Ein Schätzchen war ich nie - Uschi Glas - E-Book

Ein Schätzchen war ich nie E-Book

Uschi Glas

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Beschreibung

Die beliebte Filmikone übers Frausein, Älterwerden, Glück finden

Uschi Glas ist eine Institution und aus Deutschlands Film- und Fernsehlandschaft nicht mehr wegzudenken. In den 60er Jahren spielte sie sich als Winnetous Apanatschi in die Herzen eines Millionenpublikums, entgegen ihrer Rolle im Kinoklassiker „Zur Sache, Schätzchen“ wollte sie jedoch eines nie sein – ein Schätzchen. Niemals weichgespült, lieber mit Ecken und Kanten, so ihr Lebensmotto.

Anlässlich ihres 80. Geburtstag blickt Uschi Glas nicht nur zurück, sondern auch auf das, was noch vor ihr liegt. Sie schreibt darüber, wie man sich selbst findet und treu bleibt, warum ihr als berufstätige Frau und Mutter Unabhängigkeit immer wichtig war und übers Älterwerden in einer Branche, in der gerade Schauspielerinnen häufig ein Ablaufdatum haben. Egal, ob sie private, lebensverändernde Momente oder ihre persönlichen Strategien für Gelassenheit und inneres Glück teilt – Uschi Glas erzählt auf gewohnt bodenständige und patente Art, schlägt ernsthafte Töne an und vergisst dennoch nie ihren Humor. Dabei macht sie allen Leserinnen und Lesern Mut, sich ebenfalls den eigenen Widerstandsgeist zu bewahren.

Engagiert und empowernd: eine wahre Inspiration für uns alle!

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Seitenzahl: 268

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Übers Frausein, Älterwerden und Glück finden

Uschi Glas ist aus der deutschen Film- und Fernsehlandschaft nicht wegzudenken. Nahezu jeder verbindet ikonische Leinwandmomente mit ihr und bewundert ihr soziales Engagement. Doch kaum jemand hat Einblick hinter die Kulissen. Ihre Paraderolle im Klassiker Zur Sache, Schätzchen öffnete eine Schublade, in die das Publikum sie nur zu gerne steckte.

Aber seit ihrer Kindheit im erzkatholischen Niederbayern der Nachkriegsjahre und ihrem Aufwachsen als Außenseiterin wohnt Uschi Glas ein Widerspruchsgeist inne. In ihrem Buch schreibt sie über ihren Weg ins Filmgeschäft, große Träume und Rückschläge in einer Branche, in der gerade Schauspielerinnen häufig ein Ablaufdatum haben.

Uschi Glas blickt zurück auf ihre Begegnungen mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und die ganz privaten, lebensverändernden Momente. Sie teilt ihre Sorgen angesichts der Gräben in unserer Gesellschaft und ihre Sicht auf Gelassenheit und inneres Glück im Alter.

»Sie war und ist das Gesicht des jungen deutschen Films, Uschi Glas, die stille Rebellin von damals und die kluge Erzählerin von heute.«

Volker Schlöndorff

USCHI GLAS

mit Olaf Köhne und Peter Käfferlein

Ein Schätzchen war ich nie

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Februar 2024

Copyright © 2024 Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Martha Wilhelm

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: Dieter Mayr

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AR ∙ IH

ISBN 978-3-641-31980-9V001

www.mosaik-verlag.de

Inhalt

Vorwort – Vorsicht Glas!

Der Blick in den Spiegel

Eine kleine Rebellin, immer schon

Mutterkind

Das Schweigen meines Vaters

Nomen est omen?

Freiheit schwarz auf grau

Schnittstellen

Ohne Vorbehalt

Das Schätzchen kommt und bleibt

Anziehend ausgezogen

Ich wollte niemandem gehören

Frauenbewegt

Zerrissen zwischen Roy und Gerd

Mein Freund, der »Edel-Kommunist«

Vorleben und lieben

»Uschi Provocazione«

Wir sehen uns in Kiew

Aufstehen und weitermachen

Fünf Kinder, drei Hunde und Oliver Kahn

Am seidenen Faden

Wag es nicht!

Worte können Waffen sein

Wie machen Sie das?

Der letzte Kaiserschmarrn

Eine Frage der Mathematik

Eine Radiosendung, die mein Leben veränderte

Fack ju Schätzchen

Und jetzt?

Danke

Bildteil

»Entscheidend ist doch, was man aus seinem Leben macht. Und die Liebe, sie ist das Wichtigste.«

Elmar Wepper

Vorwort – Vorsicht Glas!

Wie war ich eigentlich auf einem roten Plüschsofa in einer dunklen Holzkiste gelandet?, fragte ich mich, während ich im nächsten Moment schon rumpelnd auf die Bühne geschoben wurde. Außen an die Holzkiste hatte man ein großes Schild mit der Aufschrift »Vorsicht Glas« geklebt. Es war der 1. Juni 1972, die Premiere der Samstagabendshow Hätten Sie heut’ Zeit für mich? zur besten Sendezeit live im deutschen Fernsehen. Mein Verschlag wurde aufgestemmt, und vor mir stand Moderator Michael Schanze (ein lieber Freund, mit dem ich im selben Jahr auch den Kinofilm Die lustigen Vier von der Tankstelle drehte). Der »Vorsicht Glas«-Gag ging auf. Unter dem Applaus des Studiopublikums entstieg ich der Kiste und fiel Michael in die Arme. Anschließend hatte ich einen Gesangsauftritt mit der Giorgio-Moroder-Produktion »Denn ich liebe diese Welt«. Ich war 28 Jahre alt, und diese Zeile, die ich da sang, entsprach meinem Lebensgefühl.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit diesem Fernsehabend vergangen. Die beiden Worte – Vorsicht Glas – aber blieben haften und wurden so etwas wie mein Slogan, ein Running Gag, der mir immer und überall begegnete. Nicht weil ich so ein zerbrechliches Wesen wäre (bloß nicht schütteln, geht kaputt). Nein, im Gegenteil: Mir eilte schon in jungen Jahren der (berechtigte) Ruf voraus, dass ich mir nicht alles gefallen ließ. Ich widersprach, wenn mir etwas nicht in den Kram passte, und ich erlaubte mir, eine eigene Meinung zu haben und diese auch auszusprechen. Und das als Frau! In dem Alter! Was bildet sich diese Glas eigentlich ein?!, dachten viele, meistens Männer. Aber so war ich schon immer. Ich kann nicht raus aus meiner Haut – und ich will es auch nicht. Im Grunde schwamm ich in allen Lebensphasen gegen den Strom, auch wenn ich mir dadurch manches mit Anlauf und Ansage verbaute. Schon als Kind war ich, wie mein Vater leidvoll erfahren musste, immer auf Gegenkurs. Sagte er »hü«, sagte ich »hott«. Sagte er: »Keine Fragen mehr, Schluss jetzt«, dann sagte ich: »Moment, kann ich bitte erst mal in Ruhe nachdenken?«

War ich von etwas nicht überzeugt (und damit meine ich nicht nur meinen Beruf), konnte man mir 100-mal versuchen einzureden, wie gut und wichtig es angeblich sei: »Mach’s einfach, diskutier nicht ewig rum. Hinterher erinnert sich eh kein Mensch dran.« In dem Moment gingen bei mir alle Alarmsirenen los. Nein und nein, ich machte es eben nicht. »Wunderbar«, war meine Antwort, »dann mach du es doch so, ich mach es anders«, und so ließ ich mich zu nichts überreden, was nicht meiner Meinung entsprach.

Wenn jemand ungerecht oder von oben herab behandelt wird, kann ich fuchsteufelswild werden. Intrigen und üble Nachrede sind mir zuwider. Eine kleine Beobachtung öffnete mir früh die Augen dafür, wie die Schauspielbranche tickt. Wegen der Dreharbeiten für Das große Glück, eine meiner ersten Hauptrollen nach Winnetou und das Halbblut Apanatschi, war ich nach Wien gefahren. An einem der ersten Drehtage wartete ich mit ein paar Kolleginnen gerade im Maskenraum, als die Tür aufgerissen wurde und eine bekannte Schauspielerin hereinwehte. Alle anderen ignorierend nahm sie ihren Maskenplatz ein und fing sofort ein Gespräch mit der Kollegin neben ihr an. »Liebes, ich hab dich gestern im Theater g’sehn. Du warst ja so gut. Selten warst du so gut. Das ist mir so zu Herzen gegangen. Nein, ich kann es dir gar nicht sagen. Und ausgeschaut hast du so gut!« Voller Überschwang ging es weiter, und die Gelobte erblühte sichtlich. Irgendwann war sie fertig geschminkt und verließ beschwingt die Maske. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, drehte sich diejenige, die gerade noch mit Komplimenten um sich geworfen hatte, zu uns um und verzog angewidert das Gesicht: »Mei, was war die schleeeecht. Und wie schlimm die ausg’schaut hat, so schiach!« Ich war geschockt und dachte nur: Wie werden die gleich mich in die Pfanne hauen, sobald ich draußen bin? Am besten verlasse ich nie mehr diesen Maskenraum. Im Nachhinein denke ich, ich hätte dem Lästermaul die Meinung sagen sollen, aber so ein böses Reden und Lästern war mir bis dahin wirklich fremd. Damals schwor ich mir: Egal, was passiert, so wie die bist du nicht, und so wirst du auch nie werden. Und beim nächsten Mal machst du die Klappe auf.

»Vorsicht Glas« hieß es auch oft, wenn ich neu an einen Drehset kam. Keiner sprach es offen aus, aber ich spürte, wie man um mich herumschlich. Das waren die zwei Seiten der Medaille. Für die einen war ich die, die den Mund aufmachte, für die anderen die mit Haaren auf den Zähnen. Dass ich ungewollt junge Kolleginnen verschreckte, tut mir leid. »Ich hatte anfangs richtig Schiss vor dir«, hörte ich nicht nur einmal. »Keine Sorge, ich beiße nicht«, meinte ich. Spätestens dann war das Eis gebrochen.

Mein Uschi-in-the-Box-Moment bei Michael Schanze ist nun schon eine Weile her. Mein Leben bestand aus vielen schönen, aber auch schwierigen Zeiten, und ich frage mich manchmal: War es das alles wert? Die vielen Kämpfe und Konflikte? Ja, das war es. Auch wenn ich feststelle, dass ich heute gelassener bin als früher und mich insgesamt weniger aufrege. Ich bin glücklich und dankbar dafür, mein Alter – gesund – erreicht zu haben. Ich sehe keinen Grund, die 80 zu verheimlichen oder verdruckst damit umzugehen. Gegenüber denjenigen, die mit dem Alter kokettieren – »Ach, ich will gar nicht so alt sein«, »Ich will keine 60, 70, 80 werden« –, lautet meine Standardantwort mittlerweile: »Dann musst du halt vorher sterben.« Das wäre dann wenigstens konsequent. Schöner formuliert könnte man sagen: »Die young, stay pretty«, so wie Debbie Harry (Blondie) es schon 1979 sang. Debbie Harry, die im nächsten Jahr auch die 80 knackt, hat sich übrigens nicht daran gehalten und ist immer noch eine wunderschöne Frau.

Ich wollte niemandem gehören, keinem Land, keiner Bewegung und auch keinem Mann. Ich wollte niemals im Gleichschritt gehen, nur weil alle anderen etwas auf dieselbe Art machten. Ich wollte selbstständig sein und unabhängig, mein eigenes Geld verdienen und keinem Rechenschaft ablegen müssen. Ich wollte auch Erfolg, dafür gab ich vieles, und manches gab ich auch auf. Die Frauenrollen, die ich am liebsten verkörperte, waren Hoffnungsträgerinnen und Kämpferinnen mit der Einstellung: Egal, wie weit unten du bist, du kannst aufstehen und es wieder nach oben schaffen.

Im realen Leben habe ich – unbewusst – die Nähe zu solchen Frauen gesucht. Auch von ihnen werde ich erzählen, von ihrem Mut und ihrer Haltung. Ihnen möchte ich in diesem Buch ein kleines Denkmal setzen. Ich habe das Gefühl, immer weniger Menschen trauen sich heutzutage, Position zu beziehen und für etwas einzustehen – aus Sorge, in einen Shitstorm zu geraten. Auch ich bekam im Laufe meines Lebens viel Gegenwind und bin nicht selten auf die Nase gefallen, aber eines habe ich gelernt: Widerspruch lohnt sich.

Der Blick in den Spiegel

Zwergerl, abends musst du in den Spiegel schauen können.« An diesen Satz meines Vaters denke ich jeden Tag.

Das Zwergerl, das war ich, denn ich war das jüngste von vier Kindern, geboren am 2. März 1944 im niederbayerischen Landau an der Isar. Ich hatte drei ältere Geschwister, zwei Schwestern, Heidi und Sigrid, und einen Bruder, Gerhard. Meine Mutter Josefa war Hausfrau, mein Vater Christian Buchhalter.

Das Verhältnis zu meinem Vater war ambivalent, mit guten und weniger guten Phasen, manchmal standen wir uns nah, dann wiederum hatten wir uns entfremdet. Über viele Jahre war die Beziehung konfliktgeprägt, angefangen in meiner aufmüpfigen Kindheit, nahtlos übergehend in eine rebellische Jugend. Aber manchmal, wenn wir uns wieder einmal ganz heftig in die Haare bekommen hatten, weil mein Vater mich einfach nicht verstehen wollte, schaute er mich plötzlich an und sagte: »Ach, Zwergerl, du musst selbst wissen, was du tust, solange du abends in den Spiegel schauen kannst.« – »Was redest du da?«, sagte ich in meiner Wut oder dachte es zumindest.

Aber heute weiß ich, der Spruch meines Vaters ist ein wunderbarer Ratschlag, so schlicht und wahr. Egal, wie du handelst, was du redest oder wie du denkst, am Abend eines Tages musst du Bilanz ziehen und ehrlich mit dir sein: Hast du andere so behandelt, wie du selbst behandelt werden möchtest? Oder warst du eine Schlange, warst unverschämt, hast dich schlecht benommen? Bist du mit dir im Reinen? Was ist gut gelaufen, was hast du falsch gemacht?

Das gilt für das Klein-Klein des Alltags ebenso wie für das große Ganze. Wenn ich zum Beispiel mit dem Auto unterwegs bin und jemand zeigt mir den Vogel, dann würde ich am liebsten spontan aus dem Fenster brüllen und mich beschweren. Stattdessen sage ich mir: Moment! Was habe ich davon? Und dann grinse ich zurück und sage: »Ja, auch Ihnen einen schönen Tag.« Dann ist der Groll verschwunden, und ich trage ihn nicht mit mir nach Hause. (Klappt aber nicht immer, manchmal schimpfe ich zurück.)

Als ich nach meiner ersten Hauptrolle in Winnetou und das Halbblut Apanatschi plötzlich im Rampenlicht stand, war die Gefahr groß, die berühmte Bodenhaftung zu verlieren. Erfolg verführt zu schlechtem Benehmen. Warum? Weil man es sich leisten kann und die anderen einem alles durchgehen lassen und einem jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Ob du zu einem Termin pünktlich kommst oder zwei Stunden zu spät bist und alle warten lässt – ist doch egal. Denn du bist der Star. Deinetwegen stehen die Menschen Schlange vor den Kinos. In dieser Situation musste auch ich lernen, mich selbst zu kontrollieren, indem ich mir immer wieder sagte: »Es geht nicht um dich als Menschen, du bist gefragt, weil du gerade erfolgreich bist. Morgen kann die Welt schon wieder anders aussehen.« Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mit irgendwelchen Spinnereien und Allüren anzufangen. Was nicht leicht ist, wenn ein kleiner Teufel auf deiner Schulter sitzt und dir einflüstert: »Du darfst das. Mach es.« In solchen Momenten dachte ich an den Satz meines Vaters. Wenn ich dann in den Spiegel schaute, sah ich nicht mehr den Star von der großen Leinwand, sondern wieder das Zwergerl aus Landau.

Seitdem habe ich mir angewöhnt, jeden Abend meine kleine Bilanz zu ziehen und die Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen des Tages zu reflektieren. Ich halte Zwiesprache mit mir selbst und versuche, dabei nichts schönzureden. Natürlich denke ich in solchen Momenten auch an meine Liebsten. Geht es unseren Kindern gut, sind die Enkel wohlauf? Aber man blickt ja zum Glück über den eigenen Tellerrand hinaus (sollte man zumindest). Wenn ich heute über den zurückliegenden Tag nachdenke, überwiegen Sorgen, denn das, was wir gerade in unserer Gesellschaft erleben, treibt mich um, und so geht es, denke ich, den meisten Menschen. Das meine ich mit dem »großen Ganzen«. Was ist passiert, dass viele Leute nicht mehr in der Lage sind, die Meinung Andersdenkender zu ertragen oder zu akzeptieren? Man muss ja nicht alles gut finden, aber warum die anderen gleich niedermachen, fertigmachen, hassen? Warum verstehen wir uns denn nicht mehr? Gleichzeitig nehme ich eine große Resignation wahr. Viele stecken lieber den Kopf in den Sand, sie wollen nichts mehr von Krisen und Kriegen hören. Aber macht es das denn besser? Was wir ausblenden, findet in der Realität trotzdem statt. Das sind Fragen, mit denen ich mich intensiv beschäftige.

Ich war schon immer ein politisch denkender und interessierter Mensch. Politik spielte in meinem Elternhaus eine große Rolle, ausgehend von meinem Vater, einem Sozialdemokraten mit Leib und Seele, dessen Überzeugungen ich allerdings nur selten teilte. Wer mich ein bisschen kennt, weiß, ich habe mit meiner Meinung nie hinter dem Berg gehalten und eckte hier wie dort an. Für die Linken war ich die »schwarze Ziege«, für die Rechten die Querulantin, die sich in alles einmischen muss.

Ich kam im vorletzten Kriegsjahr zur Welt. 14 Monate sollte der Krieg noch andauern. Unsere niederbayerische Region, Landau und Umgebung, lebte hauptsächlich von der Landwirtschaft. Industrie gab es kaum, weshalb Landau von den massiven Bombardierungen, wie es sie in anderen Regionen und Städten gab, weitestgehend verschont geblieben war. Ein Mahnmal des Krieges war noch lange nach 1945 die Stahlruine der Isarbrücke im Herzen Landaus. In den Wirren der allerletzten Kriegstage hatten deutsche Soldaten auf Befehl der SS die Brücke gesprengt. Ich kann mich gut daran erinnern, wie wir als Kinder verbotenerweise zwischen ihren Überbleibseln herumschwammen. Für uns war das ein Abenteuer, die Lebensgefahr nimmt man in dem Alter ja nicht wahr.

Ich wuchs auf im Nachkriegsdeutschland, dem Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland. Es war der Beginn unserer jungen Demokratie. Als ich 1965 zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl mitwählen durfte (CDU-Ludwig-Erhard trat an gegen SPD-Willy-Brandt), empfand ich den Urnengang selbst als etwas Besonderes. Das Wählen war für mich als junge Frau auch Teil meines Erwachsenwerdens. Ich habe niemals nicht gewählt. Wählen war mir nie »lästig«, sondern immer ein Privileg. Ich war mir meiner Verantwortung bewusst. Die Demokratie ist angewiesen auf das Volk, auf mündige, engagierte, couragierte Bürgerinnen und Bürger, und es ist nicht zu viel verlangt, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen, oder? Das Argument: »Ich wähle nicht, um es denen da oben mal zu zeigen«, ist – Verzeihung – nur dämlich. Und zu protestieren, indem man Parteien wählt, die das Wählen am liebsten abschaffen möchten, grundgefährlich. Freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, das demokratische System – das alles ist nicht gottgegeben und schon gar nicht selbstverständlich, auch wenn wir das lange glaubten. Aber es gibt keine Garantie. Mir ist es ein Anliegen, Stellung zu beziehen und mit meiner Stimme dazu beizutragen, dass wir alle weiterhin frei leben können, egal welche Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung jemand hat. Wir dürfen Fremde nicht ausgrenzen, müssen aber darauf pochen, dass die Werte, auf denen unser friedliches Zusammenleben beruht, von allen eingehalten werden. Ohne falsche Toleranz. Ohne Fremdenhass.

Ich hatte das Privileg, viel von der Welt zu sehen, andere Länder, Kulturen und Mentalitäten kennenzulernen, bin früh gereist, nach Italien, England, Frankreich, Spanien, obwohl meine Eltern nicht gerade viel Geld besaßen. Irgendwie bekam ich es hin. Reisen war damals noch etwas Exotisches. Man war in der Fremde. Die Erfahrung, selbst fremd in einem Land zu sein, nimmt einem die Angst vor den Fremden. Damals, ich rede von den 60er-Jahren, waren wir Deutsche längst nicht überall willkommen. Der Zweite Weltkrieg lag erst wenige Jahre zurück. Am liebsten war es mir, wenn man mich im Ausland nicht sofort als Deutsche identifizierte. Wenn man dann doch mit der Vergangenheit konfrontiert wurde, fühlte es sich demütigend an. Denn da war immer dieses Schuldgefühl in einem.

Vor mehr als 50 Jahren besuchte ich zum ersten Mal Israel und bin seitdem viele Male in dem Land gewesen, das mich von Anfang an fasziniert hat. Ich reiste mit einer Freundin erst nach Tel Aviv, eine damals schon pulsierende Metropole, und dann weiter nach Jerusalem, eine Stadt, die nur schwer zu fassen war, erhaben, vielschichtig, Respekt einflößend. Wir schauten uns auch Bethlehem und andere historische Orte an. Israel hatte einen besonderen Spirit, allein durch die vielen jungen Frauen und Männer, die aus aller Welt hierherströmten, um das Land aufzubauen. Gleichzeitig waren das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel und unsere Verantwortung für das Land allgegenwärtig – und unstrittig. Dass jüdisches Leben gerade in Deutschland schützenswert und wichtig ist – in diesem Bewusstsein ist meine Generation erzogen worden. Im Laufe meines Lebens ist meine Verbundenheit mit Israel geblieben und sogar tiefer geworden, auch durch gute Freunde, die jüdischen Glaubens sind und von denen ich weiß, was es bedeutet, als Jüdin oder Jude in Deutschland zu leben. Dass jüdische Einrichtungen polizeilichen Schutz benötigen – und das nicht erst seit dem im Jahr 2023 ausgebrochenen Nahostkrieg –, ist eine Schande für unser Land. Und wenn ich Sätze höre wie »Lass mich in Ruhe mit der Vergangenheit, ist doch alles lange her«, könnte ich auf die Palme gehen. In Ruhe lassen, genau das geht halt nicht. Es spielt auch keine Rolle, wenn du es nicht mehr hören kannst. Wer so redet und denkt, lässt den Populisten von rechts und links freie Bahn. Wir müssen hellwach sein. Wehret den Anfängen, heißt es doch. Manchmal frage ich mich, sind wir nicht schon mittendrin?

Im Oktober vergangenen Jahres nahmen mein Mann Dieter und ich an einer Solidaritätskundgebung für Israel auf dem Münchner Odeonsplatz teil. Es war uns wichtig, in dieser Situation, kurz nach den Anschlägen der Hamas, Flagge zu zeigen. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hielt eine bewegende Rede. Sie ist mittlerweile 91 Jahre alt, eine unerschütterliche Frau, immer noch eine Kämpferin. Ich lernte Charlotte Knobloch vor vielen Jahren kennen. Wir sind uns im Laufe der Zeit immer wieder begegnet. Was das Wort »Verzeihen« wirklich bedeutet und welche Kraft das Verzeihen haben kann, ist mir durch nichts bewusster geworden als durch das lebenslange Wirken von Charlotte Knobloch.

Der Münchner Kabarettist Christian Springer, der sich für Flüchtlinge im Nahen Osten, in Syrien, Jordanien und im Libanon engagiert, hatte an dieser Pro-Israel-Demo im vergangenen Jahr mitgewirkt. Am nächsten Tag verfasste er eine Protestnote an Münchens OB Dieter Reiter: »Vorab warnten sich Teilnehmer untereinander, nicht über den Marienplatz zur Feldherrnhalle zu kommen. Wie kann es sein, dass Teilnehmer einer Kundgebung, die der Opfer eines Massakers gedenken, ihre Kippot und ihre Flaggen verstecken müssen, um wohlbehalten anzukommen?« Hintergrund seiner Worte: Vor dem Rathaus, nur wenige Meter entfernt vom Odeonsplatz, hatte man zur selben Zeit die Kundgebung »Palästina spricht« zugelassen, auf der nicht wenige ihre Sympathie mit dem Hamas-Terror bekundeten.

Ja, ich glaube, dass die Zeiten gefährlicher geworden sind, sie sind schwierig und unübersichtlich. Wie schafft man es, bei dieser komplexen Gemengelage differenziert zu bleiben und nicht immer gleich alle in einen Topf zu werfen? Und trotzdem klar zu benennen, was im Argen liegt? Probleme nicht zu verschleiern, weil sich jemand angegriffen fühlen könnte? In dieser Beziehung wünsche ich mir mehr Orientierung von unseren Politikerinnen und Politikern – und weniger Unentschlossenheit. In der Politik darfst du keine Fahne im Wind sein, nicht mal eben schauen, was die Leute hören wollen, und die eigene Meinung danach neu ausrichten. Wenn du vorn stehst, braucht es eine klare Sprache, damit die Menschen dich verstehen. Es gibt sie, die Mutigen und Unbeugsamen in der Politik. Joachim Gauck ist so einer. Ihn verstehen die Menschen. Er hat die Courage, Positionen zu vertreten, an die er glaubt, auch auf die Gefahr hin, angefeindet zu werden. Und das macht er auf eine unaufgeregte Weise. Deswegen hat sein Wort Gewicht.

Zugegeben, alles ist schwieriger geworden, auch für unsere Politiker. Und wer will eigentlich noch Politiker werden, wenn schon auf lokaler Ebene Landräte bedroht werden und Fackelzüge vor den Häusern von Bürgermeistern aufmarschieren? Die Verrohung ist auf allen Ebenen der Gesellschaft spürbar. Im Rahmen des Engagements für unseren Verein brotZeit höre ich Berichte von Schulleiterinnen und Schulleitern, die einen sprachlos machen. Mit dem Verein bieten wir – bis heute – an 400 Schulen in ganz Deutschland ein Frühstück für Kinder an, die morgens hungrig in die Schule kommen. Ein Lehrer erzählte mir zum Beispiel, dass er von Eltern massiv beschimpft und bedroht wurde, weil er ihrem Kind eine schlechte Note gab. Ein anderer beklagte, dass er sich kaum noch traue, Schülern einen Verweis zu erteilen. Und dann gibt es auch solche Eltern, die einen Lehrer aufforderten: »Hauen Sie meinem Sohn eine rein, wenn er Ärger macht.« Und wie soll sich eine Lehrerin Respekt verschaffen, wenn sich die ganze Klasse wegdreht, sobald sie den Unterrichtsraum betritt? Von einer Schulleiterin hörte ich, dass sie keine Elternabende mehr veranstalte, weil ohnehin niemand komme. Und Väter verweigern ihr das Gespräch und den Handschlag mit der Begründung, von einer Frau ließen sie sich nichts sagen. Trauriger Alltag an deutschen Schulen. Respekt aber ist lernbar. Rücksichtnahme ist auch eine Frage der Erziehung. Wenn brotZeit nur ein kleiner Mosaikstein ist, um der Verrohung etwas entgegenzusetzen, haben wir etwas richtig gemacht.

Wir leben zum Glück in einem Land, in dem es eigentlich nicht viel Mut bedarf zu sagen: »Moment mal, so geht’s aber nicht!« Oder: »Da bin ich anderer Meinung!« Eigentlich – denn viele trauen es sich nicht mehr. Dabei sollten heutzutage mehr Menschen die Stimme erheben, anstatt zu schweigen, auch die Künstlerinnen und Künstler unseres Landes, die in den Medien gehört werden. Denn Widerspruch einzulegen, bewirkt etwas. Man muss es halt nur tun.

Ich wünsche mir, dass ich mit meinen 80 Jahren noch lange die Kraft aufbringe, mich einzumischen, und das erhoffe ich mir auch von vielen anderen, gerade von den jungen Menschen, um deren Zukunft es schließlich geht. Engagiert euch, setzt euch für etwas ein und habt keine Angst anzuecken. Das ist mein Appell. Denn mit dem Anecken kenne ich mich aus. Vorsicht Glas! Was gibt es Langweiligeres, als angepasst zu sein?

Eine kleine Rebellin, immer schon

Warum ist man so, wie man ist? Über diese Frage sind schon so viele Abhandlungen geschrieben worden, dass sich mit ihnen ganze Bibliotheken füllen ließen. Diese Frage hat auch mich immer beschäftigt. Sind es die Gene, ist es die Erziehung, sind es äußere Umstände, oder kommt man einfach mit einem eigenen Kopf auf die Welt? Was in meinem Fall ein Dickschädel wäre. Mittlerweile bin ich Großmutter von drei wunderbaren Jungs. Cosmo ist acht Jahre alt. Er ist der Sohn von Benjamin, meinem Ältesten. Meine Tochter Julia bekam vor zwei Jahren eineiige Zwillinge, Carl und Georg. Man könnte annehmen, in diesem Alter verhalten sich zwei kleine Buben, zumal eineiig, noch einigermaßen ähnlich. Aber ich stelle bei jedem Treffen aufs Neue fasziniert fest, wie unterschiedlich die beiden vom Typ her sind und wie eigen sie sich weiterentwickeln. Der eine forsch, der andere eher grübelnd.

Solange ich mich zurückerinnern kann, war ich immer erst einmal »dagegen«. Und es spielte keine Rolle, worum es ging. Ich hatte einfach diesen Widerspruchsgeist in mir. Zu einem wesentlichen Teil, davon bin ich überzeugt, wurde der mir eingepflanzt durch die Umstände, in denen ich aufwuchs. Meine Eltern und damit auch meine Geschwister und ich, wir waren die absoluten Außenseiter, aus gleich mehreren Gründen. Es fing damit an, dass meine Eltern Zugezogene waren. Meine Mutter stammte ursprünglich aus Schwaben, mein Vater aus Franken. Allein dadurch fielen wir im niederbayrischen Landau aus der Reihe. Entscheidender aber war es, dass wir in einer erzkatholischen Gegend evangelisch waren. Familie Glas? Das waren die Ketzer. (Und mein Vater war dazu noch Sozialdemokrat im CSU-Land Bayern.) In Landau lebten damals nur wenige Reformierte, und die meisten davon waren die Vertriebenen, also Flüchtlinge, die nach Kriegsende aus dem Osten in den Westen gekommen waren.

Für meine Mutter war die Situation noch deutlich komplizierter, denn sie war eigentlich Katholikin, hatte sich jedoch, um meinen Vater heiraten zu können, entschlossen, vom katholischen zum evangelischen Glauben zu konvertieren. Somit war sie nicht nur Außenseiterin in ihrem neuen Heimatort, sondern Ausgestoßene in ihrer eigenen Familie, die keinerlei Verständnis für den Weg meiner Mutter hatte. Wenn ich »ausgestoßen« schreibe, meine ich das genau so und übertreibe nicht, auch wenn man es sich heute kaum mehr vorstellen kann. Für die Eltern meiner Mutter war ihre Entscheidung eine unverzeihliche Sünde und eine echte Katastrophe. Ich selbst bin gern bei meinem Großvater und meiner Großmutter mütterlicherseits gewesen. Ich besuchte sie in den Ferien im Schwabenländle, wo mein Opa eine Metzgerei unterhielt. Meine Oma verkaufte die Fleisch- und Wurstwaren im eigenen Geschäft. Für mich war das eine faszinierende Welt. Zu ihren Enkelkindern pflegten die beiden eine innigliche Beziehung. Aber meine Mutter mochten sie nicht mehr leiden. Sie hatte unter der Konversion ihr ganzes Leben lang zu leiden. Es gab nie eine offizielle Aussöhnung mit ihren Eltern, obwohl ich denke, dass meine Großeltern ihrer Tochter irgendwann verziehen haben.

In meinen Augen war meine Mutter eine ungemein starke Frau. Sie war unbeugsam, weil sie sich den Konventionen nicht unterwarf. Sie stand fest im Wind. Gleichzeitig macht es mich traurig zu sehen, wie sehr die Religion – und wir reden hier von zwei christlichen Amtskirchen – eine Familie entzweien kann. Ich habe das damals nicht verstanden und habe heute kein Verständnis dafür, dass Religionen sich über die Menschen erheben und über sie richten, und dabei spielt es keine Rolle, um welche Religion es sich handelt. Meine Mutter litt natürlich unter dieser Situation, ließ sich das aber nach außen hin nie anmerken.

Die evangelische Glaubensgemeinschaft in Landau wuchs zwar aufgrund der Vertriebenen, dennoch hatten wir kein eigenes Gotteshaus. Wir »durften« aber eine katholische Kirche, die Spitalkirche Heilig Geist am Spitalplatz, nutzen. Und hier setzt meine allererste konkrete Erinnerung als Kind ein, die übrigens intensiv mit einem bestimmten Duft zusammenhängt. Nach dem evangelischen Gottesdienst – auch nach jedem Kindergottesdienst – wurde die katholische Kirche mit Weihrauch ausgeräuchert, also gesäubert, so als müsse ein Kammerjäger den Raum von Ungezieferbefall reinigen. Das Ritual der Kirchenausräucherung war für mich ein Rätsel und ein echtes Kümmernis. Ich postierte mich am Kirchenportal und lugte ins Innere. Warum bloß liefen der Pfarrer und die Ministranten mit der Weihrauchampel herum? Was stank hier eigentlich so? Und was hatte das mit uns zu tun? Waren wir unrein? Das musste mir mal jemand erklären. Wann immer ich seitdem den Geruch von Weihrauch in die Nase bekomme, ruft er sofort die Bilder von damals und die damit verbundenen traurigen Gefühle hervor.

Meine Spielkameraden waren fast ausschließlich katholisch, aber im Gegensatz zu den Erwachsenen spielte die Religionszugehörigkeit für sie eine untergeordnete Rolle. Eine Außenseiterin wurde ich trotzdem und zwar an dem Tag, an dem eines der Kinder zu mir »N*lein« sagte. Denn ich sah anders aus als die übrigen Kinder, hatte von Geburt an einen eher dunklen Teint, dazu dickes, schwarzes, lockiges Haar. Ob das N-Wort in dem Moment nur ein dummer Spaß oder schon boshaft gemeint war, kann ich nicht sagen. Tatsache war, dass dieser Begriff (in allen möglichen Variationen) schnell die Runde machte. Von da an war ich abgestempelt. Kam ich irgendwohin, riefen die Kinder schon von Weitem dieses Wort. Wenn ich im Gottesdienst mein Gesangbuch öffnete, fiel mir ein Zettel entgegen, auf dem jemand einen Reim geschrieben hatte, der mich verletzen sollte. Ich war nicht mehr »nur« das Kind von evangelischen Zugewanderten, jetzt ging auch noch das Gerücht um, meine Mutter hätte eine Affäre mit einem US-GI gehabt und ich wäre das Ergebnis dieser Liaison (was rechnerisch gar nicht hinkam, da zum Zeitpunkt meiner Zeugung noch kein US-Soldat deutschen Boden betreten hatte).

Wenn du spürst, dass die anderen Kinder plötzlich nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, weil du »anders« bist, wie gehst du damit um? Ziehst du dich zurück, machst du dich klein, zerbrichst du daran? Noch einmal ein Brückenschlag in die Gegenwart. Durch unsere Arbeit an den Schulen kenne ich viele Geschichten von Mädchen und Jungen, die, aus welchen Gründen auch immer, ausgegrenzt werden, die körperliche, psychische, aber auch verbale Gewalt erfahren. Man darf die Wirkung von Sprache niemals unterschätzen. Worte sind Waffen.

Meine Reaktion auf die Ausgrenzung war: Jetzt erst recht, ihr könnt mich mal. Mich den anderen zu unterwerfen, kam mir jedenfalls nie in den Sinn. Ich spürte solch eine Wut in mir, die mir gleichzeitig Kraft gab. Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, sah mich nicht in der Opferrolle. Anstatt mich zu verstecken, wenn man mich auslachte, habe ich mich verteidigt, um mich getreten und auch schon mal geschlagen. Euch zahle ich es heim, wartet ab, ihr kriegt alles zurück! Damals ist etwas Entscheidendes passiert. Ich fing an, mir selbst meine beste Freundin zu werden. Woher ich die Kraft dazu nahm, ist mir bis heute schleierhaft. Sicherlich war es Veranlagung, vielleicht war aber auch meine Mutter, die selbst viele Anfeindungen aushalten musste, unbewusst eine Leitfigur.

Das hört sich jetzt stark und wohldurchdacht an, aber es war keine Situation, in die ich mich freiwillig hineinbegeben hatte. Wie wäre ich geworden, wenn ich mich unterworfen und angepasst hätte? Wäre ich später eine andere gewesen? Hätte ich im Erwachsenenleben weniger Mut gehabt? Die kleine Rebellin ist damals zum Leben erwacht, und sie machte den anderen Kindern, meinen Eltern, den Lehrern das Leben immer ein bisschen schwer. Und daran hatte ich klammheimlich auch meine Freude.

Meine Geschwister waren aus Sicht meiner Eltern deutlich pflegeleichter als ich. Meine älteste Schwester Sigrid hatte auch eine renitente Ader, Heidi und Gerhard dagegen so gar nicht. Bei mir hieß es immer: Du wärst eh besser ein Bub geworden. Eine wichtige Bezugsperson in dieser Zeit war für mich unsere Nachbarin, die taffe Frau Berleb. Sie hatte einen eigenen Schuhladen, war Mutter von zwei Töchtern und Ehefrau des Schusters in Landau. Mit ihrer toleranten Art hob sie sich von der Engstirnigkeit der Leute im Ort ab. Dass wir »Ketzer« waren, spielte für sie, eine Katholikin, zum Beispiel überhaupt keine Rolle. Mein größter Wunsch war es damals, nur ein einziges Mal bei einer Fronleichnamsprozession mitzugehen. So wie die anderen Mädchen in meinem Alter wollte ich in einem weißen Kleid mit einem Körbchen voller Blütenblätter dem Baldachin folgen, unter dem das Allerheiligste getragen wurde. Begleitet von feierlicher Musik, wollte ich die Blüten auf dem Weg der Prozession verstreuen. Diese kindliche Fantasie lag für eine Nicht-Katholikin im Bereich des Unmöglichen. Wäre da nicht Frau Berleb gewesen. Welche Strippen auch immer sie gezogen haben mochte, sie schaffte es, dass man mich teilnehmen ließ. »Die Uschi geht heuer mit«, bestimmte Frau Berleb. Widerspruch ließ sie nicht zu, und niemand traute sich, dieser resoluten Frau entgegenzutreten. Ich war so stolz an diesem Tag. Vielleicht weil es eines der wenigen Male war, dass ich mich zugehörig fühlte.