Ein Jahr mit Thomas Bernhard - Karl Ignaz Hennetmair - E-Book

Ein Jahr mit Thomas Bernhard E-Book

Karl Ignaz Hennetmair

4,9

Beschreibung

Erstmals erscheinen in ungekürzter Form und mit Originaldokumenten jene Aufzeichnungen, die Karl Ignaz Hennetmair Tag für Tag von all dem machte, was er mit Thomas Bernhard sprach und erlebte. 1972 beschloß der Realitätenhändler Karl Ignaz Hennetmair, ein Freund und Nachbar von Thomas Bernhard, über die Vorfälle und Gespräche dieses Jahres ein Tagebuch zu führen, und schuf damit ein Dokument von unschätzbarem Wert für alle Bernhard-Verehrer. Auch seine Feinde wären weiland gut bedient gewesen, denn die Mitschrift zeigt so manche dunkle Seite des Meisters, aber wo gibt es sie denn heute noch, die Bernhard-Hasser? Der Dichter hat naturgemäß seine Schwierigkeiten mit der Außenwelt, zunächst nimmt sie ihn nicht wahr, doch mit wachsendem Ruhm beginnt sie ihn zu bedrängen, tritt ihm näher, als ihm lieb ist, und manchmal hat sie die Neigung, ihn - der nur seine Literatur im Kopf hat - schlicht und einfach für dumm zu verkaufen. Um all dem zu begegnen, hatte Bernhard Hennetmair. Der vermittelte ihm nicht nur seine Realitäten, seine Häuser und Wälder, und verschaffte ihm die notwendigen, möglichst günstigen Verträge, sondern stellte sich auch zwischen den Dichter und die Realität im Sinne des zu bewältigenden Alltags. Er kümmerte sich um den kaputten Fernseher ebenso wie um den Seelenmüll, fungierte als Deponie und Wiederaufbereitungsanlage. Stets hielt er Bernhard unerwünschte Besucher vom Leib und empfing ihn selbst im Kreise seiner Familie als Gast. Da wurde dann geplaudert, gescherzt und die halbe Welt ausgerichtet. Und später zog sich Hennetmair in sein Kämmerlein zurück und notierte. Und wir - neugierig, wie wir sind - lesen

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4470-1

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-1207-6

Inhalt

Vorwort

Das versiegelte Tagebuch 1972

Editorial

Nachwort

Bildnachweis

Personenregister

Landkarte

Vorwort

Der Realitätenvermittler Karl Ignaz Hennetmair hat im Laufe seiner langjährigen Freundschaft mit Thomas Bernhard etwas gewagt, wovon er in seinen Aufzeichnungen selbst sagt, daß „Thomas“ etwas geahnt haben mußte. Hennetmair machte ein ganzes Jahr lang – vom 1. Jänner 1972 bis zum 1. Jänner 1973 – Tagebuchaufzeichnungen über seine Gespräche, die gemeinsamen Wanderungen und Erlebnisse mit Bernhard. Dabei ging es auch um Themen, die Bernhard mit niemandem so ungeschminkt besprechen konnte wie mit ihm.

Als Verkäufer, Handelsreisender, Ferkelhändler und schließlich Realitätenvermittler in Ohlsdorf hat Karl Ignaz Hennetmair Erfahrungen im Umgang mit Menschen gesammelt. Ein gutes Erinnerungsvermögen, den jederzeit offenen Blick für die „reale Welt“, die Fähigkeit, diese Er-Kenntnisse anschaulich weiterzugeben, und seine schier unerschöpfliche Energie hoben ihn für Thomas Bernhard aus der Masse der Menschen in seiner Umgebung heraus. Wer einmal mit Karl Ignaz Hennetmair auf den Spuren Thomas Bernhards durch jene Gegend fuhr, welche vorwiegend der Schauplatz des Tagebuches und auch von so manchem Werk Thomas Bernhards ist, gewinnt von der Energie dieses menschlichen Urgesteins – wie er auch schon in Schlagzeilen bezeichnet wurde – einen bleibenden Eindruck. In der Durchsetzung seiner Ziele ist Hennetmair wenig zimperlich, darin steht ihm Thomas Bernhard aber nicht nach, wie wir aus dem Tagebuch erfahren können.

Karl Ignaz Hennetmair hat Thomas Bernhard alle drei Häuser vermittelt, die Bernhard in Oberösterreich besaß. Zunächst der Traunviertler Vierkanthof im Gemeindegebiet von Ohlsdorf, dann die sogenannte „Krucka“, sein Arbeitshaus, wie er es im Tagebuch nennt, und schließlich ein Haus in Ottnang, das sogenannte „Hansbäun“ oder „Haunspäun“, zu hochdeutsch „Hans-Paul“. Besichtigung, Vermittlung und Kauf sowie die ersten Einrichtungsarbeiten des „Haunspäun“ fallen in die Zeit der Tagebuchaufzeichnungen und sind dort genau geschildert. Die Bedeutung der Häuser, der Renovierungsarbeiten, die Bernhard selbst vornahm, wird wiederum in Bernhards Werken sichtbar.

Was an den Aufzeichnungen auffällt, ist die akribisch genaue Berichterstattung sowie der sichere Schreibstil und die unerhört schlüssige und reiche Ausdrucksform. Hier wird nicht ausgeschmückt oder herumgefeilt, sondern der „Realität“ Sprache verliehen. Auch die sprachliche Form der „Realitätsvermittlung“ beherrscht dieser Karl Ignaz Hennetmair.

Wir erfahren – während Bernhard einen Brief in Geldangelegenheiten an den Verleger Unseld in die Schreibmaschine „drischt“ –, warum der Schriftsteller ausschließlich bestimmte ältere Modelle an Schreibmaschinen verwendet. Wir verfolgen, wie Thomas Bernhard nach Absetzung seines Stücks Der Ignorant und der Wahnsinnige vom Spielplan der Salzburger Festspiele ein Telegramm an Festspielpräsident Kaut verfaßt, in dem er sich mit Claus Peymann und den Schauspielern solidarisiert und gegen Josef Kaut wilde Attacken reitet. Das Telegramm ist zumindest auszugsweise in Zeitungen wiedergegeben worden. Doch Hennetmair hat in seinem Archiv Bernhards handschriftlichen Entwurf sowie den fertigen Text fürs Postamt aufbewahrt. Bernhard saß mit Hennetmair im Gastgarten, erbat sich dessen Schreibpapier und Kugelschreiber und ließ seinem Unmut freien Lauf. Hennetmair hatte – stets „verkaufsbereit“ – derlei Schreibutensilien immer dabei, um jederzeit Vorverträge in Sachen Grund- und Hauskauf schließen zu können. Auch die Schwierigkeiten der beiden, das Telegramm beim Postamt Eugendorf aufzugeben, sind genau festgehalten. Man erfährt so nebenbei, wie lang oder, besser gesagt, wie kurz ein Telegramm sein muß, vor allem, wenn es sofort durchgegeben werden soll. Hennetmairs Ratschlag, nach Salzburg zum Hauptpostamt zu fahren, wird von Bernhard schließlich angenommen. Auch das Gespräch mit dem dortigen Schalterbeamten ist in den Notizen festgehalten. Scheinbare Nebensächlichkeiten – aber Hennetmair wirkt auch hiebei nie langweilig.

Zu Bernhards Alltag gehört nun einmal, nicht nur mit Peymann essen zu gehen, sondern auch mit Hennetmair ein Gespräch über die Frau von Bernhards Großvater zu führen, welche es erduldete, daß der Großvater eine Woche lang kein Wort mit ihr sprach, und das noch ohne nach dem Grund zu fragen. Sogar bei der Installation eines Fernsehers auf der „Krucka“ war Hennetmair zu Diensten und hat dies auch in sein Tagebuch eingetragen.

Es schreibt jemand über einen Schriftsteller. Dieser „Jemand“ ist aber selbst kein Schriftsteller. Was wird man von solch einem Tagebuch zunächst erwarten? Informationen, Privates, allerlei kann man erwarten, aber man ist überrascht, wenn der Autor des Tagebuches – bei allen Unzulänglichkeiten, die nicht zuletzt auch durch Zeitmangel bedingt sind – in diesem Werk sein eigenes schriftstellerisches Talent zum Ausdruck bringt. Übrigens können wir in Hennetmairs Tagebuch lesen, daß Bernhard von sich behauptet, er sei kein Schriftsteller, sondern jemand, der schreibt. Als jemanden, der schreibt, erleben wir in diesem Tagebuch auch Karl Ignaz Hennetmair. Freilich hat ihn der Meister – unwissentlich? – dazu inspiriert. Die Begeisterung, die Hennetmair für manche Formulierungen und Briefe von Thomas Bernhard aufbringt, verrät sein Sensorium für die sprachliche Darstellung. Zu Beginn des Tagebuches plagen ihn die Sorgen einer getreuen Wiedergabe: „Thomas hat während des Spaziergangs nur wenige gute Bemerkungen ‚laut‘ gemacht. Die waren so gut und so geschliffen formuliert, daß ich anschließend zu meiner Frau sagte: Genau habe ich es mir nicht merken können, und somit ist alles futsch, was er gesagt hat, denn wenn ich es nicht wörtlich wiedergeben kann, ist die Wirkung der Aussage nicht da“ (Tagebuch vom 29. Jänner 1972). Daß die Form den Inhalt der Aussage nicht gleichgültig läßt, „weiß“ Hennetmair also. Daß er die Form beherrscht, zeigt sich an einer „Baumbeschreibung“. Thomas Bernhard zeigte seinem Freund Hennetmair die Unfallstelle oberhalb der „Krucka“, wo er sich beim Bäumeschneiden mit der Kettensäge verletzte. Hennetmair wies darauf hin, daß es höchst unvorsichtig war, den wie einen Bogen gespannten Baum „anzugehen“. Er schildert uns die Lage des Baumes: „Der Unglücksbaum stand auf einem Steilhang, so steil wie ein Kirchendach, war von einem Sturm geknickt und berührte mit dem Wipfel den Weg unterhalb des Steilhanges, sodaß der Stamm der über zwanzig Meter langen, aber dünnen Buche von der Wurzel bis zum Wipfel einen Halbkreis bildete“ (15. Jänner 1972). Diese Schilderung verrät ein Talent zur Beschreibung. Und eine Lust daran. Daß Bernhard aufgrund der Schockwirkung unmittelbar nach dem Unfall keine Schmerzen verspürte, veranlaßte Hennetmair, einige Geschichten aus seinen Kriegserlebnissen „nachzulegen“. Bernhard hat diese Erzählungen geschätzt, wie aus dem Hinweis Hennetmairs auf Bernhards Gedächtnisleistung in der folgenden Passage ersichtlich ist: „Wenn wir mit dem Auto unterwegs sind, zwischen Linz – Steyr – Kirchdorf, dann erinnert mich Thomas an manchen Stellen der Straße, daß ich ihm vor Jahren oder vor Monaten genau auf dieser Strecke das und das Kriegserlebnis erzählt habe. Da er selbst als kleiner Schulbub von Flugzeugen aus mit Bomben und Bordkanonen angegriffen wurde und die Bombardierung von Traunstein und Salzburg miterlebt hat, hat es einen Sinn, mit ihm über Kriegserlebnisse zu sprechen. Denn wenn einer das nicht selbst erlebt hat, wie soll man es eigentlich erzählen, daß er sich auch nur annähernd ein Bild machen kann?“ (29. Jänner 1972) Es ist dies ein Bekenntnis von Karl Ignaz Hennetmair, so zu erzählen, daß man sich ein Bild machen kann, das heißt im Bilde ist. Es hat aber keinen Sinn, Hennetmair als Autodidakten zu bezeichnen, er hat das Schreiben nicht als eine Berufung verspürt, er hat es aus gegebenem Anlaß getan, und danach war ein für allemal Schluß.

Aber schon der Anfang des Tagebuches, der erste Satz ist geglückt und zeigt Hennetmairs Gespür. Daß es jemand erwähnenswert findet und es auch in der Zeitung schreibt, daß Thomas Bernhard große Poren auf der Nase hat, ist Anlaß genug, jene Gespräche und Begegnungen von Karl Ignaz Hennetmair mit Thomas Bernhard aufzuzeichnen, die das Leben beider grundlegend bestimmt haben.

Hennetmair weiß um die Gefahr, daß Bernhard ihn ertappte – oft genug hat „Thomas“ ihn unerwartet in seinem Haus besucht. Entweder auf der Flucht vor herannahendem ungeliebtem Besuch oder, wie so oft, auf der Suche nach dem Weggefährten für einen ausgedehnten Spaziergang. All das hat Karl Ignaz Hennetmair festgehalten.

Eine Sternstunde der Hennetmairschen Ausführungen veranschaulicht uns am besten, was Bernhard an Hennetmair fasziniert haben mag. Es ist dies auch einer jener seltenen Momente, in denen Hennetmair, über das Reich der Literaten sprechend, Thomas Bernhard Anerkennung abgerungen hat. Hennetmairs Stärke und Bedeutung als „Realitätenvermittler“ kommt nirgends besser zum Ausdruck als in seiner Kritik an jenen „sprachlosen Künstlern“, welchen der Stoff zur Auseinandersetzung fehlt: „Dabei fällt mir ein, daß Thomas in Wien von Schriftstellern immer angejammert wird, daß sie keinen Stoff haben, um etwas zu schreiben. Das kommt mir ganz jämmerlich vor. Wir gingen damals gerade den Stacheldrahtzaun einer Weide entlang, und ich sagte zu Thomas: Wenn ich den Draht ansehe, das alleine müßte den Stoff für ein Buch geben. Vom Erz angefangen, wo es herkommt, bis es zu Stacheldraht wird, über die Fabrik und die dort arbeiten, bis zu der Stelle, wo es hier als Weidezaun benützt wird, könnte man schreiben über schreiben. Denn da ist alles enthalten, von der Landwirtschaft bis zum Viehhändler und der Wurstfabrik, die dieses Vieh aus der Weide heraus bekommt. Wenn einer sagt, er hat keinen Stoff, dann kann er nie ein Schriftsteller sein, denn der erste Stoff, den er spürt, ist doch die Luft, die er einatmet, und davon alleine müßte man ein Leben lang schreiben können. Denn die Luft, die wir einatmen, ist schon durch so viele Lungen von Mensch und Vieh gegangen, alle Völker vor uns haben sie schon ein- und ausgeatmet. Die Luft, die wir hier einatmen, die könnte was erzählen. Du gehst ja auch wegen der Luft spazieren und brauchst die Luft, damit dir gute Gedanken kommen. Ein Schriftsteller muß einfach aus Luft auch etwas machen können, und die hat jeder und die kostet nichts. Thomas hörte mir damals ruhig zu, ohne etwas zu sagen, und das gilt bei ihm in viel höherem Maße als Zustimmung, als wenn er dazu Worte verwendete“ (30. Jänner 1972).

Diese einfache und klare Be-Schreibung des feinsten Elements, das in der Tradition als Urstoff und auch als Metapher für den Geist verwendet wurde, jedem als erster Stoff und allgemeines Element am unmittelbarsten zugänglich ist, als Lebensprinzip der einzelnen zugleich auf dem Austausch der „Atmenden“ beruhend durch die ganze Geschichte hindurch wirkt, ist eine Leistung, die zu den Höhepunkten des Tagebuches zu zählen ist.

Den „Kontakt“ mit dem Stofflichen und mit jenen, die den Stoff aufnehmen, verarbeiten, beherrscht Hennetmair. Der an Kontaktlosigkeit leidende und über „Antikörper“ forschende Ich-Erzähler in Bernhards Erzählung Ja hat gerade das beim Realitätenvermittler Moritz gesucht und bewundert. Bernhard hat Hennetmair mit der literarischen Figur des Moritz in seiner Erzählung ein Denkmal geschaffen.

Der Austausch zwischen Thomas Bernhard und Karl Ignaz Hennetmair fand über ein ganzes Jahrzehnt hindurch statt und währte nicht zuletzt deshalb so lange, weil sich die beiden auf verschiedenen Ebenen bewegten und sich so nie ins „Gehege“ kamen. Hennetmair war Bernhards dienstbarer Geist, der im Laufe der Zeit immer mehr seine eigenen Ziele im Rahmen der Freundschaft mit Bernhard verfolgt hat, was auch im vorliegenden Tagebuch seinen Ausdruck findet. Jeden Zeitungsartikel, Fotos, jedes Telegramm im Original oder in Kopie von oder an Bernhard hat er – soweit er es sich beschaffen konnte – gesammelt. Ja sogar dessen durch die Motorsäge zerfetzte Arbeitshose – der Unfallhergang ist im Tagebuch nachzulesen – hat er von seiner Mutter flicken lassen, um in den Besitz der zerfetzten Teile zu kommen. Der Name Bernhard hat für ihn alles Stoffliche verwandelt. Er wußte, eines Tages wird seine Sammlung interessant, wertvoll, einträglich sein.

Hennetmairs Tagebuch geht allerdings weit über diese Form der Wert-Schätzung hinaus. Die Erzählungen und Berichte von Karl Ignaz Hennetmair haben insgesamt einen literarischen An-Spruch, der dem Leser die Lektüre dieses „Tagebuches“ zum Vergnügen macht. Daß Bernhard in Hennetmair einen Realitätenvermittler, einen Bezug zur Realität gesucht und gefunden hat, wird im nachhinein durch Tagebuchaufzeichnungen, in welchen Hennetmairs und Bernhards Welt-Sicht zum Ausdruck kommen, verständlich.

In Ja attestiert der über Antikörper forschende Naturwissenschaftler dem Realitätenvermittler Moritz bei aller Unbildung eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz und außergewöhnliche Hellhörigkeit. Aus dem Tagebuch geht hervor, daß Thomas Bernhard bei Geschäftsfahrten Hennetmairs oft mitgefahren ist, unter anderem, um Hennetmair aus einer gewissen Distanz beim Verhandeln zuzuhören. In Ja beschreibt uns Bernhard denselben Umstand zwischen dem Realitätenvermittler Moritz und dem Naturforscher folgendermaßen: „Solche Fahrten, in welchen er immer neue Beispiele menschlicher Gemeinheit und Niedertracht kennenlernte und an welchen ich selbst früher sehr oft teilgenommen hatte, schon um aus meiner Arbeit und aus meinem Haus herauszukommen, aus meinem Arbeitsund Existenzkerker, aber auch, um, wie er, immer neue Menschen und neue Charaktere und neue Abscheulichkeiten kennenzulernen, hatten ihn immer gleichzeitig erschöpft und erfrischt.“

Hennetmair gibt seine Erschöpfungszustände nach anstrengenden Diskussionen mit Thomas Bernhard in seinen Aufzeichnungen preis. Auch Bernhard ist aufgefallen, daß Hennetmair die Herausforderung angenommen hat.

Hennetmair alias Moritz hat Bernhard und nicht zuletzt sich selbst in seinen Tagebuchaufzeichnungen verewigt. Bernhard muß es gewußt und gefördert haben. Hennetmair schreibt in seinen Aufzeichnungen, daß „Thomas“ mit ihm zu dieser Zeit ständig seine gesamte Post besprochen hat. Auf lange Sicht ging damit aber die Freundschaft zwischen Thomas und Karl ihrem Ende zu. Schließlich hat Bernhard die Freundschaft mit Hennetmair durch unwahre Beschuldigungen gebrochen. Der Schutz- und Zufluchtsort des Hauses Hennetmair war der Gefahr des Verrats ausgesetzt. Auch wenn in der Rückschau gesagt werden muß, daß schließlich Bernhard an Hennetmair Verrat begangen hat. Hennetmair hat das Ende der über zehn Jahre dauernden Freundschaft auf seine Weise zusammengefaßt: „So wie die Bäsle-Briefe Mozarts Werk nicht ankratzen können, kann auch die Scheußlichkeit und Niedertracht Thomas Bernhards seinem weltweit anerkannten Werk nichts anhaben.“

Hennetmairs Berufung auf Mozarts Bäsle-Briefe kommt nicht von ungefähr. So gewagt der Vergleich auch sein mag, der Humor des Autors des vorliegenden Tagebuches nähert sich in der folgenden Pointe aus dem Tagebuch jenem in Mozarts Bäsle-Briefen. Als im Rahmen der Salzburger Festspiele die Aufführung von Thomas Bernhards Stück Der Ignorant und der Wahnsinnige am 4. August 1972 abgesagt wurde, wurde Hennetmair von einer Dame danach gefragt, wer der Mann sei, der gerade zum wartenden Publikum gesprochen habe. Darauf sagte Hennetmair: „Der auf der Stiege war Thomas Bernhard, der mit der Tafel war Regisseur Peymann, und dort steht der Baum mit den Bananen, und wie es weitergeht, wissen Sie selbst. Sie starrten mich entsetzt an. Da sagte ich: Sie haben keinen Humor. Humor hat nur der Autor, den könnte man heute auch mit S vorne schreiben. Wie, was heißt das, fragte die eine. Na, sagte ich, Autor vorne mit S geschrieben heißt Sau-tor. Da blickten sie noch entsetzter, und ich ging ins Freie zum Schauspielereingang.“

Die Behauptung Hennetmairs, „nur“ der Autor habe Humor, hat einen Hintergrund. Im Tagebuch ist oft genug zu lesen, daß Thomas Bernhard die ganze Familie Hennetmair zu wahren Lachkrämpfen treibt, von welchen sich die einzelnen „Teilnehmer“ nur noch durch Verlassen des Zimmers „retten“ können. Wer Thomas Bernhards Humor kennenlernen will, findet kein besseres Buch als das vorliegende.

Die Gastfreundschaft der Familie Hennetmair hat Bernhard aber nur allzu gerne genützt. Er ist von Frau Hennetmair mit Leibspeisen verwöhnt worden, wie es ansonsten nur einem Familienmitglied zuteil wird. Am 13. April 1972 lesen wir im Tagebuch, daß Thomas Bernhard, nachdem er merkte, daß Hennetmair schon nach Hause gehen wollte, diesen bat, mitkommen zu dürfen, „er halte es heute abend allein nicht aus“. In Ja bezeichnet der Erzähler den Realitätenvermittler Moritz als Lebensretter, der ihn oft aus einem Alptraum, aus seinem Arbeits- und Existenzkerker befreit hat. Ein schon bekannt gewordener Satz in Ja lautet: „Wir müssen zu einem Moritz gehen und uns aussprechen können.“ In diesem Roman spricht der Erzähler aber auch aus, was ihm der Realitätenvermittler scheinbar nicht bieten konnte. „Ich sagte dem Moritz, daß mich die Perserin wie keine andere Person in letzter Zeit, ich sagte nicht seit Jahren, ich sagte absichtlich nur in letzter Zeit, interessierte, ihre Sensibilität, ihr zweifellos hoher Bildungsgrad.“ Mit dieser Perserin hat sich der Erzähler z. B. über Schumann und Schopenhauer unterhalten. In den Tagebuchaufzeichnungen machen wir auch kurz mit jener Frau Bekanntschaft, die Modell stand für diese Rolle der Perserin.

Das, was uns im Tagebuch scheinbar fehlt – denn es ist ein vollkommenes Ganzes –, deutet der Erzähler in Ja an. Es ist „das was ich das ganze Jahrzehnt meiner Bekanntschaft und Freundschaft mit dem Moritz verborgen, ja schließlich nach und nach die ganze Zeit vor ihm mit mathematischer Spitzfindigkeit verheimlicht und unerbittlich gegen mich selbst vor ihm zugedeckt hatte, um ihm, dem Moritz, nicht den kleinsten Einblick in meine Existenz zu verschaffen …“ Das sagt der Erzähler über den ihm „zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich tatsächlich am nächsten stehenden Menschen“, über seinen „Lebensretter“, dessen Haus ihm ein Fluchtpunkt war. Der an Kontaktlosigkeit leidende Erzähler verdankt dem Realitätenvermittler Moritz – wie er selbst sagt – seine Existenz. „… das ist nicht übertrieben und soll hier gesagt sein.“

Hennetmair hat dafür gesorgt, daß Bernhard den Boden unter den Füßen nicht verliert. Seine „bodenständige“ Art hat ihm bei anderen Bekannten Bernhards weniger Anerkennung verschafft. Freilich ist auch Eifersucht auf diese Freundschaft mit im Spiel, was „Thomas“ selbst in den letzten Tagen der Aufzeichnungen ausspricht. Hennetmair schreibt am 27. Juni 1972 in Klammer gesetzt: „Im Grunde bin ich froh …, daß ich überhaupt nie in diesen Kreisen dabei bin, denn es käme sicher nichts Gutes heraus und Thomas würde seine Zufluchtsstätte bei mir … verlieren …“

Abgesehen davon, daß Hennetmair „nur“ im Grunde froh war, aus gewissen Kreisen ausgeschlossen zu sein, trifft er mit der Gefahr des Verlusts der Zufluchtsstätte ins Schwarze. Bernhard hat zu Hennetmair einmal gesagt: „Du bist der einzige, mit dem ich normal sprechen kann“ (8. August 1972). Mit Bernhard über seine literarische Arbeit zu sprechen, dürfte im allgemeinen eine sensible Angelegenheit gewesen sein. Auf die Frage Hennetmairs, ob Thomas Bernhard, was das Schreiben anbelangt, in Schwung gekommen sei, antwortet dieser: „Darüber spreche ich nicht“ (31. Mai 1972). Hennetmair bemerkte seinen „Fehler“ sofort und schreibt dazu: „Mit so einer direkten Frage an Thomas könnte ich mir die Quelle zuschütten.“

Aus dieser „Quelle“ kann also nicht direkt geschöpft werden, das war Hennetmair ansonsten wohl bewußt. Unser Naturforscher in Ja weiß um die Kunst des Realitätenhändlers Moritz Bescheid, wenn er ihm in einer entscheidenden Situation attestiert: „… dem Moritz war es gelungen, was er beabsichtigt gehabt hatte, mich durch geschickte Gesprächslenkung, von mir selbst abzubringen und das heißt, mich aus meiner Ausweglosigkeit herauszumanövrieren …“

Hennetmair spricht selbst von Ablenkungsthemen, die er ins Gespräch mit Hede Stavianicek (Bernhards „Lebensmensch“) einbrachte, um die Spannung zwischen Hede und Thomas abzubauen (27. Dezember 1972). Als Hennetmair noch einmal einen „Fehler“ machte und Thomas Bernhard nach seinen Fortschritten beim Schreiben fragte, erklärte Bernhard sehr ernst: „Das ist meine Sache.“ Und nach einer kurzen Pause sagte er: „Ich brauche Ablenkung“ (18. August 1972). Wir erfahren indirekt also auch einiges über Bernhards Schaffensprozeß, abgesehen davon, daß seine Gespräche mit Hennetmair reichhaltigen Stoff für das Verständnis Thomas Bernhards und seines Werkes bieten.

Hennetmair schreibt, daß er nur ca. dreißig Prozent der Gespräche mit Thomas Bernhard niederschreiben konnte, er lese ohnehin fast keine Zeitungen mehr und höre keine Nachrichten, um dieses Pensum zu bewältigen. Die Gespräche seien zu gehaltvoll, um sich alles merken zu können bzw. fehle die Zeit, so viel niederzuschreiben. Hennetmair hat sein Geschäft meist über das Wochenende abgewickelt, sodaß er wochentags mehr als jeder andere Zeit hatte, gemeinsam mit Thomas Bernhard etwas zu unternehmen.

Gegen Ende der Tagebuchaufzeichnungen war er völlig erschöpft, gestand uns Hennetmair im Gespräch. Es wäre ihm unmöglich gewesen, dieses Projekt weiterzutreiben. So wie es unmöglich gewesen wäre, einige Zeit nach dem Bruch mit Thomas Bernhard die freundschaftlichen Bande wieder zu knüpfen. Bernhard selbst wäre – so sagt uns Hennetmair – von ihm enttäuscht gewesen, wenn er Bernhards Angebot zur Versöhnung angenommen hätte. Es gab keine Rückkehr.

Aber eines bleibt: ein schier unerschöpfliches Bernhard-Archiv von Karl Ignaz Hennetmair, dessen Krönung die Tagebuchaufzeichnungen ausmachen. Nur ein sehr geringer Teil der Aufzeichnungen und Materialien ist bisher öffentlich vorgestellt worden. In einem gewissen zeitlichen Abstand fällt es denn auch leichter, Namen zu nennen. Der Leser wird nicht nur dem „Thomas“ mit Hilfe des Realitätenvermittlers Karl Ignaz Hennetmair näherkommen, sondern auch einen sehr begabten Realitätenvermittler kennenlernen.

Johannes Berchtold

 

Thomas Bernhard und Karl Ignaz Hennetmair, ein Jahrzehnt in Freundschaft verbunden.

Das versiegelte Tagebuch 1972

1. Jänner 1972

Nachdem ich heute mit Thomas den Artikel von Andreas Müller in der „Münchner Abendzeitung“ [„Mein Körper, mein Kopf und sonst nichts“] besprochen habe und Müller es sogar erwähnenswert findet, daß Thomas auf der Nase große Poren hat, habe ich mich entschlossen, ab heute über alle Begegnungen mit Thomas Bernhard Aufzeichnungen zu machen und die Gespräche so weit wie möglich aufzuschreiben.

Thomas hat mich gestern, am letzten Tag des Jahres, dreimal besucht, und ich habe ihn zum Essen eingeladen. Um 10 Uhr marschierten wir zum Spaziergang Ohlsdorf – Forsthaus – Grotte – Hildprechting – Weinberg von ihm in Nathal ab, mit der Absicht, um 11 Uhr 30 bei mir in Weinberg zum Essen einzutreffen. Da wir bis zum Haus Eybl sehr rasch ausgegriffen hatten, waren wir schon um 11 Uhr 15 bei mir in Weinberg und gingen bei mir vorbei nach Nathal, weil dort mein Auto stand und Thomas und ich unsere Autos nach dem Essen bei uns haben wollten.

Obwohl Thomas um 4 Uhr von der Silvesterfeier beim Pabst in Laakirchen heimkam, war er so frisch wie selten. Thomas hatte mit den Ehegatten O’Donell und Architekt Hufnagl Silvester verbracht. Ich ging um 3 Uhr 15 zu Bett und wußte, daß Thomas noch nicht zu Hause war, da ich ihn sonst von meinem Zimmer aus nach Nathal einbiegen gesehen hätte. Er hätte sicher gehupt und wäre noch einen Sprung heraufgekommen oder ich zu ihm hinunter. Da es mich ärgerte, daß er so spät heimkommt, wegen dem für 10 Uhr ausgemachten Spaziergang, ließ ich, als ich mich niederlegte, das Licht im Zimmer brennen, damit er glaubt, ich sei noch auf, was ihn ärgern sollte. Tatsächlich sagte mir Thomas nachher, um 4 Uhr sei ich noch auf gewesen, er habe gehupt, aber ich hätte mich nicht gerührt. Als ich ihm sagte, daß ich ihn täuschte, sagte er vorwurfsvoll: Du bist ganz schön blöd.

Thomas beim Anblick des leeren Ohlsdorf um 10 Uhr 30 des Neujahrstages: Alle Türen sind geschlossen, die Fenster zu, sie „suhlen“ noch, die Straßen sind leer, und so, wie sie das neue Jahr beginnen, so suhlen sie das ganze Jahr. Da und dort wird heuer wieder ein scheußliches Haus hingebaut werden, die Leute sind geschmacklos und widerlich.

MEIN KÖRPER, MEIN KOPF UND SONST NICHTS

… Ein Interview mit Bernhard im üblichen Sinn ist nicht möglich. Er hat kein Telefon, beantwortet kaum Briefe, läßt sich ungern fotografieren, spricht selten vor Menschen … Agi, Marie Agnes Baronin von Handl …, sagt am Telefon: „Gut, mach’ ich.“…

Wir kommen unangemeldet. Agi: „Zuerst wird er wahrscheinlich nur blödeln. Er blödelt immer.“ Bernhards knallgelber VW sticht gleich ins Auge, ein Fremdkörper. Das Gehöft, fast quadratisch, wie eine Festung, wirkt renoviert: sauber, von außen beinahe steril. Der Kuhstall ist leer. Agi schlägt mit der Faust an die Tür. „Thomas!“ schreit sie. Nichts rührt sich. „Thomas, so mach doch auf!“ Endlich hört man Schritte schleifen. Sie: „Ich hab’ wen dabei.“ Er: „Aber du weißt doch, ich will das nicht.“ Durch einen dunklen, kargen Vorraum, vorbei an der sparsam möblierten Wohnstube, in der deplaziert ein Bügelbrett steht, kommt man ins „Besucherzimmer“. Drei harte, hohe Lehnsessel, ein Kamin ohne Feuer, an der Wand ein naiv-buntes Ölbild, Holzspäne, ein paar Bücher. Es ist eiskalt, nicht geheizt. Rauchen verboten. Es dämmert. Bernhard läßt es finster. Er sieht krank aus. Schütteres Haar. Die Nase porös. Schmale, mißtrauische Augen. Er beginnt gleich zu reden, macht sich über Agi lustig, redet in einem fort, verhöhnt sie, spöttelt ironisch. Eine beißende Ironie, quälend. Agi tut so, als merke sie nichts. Ein echtes Gespräch ist nicht möglich. Ein Blatt Papier, einen Bleistift hervorholen, mitschreiben: daran ist nicht zu denken. Bernhard, permanent lächelnd, ein böses, hilfloses Lächeln, igelt sich ein. Aggression (was Agi „blödeln“ nannte) ist sein Selbstschutz. Agi erwähnt ihre Söhne. Bernhard: „Man müßte drastische Maßnahmen ergreifen, damit nicht so viele Kinder auf die Welt kommen. Da jammern alle, es gibt zu viele, und dann unterstützt man das noch. Zuerst kriegen die Leute Kinder, und dann reden sie immer davon, was ihnen die Kinder für Sorgen machen. Man müßte allen Leuten, die Kinder kriegen, die Ohren abschneiden.“…

(Andreas Müller, „Münchner Abendzeitung“, 28. 12. 1971)

Wir sprachen über einen Artikel der „Münchner Abendzeitung“ vom 28. 12. Von Agi hat er inzwischen schon einen zweiten Brief bekommen. Sie hat nichts begriffen, will es nicht begreifen, will es nicht verstehen, sieht nichts ein usw. Aber sie ist erledigt bei mir, sagt Thomas. Im Café Brandl sei sie gestern vor seinem Tisch sehr zögernd stehengeblieben, und sehr schüchtern und blöd fragte sie: Darf ich noch? Dann blieb sie lange abwartend stehen, ganz blöd, dann sagte ich halt: Na, entweder oder. Dann setzte sie sich zu mir und meinte, ich solle das vergessen. Man kann doch nicht sagen, man soll etwas vergessen, das gibt es nicht. Was geschehen ist, ist geschehen, aber vergessen kann man ja überhaupt nichts, auch wenn man so sagt, es ist doch nicht möglich, einfach etwas zu vergessen. So was gibt es eben nicht. Beim Gehen sagte Agi: Wann sehen wir uns wieder? Ich sagte: Vielleicht, wenn das Korn wogt. Agi ist die geborene Baronesse Maria Agnes von Handl vom Schloß Almegg. Thomas kann sich nicht erinnern, vom „Ohrenabschneiden“ gesprochen zu haben. Vielleicht habe er so etwas Ähnliches gesagt. Wir hielten es beide für möglich, daß der Reporter Andreas Müller „Ohren“ daraus gemacht hat, genauso wie er aus der geschiedenen Agi eine Witwe gemacht hat.

Beim Truthahnessen: Meine Gattin, mein Sohn Karl mit Frau und dem sechs Monate alten Baby, meine Tochter Elfriede mit Bräutigam „Stutz“, Tochter Reinhild und Sohn Wolfi anwesend, drohe ich meinem Nachwuchs mit „Ohrenabschneiden“. Die Stimmung ist gut und der Appetit nach dem Spaziergang auch. Um 12 Uhr 15 setzen wir uns nach oben zum Fernsehen: Neujahrskonzert. Die Tänze stören, sagt Thomas, die lenken nur ab vom schönen Konzert, nur das Orchester soll gezeigt werden, die Tänze sind Kitsch, Mist. Ich werde doch noch das Ballett schreiben. Der Mann, der das macht, Aurel von Milloss, ist spitze, er schätzt meine Bücher, ihm gefällt meine Art. Da weiß ich, für wen ich schreibe, ich kann mich auf ihn einstellen und er auf mich. Weißt du, nur so kommt etwas Gutes zustande. Er, Aurel von Milloss, hat mich ersucht, das Ballett für seine Oper zu schreiben.

Thomas lobt Kaffee und Linzertorte. Er fühlt sich bestens, sonst würde er nicht auch noch das Neujahrsspringen mit ansehen. Beim zweiten Durchgang wünscht Thomas dem führenden Kasaya einen Seitenwind oder eine Windböe, damit Mörk gewinnen kann. Um 15 Uhr erhebt sich Thomas und sagt, jetzt muß ich aber fahren, ich komme eh schon zu spät. Für 15 Uhr hab ich’s mit O’Donell und Hufnagl im Brandl ausgemacht. Wir sprachen auch noch von der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen, aber es waren fast nur Wiederholungen, und über frühere diesbezügliche Gespräche berichte ich noch.

Naja, und das Wichtigste: für Sonntag den 2. 1., also morgen, erwartet er am Nachmittag Ilse Aichinger mit Gatten Eich und Sohn. Den Sohn hat er in Zürich nach seiner Boris-Aufführung zum Mißvergnügen von Buckwitz zum Essen mitgenommen, damit so junge Leute gleich sehen, wie scheußlich so was ist. Sie stellen sich das meistens anders vor. Außerdem tue ich mit so was immer gern jemandem etwas zufleiß, und weil der Bursche so nett war, habe ich seine Mutter Ilse Aichinger mit ihm zu mir geladen. Sie haben ein Telegramm geschickt: „Dürfen wir am 2. oder 3. nachmittags kommen?“ Ich habe zurücktelegrafiert: „Am 2.“ Weil ja am 3. der Schmied kommt (Dr. Wieland Schmied).

Ja, usw., aber jetzt habe ich genug, es fällt mir immer mehr ein zu berichten, aber für heute mache ich Schluß.

2. Jänner 1972

Thomas kommt um 20 Uhr 15. Wir sitzen beim Fernsehen, es läuft „Stars in der Manege“. Er sagt, das ist nicht interessant, denn wenn etwas schiefgeht, sieht man es nicht, weil sie es rausschneiden. Ich konnte erst jetzt kommen, die Aichinger war bis jetzt bei mir. Ich habe einen Schwips, mindestens zehn Liter Most haben wir getrunken. Es war herrlich, sehr nett, wunderbar, ha ha ha ha, er sang und spottete dem laufenden Programm nach. Von zwei Uhr an, sagt Thomas, habe ich auf Aichinger gewartet, um 16 Uhr sind sie erst gekommen. Unglücklicherweise haben Aichingers vor dem Wegfahren selbst Besuch bekommen. Dann entschloß man sich, Eich, der Gatte, bleibt beim Besuch zu Hause, und Ilse Aichinger fährt. Da Ilse Aichinger nicht chauffieren kann, mußte ein Taxi genommen werden. Ihre Mutter, der Sohn und drei Mädchen sind auch mitgekommen. Ein Mädchen, eine Türkin, eine Frau als Taxifahrerin. Es war wunderbar lustig, dreimal mußte ich Most vom Keller holen. Drei Liter gehen gut hinein, es müssen zehn Liter Most gewesen sein, die wir getrunken haben. Die Wirkung davon hat sich auch schon vor der Abfahrt gezeigt. Es war wunderbar.

Ich: Da habt ihr sicher weder über ihre noch über deine Arbeit (gemeint war natürlich die schriftstellerische Tätigkeit, die durchwegs nicht gemeint ist, wenn wir von Arbeit reden) gesprochen. Aber keine Spur, überhaupt nicht. Bis zu den Nachrichten um 22 Uhr 30 bleibe ich noch, vielleicht ist wieder jemand gestorben, sagte Thomas. Dabei schaute mich Thomas vielsagend an. Das sagt er öfter, und er weiß, daß wir beide jedesmal das gleiche denken.

Wir saßen vor Jahren gemeinsam vor dem Apparat, als die Meldung kam, daß Doderer gestorben sei. Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte kein anderer was werden, es konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich. Aber so wie den Doderer werden sie mich nicht bekommen. So einen Doderer werde ich ihnen nicht spielen, denn wenn man sich zu allen offiziellen Anlässen sehen läßt, wird man verschlissen, abgelenkt und irritiert. Es verdreht einem den Kopf, man bleibt auf seinem Ruhm sitzen und kann nichts mehr schaffen beziehungsweise nichts Großes, Gutes mehr schreiben. Man wird ja auch nicht mehr so kritisiert, eher für jeden Blödsinn gefeiert und umheuchelt. Das ist ja der Ruin der Leute. Sie nützen das aus und produzieren nichts Gutes mehr. Sie lassen sich blenden und verblöden.

Als Thomas und ich einige Wochen später Dr. Wieland Schmied besuchten, den ich als wahren, echten und einzigen Freund Thomas Bernhards ansehe, erzählte ich diesem absichtlich den Freudensprung von Thomas. Trotz aller Freundschaft mit Schmied wurde Thomas rot im Gesicht, er schwächte ab, und es war ihm peinlich.

Übrigens, Dr. Wieland Schmied hat sich für morgen aus Hannover angesagt. Thomas sagt mehrmals: Wieland sitzt schon im Zug. Ich sage: Er schläft schon. Ja, mit einem Schnarcher im Abteil, sagt er.

Wir vereinbaren, daß Thomas morgen um 7 Uhr 30 zu mir kommt und daß wir Schmied gemeinsam um 8 Uhr in Wels am Bahnhof abholen.

Ich habe mir da etwas Schönes angefangen. Um 22 Uhr 30 hat mich Thomas verlassen, jetzt ist es 1 Uhr, und ich wüßte noch so viel von den zweieinhalb Stunden zu berichten. Aber wenn ich nichts aufzeichne, geht später jede Bernhardforschung ins Leere. Außerdem bin ich sicher, daß man mir glauben wird, denn ein paar von meinen Kindern werden mich und Bernhard überleben und werden jedes Wort von mir bestätigen. Außerdem ist Bernhard ein so dankbares „Objekt“, da braucht man nichts erfinden. Es ist eher so, daß ich gar nicht alles schildern kann, denn wenn man, wie am 1. Jänner, fünf Stunden ununterbrochen mit Bernhard spricht, dann kann man nicht einmal das Interessanteste vollständig bringen. Am 1. sprachen wir darüber, daß das achte Jahr unserer Bekanntschaft beginnt. Wir rührten darin herum, was in diesen acht Jahren alles geschehen ist, daß in diesen acht Jahren, soweit er nicht verreist war, kaum ein Tag verging, wo wir nicht beisammen waren. Ja, es gab Tage, da kam er vormittags, nachmittags und abends zu mir. Heute tut es mir leid, daß ich nicht wenigstens schlagwortartige Aufzeichnungen gemacht habe. Obwohl er mir schon vor ca. vier bis fünf Jahren einmal gesagt hat: Du weißt gar nicht, wie berühmt ich bin. Daraufhin sagte ich: Das weiß ich sehr wohl. Er sagte aber: Nein, in Österreich schreiben sie nichts von mir, aber in Deutschland, da gelte ich was. Ich sagte nur: Ich weiß, daß man in deutschen Zeitungen über dich als vom größten lebenden Schriftsteller im deutschen Sprachraum schreibt. Aber soll ich deswegen jetzt „Sie“ zu dir sagen? Das brächte ich höchstens in bezug auf die Mehrzahl fertig, denn du alleine bist schon eine ganze Bagage.

Ich werde also versuchen, soweit ich Zeit habe und wenn es mir gerade einfällt, auch über die vergangenen sieben Jahre zu berichten.

3. Jänner 1972

Um 7 Uhr 30 kommt Thomas. Ich fahre in seinem gelben VW mit nach Wels, Dr. Wieland Schmied abzuholen. Der Zug ist pünktlich, die Begrüßung herzlich. Wir fahren zu mir nach Weinberg und laden das Gepäck ab. Dr. Schmied wird bei mir wohnen. Er wollte drei Tage bei Thomas verbringen, aber dieser wollte ihn in ein Hotel bringen, da er ihn bei sich zu Hause nicht zu lange ertragen kann. Schmied will lange aufbleiben, mindestens bis 23 Uhr in Gesellschaft, dann hat er sich meistens „warmgesprochen“ und schreibt anschließend bis 4 Uhr früh Briefe. Warmgesprochen im Sinne von warmgerittenem Pferd, das dann am besten läuft. So war es auch vom 3. auf den 4.

4. Jänner 1972

Als Thomas und ich ihn um 22 Uhr verließen, schrieb er bis 4 Uhr und kam um 10 Uhr hoch. Er ging zu Fuß zu Thomas nach Nathal. Als ich um 14 Uhr dort eintraf, fuhr Thomas noch eine Fuhre Schotter mit dem Traktor weg, und dann erst machten sie sich gemeinsam zum Mittagessen auf.

Um 18 Uhr trafen wir uns wieder bei mir, um beim Tapezierer Steinmaurer in Vorchdorf wegen schwarz abfärbender Rauhlederbezüge auf den Sesseln zu reklamieren. Anschließend gab es Abendessen bei mir.

Da Dr. Schmied in der Nacht wieder schreiben will, geht Thomas schon um 21 Uhr nach Hause. Um 21 Uhr 30 will auch ich Schmied verlassen, aber ich komme nicht weg. Um 22 Uhr versuche ich es energisch, aber Dr. Schmied bittet noch um ein paar Minuten. Um 23 Uhr sehe ich, er ist in Hochform, und es wird schließlich 24 Uhr, bis ich ihn verlasse. Schmied arbeitet bis 4 Uhr 30.

5. Jänner 1972

Um 10 Uhr kommt Thomas. Da Schmied schläft, fährt er alleine nach Gmunden. Für 12 Uhr ist bei mir das gemeinsame Mittagessen mit Schmied und Thomas vereinbart. Um 11 Uhr 30 kommt Schmied vom Lager. Natürlich hat er keinen Appetit auf ein Mittagessen in einer halben Stunde. Wir fahren nach Pinsdorf zu meinem Sohn, eine Heizung ansehen, und lassen die Post zurück: Wenn Thomas um 12 Uhr kommt, lassen wir ihn schön grüßen, und er soll mit dem Essen ja nicht auf uns warten. Er würde sonst sehr böse werden, denn er haßt Unpünktlichkeit. Aber wenn er inzwischen essen kann, wird er uns leichter verzeihen. Nach dem Essen plaudern wir noch bis 14 Uhr über Deutschland, dessen Kunst und Literatur. Die Deutschen leben nur von den Juden und den Österreichern, sagt Thomas. Anschließend mit Schmied nach Lederau usw.

Um 18 Uhr erwartet uns Thomas in Nathal. In Gmunden sahen wir Glöckler und viele Leute. Thomas glaubt trotzdem, in Gmunden schnell zu einem Abendessen zu kommen. Da alles überfüllt ist, fahren Dr. Schmied und Thomas in die Reindlmühl ins Gasthaus. Dort findet ein Glöcklerball statt, es gibt sofort Speisen, beide unterhalten sich mit den Einheimischen so gut, daß sie Attnang nur knapp vor der Abfahrt des Zuges um 23 Uhr 05 erreichen.

Dr. Schmied fährt nach Venedig zu Hundertwasser. Hundertwasser ist seit über zehn Jahren auf Bernhard böse. Bernhard mißfiel damals, daß Hundertwasser mitten im Winter mit einem Kaftan bekleidet in St. Veit im Pongau den Dr. Schmied besuchte, welcher seinerseits bei Thomas auf Besuch war. Alle drei verbrachten gemeinsam einige Tage, und es kam dort das Buch zustande, das Dr. Wieland Schmied über Hundertwasser veröffentlichte und damit praktisch den Erfolg Hundertwassers einleitete. Beim Verlassen eines Kaffeehauses in Bischofshofen hielt Thomas den Kaftan für Hundertwasser hoch, dieser beeilte sich aber nicht, in den entgegengehaltenen Mantel hineinzuschlüpfen, sondern sprach unbekümmert mit Dr. Schmied weiter. Thomas blieb bei seiner Haltung, und als Hundertwasser Thomas endlich den Kaftan abnehmen wollte, ließ Thomas den hochgehaltenen Kaftan zu Boden fallen und ging wortlos. Seither haben sie sich nicht mehr gesehen.

6. Jänner 1972

Heute genau vor sieben Jahren am Dreikönigstag hat Thomas um 14 Uhr in Begleitung seiner Tante (Frau Stavianicek) den Kaufvertrag für den Vierkanthof in Nathal unterschrieben. Zu diesem Jubiläum habe ich Thomas bisher immer zu Mittag eingeladen. Da wir dieses Festessen mit Rehbraten gestern mit Dr. Schmied schon vorweggenommen haben, erwarte ich Thomas abends. Er kommt um 18 Uhr und bleibt bis 22 Uhr. Er kam ohne Auto und lehnt es ab, daß ich ihn im Wagen nach Hause bringe. Er habe wie in den letzten Tagen viel zu wenig Bewegung gehabt. Morgen werde er aus diesem Grund auf der Krucka – dies ist der Hausname der von ihm am 29. März 1971 zugekauften Liegenschaft Grasberg 98 – arbeiten. Die Information, welche ich mit Thomas aufgenommen habe, lege ich in Fotokopie bei. Das Original ist in meinem Besitz, denn als ich merkte, daß der Anwalt mit diesem Original Freude hätte, habe ich diesem die Durchschrift überreicht, um den Hauptvertrag verfassen zu können.

 

Die „Information“ beziehungsweise der Vorvertrag über den Kauf der Liegenschaft Grasberg 98, die sogenannte „Krucka“, abgeschlossen zwischen Josef Schmid, Fuhrwerker, und Thomas Bernhard, Landwirt und moderner Literaturklassiker.

7. Jänner 1972

Um 16 Uhr betritt Thomas mein Haus: Jetzt habe ich einen neuen Fuß geschenkt bekommen. Ich komme gerade vom Spital. Ich habe so ein Glück, daß das Knie nicht erwischt wurde, und es hätte überhaupt der ganze Fuß ab sein können. Bitte sei so lieb und ruf mir den Peter an (seinen Bruder Dr. Peter Fabjan, Arzt in Wels), er soll mir sofort die dritte Tetanus geben. Es ist über ein Jahr oder länger her, daß ich mir den rostigen Nagel eingetreten habe. Damals hat er mir zwei Injektionen gespritzt, die dritte soll er mitbringen.

Um ihn zu „testen“, wie weit es fehlt, frage ich, ob er nicht eine Kleinigkeit essen möchte, da ich weiß, daß er auf der Krucka höchstens eine Erbsensuppe gegessen hat. Er lehnt dankend ab und bittet um Tee. Der ist sofort da, aber ehe er die Schale leer trinken konnte, bekam er Schmerzen, immer stärker werdend, sodaß er plötzlich aufstand und sagte: Jetzt ist es höchste Zeit, jetzt kann ich noch mit dem Auto hinüberfahren, etwas später wird es nicht mehr gehen. Inzwischen hat er mir geschildert, wie er genäht wurde und wie sich der Unfall zugetragen hatte.

Ich fahre gleich zur Post, telefoniere mit Peter und fahre zu Thomas. Als er öffnet, sagt er: Gerade vor einigen Minuten habe ich schon geglaubt, du bist es, aber es war ein Streifenwagen der Gendarmerie. Sie wollten mich sofort zum Spital bringen, die Tetanusspritze müsse mir sofort gegeben werden. Kommt Peter? Ja, um 20 Uhr, sage ich. Na ja, das habe ich den Gendarmen gesagt und bin nicht mitgefahren. Peter weiß, was ich bekommen habe, vom Pferd, Rind oder Schaf. Ich weiß es nicht, daher soll Peter mir die „Dritte“ geben.

Um 20 Uhr kommt Peter, die Injektion wird gegeben. Das linke Bein kann Thomas inzwischen nicht mehr abbiegen. Peter fährt nach Gmunden, um mit dem Oberarzt, welcher die Wunde nähte, selbst zu sprechen. Der sagte ihm, daß Thomas sehr genau beim Nähen zugeschaut habe und daß er sehr tapfer gewesen sei.

Um 22 Uhr verlassen Peter und ich Thomas. Er trägt mir noch auf, morgen eine Flasche Milch, „Die Zeit“, die „Süddeutsche“, die „Salzburger Nachrichten“ und „Die Presse“ mitzubringen.

8. Jänner 1972

Um 9 Uhr komme ich mit Milch und Zeitungen zu Thomas. Er kann nur mühsam gehen und legt sich sofort wieder hin. Er gibt mir ein schmales Büchlein über Grillparzer und den Brief vom Residenz Verlag, den ihm Schaffler mit dem Buch geschickt hat. Der Brief trägt das Datum 5. 1. 1972, und ich sage: Den hast du vor dem Unfall noch von der Post geholt? Ja, aber das ist es nicht. Natürlich passe ich nicht zu Grillparzer, und er hat auch nichts mit mir gemeinsam. Eigentlich sollte man mir diesen Preis ja nicht geben, denn ich bin ja das Gegenteil von dem, was Grillparzer war. Aber schau dir den Brief vom Burgtheater an, was Klingenberg mir schreibt. Ich sehe auf das Datum, 5. 1. 1972, besichtige den Briefumschlag, und da steht als Absender die Adresse des Burgtheaters und darunter ganz groß DER DIREKTOR. Ich sage: Aha, die rechnen schon mit schnellem Direktorenwechsel. Diese Kuverts können von jedem Direktor verwendet werden. Er sagt: Na lies nur, lies nur, was der von mir schon wieder will. Ich wollte den Brief nur flüchtig überfliegen, wie ich es sonst meistens mache, da mir Thomas die Essenz des Inhaltes seiner Briefe meistens selbst viel besser erzählt. Ich lese also genau: Klingenberg schreibt, er veranstalte im Burgtheater anläßlich des 100. Todestages Grillparzers eine „ganz kleine Feier“. Er erwarte sich von Bernhard eine kleine Rede in der Dauer von drei bis fünf Minuten. Er, Klingenberg, könnte sich vorstellen, daß nicht so sehr der Dichter Grillparzer, sondern sein Leiden für Österreich in den Vordergrund trete. Am Brief fällt mir noch auf, daß er nicht von Klingenberg selbst, sondern von einer Sekretärin gezeichnet ist und daß sich noch ein Nachsatz auf der zweiten Seite befindet. Ich sage sofort, daß doch so etwas nicht in Frage komme. Er hat bisher noch nie über einen Dichter gesprochen, auch bei Verleihungen nicht. Zum Beispiel beim Büchner-Preis nicht über Büchner, obwohl man ihm ein Buch über sämtliche Reden der Büchner-Preisträger zugeschickt hat und jeder über Büchner sprach. Aber über Büchner oder Grillparzer zu sprechen wäre doch nur eine Aussage unter vielen und würde nichts bedeuten, weil ja jeder jeden anders sieht. Außerdem haben wir schon zu Beginn, als Hans Rochelt bei Thomas vorsichtig anfragte, ob er den Grillparzer-Preis annehmen würde, beschlossen, diesmal keine Rede zu halten. (Er verspricht mir dann immer, das zu halten.) Nur unter diesem Gesichtspunkt hat er an Rochelt geschrieben: „Ich habe 15 Jahre Ignorieren überlebt, mich wird der Grillparzer-Preis auch nicht stören.“

Nachdem es bei der Verleihung des Staatspreises dieses „Mißverständnis“, wie Thomas es nennt, gab, der Unterrichtsminister [Theodor Piffl-Percevic] verließ den Saal, graust Thomas schon vor Verleihungen. Er hat übrigens diese Rede damals zwischen dem Frühstück um 9 Uhr und der Ehrung um 11 Uhr flüchtig zu Papier gebracht und hat sie dann noch seiner Tante Hede Stavianicek vorgelesen. Diese hat ihm abgeraten, aber er blieb beim Text.

Mit diesem zerknitterten Entwurf kam er am nächsten Tag zu mir, um diese Rede auf ein besseres Papier abzuschreiben, damit er sie zur Veröffentlichung im Ganzen wegschicken könne. Sonst würden einzelne Sätze gebracht, die ein anderes Bild gäben. Außerdem wollte er wissen, was ich dazu sage. Nachdem ich monatelang gehetzt hatte, gerade er, der gehört wird, müsse auf die wunden Stellen u. a. m. hinweisen, war ich von der Rede begeistert. Ich habe zu den Aussagen der Rede im einzelnen Stellung genommen und ihm erklärt, daß der Unterrichtsminister nicht aufnahmefähig genug war. Wenn er die Rede begriffen hätte, dann wäre er sicher nicht davongelaufen. Aber gerade seine Reaktion hat ja diese Rede nur bestätigt.

Ich erinnere mich an die Wochen vor der Verleihung des Büchner-Preises. Täglich besuchte mich Thomas in Ohlsdorf beim Steindlrohbau, wo ich als Hilfsmaurer arbeitete. Sein Eineinhalb- bis Zweistundenspaziergang führte dort vorbei. Obwohl ich dauernd mit Mörtel- oder Ziegeltragen beschäftigt war, blieb er stundenlang, um zu sprechen und seine Probleme auszubreiten. Irgend etwas steckte in ihm, irgend etwas bedrückte und beschäftigte ihn. Und eines Tages war es soweit. Ich war wieder am Rohbau, schon von weitem schwenkte Thomas einen Zettel. Ich ging ihm entgegen. Jetzt hab ich’s, sagte er, du mußt mir das sofort vorlesen. Das ist die Rede, die ich beim Büchner-Preis nach der Laudatio halten werde. Ich weiß natürlich, daß sie gut ist, ich werde auch nichts mehr ändern, aber wenn ich es selbst laut lese, gewinne ich nicht den notwendigen Eindruck. Ich höre da nicht, wie es wirkt. Sonst hat mir meine Reden immer die Hede vorgelesen, manchmal auch der Peter, aber der ist so …, der versteht mich nicht. Er wird heute wahrscheinlich noch kommen, aber ich möchte, daß du mir das vorliest, bitte lies. Es waren zehn bis zwölf Maschinschriftzeilen.

Daß die Rede kurz sein wird, das hatten wir schon längst besprochen. Ich sagte ihm, die langen Reden seiner Vorgänger kenne ich – er gab sie mir ja zum Lesen –, alle Anwesenden werden froh sein, wenn seine Rede kurz ist. Man kann auch in wenigen Sätzen viel sagen, und wenn eine Rede gut und kräftig ist, soll sie nicht zu lang sein, sonst stehen das die Zuhörer nicht durch. Seine Reden verlangen stärkste, andauernde Aufmerksamkeit, sonst gibt es wieder ein „Mißverständnis“.

Ich überflog die Zeilen, damit ich nicht sofort über die Interpunktionen stolpere, und las dann. Thomas führte fast einen Freudentanz auf und sagte: So wollte ich die Rede. Die ist gut. Weißt du, ohne Rede geht es ja nicht, aber das ist kurz und das genügt, bitte lies noch mal. Nachdem ich wieder geendet hatte, sagte er, je näher der Tag der Verleihung rücke, umso weniger könne er sich konzentrieren. Gestern ist es ihm plötzlich beim Spaziergang eingefallen. Deswegen ist er auch bei mir zu Hause schnell beim Vorbeigehen auf einen Sprung zu meiner Frau gegangen, damit er sich Notizen machen könne, denn bis nach Hause hätte er es schon wieder vergessen gehabt.

Zurückkommend auf den Brief von Klingenberg sagt Thomas schließlich: Nun hätte ich ja sogar eine Ausrede, wegen meiner Fußverletzung. Aber ich werde natürlich auf keinen Fall dort eine Rede halten.

Gegen Mittag wird sich Thomas ein Milchsupperl kochen, ich verlasse ihn, um ihn um 16 Uhr wieder zu besuchen. Bis 22 Uhr bleibe ich bei ihm. Vier seiner großen Küchenmesser hatte ich frisch geschliffen vom Nachbar Strasser mitgebracht, und zum Abendbrot benützen wir die Messer ausgiebig.

9. Jänner 1972

Für irgendwann am Vormittag habe ich Thomas meinen Besuch versprochen. Da ich seit 8 Uhr an diesem Bericht hier schreibe und schon sehe, daß ich noch länger damit brauchen werde, fahre ich um 10 Uhr zu Thomas. Zuerst wollte ich Thomas sagen, er solle sich nichts kochen, ich brächte ihm um 12 Uhr eine Suppe. Da er es aber auch aushalten wird, daß ich ihn zum Essen zu mir fahre, sagt er zu, und wir vereinbaren, daß ich ihn um 12 Uhr abhole. Inzwischen will ich noch schreiben. Beim Weggehen sage ich ihm noch, daß heute auch meine Tochter Elfriede mit Stiegler zum Essen da ist. Da sagt er, mit seinem Leid wolle er sich nicht zeigen, ich solle entschuldigen. Er hat nichts gegen meine Tochter, aber er will überhaupt nicht, daß er so gesehen wird. Er hinkt tatsächlich sehr stark. Ich sage: „Gut, ich bringe dir um 12 Uhr 30 eine Suppe.“

Pünktlich bringe ich ihm die Suppe, Schnitzel und Salat. Ich gebe es ihm bei der Haustür, damit ich nicht picken bleibe, denn ich hab noch viel zu schreiben. Ich sage noch schnell: „Irgendwann besuche ich dich heute noch, genau will ich mich nicht festlegen. Ich weiß nicht, wann ich mit der Arbeit fertig bin.“ Nun bin ich es, und ich werde nach einem kleinen Nachmittagsschläfchen wieder zu Thomas fahren.

Um 16 Uhr 30 bin ich bei Thomas. Seine Stimmung ist schlecht. Ich frage ihn, ob nicht Besuch da war. Er sagt, wer soll denn kommen? Na ja, an Samstagen oder Sonntagen siehst du mindestens den O’Donell, der könnte doch nachsehen, was los ist. Der wird nicht kommen, sagt Thomas, der traut sich doch nicht zu kommen, wenn ich ihn nicht ausdrücklich einlade. Es wird überhaupt niemand zu mir kommen, niemand traut sich das. Ich bin froh, das paßt mir so.

Stimmung weiter sehr schlecht.

Endlich knipst er um 17 Uhr das Radio wegen der Nachrichten an. Nachher kommt kein richtiges Gespräch in Gang. Ich denke dauernd nach, wie ich möglichst bald, ohne daß ihm besonders auffällt, daß es wegen der schlechten Stimmung ist, verschwinden kann. Er klagt, daß ich ihm nicht einmal die „Kronen Zeitung“ gebracht habe. Gegen 18 Uhr 30 sage ich ihm, daß ich ihn morgen, Montag, um 9 Uhr 30 mit dem Wagen meines Sohnes ins Spital zur Verbanderneuerung bringe, da ich meinen eigenen um 7 Uhr schon in die Werkstatt zur Überprüfung gebe. Dann stehe ich auf, sage: So, jetzt putze ich den Fisch, pfüat di God. Er sagt noch: Laß das Tor offen, ich will es selbst schließen, um etwas Luft zu schöpfen, und humpelt mir nach zum Tor.

10. Jänner 1972

9 Uhr 30 bei Thomas. Da er weiß, daß ich pünktlich komme, klopfe ich normal. Ich höre ihn gehen, er öffnet nicht. Da ich ihn weiterhin zeitweise höre, fällt mir auf, daß er so nicht reagiert. Ich klopfe im vereinbarten Rhythmus, er öffnet sofort und ist freundlich. Ich übergebe ihm einen Brief. Diesen habe ich schon um 8 Uhr dem Briefträger abgenommen. Seit mehreren Jahren bin ich berechtigt, seine gesamte Post vom Postamt oder Briefträger in Empfang zu nehmen. Sei es, weil er verreist ist, oder nur deswegen, weil ich die Post schon um 8 Uhr 30 bekomme und er so die Post schon früher in Händen hat, da ansonsten der Briefträger die Post erst um 11 Uhr bei ihm einwirft, wo er längst aus dem Haus ist.

Thomas öffnet den Brief, und da er sieht, daß er länger zu lesen hat, bittet er mich, mich zu setzen. Dann erzählt er mir, der Brief sei von einer Journalistin, der Schwester der Schauspielerin Kuzmany. Sie schreibt ihm, ob er sich noch erinnern könne, daß er vor 15 Jahren, 1955, bei ihr eingeladen gewesen sei, und daß er eine große Menge Brötchen verzehrt habe. Natürlich, sagt er, kann ich mich daran erinnern. Du siehst, ich habe damals schon genausoviel gefressen wie jetzt bei dir immer. Sie schreibt weiter, daß ich ja nun eine Berühmtheit sei und daß sie sehr stolz darauf sei, daß ich ihr vor 10 Jahren auf einer Terrasse in Salzburg ein halbes Stündchen zum Plaudern geschenkt habe. Seither habe ich sie nie getroffen, nur wenn ich von ihrer Schwester, der Schauspielerin, etwas höre, denke ich auch an sie. Na ja und jetzt schreibt sie mir halt. Fahren wir!

Nachdem ich Thomas im Spital in Gmunden abgesetzt habe, hole ich sieben Zeitungen für ihn. „Die Zeit“, die „Süddeutsche“, „Oberösterreichische Nachrichten“, „Salzburger Nachrichten“, „Kurier“, „Frankfurter Allgemeine“ und „Die Presse“.

Die Wunde heilt gut. Kommenden Montag, den 17. Jänner, können die Nähte entfernt werden. Er wollte schon am 15. 1. nach Wien fahren, sagt er. Ich frage: Warum, ist denn am 15. 1., dem Geburtstag Grillparzers, auch eine Veranstaltung? Er sagt: Nein, ich weiß ja gar nicht, daß Grillparzer am 15. 1. geboren ist. Ich sage, als Preisträger müsse er das aber wissen. Er fragt mich, ob ich weiß, wann Stifter geboren ist. Ich sage, das könnte ich nur auf einige Jahrzehnte hin erraten, weil ich weiß, wann Stifter den Kefermarkter Altar restaurieren ließ, und da muß er ja schon einige Zeit gelebt haben. Er sagt: Wenn Stifter mit Grillparzer in Briefverkehr stand, kann das nicht so sein, daß man es nur auf Jahrzehnte schätzen kann. Thomas erhofft sich nämlich schon von Jahr zu Jahr den Stifter-Preis. Dieser wäre ihm der liebste, denn er paßt zu Stifter.

Um 10 Uhr 30 setze ich Thomas wieder bei ihm zu Hause ab. Dann fahre ich zu Redakteur Kastner von der „Salzkammergutzeitung“ mit einem Artikel über den Unfall von Thomas:

Ohlsdorf – THOMAS BERNHARD bei Waldarbeit verunglückt.

Thomas Bernhard, „Bauer zu Nathal“ begab sich am 7. 1. 1972 früh zu seiner Liegenschaft Grasberg 98, um den Wald „auszuputzen“. Um 14 Uhr 30 schnellte ein fallender Baum zurück und traf Thomas Bernhard in den Rücken. Dabei schlug es ihm die laufende Kettensäge aus der Hand und fügte ihm oberhalb des linken Knies eine klaffende Wunde zu. Auch im Gesicht erlitt er eine Verletzung. Da Bernhard, wie meistens, die Arbeit alleine ausführte, mußte er sich selbst zu seinem Auto schleppen. Er fuhr ins Krankenhaus Gmunden, wo seine Wunden genäht und versorgt wurden. Die weitere Behandlung hat sein Bruder, Arzt in Wels, übernommen.

Diese Meldung hatte ich am Samstag bei der „Salzkammergutzeitung“ einem Arbeiter, der am freien Samstag seine Geige im Maschinenraum reparierte, übergeben mit der Bitte, er solle sie Herrn Kastner geben. Es darf aber nichts hinzugefügt werden und soll nur unter der Rubrik „Aus den Gemeinden“ unter Ohlsdorf erscheinen.

Als ich Kastner in seiner Redaktion aufsuchte, sagte er mir gleich: Ein bißchen haben wir schon geändert. Das sind wir unserem Publikum schuldig. So wie Sie glauben, können wir das nicht bringen. Er telefonierte um den Bürstenabzug, ein Blick darauf brachte mich sofort in Wut. Staatspreisträger Thomas Bernhard, der erfolgreiche Dichter usw. begann der Artikel. Entrüstet wies ich den Artikel zurück und sagte, da lese ich gar nicht mehr weiter. Das ist genau das, was Bernhard nicht will. Ich wagte nur deswegen, Ihnen den Artikel zu geben, da ich weiß, was Bernhard nicht will, und deswegen habe ich Dichter usw. weggelassen. Das ist ja keine Kunst, er hat ja jetzt schon sieben Preise, da könnte man das so fortsetzen und im Zusammenhang mit dem Unfall ganze Seiten füllen. Am 21., wenn er den Grillparzer-Preis verliehen bekommt, können Sie groß berichten, was Sie wollen. So, wann denn? 11 Uhr, wo? In der alten Universität. So, ja da sollten wir ja einen Mann dort haben.

Schließlich sage ich: Wenn der Artikel nicht so kommt, ziehe ich ihn zurück. Ich distanziere mich vollkommen, denn ich riskiere, daß ich es mir mit Bernhard für mindestens zwei Jahre vertue, wenn ich einen Artikel verschulde, über den er sich ärgert. Ich frage Kastner noch, ob er nicht den Artikel der „Münchner Abendzeitung“ vom 28. 12. 1971 kennt. Ich zeige durchs Fenster auf die OKA [Oberösterreichische Kraftwerke AG] und sage: Hier sitzt der Bruder von der Agi, der Baron Handl, der kann Ihnen sagen, wie sich ein Reporter mit seiner Schwester bei ihm eingeschlichen hat. Über das können Sie schreiben, soviel Sie wollen. Ich bringe Ihnen in nächster Zeit Unterlagen und den Artikel des Reporters. Da können Sie wochenlang darüber schreiben, das kann Ihnen niemand verwehren. Da können Sie dem Verlangen Ihres Publikums nachkommen, aber bitte reißen Sie mich mit diesem Artikel nicht hinein, bringen Sie ihn nicht, oder so, wie er ist.

Kastner verspricht es mir und gibt Grüße an Bernhard auf. Er weiß, daß ich seit Jahren mit Thomas befreundet bin, und hat vor einigen Jahren, als sich Thomas mit ihm und seinen Angestellten wegen eines Artikels verkrachte, zu mir gesagt: Wenn Sie einmal etwas haben, wenn Sie über Bernhard einmal etwas bringen wollen, so werde ich das sofort bringen in meiner Zeitung.

Er sagte mir dann aber auch noch, daß er eine Glosse darüber schreiben werde, daß ich auf diesen Artikel in dieser Form bestanden habe, damit die Leser wissen, wie der Artikel zustande kam. Ich sage: Das können Sie, und verabschiede mich herzlich.

Abends um 18 Uhr komme ich zu Thomas und erzähle ihm von meinem Kampf mit dem Redakteur Kastner. Ich begründe meinen Schritt damit, daß, da die Gendarmerie und das Krankenhaus eingeschaltet wurden, leicht ein unmöglicher Artikel über seinen Unfall in die Zeitung kommen könnte, und da hätte ich lieber gleich selbst vom seinerzeitigen Angebot des Herrn Kastner Gebrauch gemacht.

Inzwischen hat der eingeschaltete Fernseher zu stinken begonnen, und Thomas sagt: Jetzt wird der Apparat gleich explodieren, und mich wird’s zerreißen. Dann kannst du gleich zum Kastner fahren, er soll den Artikel noch ergänzen. Er kann schreiben, was er will, er (Thomas) kann es nimmer lesen, weil er tot ist. Oder ich bekomme eine Fettembolie, das wäre sehr gut, wenn in der Zeitung steht: Thomas Bernhard an Fettembolie gestorben, dann können alle über mich schreiben, was sie wollen. Die Wunde heilt nämlich sehr gut, eine Wunde beginnt schon nach vier bis sechs Stunden wieder zu heilen. Die Heilung erfolgt ohne Komplikationen, alles ist schön, nur eine Fettembolie könnte noch eintreten. Dann geht’s so. Er streckte die Zunge heraus, ließ den Kopf zur Seite fallen und drehte die Augen nach oben. Er zeigte mir das noch einmal und sagte lachend, schau, so schnell geht das. Ich sagte, ich weiß, daß dir das nicht bestimmt ist, die Handleserin Jakob in Linz hat mir gesagt, daß du machen kannst, was du willst, alles geht zu deinen Gunsten aus.

Ich hatte Frau Jakob gefragt, ob es gut sei, wenn er dauernd besonders die, von denen er lebt, beleidigt usw. Da sagte sie mir, der Mann hat einen sechsten Sinn, er kann machen, was er will. Er kann gar nicht so arg sein, es wird alles zu seinem Besten ausgehen.

Ich blieb noch bei Thomas, bis die Sendung mit Pen-Club-Präsident Böll, der über den sowjetischen Schriftsteller Bokovsky [Wladimir Bukovskij, Autor des Buches „Opposition. Eine neue Geisteskrankheit in der Sowjetunion“, Hanser, München 1971] befragt wurde, aus war. Böll mag er auch nicht, in einigen Phasen fand er ihn scheußlich.

Das Wort scheußlich hat Thomas früher viel häufiger gebraucht, oft mehrmals in der Stunde. Meine Mutter war schon sehr ungehalten zu mir, daß er diesen Ausdruck so oft gebrauchte. Da fragte ich Thomas einmal, ob er eigentlich schon einmal darüber nachgedacht habe, woher der Ausdruck „scheußlich“ eigentlich stamme, da er dieses Wort ja so oft gebraucht. Als er nicht antwortete, sagte ich: Na ja, es kann nur von „scheißen“ kommen. In den folgenden Wochen hat er das Wort immer weniger oder nur mehr halb ausgesprochen verwendet, und schließlich habe ich das Wort monatelang nicht mehr gehört. Derzeit verwendet er es nur selten, aber immer treffend.

11. Jänner 1972

Von Wien kommend besuchte ich heute Thomas um 18 Uhr mit meiner Gattin. Sieben Zeitungen habe ich ihm mitgebracht. Thomas zeigte mir sofort einen Brief und das Drehbuch von Ferry Radax zu seinem Roman Frost. In dem Brief schrieb Radax, daß er am Dienstag, das wäre heute abend, in Wolfsegg den Italiener aufführen wird. Die Gräfin ist verständigt usw. Nachmittags ist aber dann ein Telegramm gekommen, daß alles auf kommenden Dienstag verschoben ist, Verständigung folgt noch. Thomas sagte noch, daß das Drehbuch sehr gut sei. Radax hat sich da sehr angestrengt, er weiß es auch.

Thomas legt keinen besonderen Wert darauf, in Wolfsegg dabei zu sein, es ist ihm gleichgültig, ob er mit Radax sprechen kann usw. Deswegen vor allem, weil das Drehbuch gut ist, mehr will er nicht. Ich kenne aber Radax und will diesem eine Enttäuschung ersparen. Deswegen frage ich Thomas, ob es ihm was ausmachen würde, wenn ich mich bei Radax für die Grüße bedanke und ihm schreibe, daß der Montag günstiger wäre. Thomas ist einverstanden.

Um 18 Uhr 30 verlassen meine Gattin und ich Thomas schon wieder. Ich sage ihm: Heute bin ich schon müde, und er hat jetzt Zeitungen. 1/4 Butter lasse ich ihm noch da. Für morgen lädt er mich zum Essen beim Pabst ein, um 11 Uhr 30 soll ich bei ihm sein.