Ein letzter Grappa - Gabriella Wollenhaupt - E-Book

Ein letzter Grappa E-Book

Gabriella Wollenhaupt

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Beschreibung

Krieg auf den Straßen Bierstadt: Auf den Straßen herrscht Krieg zwischen Anhängern eines arabischen Clans und der Neonazigruppe ›Sturmbund 18‹. BKA und Verfassungsschutz fahren eine Null-Toleranz-Strategie – mit mäßigem Erfolg: Trotz vermehrter Festnahmen tauchen die eigentlichen Drahtzieher immer rechtzeitig ab. Gibt es eine undichte Stelle innerhalb der Ermittlungsbehörde? Reporterin Maria Grappa recherchiert die Hintergründe des Konflikts und ist dabei um Neutralität bemüht. Doch dann werden von ihrem Mail-Account Botschaften verschickt, die sie verdächtig machen, in den brutalen Mord an einem Polizisten verwickelt zu sein. Grappa gerät selbst ins Fadenkreuz.

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Gabriella Wollenhaupt

Ein letzter Grappa

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Franziska Emons-Hausen

unter Verwendung von owik2/photocase.de

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Ulrike Rodi

Druck und Bindearbeiten: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-89425-639-5

1. Auflage 2020

Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt. Mit Ein letzter Grappa stellt sie zum dreißigsten Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis. Zudem hat sich die Autorin gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz mit Blutiger Sommer auf einen Ausflug in den Vormärz und mit Schöner Schlaf in die Kunstszene begeben.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

Maxim Becker ............................... wird wieder glücklich

Carsten ›Bärchen‹ Biber .............. startet ins Geldgeschäft

Hans Damm .......................................... zieht sich zurück

Farid, Issam, Kamal ............. lieben schnelle Luxuskarren

Maria Grappa ............................................... hat Zweifel

Simon Harras ............................ kriegt endlich die Kurve

Ludwig Kahl ............................... bekommt heiße Ohren

Oberstaatsanwalt Kämper ................... macht seinen Job

Dr. Friedemann Kleist ....................... hat eine tote Tante

Mareike .................................................. geht ihren Weg

Dr. Ali Mawardi .................................... überschätzt sich

Hannah Mawardi ............................... kommt nicht weit

Mustafa Mawardi ................ bereitet seinen Abgang vor

Wayne Pöppelbaum ................................. bleibt im Bild

Wigald Rauh ...................................... hat keine Skrupel

Frank Reimer ................. tanzt auf zu vielen Hochzeiten

Sarah .............................................................. schult um

Anneliese Schmitz ............................... backt nicht mehr

SS-Eddi .......................... genießt den Krieg in der Stadt

SS-Mami ....................................... schützt ihren Jungen

Stella ....................................................... biegt falsch ab

Susi .............................................................. folgt Sarah

Dr. Margarete Wurbel-Simonis .............. macht Theater

Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.

Hau ab, du Opfer!

Im Radio lief ein Beitrag über das schwedische Mädchen mit den langen Zöpfen, das unser Klima retten will. »Kannst du nicht mal einen anderen Sender einstellen?«, fragte ich leicht genervt.

»Magst du immer noch keine Kinder, Grappa?«

»Doch, eigentlich liebe ich Kinder. Aber was zu viel ist, ist zu viel«, antwortete ich.

»Du warst als Kind bestimmt noch viel nerviger als die«, grinste Wayne.

»Nein, ich habe meinen Eltern nur Freude gemacht.«

»Haha.«

»Dahinten fährt einer weg.« Ich deutete auf einen gerade frei werdenden Platz vor dem Portal des Landgerichts.

Wayne setzte den Blinker, fuhr nach links und blockierte einen entgegenkommenden schwarzen Porsche, der in unsere Parklücke wollte.

»Nix da«, zischte der Fotograf.

Der Porschefahrer hupte zornig.

»Du kannst mich mal!« Wayne zeigte den Stinkefinger Richtung Luxuskarre.

Ich griff nach dem Presseschild, öffnete das Fenster und präsentierte es dem gegnerischen Fahrer. Erkennen konnte ich ihn nicht, denn die Seitenscheiben waren getönt.

»Dickes Auto, kleiner Schwanz«, schimpfte Wayne.

»Da liegst du daneben«, widersprach ich, denn aus dem Porsche kletterte eine Frau und kam auf uns zu. Jung, attraktiv, teures Kostüm. Ihr Gang war wütend, das schwarze Haar wippte bei jedem Schritt.

»Jetzt zieh dich warm an«, riet ich Wayne. »Die will nicht nur spielen.«

»Alle Frauen wollen spielen«, behauptete er.

Klopfen am Fahrerfenster. Die Scheibe senkte sich.

»Hauen Sie ab!«, forderte die Frau. »Ich war zuerst da und hab es eilig.«

»Falsch. Wir waren zuerst da und haben es auch eilig«, entgegnete Wayne.

Hinter der Frau tauchte ein Mann auf. »Gib her, ich parke die Karre für dich.«

Sie reichte dem Mann den Schlüssel, ohne ihn anzusehen, warf uns einen giftigen Blick zu und drehte ab. An ihrem eigenen Wagen angekommen, zog sie eine schwarze Robe vom Rücksitz, legte sie über den Arm und verschwand im Gerichtsgebäude. Der Porsche setzte mit aufheulendem Motor zurück und bretterte mit zu viel Gas davon.

Wayne lenkte sein Auto in die Lücke. Wir passierten die Sicherheitsschleuse und gelangten in das Gebäude.

Das Landgericht befand sich im Kaiserviertel: ein Bau aus wilhelminischer Zeit mit Portal, großer Eingangshalle, verschiedenen Treppenaufgängen und Fluren, in denen jedes Wort hallte, als befinde man sich in einer Kathedrale. Vor die großen Verhandlungssäle hatte man harte Holzbänke geschoben, auf denen die Sünder, ihre Opfer und Anhänger und das juristische Personal auf den Aufruf ihres Prozesses warteten.

Unser Ziel war der Schwurgerichtssaal. Neben der zweiflügeligen Tür hing der Terminzettel. Anklage gegen drei Männer wegen Mordes, Fahrerflucht, Nötigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und anderem.

»Hier sind wir richtig«, stellte Wayne fest. »Und die Jungs haben die ganze Großfamilie mitgebracht. Ich mach mal ein paar Fotos, bevor gleich die Post abgeht.«

Keine gewagte Prophezeiung. Der Fall erregte Aufsehen und die Emotionen kochten hoch. Die Angeklagten gehörten zu einer arabischen Großfamilie, dem berüchtigten Mawardi-Clan. Entsprechend streng waren die Sicherheitsmaßnahmen. Bewaffnete Polizisten behielten die Entourage der Angeklagten im Auge, Justizangestellte überprüften die Personalien mit auffallender Gründlichkeit, jede Menge Journalisten warteten auf Einlass. Die übliche Öffentlichkeit, meist ältere Menschen mit viel Zeit, hatte sich in der Nähe des Saaleingangs postiert, um später einen Sitzplatz im Zuschauerraum zu ergattern.

Wayne machte seinen Job. Das war nicht einfach, denn die Mawardi-Anhänger drehten sich von der Kamera weg. Würde ich auch so machen als Mitglied einer Familie, die mit Schutzgelderpressung, Menschenhandel, Rauschgiftdeals und Geldwäsche Millionen macht. Sogar von Auftragsmorden war die Rede, und dann dieser Prozess heute.

»Hau ab, du Opfer, oder isch mach disch kaputt!« Damit war Wayne gemeint.

Der hielt die Kamera in Richtung des Mannes, der sich drohend vor ihm aufbaute. Der Kerl hatte eine Figur wie Hulk: Muskelberge, die das T-Shirt dehnten. Dazu tätowierte Unterarme, schwarzer langer Bart und eine High and Tight-Frisur, also an den Seiten fast kahl mit Flokati auf dem Oberkopf.

Die Polizeibeamten waren aufmerksam geworden und näherten sich dem Riesen. Ich holte mein Handy aus der Tasche, aktivierte die Kamera und richtete sie auf Wayne und den Mann. Plötzlich war da eine Frau in schwarzer Robe im Bild. Sie stellte sich vor den Kerl und sprach auf ihn ein. Es klang befehlend. Ich machte ein Foto, ließ das Handy in die Tasche gleiten und ging auf die beiden zu.

Die Porsche-Frau! Sie hatte ihre Haare zu einem Knoten gebunden, eine Brille aufgesetzt und wirkte nun sehr seriös.

»Haben Sie was mit diesen Typen zu tun?«, fragte ich.

»Ach, die Dame von der Lügenpresse.« Sie rauschte ab.

Eine Lautsprecherstimme rief zur Verhandlung gegen die Brüder Farid, Issam und Kamal Mawardi.

»Die Porsche-Trulla hat mit der Sache zu tun«, teilte Wayne mir mit.

»Ich hab’s bemerkt. Und ein schönes Foto von euch beiden gemacht mit dem Tattoo-Kerl.«

Die Presseplätze waren voll belegt. Wayne blieb stehen, denn er musste eh raus, sobald die drei Richter sich gesetzt hatten. So war es in Deutschland üblich. Filmaufnahmen wie in den USA waren nicht erlaubt. Ob das bedauerlich war oder nicht, darauf hatte ich noch keine abschließende Antwort.

Die Mawardi-Anhängerschaft drängte sich eng auf den Zuschauerplätzen. Manche packten Getränke und Snacks aus und schubsten die Besucher, die ihnen nicht passten, einfach weg. Das gab prompt Ärger und lautstarke Proteste.

Eine Tür hinter dem Richtertisch öffnete sich und die drei Angeklagten erschienen in Begleitung von Justizbeamten. Applaus und Jubel. Die Männer lachten und winkten ihren Leuten zu. Jetzt fehlte nur noch Popcorn.

Alle drei waren jung und wirkten selbstbewusst und frech. Einer verbeugte sich Richtung Publikum, als stünde er auf einer Bühne. Zwei seiner Anhänger rappten einen Song aus der Sido-Ecke, in dem es um Gleitcreme und Lutschen ging.

Faxen vor den Kameras der Bluthunde und Blaulicht-Fotografen. Erneut Gejohle, Jubelrufe und Applaus. Auch ich konnte nicht widerstehen und startete die Videotaste an meinem Handy. Der Anführer der Beamten forderte Ruhe, kassierte dafür Pfiffe und Beleidigungen. Der Rechtsstaat ging vor einer Horde Wildgewordener in die Knie.

Oberstaatsanwalt Kämper erschien und die Situation verschlimmerte sich. »Nazischwein, Rassist, Schwanzlutscher.« Der Ankläger beobachtete die Show unbeeindruckt. Er war schon lange im Job und galt als scharfer Hund.

»Guck mal.« Wayne war hinter mich getreten und deutete auf die Tür: Die Porsche-Frau gesellte sich zu den Angeklagten. »Muss wohl deren Anwältin sein.«

»Ich weiß«, entgegnete ich. »Sie heißt Hannah Mawardi und ist die Schwiegertochter des Clan-Bosses Mustafa Mawardi.«

»Und warum sagst du das erst jetzt?«

»Weil ich sie vorher nie leibhaftig gesehen hatte. Ihr Name steht im Gerichtsplan«, antwortete ich. »Und danach hat Google geholfen.«

»Die Spannung steigt«, meinte Wayne. »Ich geh mal nach draußen und schau mir die Zeugen an. Kannst du die Richter ablichten, wenn sie reinkommen?«

»Geht klar.«

Wieder öffnete sich die Nebentür. Ein Sanitäter schob einen Rollstuhl in den Saal. Für einen Moment wurde es ruhig auf den Zuschauerbänken. Maxim Becker, der Nebenkläger. Ein schmaler, bleicher Mann mit tief liegenden dunklen Augen und grau melierten Haaren, die im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden waren.

Staatsanwalt Kämper gab Becker die Hand, sprach ein paar Worte mit ihm und rückte zur Seite. So diskret wie möglich lichtete ich die beiden ab. Die Richter der Großen Strafkammer erschienen und der Vorsitzende verbot sofort weitere Fotos und Filmaufnahmen.

Posen und protzen

Oberstaatsanwalt Kämper verlas die Anklageschrift: »Man könnte sagen, dass sich Maxim Becker, seine Frau Simone und die sechs Jahre alte Tochter Franziska am falschen Tag am falschen Ort befunden haben. Doch weder der Tag noch der Ort waren falsch. Falsch und überaus kriminell war das, was die Angeklagten an diesem Tag veranstalteten. Sie verursachten einen schweren Unfall, bei dem zwei Menschen starben und ein Mensch schwer verletzt wurde, und sie begingen Unfallflucht. Und das Schlimme ist: Sie nahmen den Tod von Unschuldigen billigend in Kauf, um ihren Spaß zu haben. Doch das war kein Spaß, sondern feiger Mord.«

Buh-Rufe der Mawardi-Leute. Wortfetzen, die arabisch klangen, Gezische, Beleidigungen. »Kauf dir ’ne neue Alte, du Spacko!« Das war an Maxim Becker gerichtet. Mit »Nazischwein!« und »Ich ficke deine Mutter« wurden Staatsanwalt und Nebenklageanwalt bedacht.

Der Richter kündigte an, bei weiteren Störungen den Saal räumen zu lassen. Die Geräuschkulisse ebbte ab.

Der Ankläger schilderte den Ablauf des Geschehens.

»Der Tag, an dem die Angeklagten ihren Spaß haben wollten, war ein Sonntag, der Ort die Autobahn 1 Richtung Köln. Das Ziel der Geschädigten war Phantasialand. Der Nebenkläger Maxim Becker saß am Steuer. Die Autobahn war an diesem Tag staufrei. Einige Kilometer hinter dem Kreuz Wuppertal-Nord blickte Becker in den Rückspiegel und bemerkte, dass sich Autos näherten, die alle drei Spuren gleichzeitig und nebeneinander besetzten. Lichthupen und Warnblinker kamen näher. Becker fuhr so weit rechts, wie er konnte, und drosselte die Geschwindigkeit. Trotzdem rammte eine schwere Limousine Beckers Auto von der Seite und drängte es über die Leitplanke. Der Wagen schleuderte in einen Wald, prallte gegen einen Baum und blieb liegen. Die Unfallverursacher, also die Angeklagten, entfernten sich, ohne sich um die Geschädigten zu kümmern. Erst zwei Stunden später wurde der verunfallte Wagen entdeckt. Simone Becker und das kleine Mädchen hatten den Unfall nicht überlebt, Maxim Becker wurde schwer verletzt ins Krankenhaus geflogen.«

»Feige Schweine!«, schrie ein älterer Mann, der nicht in der Mawardi-Gruppe saß, und klopfte mit seinem Stock gegen die Sitzbank.

»Ruhe!«, blaffte der Richter. »Noch so ein Zwischenfall und der Saal wird geräumt!«

Kämper griff wieder zu seinen Papieren. »Gleichzeitig mit dem Unfall war im Zusammenhang mit einer Hochzeit ein Autokorso unterwegs. Zunächst brachte niemand den Unfall mit dieser Autoparade in Verbindung. Erst als Maxim Becker vernehmungsfähig war, zogen die Ermittlungsbehörden ihre Schlüsse. Der Autokorso war nämlich kurze Zeit nach dem Unfall von der Autobahnpolizei gestoppt worden, die Personalien wurden festgestellt und es gab Festnahmen aufgrund bestehender Haftbefehle wegen anderer Delikte wie Betrug, Schutzgelderpressung und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Fahrzeuge, alles teure Wagen mit Sonderausstattungen, wurden sichergestellt und abtransportiert. Keiner der beteiligten Menschen, die ja nur ihren Spaß haben wollten, gab einen Hinweis auf den Unfall.«

Kämper griff nach zwei Fotos und hielt sie Richtung Anklagebank. »Das waren Simone und Franziska Becker. Dreißig und sechs Jahre alt.«

Ich beobachtete Maxim Becker. Er fixierte die Angeklagten ohne erkennbare Emotionen. Der merkt sich die Gesichter, dachte ich, aber vielleicht sucht er auch nach Spuren der Reue.

Einer der Beschuldigten zuckte mit den Schultern, ein anderer grinste, krabbelte in seinem Bart und der dritte schlug nach einer Fliege.

»Danke für Ihr überbordendes Mitgefühl.« Kämper legte die Fotos auf den Tisch zurück.

»Es geht hier nicht um Gefühle, sondern um Fakten.« Das war Hannah Mawardi, die Verteidigerin. »Wenn Sie beweisen können, welcher meiner Mandanten den Unfallwagen gefahren hat, können wir über Gefühle und kulturelle Unterschiede reden.«

»Lassen Sie den Staatsanwalt fortfahren«, befahl der Vorsitzende. »Ihr Auftritt kommt später.«

»Fahrer mit Migrationshintergrund können sich in einem Fall wie diesem nicht auf kulturelle Unterschiede berufen«, widersprach Kämper der Anwältin. »Es geht um einen Hormonüberschuss und eine Missachtung von Gesetzen und Regeln. Es geht ums Posen und Protzen, ums Hupen und sinnloses Im-Kreis-Fahren, also um pubertäres Machogehabe der übelsten Art. Die Angeklagten sind Menschen, die Verbotsschilder für Landschaftsverschönerung und Tempokontrollen für Abzocke halten und keinerlei Empathie für andere Menschen empfinden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Psychologe sind, Herr Kollege!«, krähte Hannah Mawardi.

Applaus. Gelächter. Buh-Rufe.

Der Richter: »Die Verhandlung wird für zwanzig Minuten unterbrochen. Die Anwälte bitte sofort in mein Zimmer.«

Schwarzer Kaffee

Die Juristen verbrachten ihre freien Stunden zwischen den Prozessen in der Gerichtskantine. Der Kaffee war schwarz, heiß und bitter – das Beste in diesem Etablissement. Ich stellte mich in die Reihe, die sich vor dem Automaten gebildet hatte.

»Die kommen ungeschoren davon, wetten?«, meinte Wayne, als ich mich mit zwei Pötten Kaffee wieder zu ihm gesellte.

»Woher willst du das wissen? Wir sind doch noch nicht einmal bei der Beweisaufnahme«, sagte ich.

»Das wird hier auf den Fluren geredet«, erklärte er. »Wenn Kämper nicht nachweisen kann, welcher von den drei Mawardis am Steuer des Unfallwagens gesessen hat, ist zumindest die Anklage wegen Mordes hinfällig. Daraus folgt höchstens eine Strafe wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, vielleicht sogar auf Bewährung.«

»Dann ist aber der Teufel los«, mutmaßte ich. »Das treibt den Biodeutschen auf die Barrikaden.«

»Die Verteidigerin hat übrigens einen guten Ruf unter ihren Kollegen.« Wayne nahm einen Schluck Kaffee. »Sie gilt als harter Brocken.«

»Merkwürdig, dass sich eine Horde Muslime von einer Frau verteidigen lässt«, überlegte ich.

Ich schaute auf die Uhr. Die zwanzig Minuten waren gleich um.

Die Polizei hatte für Ruhe gesorgt. Zwei Drittel der Mawardi-Fans mussten auf dem Flur warten, die Beamten ließen nur jeden dritten Prozessbeobachter in den Schwurgerichtssaal.

»Ich bleib draußen und mache ein paar Milieustudien«, sagte Wayne. »Die Jungs haben bestimmt viel zu erzählen.«

»Pass auf, dass du keine geschallert bekommst.«

»Keine Sorge. Die Exekutive passt ja auf.« Sein Blick ging zu den bewaffneten Polizisten, die in der Tür standen.

Oberstaatsanwalt Kämper las den Rest der Anklageschrift vor. Störungen gab es keine mehr. Der Vorsitzende Richter belehrte die Angeklagten über ihr Recht zu schweigen. Die Verteidigerin erklärte, dass ihre Mandanten zur Sache nicht aussagen würden. Das war es dann auch. Der Prozess wurde vertagt, die Angeklagten abgeführt. Kämper packte seine Papiere zusammen und Maxim Becker wurde aus dem Saal geschoben.

Auf dem Gerichtsflur wartete Wayne. »Ich hab alles im Kasten.«

Plötzlich ertönten Martinshörner und Blaulicht flackerte hinter den Fenstern, die zur Straße zeigten.

Schwarze Vermummung

Sie kamen von allen Seiten: vermummte Gestalten in Schwarz. Plakate mit der Aufschrift Sturmbund 18.

»Unsere Neonazi-Spacken«, sagte Wayne, als wir vor dem Gerichtsgebäude standen. »Weg mit dir, Grappa!«

Er schubste mich zur Seite und stürzte sich ins Getümmel.

Die Nazis kesselten die heftig gestikulierenden Mawardi-Leute ein und prügelten mit Baseballschlägern auf sie drauf. Die Polizisten bildeten eine Reihe und versuchten, die Angreifer zurückzudrängen, was nur teilweise gelang. Die braune Wut richtete sich jetzt gegen die Beamten: »Ich knall euch ab, ihr Scheißbullen«, »Verpisst euch, sonst klatscht es!«, »Halt dein Maul! Du hast mir gar nichts zu sagen«, »Hurensöhne! Fickt euch!«, »Du bist Müll, Schwuchtel.«

Weitere Einsatzfahrzeuge hielten mit quietschenden Reifen. Ein Spezialkommando mit Schilden und Maschinenpistolen postierte sich. Eine Megafonstimme forderte die Parteien auf, sich zu trennen.

Doch die Gewalt auf beiden Seiten ließ sich nicht so einfach eindämmen. Die Araber hatten inzwischen einige Baseballschläger erbeutet und wehrten sich. Messer blitzten auf und ich sah blutige Nasen und Kopfwunden. Am schlimmsten jedoch war die Geräuschkulisse. Entmenschte Gestalten auf beiden Seiten.

Mir wurde eiskalt. Wo war Wayne? Hoffentlich geriet er nicht in das Getümmel.

Ein Wasserwerfer näherte sich. Er hatte den liebevollen Namen WaWe10 bekommen und war ein guter alter Bekannter.

Ich hatte schon mal eine Ladung aus dem Rohr genau dieser Wasserkanone abbekommen und das reichte mir fürs Leben. Hektisch ging ich zurück Richtung Eingang und versuchte, die Tür aufzudrücken. Leider vergebens. Aber die Position war nicht schlecht, weil sie etwas erhöht lag und ich so einen guten Blick auf die Schlägerei hatte.

Ich entdeckte Hannah Mawardi. Sie versuchte, sich durch die aufgebrachte Menge zu drängeln – mit wenig Erfolg. Ich verlor sie aus den Augen.

Der WaWe10 richtete eins seiner drei Werferrohre auf die Gruppe, die Polizisten wichen zurück. Die Megafonstimme warnte. Ohne Wirkung. Und dann setzten zehntausend Liter Wasser die Mawardis und den Sturmbund 18 unter Wasser.

Nach einer halben Stunde waren die Straße und die Fahrzeuge in den Parkbuchten gesäubert und die Bäume gründlich gewässert. Ich war trocken geblieben. Inzwischen waren Notarztwagen eingetroffen, die Verletzten wurden versorgt. Prellungen waren die häufigsten Blessuren, die WaWe10 verursacht hatte. Auch Hannah Mawardi hatte wohl etwas abbekommen, sie wurde auf einer Trage abtransportiert. Ich versuchte, die Szene mit meinem Handy zu fotografieren, entdeckte aber, dass Wayne näher dran war. Wieder einmal fiel mir auf, dass dieser Fotograf, mit dem ich schon so viele Jahre zusammenarbeitete, ein gutes Gespür für relevante Fotos hatte.

Diese Szene schien besonders relevant zu sein. Er winkte mir zu und schien mir etwas mitteilen zu wollen. Irgendetwas stimmte nicht. Wieder hektisches Winken.

Ich schlüpfte durch das Chaos, das der Wasserwerfer verursacht hatte: umgekippte Blumenkübel, aufgeweichte Papiere, kaputte Brillen und einzelne Schuhe.

Endlich war ich bei Wayne. »Was ist los?«

»Die Anwältin ist tot.«

»Wie bitte?«

»Der Notarzt hat ihr Gesicht zugedeckt und mit dem Kopf geschüttelt.«

Sturmbund 18 rüstet auf

War Hannah Mawardi ein Zufallsopfer oder war sie gezielt ausgesucht worden? Oder war alles nur ein Missverständnis und Wayne hatte sich getäuscht oder täuschen lassen?

Im Auto rief ich die Polizeipressestelle an, die von einem Todesfall nichts wusste. Man bestätigte lediglich den Einsatz des Wasserwerfers und kündigte für den späten Nachmittag eine Pressemitteilung an.

Ziemlich derangiert und fertig kamen wir im Verlagshaus an. Im Großraumbüro liefen die Regionalnachrichten. Ein Livereporter wurde zugeschaltet und beschrieb das Chaos vor dem Landgericht. »Mehrere Menschen wurden verletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei hatte die Lage schnell im Griff.« Kein Wort von einer Leiche.

»Na, wie war’s?«, fragte Kollege Bärchen Biber.

»Anstrengend. Und bei euch so?«

»Wir hatten auch eine Menge Stress«, behauptete er. »In der Kantine ist die Kühlung des Getränkeautomaten ausgefallen. Warme Cola schmeckt zum Kotzen.«

»Heul doch.«

Ich hatte keine Lust, mich um sein Gejammer zu kümmern. Carsten Biber, liebevoll ›Bärchen‹ genannt, schien unbeschäftigt zu sein, denn auf seinem Rechner prangten die Fotos von geblümten Hemden eines exquisiten Herrenausstatters.

»Sag mal, kennst du einen Neonazi-Klub namens Sturmbund 18?«, fragte ich.

Er sah überrascht auf. »Die Nazi-Terrorzelle? Das waren mal ganz harte Faschos. Aber zurzeit sind die nicht besonders aktiv.«

»Falsch. Das hat sich heute Morgen geändert.« Ich schilderte die Prügelei vor dem Gericht.

»Im Radio hörte sich das fast harmlos an«, wunderte er sich. »Wenn der Sturmbund wiederauferstanden sein sollte, dann gibt es Krieg, Grappa!«

»Ich muss für unsere Onlineausgabe ein paar Zeilen schreiben. Kannst du mir Infos zum Sturmbund 18 zusammenstellen?«

Bärchen grinste. »Ich bin zwar gerade in der entscheidenden Phase bei meinem Hemdeneinkauf, aber das verschiebe ich dir zuliebe.«

»Du bist so gut zu mir«, lächelte ich. »Ich revanchiere mich, indem ich das Blumenmuster für dein Hemd aussuche, okay?«

»Lieber nicht«, meinte er. »Du hast einen Hang zu schwuchteligem Design.«

»Passt doch«, frotzelte ich.

Wir gingen zu Wayne, der gerade seine Fotos auf den Rechner überspielte. »Hast du ein Foto, auf dem die Aufschrift Sturmbund 18 zu sehen ist?«

»Klar. Mehrere. Hier!« Er präsentierte eine Auswahl.

»Wir nehmen das«, entschied ich.

Im Vordergrund die Rückseiten von SEK-Beamten, in den Lücken dazwischen die Nazis – die meisten mit schwarzen Skimasken unkenntlich vermummt. Baseballschläger, Stöcke und Plakate mit dem Sturmbundzeichen.

»Auf einer Demonstration dürfen weder Waffen noch sonstige Gegenstände mitgebracht werden, die Menschen verletzen«, dozierte Bärchen. »Allein dafür kriegt man die Typen dran. Die müssen dann ein kleines Bußgeld latzen oder bekommen, wenn sie schon mal unangenehm aufgefallen sind, eine Bewährungsstrafe.«

»Die werden argumentieren, dass sie sich nur schützen und verteidigen wollten.«

»Auch Schutzwaffen sind verboten. Helme, Schilde, gepolsterte Kleidung, Lederkombis und so ein Zeugs«, erklärte Biber.

»Was bedeutet die Ziffer 18 in dem Namen?«, fragte Wayne.

»Deutet auf Adolf Hitler hin. Der erste und der achte Buchstabe des Alphabets sind A und H, also A-dolf H-itler.«

»Guck mal, wer da im Bild ist – und zwar unvermummt.« Wayne vergrößerte ein Foto.

Jetzt erkannte ich ihn auch: Ludwig Kahl, der frühere Feuerwehrchef der Stadt, inzwischen vorbestraft wegen Volksverhetzung.

»Interessant. Der lässt ja seit Jahren keine braune Demo aus.«

»Hat ihn seinen Job gekostet«, sagte ich. »Den Ausschnitt brauche ich auch. Und jetzt verziehe ich mich an meinen Rechner.«

»Klärst du das mit der Leiche?«, rief mir Wayne hinterher.

»Leiche?«, fragte Biber.

»Wayne hat eine Tote gesehen«, sagte ich. »Es soll sich um die Anwältin der Araber handeln. Doch noch haben wir nichts Offizielles.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe, Grappa!« Es klang etwas beleidigt.

Mit der Luxuskarre Stütze kassieren

Tatsächlich bestätigten Polizei und Staatsanwaltschaft eine halbe Stunde später, dass es während der Straßenschlacht ein Tötungsdelikt gegeben hatte.

Bei dem Opfer handelt es sich um die 35-jährige deutsche Staatsangehörige Hannah M. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, die Obduktion ist eingeleitet.

Kein Hinweis auf die Zusammenhänge mit dem Mordprozess gegen die Mawardi-Jungs. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis die Medienkollegen die Identität der Frau recherchiert hatten. Noch konnte ich fixer sein als die Konkurrenz. Schnell Kaffee aus der Kantine holen und los.

Clan-Anwältin stirbt bei Straßenschlacht vor dem Landgericht

– titelte ich.

War es eine geplante Tat oder wurde die 35-jährige Hannah M. ein Zufallsopfer? Die Anwältin hatte drei Angeklagte, die dem berüchtigten arabischen Mawardi-Clan angehören, vor dem Schwurgericht vertreten und den ersten Prozesstag hinter sich gebracht. Als die zahlreich erschienenen Clan-Anhänger das Gerichtsgebäude verließen, wurden sie von Mitgliedern der Neonazi-Gruppe Sturmbund 18 angegriffen. Die Polizei konnte die gewalttätige Auseinandersetzung zunächst nicht stoppen und forderte Verstärkung an. Mithilfe eines Wasserwerfers wurde die Schlägerei dann beendet. Anschließend wurde die Frau gefunden, der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Ob der Tod der Anwältin in Zusammenhang mit ihrem Mandat bei dem Landgerichtsprozess steht, muss jetzt ermittelt werden. In dem Verfahren geht es darum, dass eine Frau und ihre sechsjährige Tochter durch Teilnehmer eines sogenannten Hochzeitskorsos auf der Autobahn zu Tode gekommen sind. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Mordes, schwerer Körperverletzung und anderer Delikte erhoben. Die drei Beschuldigten hatten durch ihre Anwältin mitgeteilt, im Prozess schweigen zu wollen. Weitere Verfahren gegen andere Beteiligte des Korsos stehen noch aus. Es geht um gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, Widerstand und Beamtenbeleidigung. Wir berichten weiter.

Das sollte für die Onlinezeitung zunächst reichen. Ich lud den Text hoch und machte mich an den Artikel für die Printausgabe. Dazu musste ich mehr über den Mawardi-Clan erfahren.

Nach einer Stunde und drei Litern Kaffee hatte ich genug Fakten zusammen.

Mit der Luxuskarre Stütze kassieren

Der Mawardi-Clan hat etwa dreitausend Mitglieder, die über ganz Deutschland verteilt sind. Fast zweitausend von ihnen sind bei den Behörden aktenkundig, viele von ihnen mehrfach vorbestraft. Clan-Chef ist der 67-jährige Mustafa Mawardi, der vor über dreißig Jahren aus dem Libanon nach Deutschland eingewandert ist. Dem Clan werden enge Verbindungen mit der organisierten Kriminalität nachgesagt. Familienmitglieder betreiben Schutzgelderpressungen, Drogen- und illegalen Medikamentenhandel, Waffenhandel, Geldwäsche in großem Stil und sind im Rotlichtmilieu aktiv. Allein mit Drogenhandel sollen die Mawardis in den letzten Jahren fünfzig Millionen Euro verdient haben. Dennoch leben viele von ihnen von Hartz IV, also vom Staat. Der Rechtsstaat wird von den Mitgliedern des Mawardi-Clans nicht akzeptiert, sie finden unsere Gesetze lächerlich, unsere Polizei feige und amüsieren sich über die Justiz, die sie allzu oft mit Bewährungsstrafen davonkommen lässt, falls es überhaupt zu Prozessen kommt. Umfragen beweisen: Die Bürger haben Angst und verstehen die Hilflosigkeit der Polizei nicht. Warum wird nichts unternommen? Warum fahren die Mawardis mit Luxusautos bei der Agentur für Arbeit vor, um Stütze zu kassieren? Um zu zeigen, dass Menschen, die sich an Gesetze halten, dumm sind? Weil sie die Errungenschaften unserer Gesellschaft als Beute ansehen? Das alles treibt Menschen ins rechtsradikale Lager. Sie gehen denjenigen ins Netz, die sich in rassistischen Gruppen und rechtsterroristischen Zellen organisieren – wie im Sturmbund 18.

Ein Beamter biegt rechts ab

Ich ging zu Wayne, um die Fotos zu sichten, die er von den Mawardi-Fans auf dem Gerichtsflur gemacht hatte. Die waren wenig schmeichelhaft. Mir war klar, dass die Bilder den deutschen Wutbürger zur Weißglut treiben würden. Aber sie entsprachen nun mal der Wirklichkeit.

Wayne hatte mein Zögern bemerkt. »Ich weiß, was du denkst. Aber netter ging es nicht, diese Typen stellen sich nicht weniger krass dar als die Nazis. Und diese drei da haben mindestens zwei Menschenleben auf dem Gewissen und es tut ihnen kein bisschen leid.«

Bärchen Biber stieß zu uns. Inzwischen war auch Sportreporter Simon Harras an Bord, der Kollege, der für seine Ansichten zu Politik, Moral und Frauen schon oft verbale Prügel bezogen hatte. Zuwanderer waren für ihn listige Schmarotzer, Kirchen verlogene Abzocker und Frauen sexgeile Schlampen.

»Eigentlich könnte man das Zuwanderungsproblem einfach lösen«, machte er sich jetzt bemerkbar. »Araber und Nazis auf eine Insel schaffen und den Schlüssel wegwerfen. Wetten, dass nach einer Woche keiner mehr von denen lebt?«

»Verschon uns mit deinen menschenverachtenden Fascho-Rezepten«, blaffte ich.

»Oh, die Frau Gutmenschin Grappa ist ja mal wieder empfindlich«, unkte er.

»Lass uns unsere Arbeit machen und mach du deine«, riet ich. »Wäre es nicht mal wieder Zeit, einem BVB-Spieler bis zum Anschlag in den Arsch zu kriechen? Oder einem Sponsor?«

Sekretärin Stella grinste fett und nickte mir zu. Sie stand mit Simon seit Monaten auf Kriegsfuß.

»Stella, du kannst mir schon mal die Kommentare zu meinem Onlineartikel zusammenstellen, die Mails der Agenturen ausdrucken und einen Kaffee besorgen.«

Sie zog einen Flunsch, protestierte aber nicht und trollte sich.

Bärchen sah ihr nach. »Warum werden Frauen im Alter immer so zickig?«

»Weil manche Kerle es nicht anders verdienen«, antwortete ich. »Kommst du mit deinem Artikel über den Sturmbund 18 weiter?«

»Ich hab ihn fertig«, erklärte Biber. »Er ist in deiner E-Mail-Box. Sechzig Zeilen ohne Fotos.«

Das lief gut.

»Ich hab auch etwas über Ludwig Kahl geschrieben«, ergänzte er. »Das Landgericht hat ihn im letzten Jahr zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verknackt. Die Sache hat damals viel Aufsehen erregt. Vom SPD-Mitglied zum Neonazi – das muss man erst mal hinkriegen.«

»Schlaues Kerlchen«, tönte Harras. »Zehn Jahre lang musste ihm die Stadt jeden Monat über sechstausend Euro Beamtengehalt zahlen, weil sie ihn nicht rauswerfen, sondern nur beurlauben konnte. Und jetzt kriegt er eine fette Pension. Warum passiert mir so was nicht?«

»Das schaffst du schon, wenn du dich weiter so benimmst«, attestierte ich.

»Jedenfalls gilt Kahl als einer der Köpfe des Sturmbundes«, erklärte Biber. »Hört euch mal an, was er erst neulich von sich gab: ›Es gibt den Kampf auf der Straße und es gibt darüber hinausgehende Untergrundaktivitäten, die sich jederzeit entfalten können. Das sollte sich dieser Staat immer vor Augen halten. Wenn er das möchte, kann er das haben.‹ Klingt nach Nazi-Terrorismus, oder?«

»Allerdings. Wie konnte der Kerl jemals in die SPD geraten?«, wunderte ich mich.

»Alles nur Kalkül. Das Parteibuch hat ihm den Job als städtischer Feuerwehrchef beschert«, wusste Biber. »Da hat er seine rechte Gesinnung mal hintangestellt. Ich kenne jemanden, der ihn näher kennt. Es ranken sich die merkwürdigsten Gerüchte um diesen Mann.«

»Erzähl!«, forderte ich.

»Seine Frau hat sich scheiden lassen und weißt du, warum?«

»Wegen seines Gesinnungswechsels?«

Bärchen grinste. »So in etwa. Er hat von ihr verlangt, dass sie an rechtsradikalen Veranstaltungen teilnimmt. Das ging ihr dann doch zu weit.«

Ich prustete los, nur Harras schien enttäuscht.

»Armer Simon, du hast wohl mit einer sexuellen Besonderheit gerechnet, oder? Geschlechtsverkehr in SS-Uniform oder Hitlergruß beim Orgasmus?«, spottete ich.

»Du spinnst, Grappa«, wehrte er sich. »Was schert mich der Sex der anderen? Jedenfalls ist der Typ clever. Zehn Jahre nicht arbeiten zu müssen und Geld zu kassieren. Ich hab in meinem Leben allerhand falsch gemacht.«

»Wer hat was falsch gemacht?« Kulturredakteurin Dr. Margarete Wurbel-Simonis hatte das Büro betreten.

»Na, wer wohl? Kollege Harras.«

»Ach so.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auf wen bist du denn jetzt wieder neidisch, Simon?«

»Ihr könnt mich mal«, polterte er und versteckte sich hinter seinem Monitor.

»Irgendwie macht es keinen Spaß mehr, mit ihm zu streiten«, seufzte Mäggi.

»Wo kommst du her?«, fragte ich.

»Programm des Konzerthauses. Die Pressekonferenz des Kulturdezernenten hat ewig gedauert. Gibt es was Neues in der Stadt?«

»Nichts Besonderes«, antwortete ich. »Eine Tote und mehrere Verletzte bei einer Straßenschlacht zwischen Arabern und Neonazis.«

»Das hab ich geahnt!«, rief sie. »Während der Vorstellung des Konzertprogramms gab’s jede Menge Tatütata.«

Zeitungssorgen

Biber hatte zu seinem Artikel das Foto des Ex-Feuerwehrchefs gestellt, umringt von Sturmbundmännern. Die Bildunterzeile lautete: Ex-Feuerwehrchef Ludwig Kahl und seine braunen Freunde ziehen in die tödliche Straßenschlacht.

»Schön provokativ«, meinte ich. »Gefällt mir.«

Mein Handy meldete sich. Verleger Hans Damm war auf einer Tagung des Verlegerverbandes zur Zukunft der Zeitungen und verfolgte unsere Berichterstattung über sein Smartphone. Während seiner Abwesenheit war Bärchen Biber für das Layout des Blattes und ich für die Inhalte verantwortlich. Ich stellte das Telefon laut, damit die Kollegen mithören konnten.

»Muss ich die Tagung abbrechen«, fragte er, »oder kommt ihr allein klar?«

»Wir halten durch«, versprach ich. »Wie läuft es denn bei Ihnen? Hat die Zeitung noch eine Zukunft?«

»Als Printausgabe nicht mehr. Wir müssen online aufrüsten und in die sozialen Medien investieren. Das gilt auch fürs Tageblatt. In Deutschland wurden vor einem Jahr nur noch rund vierzehn Millionen Printausgaben verkauft, das sind sechshunderttausend weniger als im Jahr davor. 1990 waren es noch doppelt so viele, nämlich fast dreißig Millionen. Die Zeitungen sterben. Wir werden das besprechen müssen, wenn ich wieder zurück bin.«

Das klang dramatisch.

»Die Zeitungen sind genauso oft totgesagt worden wie das Buch«, entgegnete ich. »Wird schon nicht so schlimm werden.«

»Hoffentlich. Wenn Sie aktuell meine Hilfe brauchen, melden Sie sich.«

»Mach ich glatt.« Ich beendete das Gespräch.

Bärchen grinste. »Besser, er stört nicht. Glaubst du, dass Damm sich wirklich Sorgen um seine Zeitung macht und um unsere Zukunft?«

»Ich denke schon.«

»Der macht sich keinerlei Sorgen um uns«, lästerte Simon. »Damm denkt doch nur an seinen Profit – wie alle diese spätkapitalistischen Millionäre.«

»Dann kündige doch am besten ganz schnell«, empfahl Stella. »Der BVB hat bestimmt einen Job frei. In der Pressestelle suchen die immer solche Top-Journalisten wie dich.«

»Nur wenn du als meine Sekretärin mitkommst, Stella-Maus.«

Wurbelchen drehte die Augen nach oben. »Ihr solltet endlich mit eurer Paartherapie beginnen. Und jetzt bitte ich um Ruhe, sonst wird mein Artikel zum Konzerthaus nie fertig.«

»Ich bin eh weg.« Harras fuhr seinen PC runter. »Schönen Feierabend für alle.«

Auch Bärchen wollte nach Hause. Ich las seinen Text über den Sturmbund.

Terrorgefahr und Gewaltbereitschaft:

BedrohteSturmbund 18 Journalisten?

Ein züngelnder Drachen ist das Logo des Sturmbund 18. Die Gruppe ist eine rechtsradikale Terrorzelle und gilt als Nachfolgeorganisation des Netzwerks Blood & Honour, das dem Nationalsozialistischen Untergrund zugearbeitet hat. Erst vor wenigen Wochen umriss das nordrhein-westfälische Innenministerium auf eine Anfrage der Grünen die Gefährlichkeit der Gruppe so: »Bei den Sturmbund-Anhängern ist von einer Waffenaffinität und individuellen Gewaltbereitschaft auszugehen. Ob es sich um eine terroristische Vereinigung im Sinn des § 129 a Strafgesetzbuch handelt, muss ein Gericht entscheiden.« Das ist noch nicht geschehen, deshalb ist der Sturmbund 18 auch nicht verboten. Seine Anhänger handeln mit Waffen, verbreiten rechte Hetze und verfassen Anleitungen zum Bombenbau. Die Mitglieder schließen sich in kleinen Zellen zusammen, legen Waffendepots an und verüben Terroranschläge. Der Verdächtige im Mordfall des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke soll mit der Organisation in Kontakt gestanden haben.

Weiterhin soll der Sturmbund 18 für mehrere Drohungen gegen Journalisten verantwortlich sein. Auch in unserer Stadt. Einem Reporter des WDR-Studios wurde ein Briefumschlag mit weißem Pulver zugeschickt und einem Foto, das ein Unbekannter von dem Journalisten gemacht hatte. Dieser befasst sich seit Jahren mit der rechten Szene. Eine Sprecherin der örtlichen Polizei erklärte, dass der Fall von der Soko Rechts bearbeitet wird, die beim Staatsschutz angesiedelt ist.

Daran war nichts auszusetzen. Ich bereitete alles für den Druck auf und schaute, ob es noch eine neue Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft gab oder irgendwelche neuen Agenturmeldungen. Nichts.

Schließlich packte ich meine Sachen, gab den Schlüssel beim Pförtner ab und nahm den Weg zum Parkplatz. Damms Ankündigung über Änderungen beim Tageblatt machte mir mehr Sorgen, als ich mir eingestehen wollte. Schon einmal hatte es in Deutschland ein großes Zeitungssterben gegeben – als große Pressehäuser die kleinen Lokalzeitungen schluckten. Viele Kolleginnen und Kollegen hatten damals ihren Arbeitsplatz verloren. Zu dieser Zeit war ich gewerkschaftlich aktiv und verteilte Flyer, die damals noch Flugblätter hießen, bewachte als Streikposten die Eingangstüren der Druckereien und organisierte Protestmärsche und Diskussionen. Genutzt hatte es nichts, die Pressekonzentration war nicht mehr aufzuhalten gewesen.

Auch die Redaktion des Tageblattes war damals stark verkleinert worden. Die Beiträge zum Politik- und Wirtschaftsteil wurden seither dazugekauft, alles andere Überregionale von den Agenturen übernommen. Nur das Lokale wurde selbst hergestellt.

Mit eiserner Hand

Ein Abend mit Kleist. In der Küche duftete es nach Käse, Zwiebeln und Kartoffeln. Irgendwas brutzelte im Backofen. Im Radio lief Jazzmusik.

Ich hatte ihn ein paar Wochen nicht gesehen. Seine ehemals dunkelbraunen Haare waren noch etwas grauer geworden, die attraktiven Falten um Mund und Augen tiefer. Das Alter stand ihm gut.

Ich stellte meine Tasche ab und schlang meine Arme um ihn. »Das ist Glück!«, rief ich. »Die Frau kommt von der Arbeit nach Hause und der Mann bereitet das Abendessen!«

»Leider waren nur gekeimte Kartoffeln, eine Dose Bockwürstchen, Zwiebeln und Grana Padano im Haus. Ach ja, und ein einsames Ei.«

»Ich hab vergessen einzukaufen«, gab ich zu. »Wir haben eine Tote bei einer Klopperei zwischen Arabern und Nazis.«

»Ich bin im Bilde. Hab Radio und Lokalfernsehen geguckt und deine Artikel im Netz gelesen.«

»Und? Was sagst du?«

»Dass es nicht bei der Straßenschlacht von heute bleiben wird. Die Mawardis werden sich rächen – immerhin war die Tote die Schwiegertochter vom Paten. Auch wenn Mustafa Mawardi sich deshalb mit seinem Sohn Ali zerstritten hat«, sagte er.

»Warum hatte Mustafa etwas gegen die Frau?«

»Sie hat einen deutschen Vater. Ihre Mutter ist Syrerin. Die Libanesen bleiben lieber unter sich und heiraten im Clan. Die Frauen haben eine untergeordnete Stellung. Da passt eine halb deutsche Anwältin nicht rein.«

»Und warum durfte sie dann seine Söhne verteidigen?«, wunderte ich mich.

»Weil sie einen guten Ruf als Juristin hatte«, antwortete er. »Und vermutlich auch, um den Eindruck von Toleranz und Fortschrittlichkeit zu erwecken. Mustafa Mawardi ist ein schlauer alter Fuchs, der seine Clan-Familie mit eiserner Hand regiert. Er taucht immer wieder ab und ist dann unauffindbar. Zurzeit besteht ein Haftbefehl gegen ihn, der nicht vollstreckt werden kann.«

»Ist denn der Sohn auch in kriminelle Geschäfte verwickelt?«

»Er hat sich von der Familie losgesagt«, wusste Kleist. »Durch Hannahs Tätigkeit für die drei Brüder haben sich Vater und Sohn allerdings wieder angenähert.«

»Wovon lebt dieser Ali?«

»Er ist Oberarzt in den Städtischen Kliniken. Internist.«

Friedemann Kleist hatte einige Monate im Bereich der Clan-Kriminalität geforscht und als Kriminalist Zugang zu Infos, die Journalisten sonst nicht hatten. Manchmal profitierte ich davon, aber nicht immer.

»Gibt es Wein?«

»Natürlich. Chianti oder spanischer Rosé?«

»Rosé.« Ich öffnete den Kühlschrank. Ein Glas stand schon auf dem Tisch.

Ich goss mir ein. Kleist nahm Wasser. Noch nie hatte er in meinem Beisein Alkohol getrunken.

»Was würde geschehen, wenn du ein Glas Wein trinkst?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen.«

»Aber es ist so schön, wenn die kühle Flüssigkeit die Kehle herunterläuft«, schwärmte ich. »Und wenn nach zwei Gläsern die Entspannung kommt.«

»Ich entspanne mich bei Musik oder einem interessanten Buch«, lächelte er.

Mein Handy meldete sich. »Ludwig Kahl«, schnarrte eine Stimme. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Ja«, antwortete ich. »Ich stelle das Telefon auf Mithören. Mein Freund ist mit mir hier im Raum.«

»Ich verlange, dass mein Foto von der Zeitungsseite gelöscht wird.«

»Und warum?«

»Ich mache mein Recht am eigenen Bild geltend.«

»Das haben Sie nicht, wenn Sie an einer Neonazi-Demo teilnehmen«, widersprach ich. »Außerdem gelten Sie nach dem Skandal um Ihre Suspendierung als Person des öffentlichen Lebens.«

»Ich habe den Mordprozess im Landgericht verfolgt und war keineswegs Teilnehmer einer Demo. Also löschen Sie das Bild!«

»Sonst?«

»Das werden Sie schon merken.«

»Ist das eine Drohung?«

»Ein Hinweis.«

»Na dann«, sagte ich. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.«

Kleist grinste. »Der hat noch Bewährung und deshalb Angst, dass er einfahren muss.«

»Unangenehmer Kerl. Ich hasse Leute, die meinen, sie könnten anderen Befehle erteilen.«

»Ich weiß.« Kleists Lächeln war zweideutig. »Du erteilst sie lieber selbst.«

»Das geht manchmal nicht anders«, seufzte ich. »Endlose Diskussionen sind nicht immer zielführend.«

Ich nahm noch einen Schluck von dem Wein. Kleist holte den Auflauf aus dem Backofen. Der Duft war besser als der Geschmack.

»Morgen kaufe ich mal ein«, kündigte er an. »Dein Haushalt ist eine Katastrophe.«

Respekt

»Vor dem deutschen Staat haben sie keinen Respekt, für sie zählt nur die eigene Sippe. Araber-Clans haben sich in den vergangenen Jahren wie Kraken ausgebreitet, kontrollieren weite Teile der organisierten Kriminalität«, tönte es am nächsten Morgen aus dem Radio.

Es war mal wieder der Tag der mehr oder weniger kompetenten Experten. Klar, es war einfacher, Kriminalpsychologen, Politiker, Gewalt- oder Konfliktforscher und Professoren für Orientalistik zu interviewen, als selbst zu recherchieren. Doch das alles war inflationär, schon tausendmal gesagt und tausendmal gehört.

»Ich will Mustafa Mawardi sprechen«, teilte ich Kleist beim Frühstück mit. »Ich will wissen, wie der tickt. Hast du eine Idee?«

Er überlegte kurz. »Das wird schwierig. An den Alten kommst du nicht so einfach heran. Das Risiko geht er nicht ein wegen des Haftbefehls gegen ihn. Vielleicht ist Ali Mawardi ein Weg.«

»Das Treffen könnte geheim bleiben«, sagte ich.

»Du kannst dich nicht mit einem gesuchten Schwerkriminellen treffen.«

»Hast du Mustafa jemals zu Gesicht bekommen?«

»Ja, bei Vernehmungen zum Thema Geldwäsche, Menschenhandel und Schutzgelderpressung und bei dem Prozess, in dem er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Als er die Strafe antreten sollte, war er verschwunden. Der Richter hatte keine Fluchtgefahr gesehen, weil Mawardi krank und dement schien. Willst du noch Kaffee?«

»Immer.« Ich trank und verbrannte mir prompt den Gaumen.

»Wie wirkte er denn auf dich?«, keuchte ich.

»Er tat so, als verstünde er kein Wort Deutsch, und mimte den verwirrten alten Mann«, berichtete Kleist. »Das Ganze hatte skurrile Momente.«

»Tja, die verarschen unser Rechtssystem«, seufzte ich. »Und das macht die Leute wütend und treibt sie den Rassisten in die Hände.«

Ich schaute auf die Küchenuhr. Es wurde Zeit. »Was machst du heute?«, fragte ich. »Außer einzukaufen?«

»Ich habe einen Termin im Polizeipräsidium. Jour fixe mit dem Präsidenten. Außerdem soll uns der neue Leiter der Soko Rechts vorgestellt werden. Kriminalrat Frank Reimer.«

»Kennst du ihn?«

»Nur von Sitzungen und Diskussionsrunden. Er ist ein Freund des Polizeipräsidenten Kleinmann.«

»Vetternwirtschaft?«