Ein Stein auf meinem Herzen - Shlomo Birnbaum - E-Book

Ein Stein auf meinem Herzen E-Book

Shlomo Birnbaum

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Beschreibung

Shlomo Birnbaum, geboren 1927, wächst in einem jüdisch-orthodoxen Haus im polnischen Tschenstochau auf. Nach dem Einmarsch der Nazis im September 1939 muss die Familie ins Ghetto. Der Alltag ist bestimmt von Angst und Tod, noch heute sagt Birnbaum: »Ich habe erlebt, wie meine Mutter in den Tod geschickt wurde, wie meine Brüder und Schwestern umgebracht wurden. Ich konnte nicht mehr glauben. Wo war Gott?« Zusammen mit seinem Vater Arie, der ihn immer wieder rettet, überlebt Shlomo, muss aber nach seiner »Befreiung« Sklavenarbeit in einer Rüstungsfabrik leisten und wird nach dem Krieg erneut mit mörderischem Judenhass konfrontiert – diesmal von Seiten der Polen. Shlomo und sein Vater fliehen schließlich in das Land, in das sie nie hatten einen Fuß setzen wollen: nach Deutschland. In München gründet Shlomo eine Familie, hat vier Kinder, wird Unternehmer, findet Freunde. Obwohl er die Vergangenheit nie ganz hinter sich lassen kann, lebt er doch ein neues Leben, das er nie für möglich gehalten hätte. Birnbaums Geschichte, aufgeschrieben von Rafael Seligmann, ist das Dokument eines sehr persönlichen Ringens mit dem Glauben, über besondere Vater-Sohn-Bande, die sich über Generationen spannen, und das ergreifende Zeugnis seines Kampfes ums Überleben und Weiterleben im Land der Feinde.

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Shlomo Birnbaum | Rafael Seligmann

Ein Stein

auf meinem Herzen

Vom Überleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: © Christoph Pittner (Pittner-Design)

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, München

ISBN (E-Book) 978-3-451-80842-5

ISBN (Buch) 978-3-451-37586-6

In Gedenken an

Meinen Vater Jehide Arie Leibisch Birnbaum

Meine Mutter Chenka Birnbaum und meine Geschwister

Ester, Jakob, Hirsch und Abraham

Meinen Onkel Aron Birnbaum, seine Frau Frimet und

deren Sohn Sruli

sowie für

Meine Frau Helen, unsere Kinder Zwi, Abi, Ilan und Ester

und unsere Enkelkinder

Inhalt

Impressum

Widmung

Der Schmerz bleibt

Kindheit

Krieg

Im Großen Ghetto

Kleines Ghetto und Arbeitslager

Befreiung

Deutschland

Anstand

Danksagung

Über die Autoren

Shlomo Birnbaum 1946

Der Schmerz bleibt

»Alle raus! Schnell! Schnell!«

Sie haben uns entdeckt. Die letzten Tage hat mir Vater eingeschärft, ständig mein Versteck im Kleinen Ghetto von Tschenstochau zu wechseln. Mal habe ich mich in dem Hohlraum unter einer Treppe verkrochen, dann in einem Schuppen oder auf dem Speicher eines Möbellagers. Gestern Abend bin ich in einem Keller untergekommen. Hinter einem Bretterverschlag habe ich mit etwa zwanzig Männern, Frauen und Kindern die Nacht verbracht.

Jetzt stürzen zwei SS-Männer die Treppe herunter und »machen uns Beine«, indem sie mit ihren Gewehrkolben wahllos auf uns eindreschen.

Wir müssen uns auf der Straße aufstellen. Immer drei nebeneinander. »Durchzählen. Sonst Maul halten!«

Hinter mir steht eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Sie versucht, sein Weinen zu ersticken.

Ein deutscher Lastwagen braust heran. Ich weiß, was das heißt: Abtransport – zum Erschießen. Mein Mund ist trocken.

Von der anderen Seite naht ein Pferdefuhrwerk. Vater! Ich will laut aufschreien. Doch Vaters Blick verbietet mir das.

Ein SS-Mann brüllt Vater an: »Was machst du da?« »Ich bin der Fuhrmann«, antwortet Vater ruhig. »Ich soll hier warten mit meinem Pferd und dem Wagen. Befehl vom Herrn Scharführer!« Vater befestigt die Zügel, ergreift seine Peitsche und steigt vom Bock herunter.

Unvermittelt gehen die SS-ler weg. Sie befehlen polnischen Polizisten, uns zu bewachen, bis sie zurückkehren. Vater kommt auf uns zu. Er ist noch immer ruhig. Er rennt nicht, geht gefasst, ohne zu zittern.

»Was machst du da?«, schreit ein Pole. Vater bleibt beherrscht. »Ich pass auf! Wie du auch …«

Der polnische Polizist ist unschlüssig, wie er auf Vaters Antwort reagieren soll. Während er noch überlegt, wendet sich Vater an mich. Er spricht leise, doch bestimmt: »Renn weg, Shlojme! Sonst biste toit! Nicht auf den Laster! Renn, was du kannst!«

Ich laufe los. Direkt einem SS-Mann in die Arme. Ich kenne ihn. Schlosser heißt er. Er packt mich, zückt seine Ledergerte und beginnt auf mich einzuprügeln. Tränen schießen mir in die Augen. Doch ich darf nicht schreien. Mein Blick ist auf Vater gerichtet. Er muss zusehen, wie ich geschlagen werde.

Endlich hört der SS-ler auf, mich zu malträtieren. Er stößt mich zur Menschenreihe und brüllt: »Du rennst nicht noch mal weg!« Dann klopft er seine Uniform gerade, als ob nichts geschehen wäre, und geht weiter.

»Loif, Shlojme! Lauf!«

»Tate … «, keuche ich, »er hot mich a soi geschlugn. Ich kunn necht …« »Du musst, Shlojme. Lauf! Sonst derharget er dich. Renn!«

Vaters Anweisung ist stärker als Angst und Schmerz. Wieder laufe ich los. Diesmal schaffe ich es bis zur nächsten Ecke. Ich höre den SS-Mann schreien: »Der Judenbalg ist wieder weg … Hinterher!« Ich renne weiter. Die Luft brennt in meiner Lunge. Als der Schmerz zu groß wird, stürze ich in ein Haus, stoße eine Wohnungstür auf und schlüpfe hinein. Die Tür fällt ins Schloss. Mit jedem Atemzug bebt mein ganzer Körper. Vor Angst und Erschöpfung kriege ich kaum Luft.

Draußen Geschrei und Gepolter. Die Tür, hinter der ich stehe, wird aufgestoßen. Sie haben mich …

»Da ist er nicht …«, höre ich die Stimme meines Vaters.

»Weiter! Sucht ihn woanders. Bis ihr ihn findet! Den will ich haben!«, befiehlt der SS-Mann. »Los!« Die Schritte entfernen sich.

Ich sacke in die Knie. Das Blut pocht mit jedem Herzschlag in meinen Ohren. »Ha Malach ha goel« … Als Kind habe ich zum »rettenden Engel« gebetet. Seit die Deutschen hier sind, ist der Engel verschwunden.

Aber Vater ist geblieben.

Vater ist immer da, wenn ich glaube, es ist vorbei. Immer! Nie hat er gefehlt. Er ist mein Malach ha goel – mein rettender Engel.

Ich halte meinen ersten Enkel im Arm. Sein Name ist Arie, was Löwe bedeutet. Der Junge kommt 1992 zur Welt. Ich betrachte das kleine Lebewesen und hoffe, dass das Kind ein gutes Leben, ein sicheres Leben, ein Dasein ohne Bedrohung und Verfolgung haben wird. Unwillkürlich kommen mir die Segensworte in den Sinn: »Möge der Herr dich beschützen auf all deinen Wegen und bei all deinen Taten.«

Ich halte inne. Seit ich 15 bin, habe ich nicht mehr zu Gott gebetet. Damals, 1942, als das Böse herrschte, dessen Opfer meine Mutter, meine Geschwister und bald auch unsere ganze Gemeinde wurden, habe ich meinen Glauben verloren.

Mein Enkel ist in München geboren. In Deutschland, wo ich nie sein wollte und doch die letzten siebzig Jahre, also fast mein ganzes Leben, verbracht habe. Hier habe ich eine Familie gegründet. Ich habe meine Frau Helen aus Israel hierher gebracht. In München sind unsere Kinder zur Welt gekommen, nun auch Enkelkinder. Dass all dies Segensreiche, das uns widerfahren ist, in einem Land geschah, das zu keiner Zeit das meine war, werde ich niemals verstehen. Doch ich habe im Lauf der Jahre gelernt, dass das Dasein voller Widersprüche ist.

Ich will alles dafür tun, dass der Kleine unbeschwert aufwachsen kann. Anders als ich, soll Arie niemals erleben müssen, dass er als Jude beschimpft, gedemütigt und verfolgt wird. Ist Deutschland dafür das richtige Land? Gibt es überhaupt ein Land, wo man sich als Jude sicher fühlen kann? Einschließlich Israel?

Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen war meine Kindheit zu Ende. Danach bin ich im Gehenom, in der Hölle, erwachsen geworden. Zuvor wurden wir Juden von unseren polnischen Nachbarn drangsaliert. Wir kannten es nicht anders. Doch ab September 1939, als die deutsche Wehrmacht und in ihrem Gefolge die SS-Verbrecher in Polen einfielen, herrschten Angst, Schlechtigkeit, Grausamkeit, Tod. Fast meine ganze Familie und Millionen Menschen meines Volkes sind ermordet worden.

Damals hat sich ein Stein auf mein Herz gelegt. Und trotz des Guten, das mir später vergönnt war, unsere Heirat, das Aufwachsen unserer Kinder und Enkel – alle Freude und Genugtuung vermochten nicht, diesen Stein abzuschütteln.

Mein Überleben habe ich meinem Vater Arie Leib Birnbaum zu verdanken. Seine Stärke, sein Mut, seine Tatkraft, seine Klugheit, vor allem seine Besonnenheit haben mich immer wieder gerettet.

Diese Eigenschaften will ich meinem ersten Enkel – und den vielen Enkeln, die ihm mittlerweile gefolgt sind – mit auf ihren Lebensweg geben.

Kindheit

Großvater legt seine Hand auf meine Schulter. Er redet leise, nie hebt er seine Stimme. Auch nicht, als er mit meinem Melamed, meinem Lehrer, spricht. Aber Großvater redet so, dass der Moreh nicht anders kann, als ihm zu folgen: »Du wirst das Kind nie wieder schlagen!«

Ich bin fünf Jahre alt. Seit zwei Jahren lerne ich – ungern – im Cheder, der Lernstube. Auf dem Weg dorthin trödele ich, spiele mit allem, was mir auf der Straße begegnet. Oft passiert auch Unliebsames. Polnische Nachbarjungen haben es wieder einmal auf mich abgesehen. Den kleinen Jid, wie sie mich nennen. Pünktlich und ohne Schläge zum Unterricht komme ich nur, wenn Vater oder Großvater mich auf unserem Fuhrwerk mitnehmen und direkt am Cheder abliefern.

An der Tür angekommen, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, ergreife die schwere Klinke, ziehe sie herunter und öffne die Pforte. Drinnen riecht es nach Feuchtigkeit, alten Büchern, Kindern und unserem Melamed. Zwölf Buben unterrichtet er. Es gibt noch kleinere als mich, doch die meisten sind ein paar Jahre älter. Wir sind um einen schweren Holztisch platziert. Die Jüngsten von uns reichen mit dem Kopf gerade über die Platte. Die ist übersät mit zerfledderten Büchern. Der Melamed unserer kleinen Religionsschule hat einen langen dunklen Bart und trägt ein weißes Hemd, darüber eine schwarze, fadenscheinige Weste. Auf seinem Haupt hat er eine schwarze Kippa. Meist steht er oben am Tischende. Doch wenn er sich veranlasst sieht, um den Tisch herumzugehen, zieht man besser den Kopf ein.

Der Melamed soll ein kluger Mann sein. Vater behauptet, er habe den Verstand eines Rabbis. Warum steht er dann nicht in der Synagoge vorne in prächtigen Kleidern, statt uns im Cheder zu plagen? Unser Melamed trägt den Namen eines Propheten: Ezechiel. Jiddisch: Chaskel. Er hat sein ganzes Leben dem Studium der Thora, des Talmud, gewidmet. Es gibt viele, viele gelehrte, fromme Männer wie unseren Moreh im Polen meiner Kindheit. Sie haben ihre von Jahr zu Jahr um ein Kind größer werdenden Familien zu ernähren. Ich weiß, dass der Melamed auf das Geld, das er für den Unterricht von uns Jungen im Cheder bekommt, angewiesen ist. Damit muss er auskommen. Und damit, was ihm seine Eltern und Schwiegereltern vielleicht zustecken.

Der Cheder ist eng, mein Sitznachbar schwitzt, und auch mir ist warm. Staubflocken tanzen im Sonnenlicht, das von draußen durch die ungewaschenen Scheiben fällt. Die Kleinsten pauken das hebräische Alphabet. Laut sagen sie mit ihren Stimmchen her: Alef, Alef, Beth, Beth, Gimmel … Immer wieder. Bis es in den kleinen Köpfen fest sitzt. Wir Größeren lernen schon aus der Thora. Auswendig müssen wir die Worte beherrschen, die uns der Chumash (jiddisch »Chumesh«), die Fünf Bücher der Thora, überliefert. Ein Jude hat die Thora zu kennen, sonst ist er kein Jude, sagt unser Melamed. Parascha für Parascha, Abschnitt für Abschnitt, wiederholen wir so lange, bis wir uns die Worte für immer gemerkt haben. Auswendiglernen schult das Gedächtnis für das ganze Leben. Darum nennt man den Cheder, ja selbst die Synagoge, Schul’. Oft deklamieren wir auch die Texte in dem aus undenklichen Zeiten herrührenden Singsang. Das hilft, uns den Stoff besonders gut einzuprägen. Wir lernen Gebete und Brachot, die Segenssprüche. Hier und zu Hause werden wir von Kindesbeinen mit den 613 Gesetzen vertraut gemacht, die das Dasein der gläubigen Juden ausmachen.

Aber das Leben, das mich beschäftigt, muss mir nicht eingetrichtert werden. Es ist draußen, im Freien. Auf dem Fensterbrett haben sich zwei Tauben niedergelassen. Sie rucken mit den Hälsen und glätten ihr Gefieder in der Sonne. Ich höre ihr Gurren durch die Scheiben. Ich habe Tauben gern. Am liebsten hätte ich zu Hause einen Schlag, in dem ich sie halten kann. Ich habe beobachtet, wie ein Händler die Vögel auf der Straße verkauft. Ich würde sie fliegen lassen. Hoch im Himmel würden sie frei ihre Kreise ziehen und dann zu mir zurückkehren …

Eine Kopfnuss des Melamed reißt mich aus meinen Fantasien. Er hat mich zum Hersagen aufgerufen. Aber ich habe ihn nicht gehört und den Text gerade vergessen.

»Shlojme?!«, droht der Lehrer. »Was haben wir heute gelernt?«

Ich bringe kein Wort heraus. Die anderen Kinder gucken zu mir herüber. Neugierig. Und schadenfroh. Ich zucke mit der Schulter. Senke meinen Blick. Ich weiß, was jetzt kommt.

»Hände!«

Das Holzlineal saust auf meine Finger nieder. Einmal, zweimal, immer wieder. Der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen. Als der Lehrer endlich aufhört, springe ich auf und laufe aus der Stube. Sie sollen nicht sehen, dass ich weine.

Zu Hause zieht Großvater ein Taschentuch hervor, trocknet meine Tränen und heißt mich, meine Nase zu putzen. Was ist geschehen? Ich berichte ihm von den Schlägen mit dem Lineal. »Die Tauben haben so laut gerufen, dass ich aus dem Fenster gucken musste. Aber nur kurz …« Großvater lächelt. Ich erzähle ihm, dass der Melamed uns an den Ohren reißt, wenn wir nicht aufmerksam sind, Backpfeifen verteilt, wenn wir nicht sogleich alles richtig hersagen. Ich verkünde auch, dass ich nie mehr in den Cheder gehen werde. Großvater hört meinem Klagen wortlos zu. Dann steht er auf, nimmt mich bei der Hand. Zusammen gehen wir den Weg hinunter zur Lernstube. Bei Großvater gibt es kein »Ich will nicht.« Alle folgen ihm. Selbst mein Tate, mein Vater, und sein Schwiegersohn.

»Chaskel! Du wirst bezahlt, die Kinder zu lehren«, sagt Großvater zum Melamed. »Nicht, um sie mit deinen Händen zu strafen!« Er sieht den Lehrer fest an: »Allein Vater und Mutter wissen, wann ein Kind zu strafen ist und wie – nicht du!« Es ist ganz still im Raum, der sonst von Kinderstimmen erfüllt ist. So etwas hat hier noch niemand gehört. Großvater dreht sich um: »Komm, Shlojme!« Zusammen verlassen wir den Cheder und gehen nach Hause.

Meine Familie und ich wohnen in der ulica Warszawska Nummer 164. Unsere Straße führt von Tschenstochau in die Hauptstadt Polens. An unserem Haus verrinnt die Stadt. Sie geht ins Land über. Um uns herum erstrecken sich Felder und Weiden. Wir sind nicht arm, wir sind nicht reich. Wir haben genug zu essen, besonders gut am Schabbat, und das Dach über dem Kopf gehört uns. Am wichtigsten ist, dass man Gottes Gebote befolgt und zufrieden ist, sagt mein Tate. Und rezitiert in der Tonlage unseres Melameds seinen Lieblingssatz aus den Pirkei Avot, den Sprüchen der Väter: »Wer ist reich? Der mit seinem Los zufrieden ist.«

Helen und Shlomo Birnbaum im Kreise ihrer Kinder und Enkel

Unser Heim ist ein flaches Gebäude. Großvater hat es selbst gebaut. Ein Haus mit mehreren Wohnungen. Wir bewohnen einen Teil davon, die anderen Räume sind vermietet. Im Hof befindet sich ein Stall für die Pferde und Kühe, die mein Vater hält, und eine Scheune, in der er Getreide lagern kann. Davor steht ein großer Ahornbaum. Vater handelt mit Hafer, Stroh und Kleie für das Vieh. Zudem bringt er Weizen und Roggen in eine nahe gelegene Mühle, holt das gemahlene Mehl wieder ab und beliefert die Bäckereien in unserer Gegend damit. In der Synagoge, bei Nachbarn und Geschäftspartnern wird Vater geachtet und ist beliebt.

Seine Eltern haben ihn Arie genannt. Das passt. Er ist stark wie ein Löwe. Mein Tate stemmt Säcke, die bis zu zwei Zentner wiegen, auf seine Knie, hebt sie hoch und wirft sie ohne Anstrengung auf den Fuhrkarren. Vater lädt die Säcke und Strohballen auf, springt mit einem Satz auf den Kutschbock, schwingt die Peitsche in die Luft, ruft »Hüja!« und die Pferde traben los. Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen.

Manchmal erfüllt Tate meinen sehnsüchtigen Wunsch und nimmt mich auf seinen Fahrten mit. Leider erst nach dem Cheder. Einmal, es wird schon dämmrig, machen wir Rast auf einem Feld. Vater sagt: »Halt die Pferde. Ich mach ein Schläfchen!« Ich sitze stolz auf dem Kutschbock, habe die Zügel fest um meine Hände geschlungen. Die Pferde stehen geduldig. Vater hat sich neben dem Wagen ausgestreckt. Da schleicht ein Mann heran. In der rechten Hand hat er ein Messer. Er will auf Vater einstechen. Ich schreie, so laut ich kann. Vater springt auf, holt aus – und der Angreifer sackt in sich zusammen. »Ein Klopp‘ und der Polack war weg«, lacht Vater am Abend, als er die Geschichte zu Hause erzählt. Vater erscheint mir unverwundbar. Ich ahne nicht, wie sehr ich bald seinen Schutz brauchen werde.

Vater ist nicht nur stark und mutig, sondern auch ein Macher. Er packt zu, ergreift jede Gelegenheit beim Schopf. »Als Geschäftsmann musst du Chancen und Risiken abwägen und dann blitzschnell entscheiden«, sagt er mir. »Nicht fragen, Shlojme, tun!« Vater ist viel unterwegs. Seine dauernde Tätigkeit, seine Umsicht, seine Gabe, sich unverzüglich auf sein Gegenüber einzustellen, ohne dabei seine eigenen Bedürfnisse zu vergessen, aber auch ein Maß gesundes Misstrauen zeichnen ihn aus. Vor allem aber besitzt Vater eiserne Nervenkraft. Diese Fähigkeiten waren unverzichtbar, um uns durch die folgende Katastrophe zu führen.

Das Leben hatte Vater früh gezwungen, erwachsen zu werden. Geboren wird er 1897 in Kamyk, einem Dorf unweit von Tschenstochau. Seine Familie lebte dort »Dor um Dor um Dor«, seit Generationen, wie mein Vater sagte. Mein Großvater Shlomo Birnbaum, nach dem gemäß jüdischer Tradition ich benannt wurde, kannte wie alle Juden am Ort keinen Zweifel an seinem Glauben. Nach dem Besuch des Cheder hatte Großvater in einer Jeschiwa, einer Religionsschule, weitergelernt, um Rabbiner zu werden. Doch mit sechzehn Jahren sollte Shlomo zum russischen Militär eingezogen werden. Andere Jungen wurden schon im Alter von zwölf Jahren an die Waffen beordert. Militärdienst – das bedeutete damals, fünfundzwanzig Jahre Dienst in der Armee des verhassten Zaren leisten zu müssen. Dabei wurden Juden in der Regel so lange geschliffen, bis manche resignierten und dem jüdischen Glauben abschworen.

Das Judentum erhebt verbindliche Regeln. Als Soldat wäre es für Shlomo unmöglich, seinem Glauben zu folgen. Angefangen mit der Schabbat-Ruhe bis zu den koscheren Speiseregeln, die im Militär niemals einzuhalten sein würden. Großvater, der ein gesunder junger Bursche war, beriet sich mit seinem Rabbiner. Dieser sagte, Shlomo müsse mit allen Mitteln verhindern, als Soldat eingezogen zu werden. Einen körperlich versehrten, geschwächten Mann würde die Armee nicht aufnehmen. Fortan beschränkte mein Großvater Essen und Trinken auf das Notwendigste. Er magerte ab, bis er nur noch Haut auf den Knochen hatte. Zudem überwand er seine Angst und hackte sich selbst einen Finger ab. Mit vier Fingern an der Hand hoffte er untauglich für den Kriegsdienst zu sein. Tatsächlich blieb Shlomo das Militär erspart. Er widmete sich fortan ausschließlich dem Studium der Thora, des Talmud und der übrigen Heiligen Schriften.

Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch nicht bloß vom Lernen. Die allwissende Thora kennt die Bedürfnisse der Menschen und sie fordert daher von ihnen, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren. Willig befolgte Shlomo das Gebot der Eheschließung. Er heiratete Malka, was Königin bedeutet. Während ihr Mann seine religiösen Studien fortsetzte, musste Malka, geborene Lewkowitz, die Kinder allein aufziehen. Sie hatte dafür zu sorgen, dass sie zu essen und zu trinken bekommen, Kleider am Leib tragen und eine religiöse Erziehung genießen. Nebenbei betrieb Malka einen kleinen Lebensmittelladen.

Großmutter steht für die Stärke der jüdischen Frauen – aber auch für ihre in unzähligen jüdischen Witzen von Männern verspottete Dominanz: »Kennen Sie meine Frau?« »Ich hatte noch nicht das Vergnügen.« »Wenn es ein Vergnügen war, war’s nicht meine Frau.« Die Vorherrschaft der jüdischen Frau entspringt den schwierigen wirtschaftlichen und familiären Bedingungen. Die Frauen mussten über die Ernährung und Erziehung ihrer Kinder hinaus auch für deren Schutz sorgen. Denn die Kleinen waren allenthalben immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Das macht stark und unabhängig – und mitunter auch herrschsüchtig. Wir jüdischen Männer akzeptieren das. Selbst Generäle und Politiker. Wie die Herrschaft Golda Meirs in Israel in den 70er-Jahren beweist.

Durch seine antimilitärische Hungerkur war Großvaters Gesundheit nachhaltig beschädigt. Er verstarb, noch keine vierzig Jahre alt, im Jahre 1911. Vater war gerade vierzehn, aber schon das Familienoberhaupt. Von seinem älteren Bruder, der zur russischen Armee eingezogen worden war, hatte die Familie nie wieder etwas gehört. Vater ging zu dieser Zeit bei einem Schuster in Tschenstochau in die Lehre. Schuster und Schneider waren damals häufige Handwerksberufe unter Juden. Vater machte das Arbeiten mit dem Leder Freude. Er genoss zeitlebens den Geruch frisch gegerbten und gewachsten Leders. Der Lehrherr gab Arie zu verstehen, dass er ihm eines Tages seine Schuhmacherei überlassen würde.

Doch mit dem Tod des Vaters war Arie gezwungen, seine Ausbildung abzubrechen und nach Hause zurückzukehren. Er hatte für seine Mutter und die jüngeren Geschwister zu sorgen, darunter auch Bruder Aron und Schwester Feigl. In Kamyk, dem Dorf seiner Geburt, musste Vater sich und die Familie von der Landwirtschaft ernähren. Von klein auf konnte Arie mit Tieren gut umgehen. Entscheidend aber war, dass er es verstand, die Menschen für sich einzunehmen. »Ein guter Name ist wertvoller als ein Edelstein«, heißt es im Jiddischen. Durch Fleiß, Ehrlichkeit und Klugheit erwarb Arie bald den Ruf eines geachteten Händlers für Viehfutter, Getreide und Mehl.

Seit vielen Generationen lebten Juden in Tschenstochau und dessen Umland. Mitte des 18. Jahrhunderts wohnten 75 Juden in der Stadt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es schon 500. Eine jüdische Gemeinde entstand. Doch Juden durften zunächst nur in bestimmten Straßen und Vierteln der Stadt wohnen. Als diese Restriktion in den 1860er-Jahren aufgehoben wurde, wuchs die jüdische Gemeinde auf über 3000 Seelen an. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Tschenstochau das Zuhause für mehr als 12 000 Juden. Sie machten damit fast 30 Prozent der Bevölkerung der Stadt aus. In den 1920er-Jahren hatte sich die Zahl der Juden weiter vergrößert. Ende der 1930er-Jahre lebten hier fast 30 000 Juden. Dies war durch die Entwicklung der Stadt zu einem industriellen Knotenpunkt begünstigt worden. Tschenstochau liegt an der Eisenbahn­linie Warschau-Wien. Industrielle Betriebe, vor allem Metall und Chemie, entstanden in der Stadt. In der stetig wachsenden Textilindustrie waren jüdische Unternehmen ebenso führend wie in der Spielzeugindustrie.

Die Juden, ebenso wie ihr antisemitischer Widerpart, gehören zu Tschenstochau. Mehr als zwanzig Synagogen und Betstuben sind über die Stadt verteilt. Allenthalben bestehen jüdische Geschäfte, vor allem im Textilgewerbe, das von den Juden spöttisch Schmattes, Altkleider, genannt wird. Es gibt eine Talmud-Thora-Schule, Grundschulen für Knaben und für Mädchen, Werkstätten, Druckereien, Cafés, Bücherstuben, Schächter und Bäcker … In allen Bevölkerungsschichten finden sich Israeliten. Sie wirken als Fabrikbesitzer und Arbeiter, als Lehrer, Ärzte, Schuhmacher, Rechtsanwälte, Schneider. Der Großteil der Juden in Tschenstochau ist ebenso wie die anderen Bürger eher arm. Sie schlagen sich durch oder führen eine »Luftexistenz«, das heißt, sie kämpfen um ihr Dasein. Die wohlhabenden Juden verstehen sich als Stützen der Gesellschaft. Manche von ihnen helfen den Ärmeren. Zedaka, Wohltätigkeit, ist ein zentrales Gebot unserer Religion. Doch bei Juden wie bei Gojim gibt es mehr Menschen, die über ihre guten Taten reden als diese zu vollbringen.