Ein Sommertagtraum - Catherine May - E-Book

Ein Sommertagtraum E-Book

Catherine May

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Beschreibung

"Ein Sommertagtraum" ist die Geschichte eines Jungen, der während eines Ferienaufenthalts zunächst gezwungenermaßen, dann mit immer mehr Genuss Mädchenkleider trägt. Die Geschichte erlaubt es sich (und den Lesern), zu träumen: So könnte die Geschichte eines Jungen auch verlaufen in einer irgendwie besseren Welt. Sie ist bewusst nicht als erotische Erzählung angelegt. Peter steht erst an der Schwelle zur Entdeckung seiner eigenen Sexualität. Umso überraschender sind die Entdeckungen, die er macht: Es ist, als sei er Teil eines Traums, als hätte er die 'Welt hinter dem Schrank' betreten, und plötzlich ist alles anders, als er es kennt. Die Faszination der Körperlichkeit äußert sich auch in leiseren Tönen als im sexuellen Akt. Der Traum aber ist perfekt, wenn das Abenteuer auf die Liebe trifft.

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Inhalt

Vorwort

Prolog

Erwachen

Alles fließt

Zwicken im Schritt

Die neue Welt

Eine Rose

Charlies Geheimnis

Das Postpaket

Vorbereitungen

Das Konzert

Friseurtermin

Perfekte Verwandlung

Abend in der Stadt

Vorwort

So hat es vermutlich bei so ziemlich jedem Crossdresser begonnen: Irgendwann während der Kinder- oder Jugendzeit – bei dem einen früher, bei dem anderen später – war da plötzlich jene eigenartige Faszination der Kleidung von Frauen. Da entdeckte man an sich selbst den seltsamen Wunsch, diese eigenartigen Kleidungsstücke und Stoffe zu berühren, die so ganz anders waren als das, was ein Junge normalerweise trug; sie auf der eigenen Haut zu spüren, sie im Spiegel an sich selbst zu sehen, in der Fantasie wie ein Mädchen auszusehen. Je früher sich diese Faszination äußert, desto unverstellter dürfte der Junge reagieren. Als Kind ist ihm die Scham vor der Travestie noch fremd, denn sie ist nicht angeboren; die Tabuisierung beginnt in den meisten Geschichten erst mit der Pubertät oder einige Zeit davor, wenn andere, weiterentwickelte Jungen sich dadurch profilieren wollen, dass sie sich über die Mädchen lustig zu machen beginnen, und wenn die Mädchen aufgrund der gänzlich anderen Entwicklung zu einem Geheimnis werden.

Doch ob noch als Kind oder schon als Teenager: Bei so ziemlich jedem Crossdresser war es so, dass er sich von dieser Faszination nichts anmerken lassen durfte oder wollte. Der Junge, der zu der seltsamen und seltsam mächtigen Faszination tatsächlich nichts kann, steht, wenn er nicht ganz besonderes Glück hat, irgendwann allein da mit seinen verstörenden Empfindungen.

Die Psychologen haben eine ganze Reihe von Erklärungen gefunden, mit denen sie das Entstehen der Neigung zum Crossdressing begründen. Alle aber scheinen darauf hinaus zu laufen, dass der Junge selbst eben nichts dafür kann, dass ihn Mädchenkleidung reizt. In jedem Fall aber und trotz aller wissenschaftlichen Erklärungen gibt es für den Jungen in der Regel niemanden, mit dem er über dieses befremdliche Erleben sprechen kann, und wenn er Glück hat, bemerkt er die seltsamen Verdikte, mit denen seine heimliche Liebe öffentlich belegt wird, erst später, wenn andere sie als ‚abartig‘, ‚pervers‘ oder ‚krank‘ bezeichnen. Gewöhnlich bleibt ihm keine Zeit, ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen, mit dem er zu seiner Vorliebe stehen könnte – vor sich selbst und vielleicht sogar vor anderen. Ihm bleibt in den allermeisten Fällen nur die Scham und der Rückzug in die Heimlichkeit.

Der größte Teil der Crossdresser hat diese Verdikte irgendwann wahrgenommen und sich verstört in sein ganz persönliches Schneckenhaus geflüchtet. Es folgten die wütenden Versuche, die ‚Abartigkeit‘ in sich abzutöten. Wie oft wurden diese „nie wieder!“-Versprechen ausgesprochen, die doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren! Wie traurig ist so manche Pubertät verlaufen, weil eine sexuelle Präferenz eben nicht einfach umzupolen ist und weil die Betroffenen mit ihrem Problem zudem vollständig allein dastanden. Die wenigsten fanden eine Vertrauensperson, der sie sich öffnen und mit der sie das Problem des ‚Andersseins‘ besprechen konnten. Zumal das Problem Crossdressing umso komplexer ist, als daran zwangsläufig die Frage der Homosexualität hängt: Muss ich nicht eigentlich schwul sein, wenn ich gern Röcke, Seidenstrümpfe und Spitzenunterwäsche trage, mich schminke und in High heels als Mädchen durch die Gegend stöckele? Darf ich mich trotzdem zu Mädchen und Frauen hingezogen fühlen, oder gehört zum Tragen von BH und Höschen nicht zwangsläufig die Vorstellung, in diesen Kleidern von einem Mann begehrt zu werden und Männer zu begehren? Solche Fragen aber bleiben in der Regel unbeantwortet und führen nicht nur zu Unsicherheiten, sondern gelegentlich zu handfesten Lebenskrisen, deren Auswege vom Verbleiben im heimlichen Crossdressing bis zur vollständigen Geschlechtsumwandlung reichen können.

Die Geschichte Ein Sommertagtraum erlaubt es sich (und den Lesern), zu träumen: So könnte die Geschichte eines Jungen auch verlaufen in einer irgendwie besseren Welt. Es bleibt bewusst offen, ob der Junge von sich aus zum Crossdresser geworden wäre, obwohl zugleich dieser sanfte Zwang zu den allermeisten Geschichten notwendigerweise hinzuzugehören scheint. Der Zwang dürfte typisch sein für diese eigenartige Species von Mensch, die in unserer scheinbar so aufgeklärten Gesellschaft noch immer so häufig als pervers und damit ‚falsch‘ oder sogar ‚schlecht‘ angesehen wird.

Die Erzählung ist bewusst nicht als erotische Erzählung angelegt. Ein Crossdresser kann seine Vorliebe auch genießen, ohne sie in sexueller Weise auszuleben. Und genau dies soll ja das Thema dieses Tagtraums sein: Die Faszination der Körperlichkeit äußert sich auch in leiseren Tönen als im sexuellen Akt. Der Traum aber ist perfekt, wenn die Vorliebe auf die Liebe trifft.

Prolog

Peters Eltern liebten Familienausflüge. Für Peter waren sie immer langweilig. Erst lange im Auto sitzen und still sein müssen, dann irgendwelche alten, nach abgestandenem Weihrauch riechende Gemäuer oder langweilige Bilder mit lauter seltsam aussehenden Leuten drauf ansehen oder, noch schlimmer, stundenlange Spaziergänge durch öde Wälder machen. Der Supergau war es, Oma und Opa zu besuchen, wo man wieder stillsitzen und sich jedes Mal anhören musste, wie sehr man schon wieder gewachsen sei. Ja, Peter war schon deutlich größer als der winzige Opa, aber erstens war das wirklich keine Leistung, und dann ständig diese eiteitei-Sachen – das war alles nicht sein Ding. Langweilig eben. Öde! Nichts für einen richtigen Mann! Und schon gar nicht, wenn zu Hause der Computer darauf wartete, dass der Superhero Agathon den nächsten Level schaffte und seinen Score unaufhaltsam dem Highscore entgegen trieb.

Diesmal hatte ein Besuch bei Freunden auf dem Programm gestanden – Freunden der Eltern, selbstverständlich, der ‚Alten’, wie Peter sie heimlich bei sich nannte. Woher auch immer sie sich kannten, die Freunde wohnten jedenfalls einige Stunden Autobahnfahrt entfernt irgendwo auf dem Land, wo es weit und breit nur Felder und Bäume und Kühe gab, rein gar nichts Interessantes also. Es war abzusehen gewesen, dass viel gesessen und geredet würde. Wahrscheinlich war es der Plan gewesen, noch den obligatorischen Spaziergang zu machen – er hatte sich auf einen öden Tag eingestellt, an dessen Abend dann wieder einige Stunden Autofahrt gestanden hätten und dessen Bilanz übersichtlich gewesen wäre: nichts Neues unter der Sonne.

Dann aber war doch etwas Unerwartetes geschehen: Die Freunde waren jünger als erwartet und wirklich sehr nett. Sie gingen mit Kindern – oder Jugendlichen, denn Peter war selbstverständlich kein Kind mehr – um wie mit Erwachsenen, nicht wie Oma und Opa, die Peter und seine ältere Schwester immer wie Babys behandelten. Sie waren gut gelaunt gewesen, und sie hatten drei Töchter, die alle drei super aussahen. Sie waren etwas älter, gleichalt und deutlich jünger als Peter. Die älteste hatte sich gleich mit seiner Schwester beschäftigt, die jüngste war die meiste Zeit bei den Eltern geblieben, und die mittlere … Julie hieß sie, und wenn er sie angesehen hatte, hatte er zuerst nicht gewusst, was er sagen sollte. Ihm war irgendwie der Atem weggeblieben, so gut sah sie aus. Und sie war unbegreiflicherweise total nett zu ihm gewesen: Sie hatte ihn nicht merken lassen, dass sie ihn merkwürdig oder uninteressant fand, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihm ihr Zimmer gezeigt und dort hatten sie lange gesessen und sich unterhalten, und egal was sie gesagt hatte, er hatte es immer spannend gefunden. Sie hatten über Rockgruppen und Konzerte gesprochen, über Filme, die sie beide mochten, oder Bücher, die sie gelesen hatten. Julie hatte ihm Sticker-Alben gezeigt, die sie fleißig gefüllt hatte, selbst ihre Euro-Münzen-Sammlung hatte er faszinierend gefunden, nicht zuletzt da Julie, während sie das Album aufschlug, sehr nahe bei ihm gesessen hatte. Manchmal hatten sie sich wie zufällig an den Armen oder Beinen berührt und jedes Mal war ihm dabei heiß geworden. Er hatte nicht denken können, hatte alles um sich herum vergessen in der Nähe dieses Mädchens, das so fröhlich vor sich hin plapperte. Aber das verwirrendste war gewesen, dass auch sie sich wohlzufühlen schien. Sie hatte jedenfalls immer Neues gefunden, das sie ihm zeigen und worüber sie sich unterhalten wollte. Und manchmal berührte sie ihn sogar ganz absichtlich. Daran gab es keinen Zweifel. Sehr seltsam, das!

Irgendwann hatten sie über die Ferien gesprochen, die gerade begonnen hatten, über Reisen, die sie gemacht hatten. Julie hatte schon einiges von der Welt gesehen, wie Peter schien, während er selbst bis jetzt immer in Europa geblieben war – Deutschland, Holland, Dänemark, einmal Italien. Plötzlich war ihm bewusst geworden, dass er davon träumte, mit Julie durch die Rockies zu fahren auf einem Motorrad mit hohem Lenker und Ledertaschen, auf denen sie saß, eng an ihn geschmiegt. Tagelang würden sie nichts anderes tun als so zu sitzen und die langen, gerade Straßen entlang zu donnern, während er sie an seinem Rücken spürte, ihre Hände um seinen Bauch gelegt, die Sonne brennt heiß …

„Was hast du gesagt?“ Er war aus seinen Träumen aufgeschreckt.

„Meine Eltern haben zum Essen gerufen“, hatte Julie wiederholt und ihn angelächelt, wie sie schon die ganze Zeit gelächelt hatte.

„Oh“, Peter war erschrocken, „ist es denn schon so spät?“

„Ihr seid sogar schon ziemlich spät dran“, hatte Julie entgegnet, „ihr müsst ja noch weit fahren, und inzwischen ist es schon dunkel.“

Bei dem Gedanken war Peter plötzlich traurig geworden. Fieberhaft hatte er darüber nachgedacht, wie er die Abfahrt verzögern könnte. Aber sein Hirn war wie vernagelt gewesen. Also war er Julie langsam die Treppe hinunter ins Esszimmer gefolgt, wo die anderen damit beschäftigt gewesen waren, den Tisch zu decken.

Alle außer Peter waren offensichtlich bester Laune gewesen. Es wurden Witze gemacht und gelacht, die Eltern schienen sich köstlich amüsiert zu haben und auch Peters ältere Schwester hatte offenbar viel Spaß gehabt mit Charlie, der großen Schwester von Julie, die fast schon eine Frau war, wie Peter fand. Sie hatten getuschelt und sehr vertraut getan, hatten viel gelacht und sich lebhaft – und ein bisschen vorlaut, wie es Peter schien – am Tischgespräch beteiligt.

Plötzlich hatte Peters Mutter zu ihm herüber gesehen. „Was ist denn mit dir, Peter? Du bist ja so still,“ hatte sie gefragt.

Peter war aus seinen traurigen Gedanken aufgeschreckt. „Nichts“, hatte er schlicht gesagt. Was hätte er auch sagen sollen? Schließlich wusste er selbst nicht so genau, was los war.

Aber damit hatte sich seine Mutter nicht abwimmeln lassen. „Ist dir nicht gut? Du bist so blass.“

Blass? Wieso blass? Immer diese blöden Fragen. „Kopfschmerzen“, hatte Peter vielsagend und offensichtlich leidend gehaucht. Eine plötzliche Eingebung, schon häufig bewährt. Da brauchte es keine weiteren Erklärungen und er hatte gewöhnlich seine Ruhe.

Seine Mutter hatte ihn besorgt angesehen. „Schon wieder? Das … und wir haben deine Tabletten nicht dabei.“ Damit hatte sie sich an Julies Eltern gewandt. „Er hat in letzter Zeit so häufig Kopfschmerzen, dass Dr. Brandt ihm leichte Tabletten verschrieben hat. Das sei soetwas wie eine Jugend-Migräne, sagt er, Peter ist in letzter Zeit ja so unglaublich gewachsen! Und zugleich ist er viel zu dünn für einen Jungen in seinem Alter und von seiner Größe.“

„Ja“, hatte Julies Mutter entgegnet, „er ist wirklich groß für sein Alter, schon fast so groß wie Charlie, aber auch ziemlich schlank.“

„Dr. Brandt hat einmal gesagt, dass wegen des starken Wachstums Störungen auftreten und dass Kopfschmerzen dazu gehören können.“

Alle hatten Peter besorgt angesehen. Peter hatte sich plötzlich tatsächlich krank gefühlt, hatte die Kopfschmerzen und sogar eine leichte Übelkeit gefühlt, die zu seinen Migräne-Anfällen gewöhnlich hinzugehörte.

„Und jetzt noch die lange Autofahrt“, hatte die Mutter noch einmal geseufzt und wieder war eine kurze Pause eingetreten.

„Warum lasst ihr ihn nicht einfach hier?“ hatte da Julies Mutter plötzlich vorgeschlagen. „Wir haben Platz genug. Und er hat doch Ferien!“

Seine Mutter hatte Peter besorgt angesehen. „Stimmt“, hatte sie dann nachdenklich zugegeben, „er hat ja Ferien. Eigentlich gar keine schlechte Idee. Autofahren ist in einer solchen Verfassung sehr schädlich für ihn. Meist muss er sich dann übergeben, und wenn er zu Hause ankommt, ist er weiß wie ein Laken und muss sofort ins Bett.“

Peter hatte sich immer blasser werden gefühlt, die Kopfschmerzen waren geradezu übermächtig geworden. Die Übelkeit hatte apokalyptische Züge angenommen.

„Aber er hat gar nichts zum Anziehen dabei, auch nichts zum Waschen.“

„Na, das wird sich hier doch wohl noch finden lassen. Und wenn ihr zu Hause seid, packst du alles, was er braucht, in ein Postpaket und bringst es gleich morgen zur Post. Dann sind seine Sachen übermorgen hier.“

„Was hältst denn du davon?“ hatte sich seine Mutter an Peter gewandt, „dann müsstest du jetzt nicht die lange Autofahrt mitmachen. Und du könntest hier ein paar Tage Ferien machen.“

Peter hatte gekonnt einen Augenblick gezögert. Gewaltsam hatte er sich selbst daran gehindert, zu Julie hinüber zu sehen. „Okay“, hatte er dann ergeben geflüstert und gehofft, dass niemand seine Freude bemerkte.

„Du könntest ein paar Tage bleiben, und entweder holt Papa dich dann am nächsten Wochenende ab oder, wenn du nicht so lange warten willst, Maria setzt dich in den Zug und du bist ganz schnell wieder zu Hause. Dann hast du immer noch Ferien genug, um mit deinen Freunden loszuziehen.“

„In Ordnung“, hatte Peter wiederum geflüstert, ohne die Leidensmiene schon aufzugeben. Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, dass Julie strahlte.

„Ich werde gleich das Bett im Gästezimmer beziehen“, hatte ihre Mutter gesagt und war aufgestanden und die Treppe hinauf gegangen. Peters Mutter war ihr gefolgt.

„Aber mach nichts Dummes!“, hatte Peters Vater nun gesagt, sich zu ihm herübergebeugt und ihm einen leichten Klapps gegen seinen Oberarm gegeben, „hörst du?“

Peter hatte genickt. Papa hatte sich offenbar nicht täuschen lassen. Aber bei ihm war sein Geheimnis sicher, das hatte Peter gewusst. Er hatte ihn kurz dankbar angesehen. Sein Vater hatte verschwörerisch gelächelt, dann hatte er sich wieder an Julies Vater gewandt, um das Gespräch fortzusetzen, das er mit ihm geführt hatte über …weiß die Hölle worüber!

So war es gekommen, dass Peter plötzlich in einem völlig fremden Bett gelegen und kaum gewusst hatte, wie ihm geschah. Er hatte sich bis auf Unterhemd und Unterhose ausziehen müssen, Julies Mutter hatte ihm eine Zahnbürste und Zahnpasta gegeben, er hatte sich die Zähne geputzt und war dann in seiner Unterwäsche ins frisch bezogene, duftende Bett gestiegen – wo er sich, sobald er allein gewesen war, zum ersten Mal ein überlegenes, triumphierendes Lächeln erlaubt hatte. Genießerisch hatte er sich auf den Rücken gelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Kopfschmerzen? Wer hatte etwas von Kopfschmerzen gesagt?! Was eigentlich waren Kopfschmerzen?

Die Eltern hatten zum Abschied noch einmal kurz ins Zimmer gesehen, doch Peter hatte so getan, als ob er schon schlief. Seine Mutter hatte ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben – es hatte ihn warm durchströmt – und wenig später hatte Peter gehört, wie das Auto gestartet worden war und sich entfernt hatte.

Ein seltsames Gefühl hatte ihn überkommen. Und immer wieder hatte er das Bild von Julie vor sich gehabt.

Erwachen

Er hatte lange nicht einschlafen können, doch am nächsten Morgen war er sofort wach, als Julies Mutter leise die Tür öffnete und nach ihm sehen wollte.

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte sie, als sie ihn mit geöffneten Augen im Bett liegen sah.

„Besser“, antwortete Peter, ohne sich allzu festlegen zu wollen. Schließlich wollte er ja nicht gleich in den nächsten Zug gesetzt werden, um wieder nach Hause zu fahren. Das wäre ‚kontraproduktiv‘, wie er entschieden feststellte. Immernoch stand Julies Bild vor seinem inneren Auge, wie sie neben ihm gesessen hatte, und ihm war ganz wohlig warm, als wenn er in ihrer Nähe … irgendwie …vollständiger gewesen wäre.

„Meinst du, du kannst etwas frühstücken?“

„Ich glaube schon“, erwiderte Peter, „soll ich herunterkommen?“

„Das wäre gut. Die anderen sitzen schon am Frühstückstisch.“

Schnell zog Peter sich an und folgte Julies Mutter die Treppen hinunter.

Das Frühstück verlief munter. Alle schwatzten durcheinander. Peter saß neben Julie und war bester Laune. Er beteiligte sich am Gespräch und mampfte währenddessen Toast mit Marmelade oder Nutella, und da Julies Vater einen Toast nach dem anderen aus dem Toaster springen ließ, aß Peter bis er nicht mehr konnte. Dazu trank er Milchkaffee, denn Julies Vater Paul meinte, das sei gut gegen Kopfschmerzen und für den Kreislauf. Julies Mutter hatte nur dazu gelächelt und ihm eine Tasse eingeschenkt. Und Julie schwatzte und redete, dass Peter vor Entzücken alles um sich herum vergaß.

Er beobachtete sie. Er fand sie wunderschön! Sie war ein richtiges Mädchen, mit langen, blonden Haaren, die sie heute offen trug bis auf einen geflochtenen Zopf am Hinterkopf, der über ihre langen Haare fiel. Ihre Augen blitzten, sahen immer wieder verschmitzt zu ihm herüber, und sie war hübsch. Ein hübscheres Mädchen konnte er sich nicht vorstellen. Sie trug ein Kleid, das ihr sehr gut stand in seinen Lieblingsfarben blau und rot.

Sie war so schön, dass er gar nicht fassen konnte, dass sie ihn nett zu finden schien, dass sie wirklich ihn so freundlich behandelte, als sei er ihr Bruder oder ihr … Freund.

Irgendwann kam das Gespräch auf das, was sie nun unternehmen wollten, nachdem Peter sich offensichtlich wieder erholt hatte. Ein Blick aus dem Fenster hatte gezeigt, dass der Himmel verhangen war und ein leichter Nieselregen fiel. Julie wollte Peter unbedingt den Ententeich zeigen, der ein Stück hinter dem Haus im Wald lag und wo man nicht nur unterschiedliche Enten, sondern auch, wenn man ganz still war, Rehe sehen konnte. Allerdings war Peter für einen solchen Ausflug bei diesem Wetter gar nicht ausgerüstet. Er hatte nur die dünne Jacke dabei, die er für die gestrige Autofahrt gebraucht hatte. Er wies darauf hin und wollte schon etwas anderes vorschlagen, da sagte Julies Mutter:

„Aber wir haben doch Regenmäntel genug, da wird doch einer dabei sein, der Peter passt. Papas Regenmantel wird dir wohl nicht passen, aber Charlie ist ungefähr so groß wie du. Und bekanntlich liebt Charlie ja Regenmäntel, nicht wahr, mein Schatz? Da gibt es doch gleich eine ganze Sammlung, unter denen ihr auswählen könnt.“ Und sie lächelte ihre große Tochter auffordernd an. Die lächelte zurück, auch wenn sie nicht ganz so begeistert zu sein schien.

„Und Schuhe?“, fragte Julie Peter, „hast du Schuhe dabei außer deinen Sandalen?“

Peter sah auf seine Sandalen hinab. „Tja, also … eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

„Ja, also: nein.“

„Na, dann nimmst du eben Gummistiefel aus unserem Schuhschrank. Welche Schuhgröße hast du?“

„41.“

„Wie Charlie. Also kein Problem.“

Peter war es für einen Augenblick etwas komisch. Er sollte Mädchen-Gummistiefel und einen Mädchen-Regenmantel anziehen?! Wie würde das denn aussehen? Aber niemand schien etwas dabei zu finden und er wollte unbedingt mit Julie losziehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig.

„Gut, also dann los!“ Und schon war Julie aufgesprungen. „Komm mit, Peter, wir suchen dir einen Regenmantel aus.“

„Aber nicht meinen guten,“ rief Charlie den beiden hinterher, als sie die Treppe hinaufliefen, „und auch nicht den blauen!“

Julie führte Peter in Charlies Zimmer und öffnete den Kleiderschrank, der eine ganze Wand des Zimmers einnahm. Peter war beeindruckt. In dem Schrank hingen sehr ordentlich sehr viele Kleider, einige wenige Hosen, Jacken und Mäntel, und ganz rechts außen, neben den Jacken und Mänteln, vier bunte Regenmäntel. Nur: keiner von ihnen war gelb, wie ein Ostfriesennerz. Sie waren alle drei bunt, mit farbigen Mustern darauf.

„Zieh den mal über“, sagte Julie und reichte ihm einen roten Regenmantel, der nur verhältnismäßig unauffällige Streifen hatte.

Peter zog ihn über.

„Zu eng“, befand Julie mit Kennerblick.

„Und außerdem mein bester“, kam es von der Tür. Charlie war ihnen gefolgt. „Ich habe doch gesagt: nicht den. Gib ihm mal den mit dem Schottenmuster.“

Die Grundfarbe war ebenfalls rot, das Schottenmuster war überwiegend rosa, ein Streifen etwas heller, einer etwas dunkler, daneben war ein breiterer blauer Streifen. Trotzdem blieb der Gesamteindruck: rosarot.

Peter zog ihn kommentarlos über. Allein die Tatsache, dass er anzog, was Julie ihm gab, ließ es in seinem Bauch kribbeln und in seinen Ohren dröhnen. Charlie kam näher, schloss die Druckknöpfe und zog den Gürtel eng.

„Geht doch.“ Sie musterte ihn. „Damit wirst du jedenfalls nicht nass, wenigstens bis zu den Oberschenkeln. Ich hab sogar die passenden Gummistiefel dazu. Komm mit.“

Damit war sie schon wieder aus dem Zimmer, ging die Treppe hinunter und verschwand hinter der Kellertür. Peter erwartete sie im Esszimmer, wo Julies Mutter und die jüngste Schwester Marie damit beschäftigt waren, den Tisch abzuräumen. Sie warfen nur einen kurzen Blick auf ihn, für sie schien es die größte Selbstverständlichkeit zu sein, dass ein Junge einen Mädchen-Regenmantel trug.

Als Charlie wieder erschien, hatte sie Gummistiefel in der Hand, die ziemlich genau in den gleichen Farben waren wie der Regenmantel. Allerdings hatten sie kein Schotten-, sondern ein Blumenmuster. Nun regte sich in Peter doch leichter Widerstand.

„Zieh sie an“, drängte Julie ihn, „dann sehen wir, ob sie dir passen.“

Zögernd stieg Peter hinein. Sie saßen enger als seine eigenen, aber zur Not würde es gehen. Auch wenn das Muster schon ziemlich mädchenhaft war …

„Wenn sie dir zu eng sind, musst du eben dünnere Socken anziehen“, sagte Charlie sachlich. „Deine Tennissocken sind ja ziemlich dick. Zieh sie mal aus.“ Damit verschwand sie wieder auf der Treppe und kam kurz darauf aus ihrem Zimmer mit einem Paar roten Socken, die einen deutlich dünneren Stoff hatten als seine dicken Tennissocken.

„Versuch die mal!“

Peter schlüpfte wieder aus den Stiefeln, zog seine eigenen Socken aus und die von Charlie an. Der dünne Stoff fühlte sich seltsam ungewohnt an. Doch als er damit in die Stiefel stieg, saß alles wie angegossen.

„Also“, sagte Julies Mutter, die den letzten Teil der Anprobe beobachtet hatte, „dann seid ihr ja ausgestattet. Aber seid zum Mittagessen wieder zurück. Es gibt Würstchen und Kartoffelsalat!“

Peter fühlte sich wie im Märchen, ohne dass er genau sagen konnte, woran das lag. Hier war alles anders. Hier wurde er anders behandelt, hier wohnte er in einem anderen Zimmer, andere Menschen waren um ihn und nun trug er auch noch andere Kleidung als seine gewohnte. Und dann war da Julie. Wenn er sie ansah, wurde ihm warm, wenn er ihre Stimme hörte, kribbelte es in seinem Bauch. Am liebsten hätte er sie berührt, sie gestreichelt, vielleicht sogar umarmt. Sie zog ihn an wie ein Magnet ein Stück Eisen, in ihrer Nähe fühlte er sich …ganz anders.

Sie hatte sich selbst ihren Regenmantel angezogen, dazu eine neckische Regenkappe aufgesetzt und war ebenfalls in Gummistiefel geschlüpft – alles knallbunt, mit vielen Blumen darauf.

„Komm!“, sagte sie dann, „lass uns gehen – nicht dass der Regen noch aufhört, bevor wir draußen sind“, und sie lachte über ihren eigenen Witz.

Draußen steuerte sie unmittelbar den nahen Wald an. Der Regen fiel in dünnen Schleiern. Peter schlug die Kapuze seines Regenmantels hoch und zog noch einmal den Gürtel enger. Der Mantel war von ihnen gefüttert, fühlte sich weich an und hielt ihn angenehm warm.

Schon nach wenigen Metern war der Weg nur noch ein Trampelpfad, auf dem sie sich hintereinander bewegen mussten. Peter folgte Julie dicht auf den Fersen und versuchte, sich wie sie möglichst leise zu bewegen. Das war im Regenmantel nicht einfach, denn er quietschte und knartschte bei jeder Bewegung und auch die Stiefel machten Geräusche.

Irgendwann blieb Julie stehen, zog Peter an seinem Ärmel nahe an sich heran, legte den Finger auf die Lippen, die nahe an seinem Gesicht waren, und flüsterte ihm ins Ohr: „Sei ganz leise. Da vorne ist einer von Papas Hochsitzen. Da können wir uns hinsetzen und auf den Teich schauen.“

Erst jetzt bemerkte Peter, dass sich links vor ihnen die Bäume lichteten und das spiegelglatte Wasser eines Teichs hindurchschimmerte. Julie ging darauf zu, dann am Rand des Teichs entlang, bis sie zu einem Hochsitz kamen. Sie legte die Hände an das Holz der Leiter und stieg langsam und leise hinauf. Oben öffnete sie die Tür, stieg in die Kanzel und ließ Peter zu sich hinein. Es gab eine kleine Bank, auf die sie sich setzten, und in den Außenwänden Fenster, durch die sie hinausschauen konnten. Der Raum war so klein, dass sie eng neben einander sitzen mussten.

Peter genoss es. Sie saßen so nahe beieinander, dass er durch die beiden Regenmäntel hindurch die Wärme ihres Körpers spürte. Julie hatte ihre Kappe abgenommen, er schlug seine Kapuze zurück. So saßen sie, schauten und lauschten.

Ihre Schultern berührten sich ebenso wie ihre Arme und Beine. Keiner von ihnen bewegte sich. Irgendwann nach geraumer Zeit hob Julie langsam ihren Arm und zeigte in Richtung Teich. Eine graue Ente mit einem leuchtend grünen Kopf kam langsam aus dem Dickicht geschwommen, hinter ihr eine braune und dann, eins nach dem anderen, fünf winzig kleine Küken.

Julie näherte ihr Gesicht dem seinen, bis sie sich fast berührten, und flüsterte: „Wir haben das Fernglas vergessen.“

Peter nickte, wandte sich Julie zu, bis seine Lippen fast ihr Ohr berührten, und flüsterte zurück: „Macht nichts.“ Dann drehte er den Kopf wieder und spürte die Erstarrung seines Genicks. ‚Ich hätte sie küssen können’, schoss es ihm durch den Kopf, ‚ich Depp hätte sie küssen können!’