ändert das wenig. Es wird außerdem kaum gesehen, dass von einem Neustart der Bundesliga unter entsprechenden Hygieneregeln auch andere Sportarten, Kulturveranstaltungen und Unternehmen profitieren, dass davon ein hoffnungsvolles Signal ausgehen kann. Denn auch normale Unternehmen mit normalen Mitarbeitern stehen in ihren Betrieben vor demselben Dilemma wie der Profifußball: dass man nicht den nötigen Mindestabstand einhalten kann, die Arbeit und das Leben aber trotzdem weitergehen müssen.

Der Fußball wird während des Lockdowns wochenlang zum gesellschaftlichen Kampfplatz. Die Frage seiner Rückkehr zu einer symbolischen Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die weiter einen harten Kurs von den Regierungen fordern, und denjenigen, die auf Lockerungen drängen. In zahlreichen Talkshows wird dieser Konflikt geschürt. Vor allem, wenn es heißt, der Profifußball entziehe dem medizinischen Personal dringend benötigte Testkapazitäten, kochen die Emotionen hoch. Watzke wehrt sich in Zeitungsinterviews und im Fernsehen immer wieder gegen diese Unterstellung, denn sie entspricht nicht der Faktenlage. »Es ärgert mich, wenn solche falschen Behauptungen immer wieder in die Gesellschaft hineingetragen und weiterverbreitet werden. Die Behauptung, der Fußball nehme Ärzten und Pflegepersonal rücksichtslos Tests weg, stimmt einfach nicht. Wir nehmen niemandem auch nur einen einzigen Test weg!«, sagt der BVB-Boss im April. »Das wäre völlig anmaßend. Mats Hummels und Marco Reus sind selbstverständlich nicht mehr wert als eine Krankenschwester, das ist doch völlig klar. Und wenn es irgendwann doch einen Engpass bei den Testkapazitäten geben sollte, dann zieht sich der Fußball zurück, binnen Millisekunden!«

Die Politik lässt sich vom Konzept des Profifußballs überzeugen. Die Öffentlichkeit nicht. Noch in der Woche vor dem Bundesliga-Neustart am 15. Mai, für den die Politik Anfang jenes Monats schließlich den Weg freimacht, spricht sich weniger als ein Drittel der Bevölkerung für eine Fortsetzung der Saison aus. Die absolute Mehrheit ist weiterhin dagegen. Als die Entscheidung gefallen ist, verschwindet für Watzke der Druck trotzdem nicht. Er verändert sich nur.

Als klar war, dass wir weitermachen dürfen, hat man jeden Tag mit dem Druck gelebt: Hoffentlich passiert nichts, hoffentlich benimmt sich keiner daneben, hoffentlich bekommen wir keine Infektionsfälle. Es hat sich dann aber zum Glück gezeigt, wie gut unser Konzept trägt.

Auch am Saisonende sind Watzkes Sorgen nicht verschwunden. Die Krise hat nicht nur in der abgelaufenen Spielzeit tiefe Löcher in die Bilanz gerissen, in der kommenden Saison werden sie aller Voraussicht nach noch größer. Jedes Heimspiel ohne Zuschauer koste den BVB unmittelbar drei Millionen Euro, rechnet er vor, im Endeffekt seien es jedoch eher vier Millionen. Denn die Geisterspiele strahlen auch auf das Merchandising aus, ebenso auf das Sponsoring. Viele mittlere Unternehmen, die nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Kunden zu einem Spiel einzuladen, zeigten nun auch daran geringeres Interesse, sagt der BVB-Boss. Und das Ende sei längst noch nicht in Sicht.

Da wir über viele Jahre wirtschaftlich seriös gearbeitet haben, besitzt der BVB eine gute wirtschaftliche Basis. Das ist wichtig, denn kein Klub ist von Corona so stark getroffen wie wir, denn wir haben das größte Stadion mit den meisten Zuschauern, außerdem das zweitgrößte Sponsoringaufkommen. Beides hängt zusammen – und dementsprechend haben wir auch die zweitteuerste Mannschaft.

Ich kann bisher nur sagen, dass uns diese Krise am Ende dieser Saison rund 45 Millionen Euro kosten wird, vielleicht noch mehr, je nachdem, wie viele Einnahmen noch wegbrechen. Es fällt Fernsehgeld aus, es fällt Sponsorengeld aus, und dann gibt es aus längst vollzogenen Transfers noch ausstehende Teilablösesummen, doch die Klubs sagen, dass sie nicht mehr zahlen können. Das macht auf der wirtschaftlichen Planungsebene alles sehr schwer. Es ist ein ständiger Kampf.

Doch ohne Geisterspiele wären aus den rund 45 Millionen Euro zwischen 70 und 80 Millionen geworden. Das hätte uns nicht umgebracht, aber ehrlich gesagt: Noch zwei Lockdowns, dann wird es auch für die Großen eng.

Watzkes Stimmung schwankt immer wieder, als er die rund hundert Tage seit dem Bundesligaabbruch in den Gesprächen in Dortmund Ende Juni nacherzählt. Und sie dabei selbst noch einmal nacherlebt. Die wirtschaftliche Sorge um die Bundesliga und den BVB ist bei ihm ständig präsent. Spürbar ist auch sein Zorn über diejenigen, die den Neustart des Fußballs mit falschen Behauptungen verhindern wollten. Und der Ärger, dass sie sich für ihre Fehlprognosen nie entschuldigt haben. Da ist aber auch eine tiefe Besorgnis, weil viele Menschen in der Hochphase der Krise, als in der Politik ein Wettlauf um den härtesten Kurs stattfand, dem striktesten Weg applaudierten, dann jedoch, als die ersten Lockerungen beschlossen wurden, sofort immer weitere forderten, als ob die Krise gar nicht mehr existierte. Solche extremen Ausschläge habe er in der Gesellschaft früher nicht wahrgenommen, und damit meine er nicht einmal die Leute, die Corona verleugneten und auf den Straßen demonstrierten.

Dann kommt Watzke auf seine glücklichen Momente zu sprechen, die ihm Kraft gegeben haben in der schwierigen Zeit. Es sind jene Tage, als der Ball wieder rollt und sein altes Leben wieder in Gang kommt, zumindest ein wenig.

Ich habe innerlich richtig jubiliert, als ich endlich wieder Fußball erleben konnte, live und im Fernsehen. Wenn in 55 von 60 Jahren der Fußball das prägendste Element deines Lebens ist, und auf einmal ist gar nichts mehr da, dann ist das schon hart.

Alles, was ich beruflich mache, ist nur Mittel zum Zweck, um Fußball zu schauen. Das verstehen die meisten nicht, aber für mich ist es so. Das Fußballspiel ist für mich das ultimative Highlight in meinem Job, alles andere ist nur Beiwerk. Teilweise mache ich das gerne, teilweise aber auch gar nicht. Alles dient nur der Tatsache und dem Ziel, mit einer möglichst guten Mannschaft Fußball zu spielen.

Unser erstes Spiel nach der Pause war für mich eine totale Befreiung. Alles lief reibungslos, und wir haben 4:0 gegen Schalke gewonnen. An dem Abend war ich wenigstens für ein paar Stunden komplett froh. Doch spätestens am nächsten Tag weißt du wieder, dass es keine Lösung in dieser Krise gibt. Aber so ein Spiel, das hilft mir wirklich. Es ist ein kleines Licht in dieser Krise.

Wann rechnet er wieder mit einem ausverkauften Stadion, mit einer pulsierenden Südtribüne, mit einem Fußball, für den er lebt und den er liebt? Watzke zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagt er, »doch ich würde alles dafür geben.«

Hans-Joachim Watzke und Michael Horeni

Dortmund, Juli 2020

INHALT

1. Vorspiel

2. Herkunft

3. Malocher und Millionäre

4. Unter Lichtgestalten

5. Echte Liebe, die Rettung des BVB

6. Ware Liebe – Basis und Börse

7. Aki & Kloppo, eine Beziehungsgeschichte

8. Jürgen Klopp: Aki, der BVB und ich

9. Das Attentat

10. Die neue Borussia

11. Rettet den Fußball für die Fans!

12. Endspiel

Namensregister

Bildnachweis

Bildteil

1

VORSPIEL

Und dann ist da diese riesige Wand, gelb und schwarz und ungezähmt. Sie kann es kaum erwarten zu explodieren. Sie will dieses Gefühl zurück, diesen Rausch, dieses Glück. Seit Jahren verzehrt sie sich danach. Es hat sich aber nicht zurückholen lassen, sosehr sie es auch wollte. Nun aber, an diesem Abend des 10. November 2018, läuft Paco Alcácer der Wand entgegen. Niemand kann ihm folgen, kein Mats Hummels, kein Jérôme Boateng. Niemand. Er hat alle abgeschüttelt, nur der Ball ist noch bei ihm. Mit jedem seiner Schritte kommt nun auch ein bisschen von jenem Glück zurück zum wilden Herzen der Borussia, zur Südtribüne, zur Wand, zu jedem Gelb und zu jedem Schwarz. Und zur Ehrentribüne kommt es auch. Zu Hans-Joachim Watzke, der den Atem anhält.

Nur noch Manuel Neuer steht zwischen Paco Alcácer und der Explosion; noch vierzig Meter, noch dreißig, noch zwanzig. Jeder seiner Schritte ist für die Wand jetzt wie ein Versprechen. Mit jedem Schritt wogt sie stärker und wilder, wie eine riesige Welle, auf und ab, hin und her. Die Welle verwandelt jeden Schritt Alcácers in ihre eigene riesenhafte Bewegung, und als er in den Strafraum eindringt, türmen sich das Schwarz und das Gelb auf. Wie eine Welle, bevor sie bricht. Manuel Neuer stemmt sich der Naturgewalt mit ausgebreiteten Baumstamm-Armen entgegen, ganz allein.

Watzke wird auf der Tribüne von der Welle erfasst. Sein Oberkörper schnellt nach vorne, näher ans Geländer heran, ans Spielfeld. Als sich Alcácer und der Riese im Tor nun im Strafraum Auge in Auge gegenüberstehen, scheint das gesamte Stadion zu verstummen. Stille, wie im Auge eines Orkans. In diese angespannte Ruhe hinein zuckt Alcácer kurz mit der Hüfte, fast unmerklich. Neuer erliegt diesem kaum sichtbaren Reiz, erst als er fällt, merkt er, dass er in die Falle gegangen ist. Aber da ist es zu spät. Alcácer hat nicht geschossen, er hat den Schuss nur angedeutet, verzögert. Als wollte er den Moment vor der Explosion noch ein wenig hinauszögern, ihn noch ein bisschen länger genießen. Dann schießt er, nicht hart, ein gefühlvoller Lupfer bloß. Es sieht aus wie ein Kinderspiel, so einfach und leicht. Als Neuer zu Boden sinkt und der Ball ganz langsam, fast wie in Zeitlupe, an ihm vorbei seinen Weg in die linke, hintere Torecke findet, erbebt die Wand. Was folgt, ist ein einziger Schrei: kehlig, animalisch. Alles, was sich an ungelebten Gefühlen und enttäuschten Hoffnungen aufgestaut hat in den vergangenen Jahren, entlädt sich nun, bricht ekstatisch hervor. Eigentlich ist es ist nur ein Tor, aber dieser Moment ist für die Wand wie eine Erlösung.

Auf der Tribüne springt Watzke von seinem Sitz auf, in den er sich zuvor das gesamte Spiel gezwungen hatte, als ob er sich selbst daran fesseln müsste, um seine Emotionen zu bändigen. Jetzt steht er mit aufgerissenem Mund an der Brüstung. Ein stummer Schrei in die Nacht, die Faust dem Orkan entgegengestreckt. Ein paar Sekunden, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Watzke schaut zu Matthias Sammer, der direkt neben ihm auf der Tribüne sitzt. Er umarmt ihn nicht in diesem Moment, er sagt auch nichts, muss er auch nicht. Beide spüren, was dieses Tor bedeutet: den Anfang einer neuen Zeit.

Mit dem Treffer von Paco Alcácer, mit diesem 3 : 2 für Borussia Dortmund, enden sechs Jahre Alleinherrschaft des FC Bayern München in der Fußball-Bundesliga. Die Diktatur des deutschen Rekordmeisters löst sich in diesem Augenblick auf. Das scheint ein ganzes Stadion zu ahnen, zu spüren, zu hoffen.

Denn noch ist das Spiel nicht vorbei. Und schon zweimal hat der wankende Gigant in diesem Duell seine enormen Kräfte mobilisieren können, von denen viele glaubten, er habe sie bereits verloren. In der gesamten ersten Halbzeit waren die Bayern stark und unverwundbar gewesen, wie immer in den vergangenen Jahren. Sie spielen von Beginn an besser, schneller und entschlossener als der BVB. Und sie führen bald 1 : 0 durch Robert Lewandowski. Seine Tore versetzen Watzke und allen anderen Borussen im Stadion immer einen Stich. Der tiefer geht, als wenn ein anderer Bayern-Spieler trifft. Ausgerechnet ihr einstiger Held, ihr Liebling. Watzke sinkt beim 0 : 1 von Lewandowski in sich zusammen. Sein Kopf fällt in den Nacken, als wäre die Kraft aus allen Muskeln gewichen, die ihn halten. Seine geschlossenen Augen sind auf einen schwarzen Himmel gerichtet, den er nicht sieht.

Ich bin immer sehr konzentriert während des Spiels. Viele meinen, dass ich dann grimmig gucke, aber das ist nicht der Fall. Ich bin einfach komplett konzentriert. Ich sehe nichts anderes, ich denke nichts anderes. Nur das Spiel, wie es sich entwickelt. Ich versuche immer, ein oder zwei Züge vorauszudenken. Das Tor von Lewandowski habe ich schon in der Entstehung kommen sehen, weil wir Serge Gnabry zu sorglos flanken lassen. Ich habe den Moment des Gegentores schon zwei Sekunden vorher durchlitten, bevor es dann wirklich passiert ist. Und so ein Tor in so einem Spiel, von dem du weißt, wie schwierig es ist, das noch auszugleichen, das ist ein Stich, ein tiefer Stich.

In der Pause wechseln Watzke und Sammer ein paar Worte auf der Tribüne, sie gehen die erste Halbzeit durch. Watzke steht mit eingefrorenen Gesichtszügen da, wie versteinert. Als der Vater eines kleinen Borussen-Fans ihn um ein Selfie mit seinem Jungen bittet, nickt Watzke wie ferngesteuert. Er stellt sich steif dazu und blickt ins Leere.

Watzke und Sammer sind zur Halbzeit froh, dass noch nicht alles verloren ist. Es hätte schlimmer kommen können, auch ein 0 : 2 oder 0 : 3 war möglich, ein aussichtsloser Rückstand. Beide hoffen, dass Trainer Lucien Favre in der Pause umstellt. Das Mittelfeld ist in der ersten Halbzeit das Problem des BVB. Das sieht auch Favre von der Trainerbank so. Er stellt in der Pause um. Mahmoud (»Mo«) Dahoud kommt für Julian Weigl, sofort ändert sich das Spiel, und nach wenigen Minuten ist auch die erste Dortmunder Chance zum Ausgleich da. Marco Reus stürmt in den Strafraum, und Manuel Neuer macht in diesem Moment, was er in all den Jahren zuvor nicht gemacht hat: Er verschätzt sich bei seiner Abwehraktion und bringt Reus zu Fall. Elfmeter.

Watzke kann nicht hinsehen. Reus läuft an. Die gelbe Wand, auf die er zuläuft, zittert vor Erregung. Und dann ein Schrei, zehntausendfach. Watzke schlägt die Augen auf, 1 : 1.

Die alte Macht wankt, aber sie gibt nicht auf. Als sich die jungen Dortmunder noch an ihrem Ausgleichstreffer begeistern und an dem Aufbruch, der in diesem 1 : 1 zu stecken scheint, schlägt das Imperium zurück, keine drei Minuten später. Unbarmherzig, wie es nur die Bayern können.

Es ist wieder Robert Lewandowski, der die Borussen ins Herz trifft. Eiskalt, 2 : 1. Nach seinem zweiten Tor steht der Pole vor dem Bayern-Block, kerzengerade wie ein Soldat, die Arme über der Brust gekreuzt, beide Zeigefinger streben in den Himmel wie Ausrufezeichen, jeder für eines seiner beiden Tore. Das Schwarz und das Gelb erstarren. In der Wand. Und auf der Ehrentribüne.

Eine Reihe über Watzke und seinen Kollegen aus der Chefetage des BVB, quer versetzt, springt Uli Hoeneß auf, sein Gesicht glüht vor Freude. Sein rot-weißer Schal leuchtet im Dortmunder Kosmos, der ihn, den menschgewordenen FC Bayern, auf der Ehrentribüne umgibt wie ein schwarz-gelber Ozean. Wenn es dabei bleibt, bei diesem 2 : 1 für die Bayern, dann beträgt der Rückstand der Münchner auf die Dortmunder nur noch einen einzigen Punkt. Nicht mehr weit, und die Machtverhältnisse wären wieder die alten, sie wären sich schon wieder ganz nah, bevor die Bayern in den nächsten Wochen vorbeizögen. Ewigen Machtverhältnissen gleich, geschaffen und geformt aus Uli Hoeneß’ unbändigem Willen, der auch in diesem Moment stärker zu sein scheint als die zehntausendfachen Sehnsüchte in Dortmund. So wünscht sich Hoeneß das. Und so ist es bisher immer gekommen, fast immer.

An diesem Abend ist es anders. Der zweite Schlag des FC Bayern ist nicht der Knock-out für das junge Dortmund. Der Gegentreffer wirft das Team nicht um, im Gegenteil, er spornt es an. Plötzlich sind so viel Kraft und Wille in der neu formierten Mannschaft, die selbst nicht ahnt, dass sie davon schon so viel besitzt. Watzke glaubt in diesem Moment jedoch nicht mehr an eine Dortmunder Wende, an einen Sieg. In der zweiten Hälfte hält er es kaum aus auf seinem Platz. Als Reus und Alcácer innerhalb von drei Minuten zwei große Chancen zum 2 : 2 vergeben, die man, wie es ein ungeschriebenes Fußballgesetz besagt, eigentlich nicht vergeben darf, wenn man die Bayern schlagen will, fühlt er sich in seinen Zweifeln bestätigt. Die Borussia lässt sich an diesem Abend trotzdem nicht aufhalten. Nicht von den Toren der Bayern, auch nicht von den Toren, die ihr selbst nicht gelingen wollen.

In der 67. Minute ist es Axel Witsel, der einen der ungezählten Dortmunder Angriffe mit großer Ruhe und Klarheit aufbaut. Über Dahoud landet der Ball auf dem rechten Flügel bei Łukasz Piszczek, der eine präzise Flanke in den Strafraum der Bayern schlägt. Dort erwartet sie Marco Reus, er fixiert den Ball, der ist aber extrem schwer zu verarbeiten. Eine echte Chance wird nur daraus, wenn er ihn mit vollem Risiko nimmt, volley. In diesem Spiel hat der Dortmunder Kapitän schon drei Chancen vergeben, alle waren besser als die, die sich ihm jetzt bietet.

Auf der Tribüne ist Watzke, als er den Bewegungsablauf von Marco Reus sieht, felsenfest davon überzeugt, dass Reus diesmal trifft. Denn eine perfekte Direktabnahme aus dieser Position, flach und aus vollem Lauf, ist eine Spezialität von ihm. Watzke hat im Training schon dutzendfach beobachtet und bewundert, wie Reus diese schwierigen Dinger nimmt und sie in der Kiste versenkt. Und genau so ist es in diesem Moment. Reus trifft in einer fließenden Bewegung perfekt mit dem Spann – und der Ball landet hart und unhaltbar in der hinteren Ecke, in die der Riese im Bayern-Tor nicht hinkommt. Dortmund ist zurück.

Und dann, nur sechs Minuten später, läuft Paco Alcácer alleine der Wand entgegen – das 3 : 2 für Dortmund.

Als Sancho in der eigenen Hälfte dem Ribéry den Ball abluchst und ihn dann sehr gut weiterspielt und Witsel dann diesen perfekten Pass perfekt in den Lauf von Alcácer spielt, da habe ich gedacht: Das kann was werden. Und dann ist es tatsächlich passiert. Aber ich habe dann ja immer noch Matthias Sammer an meiner Seite, der mir selbst das letzte bisschen Hoffnung nimmt, das in mir ist. In der Sekunde, als das 3 : 2 für uns gefallen ist und ich mich endlich einmal gefreut habe, hat er nur zu mir gesagt: »Das kam ein bisschen früh.«

Mit dem 3 : 2 ist das Spiel ja auch tatsächlich noch nicht vorbei. Es dauert noch 17 Minuten, Nachspielzeit obendrauf. Jede Minute dehnt sich für Watzke, die Wand und alle Borussen nun wie Stunden. Als Manuel Akanji kurz vor Schluss den Ball aus der Gefahrenzone drischt, tritt auch der zweite BVB-Geschäftsführer Thomas Treß, der rechts neben Watzke auf der Tribüne sitzt, mit seinen feinen Lederschuhen den imaginären Ball von der Tribüne, nahezu synchron.

Nachspielzeit. Fünf Minuten werden angezeigt. Watzke stöhnt auf. Ein Entlastungsangriff des BVB über Witsel verfehlt sein Ziel, aber die Aktion bringt etwas Zeit. Und ein bisschen Ruhe in der Nervenschlacht. Ein Dortmunder Balljunge wirft den Ball, der im Aus gelandet ist, jedoch umgehend zurück zu Manuel Neuer, der postwendend den Abschlag ausführt. Und so läuft das Spiel gleich weiter in Richtung Dortmunder Tor. Watzke springt auf und brüllt in Richtung des Kindes: »Der kommt nie wieder ins Stadion!«

95. Minute. Lewandowski lauert wieder im Strafraum auf den Ball. Er bekommt ihn durch eine Flanke von Joshua Kimmich und trifft mit einem Hackentrick, ein herrliches Tor. Watzke versinkt wieder in seinem Sitz, 3 : 3. Doch die Fahne des Linienrichters ist oben, Abseits. Watzke sammelt sich, aber das Spiel ist immer noch nicht vorbei. 96. Minute. Der Schiedsrichter pfeift einfach nicht ab, Watzke wird fast verrückt. Es springt wieder auf und tritt dabei fast den kleinen Bildschirm um, auf dem er zu seinen Füßen das Spiel auch im Fernsehen verfolgen kann. Watzke brüllt: »Pfeif ab, Mensch! So eine Scheiße!«

Und dann pfeift Schiedsrichter Manuel Gräfe tatsächlich ab. Watzke wird später, als er wieder klar denken kann, den Unparteiischen für seine überragende Leistung in höchsten Tönen loben. Ein solches Spitzenspiel könne man kaum besser leiten, sagt er am nächsten Tag, als er im Fernsehstudio sitzt und nichts mehr an den BVB-Fan in ihm mit seinen Verwünschungen und Beschimpfungen erinnert.

Auf der Ehrentribüne kommt Karl-Heinz Rummenigge nach dem Abpfiff zu Watzke. Er gratuliert seinem Dortmunder Kollegen mit Handschlag zum Sieg. Watzke wiederum entschuldigt sich für die Bierdusche, die Rummenigge und Hoeneß nach dem Dortmunder Siegtreffer zum 3 : 2 von einem BVB-Fan auf der Tribüne abbekommen hatten. Rummenigge winkt ab, die Sache ist für ihn nicht der Rede wert. Kurz darauf folgt Uli Hoeneß mit dem Rest der Bayern-Delegation zur Gratulation, auch sie schütteln nun den Dortmunder Kollegen die Hände. Aber es knistert, als Hoeneß durch die Reihen geht, das Adrenalin ist noch immer voll da.

Eine Viertelstunde nach Spielschluss sitzt Watzke zusammen mit seinen engsten Freunden und Mitarbeitern an einem Holztisch im Stadion, auch seine beiden erwachsenen Kinder sind dabei. Nach dem Schlusspfiff waren sie sofort zu ihm auf die Ehrentribüne gelaufen und hatten ihren Vater umarmt, so fest und innig wie sonst niemand nach diesem Sieg. Sie wissen genau, was dieser Erfolg für ihn bedeutet.

Kurzer Rückblick: Schon rund zwei Stunden vor dem Spiel hat sich die kleine Gruppe, die mit Watzke auch nach dem Spiel zusammenkommt, im Stadion getroffen. Zu keiner festen Uhrzeit, nach und nach trudeln alle ein. Das Treffen ist ein Ritual. Bei jedem Heimspiel sind jene Menschen um Hans-Joachim Watzke, die ihm nahestehen. Er nennt sie seinen inner circle.

Ich brauche das. Das sind meine engsten Vertrauten, meine Familie. Da kann ich sein, wie ich bin, sonst würde ich das gar nicht aushalten. Und ich brauche so eine Runde, in der mir meine Leute auch ungeschminkt die Wahrheit sagen. Ich habe die Runde extra so zusammengestellt, wie sie ist: gemischt, nicht nur Männer. Alle sind jünger als ich, einige sogar sehr viel jünger. Ich mag und brauche auch die Hinweise, wie jüngere Leute die Dinge sehen. Wenn man als Sechzigjähriger nur mit Sechzigjährigen zusammen ist, fühlt man sich schnell wie siebzig.

Seit einiger Zeit gehört auch Matthias Sammer zum inner circle. Er war in den Neunzigerjahren derjenige BVB-Spieler, über den Watzke den damaligen Verantwortlichen des Klubs näherkam. Sammer war das Ticket zu seinem Aufstieg bei Borussia Dortmund. Aber dann trübte sich ihr Verhältnis ein. Es kam zum Bruch. Seit dem Sommer 2018 ist Sammer ihm und dem Klub wieder nahe, als externer sportlicher Berater des BVB und auch als persönlicher Ratgeber von Watzke.

Zur Runde gehört seit ewigen Zeiten ein Landwirt mit seiner Ehefrau aus Marsberg-Erlinghausen, aus Watzkes Heimatort im Sauerland. Er ist der stellvertretende Vorsitzende des örtlichen Fußballklubs, des Landesligisten SV Rot-Weiß Erlinghausen. Watzke ist dort Vorsitzender. Beide Männer haben die jeweiligen Rollen im Klub von ihren Vätern übernommen, die den Verein über Jahrzehnte genau in derselben Konstellation geführt haben. Watzke war früher auch Trainer dieses Klubs, nachdem er selbst alle Jugendmannschaften durchlaufen hatte und später in der ersten Mannschaft spielte. Mittlerweile kickt dort in der Landesliga sein Sohn André, den Watzke als einen seiner wichtigsten Ratgeber bezeichnet.

Vor dem Anstoß geht es in der Runde nur ums Spiel gegen die Bayern. Watzke und Sammer rechnen mit einer Niederlage. Ein Unentschieden würden beide in diesem Moment sofort mitnehmen, schon wegen der akuten Personalprobleme. Das sagen sie zumindest. Torwart Roman Bürki ist nicht rechtzeitig fit geworden, der hochgewachsene Innenverteidiger Abdou Diallo auch nicht. Watzke geht nun jeden einzelnen Bayern- und BVB-Spieler durch, auch wenn er die genaue Aufstellung noch nicht kennt. Ihm fehlt es nach dem Ausfall von Diallo an diesem Tag an Größe im Dortmunder Team, nicht zuletzt wegen der Standardsituationen. Er zitiert Otto Rehhagel: »1,90 Meter kannst du nicht lernen.«

Als Sammer in der Runde erklärt, weshalb eine Niederlage des BVB gegen die Bayern eigentlich besser sei für die weitere Entwicklung des Teams, hängen alle an seinen Lippen. Wenn die junge Mannschaft das Spiel gewinnt und dann sieben Punkte vor den Bayern liegt, fährt er ruhig fort, dann könne sich das Team in dieser Saison nicht mehr normal weiterentwickeln, alles ginge viel zu schnell, die Erwartungen würden riesig groß. Und das sei nicht gut auf lange Sicht. Eine Niederlage gegen Bayern sei ohnehin normal angesichts der Kräfteverhältnisse, fügt er hinzu. Und wenn es so komme, dann könne es auch ganz normal weitergehen auf dem neuen Weg des BVB, mit dann immer noch einem Punkt Vorsprung auf die Bayern. Das sei nicht nur völlig in Ordnung, sagt Sammer. Es sei sogar besser. Denn für eine erfolgreiche langfristige Entwicklung brauche es unbedingt Normalität, anders funktioniere es nicht. Und das müsse man den Leuten immer wieder sagen. Man könne einfach nicht schneller sein als die Zeit, die man brauche.

Die Runde schweigt, und Watzke nickt. Er findet vernünftig, was Sammer sagt. Aber die Normalität einer Niederlage gegen den FC Bayern kann ihm an diesem Tag gestohlen bleiben. Und auch mit Sammers Warnung vor einem möglichen Kontrollverlust durch den Rausch eines gefährlichen Siegs kann sein Fußballerherz in diesem Augenblick nicht viel anfangen. Aber das sagt er nicht. Watzke nickt bloß, dafür kennt er Sammer zu gut. Er weiß genau, dass sich auch Sammer in Wahrheit nie mit zweiten Plätzen und normalen Entwicklungen zufriedengibt. Zumindest dann nicht, wenn auch nur eine klitzekleine Chance besteht, alles zu gewinnen. Vor allem aber weiß er, dass in Sammer ein notorischer Skeptiker steckt, ein großer Skeptiker, genau wie er selbst einer ist.

Und so sitzen kurz vor dem großen Spiel zwei Schwarzmaler nebeneinander, die in ihrem Innersten inständig auf einen Dortmunder Sieg hoffen, aber nicht aus ihrer Haut können. Und beschwören gemeinsam herauf, was sie eigentlich unbedingt verhindern wollen, schützen damit vermutlich vor allem sich selbst, weil sie wissen, wie weh es sonst tut: eine Niederlage gegen den größten Konkurrenten, eine Niederlage gegen den FC Bayern, jetzt, wo man wieder ganz nah an ihm dran ist.

Bis zum Anpfiff sind Watzke und Sammer äußerlich cool, fachlich aber reden sie sich die Köpfe heiß. Die wichtigste, vielleicht spielentscheidende Frage knapp zwei Stunden vor dem Spitzenduell lautet für sie: Wer spielt im BVB-Mittelfeld – Delaney oder Dahoud? Das ist für beide die große Frage, und sie wird immer größer, je länger sie darüber reden. Sie diskutieren über die Stärken und Schwächen, über die möglichen Vor- und Nachteile, die diese Varianten für die Partie bedeuten könnten. Watzke und Sammer kennen zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht die endgültige Aufstellung von Trainer Favre. Dann sickert sie in der Runde durch: Weigl spielt! Watzke und Sammer machen große Augen.

Vor dem Spiel hat Watzke noch einen Termin, ein spätes Mittagessen der beiden Klubführungen. Borussen-Präsident Reinhard Rauball und Hans-Joachim Watzke als Geschäftsführer empfangen ihre Kollegen aus der Bayern-Führung, Präsident Uli Hoeneß und den Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge. Früher haben sich die Chefs der beiden Vereine vor dem Spiel bei einem Italiener in Dortmund getroffen, aber der Aufwand ist allen inzwischen zu groß.

In diesen Tagen brodelt es im Fußball. Die Pläne von europäischen Topklubs für eine neue Super League sind ans Licht gekommen. Die Idee: eine geschlossene, privatwirtschaftlich organisierte und hochlukrative Liga mit sechzehn Top-Mannschaften, ohne Absteiger. Ein elitärer Fußballzirkel mit dem FC Bayern, einem der Drahtzieher der Aktion, als einzigem deutschen von elf Gründungsmitgliedern. Borussia Dortmund wäre demnach nur als einer von insgesamt fünf sogenannten Gästen in der Eliterunde vorgesehen. Die Super League ist seit Tagen das große Thema in den Medien und unter den Fans. Es gibt Gesprächsbedarf.

Auch die denkwürdige Pressekonferenz des FC Bayern ist noch in aller Munde, bei der Karl-Heinz Rummenigge es nicht unter Artikel 1 des Grundgesetzes tut und angesichts zunehmend kritischer Berichterstattung die Achtung der Menschenwürde seiner Spieler anmahnt, während Uli Hoeneß wenige Minuten später einen Bayern-Abgänger niedermacht. Der geplante Befreiungsschlag in der sich anbahnenden sportlichen Krise erscheint wie Realsatire, die dem Klub ordentlich Spott und Schaden einträgt. Die Bayern-Granden wirken wie aus der Zeit gefallen, vor allem Uli Hoeneß. »Jeder hat gesehen, wie die Dinge bei uns speziell in den zwei Monaten Oktober und November schiefgelaufen sind. So was geht dann bei uns radikal durch den ganzen Klub. Fehler sind da überall gemacht worden: von mir und Uli, auch bei der Taktik, bei der Aufstellung – frag’ mich nicht, was noch alles«, wird Rummenigge ein paar Monate später über diese schwierige Münchner Zeit sagen, als er über das Verhältnis des FC Bayern zu Borussia Dortmund und seine persönliche Beziehung zu Hans-Joachim Watzke für dieses Buch spricht.

An jenem Tag ahnt Rummenigge noch nicht, dass die Bayern am Ende doch wieder deutscher Meister sein werden. Dass sie einen Rückstand von zwischenzeitlich neun Punkten auf den BVB aufholen. Dass sie die Tabellenführung in der Rückrunde dann trotzdem noch einmal an den BVB abgeben müssen und die Bundesliga mit dem erneuerten Duell der großen Rivalen die spannendste Saison in diesem Jahrzehnt erlebt, mit der endgültigen Entscheidung zugunsten der Münchner Meister erst am allerletzten Spieltag.

»Viel Spaß in der Höhle der Löwen, Aki«, sagt einer seiner Freunde am Tisch, als sich Watzke kurz vor dem Duell zum Meeting mit Rummenigge und Hoeneß verabschiedet und noch alles offen ist. Watzke lacht. Auch da müsse man durch, sagt er.

Ich bin stolz auf diese Runde. Dass so was gelingt, dass du so etwas im Leben hast, das dich immer wieder auffängt, aufbaut oder in die Spur bringt – das ist großartig. Das ist für mich das A und O.

Eine Dreiviertelstunde vor Spielbeginn kehrt Watzke wieder in seine Runde zurück. Er verliert kaum ein Wort über das Treffen mit der Bayern-Führung. Über die Super League habe man nicht miteinander gesprochen. Und auch sonst nicht viel. Ein Pflichttermin, mehr nicht. Und auch ein bisschen lästig, so wirkt es. In Gedanken ist Watzke ohnehin schon beim Spiel.

Dann geht’s los. Die neunzig Minuten, auf die Watzke so lange gewartet hat – als Tabellenführer den Bayern zu begegnen, wieder ohne Weiteres in der Lage, sie geschlagen nach Hause zu schicken. Nach dem Raubzug der Bayern am BVB-Personal vor einigen Jahren, nach all den Demütigungen, den eigenen Fehlern, dem Attentat.

Als der Sieg dann tatsächlich geschafft ist, nach neunzig Minuten und sechs Minuten Nachspielzeit, und sich das Gefühl des Triumphs erstaunlich langsam in ihm auszubreiten beginnt, ist Watzke schon zu seinen Freunden und seiner Familie in den Bauch des Stadions zurückgekehrt. Erst dort lässt er sich fallen, aber selbst in vertrauter Umgebung weicht die Anspannung erst allmählich aus seinem Körper. Es dauert seine Zeit, wie nach einer schweren Prüfung.

In den ersten Minuten nach dem Schlusspfiff habe ich eigentlich gar nichts gefühlt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal mehr, was ich direkt nach dem Schlusspfiff gemacht habe. Ich kann mich nur erinnern, dass ich versucht habe, eine Mitarbeiterin, die eine Reihe vor mir saß und die aus der Emotion über unseren Sieg gegen die Bayern heraus die ganze Zeit geweint hat, etwas zu beruhigen. Aber das war bestimmt schon ein paar Minuten nach dem Schlusspfiff. Dann habe ich noch die Mannschaft beobachtet, das mache ich immer nach dem Spiel. Wer mit wem kommuniziert, wer auch mit den Bayern kommuniziert. Ich bin dann zusammen mit der Bayern-Führung über den Platz gegangen. Ich weiß nur, dass es faktisch so war, aber ich weiß nicht mehr, wie es war. Da war ich noch gar nicht bei mir.

Als Watzke an den Tisch kommt, ist es auch dort seltsam still. Keine überschäumende Freude wie in der Kabine, kein Abklatschen wie auf der Tribüne, keine großen Sprüche wie in der Kneipe. Watzke hatte sich schon vor dem Spiel zwei Zigarren mitgebracht, zur Belohnung oder zum Trost, je nachdem. Die dünne bei Niederlage, die dicke bei Sieg. Aber jetzt rührt er beide nicht an. In der ersten halben Stunde wird fast überhaupt nicht über das Spiel gesprochen, zu stark wirkt es nach. In der Loge mit Watzkes engsten Vertrauten – Carsten Cramer aus der BVB-Geschäftsführung, die beiden Klub-Juristen Robin Steden und Thilo Igwecks sowie seine langjährige Assistentin Sarah Reichert – spielt der Fußball in den Gesprächen noch keine große Rolle.

Am Tisch sitzt auch Thomas Steg. Er war sieben Jahre stellvertretender Pressesprecher der Bundesregierung, erst unter Kanzler Gerhard Schröder, dann unter Angela Merkel, seitdem ist er Politik- und Kommunikationsberater. Steg ist einer der zahlreichen Bekannten und Partner von Watzke aus dem politischen Geschäft. In Berlin organsiert Steg für ihn seit dem Jahr 2010 einen Gesprächskreis mit ausgesuchten Hauptstadt-Journalisten. Watzke wollte den BVB