Ein Tagwerk Leben - Dora Prinz - E-Book

Ein Tagwerk Leben E-Book

Dora Prinz

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Beschreibung

Ein Leben wie aus einer anderen Zeit: Als Magd erträgt Dora Prinz viel – harte Arbeit und die Willkür der Bauern prägen ihren Tag. Aber sie lässt sich nicht brechen, dafür ist sie zu stolz. Eine Geschichte von der Weisheit einer alten Frau, die trotz allem sagt: Schöner hätte es nicht sein können, das Leben. Ein Tagwerk Leben von Sabine Eichhorst, Dora Prinz: Biographien & Memoirs als eBook!

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Dora Prinz

Ein Tagwerk Leben

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Inhaltsübersicht

DIE HEBAMMEIN DER VIEHWEID1924. Kapitel1926. Kapitel1929. Kapitel1931. Kapitel1932. Kapitel1936. KapitelDIE OBERMAGDLEHRJAHREDER BAUER UND SEIN SOHNSCHNEEAUFBRUCHEPILOGDANKE
[home]

DIE HEBAMME

Im grauen Morgenlicht schwang der Bauer die Geißel und trieb die Gäule den schmalen Schotterweg entlang, der hinüber zum Stöckle-Hof führte. Neben ihm auf dem Fuhrwerk hockte die Hebamme, ihre Tasche fest gegen die Brust gepresst. Ich trat vom Fenster zurück. Zog eilig ein Hemd an, ein Kleid und eine Schürze, flocht das Haar zu einem Zopf. Dann weckte ich die Frida und die Monik und lief die Stiege hinunter in den Hausgang.

Draußen lag Nebel über den Wiesen, die Wolken hingen tief. Kalter Wind blies. Im Stall beim Vieh war es warm. An einem Balken über dem Gang hing eine Petroleumlampe, in ihrem schummrigen Licht drängten sich die Kühe aneinander, die Emma rieb ihren Kopf am Hals von der Rosa, die Rosa schlug nach Fliegen.

»Zur Nachbarin ist die Hebamme unterwegs.«

Die Mutter sah hinter der Rosa hervor. »So früh?« Sie schlug geschwind ein Kreuz, mit der anderen Hand wehrte sie den Schwanz der Rosa ab.

Ich nahm einen Melkschemel, strich der Emma über den Rücken und hockte mich ins Stroh. Die Emma ist schon immer meine Lieblingskuh gewesen, ein prächtiges Allgäuer Braunvieh mit kurzen, dicken Hörnern.

»Gestern hat die Stöckle-Bäuerin noch Holz gemacht«, seufzte die Mama und wandte den Kopf zur Seite, damit Rosas Schwanz sie nicht traf. Ihre Hände waren geschickt, mit gleichmäßigem Strahl lief die Milch in den Eimer. Auch Emmas Euter war prall. Ich wischte es sauber und strich mit den Daumen über die Zitzen, bis die Milch herausschoss. Die Emma bog den Kopf und schnupperte an meiner Schulter. Aus ihren Nüstern quollen weiße Dampfwolken, auf ihrer Nase tanzten Fliegen. »Bist ein feines Tier«, murmelte ich, »bist die Beste …« Die Emma gab immer die meiste Milch und verlor nie die Ruh.

Die Mama stand auf, goss Rosas Milch in eine Kanne und hockte sich unter die nächste Kuh. Schweigend molken wir, beide in Gedanken bei der Nachbarin. Das Vieh schnaufte, hier und da ein Schmatzen, ein hungriges Muhen, das Klirren der Ketten. Wir füllten Heu in die Traufe und Wasser nach, gabelten altes Stroh in einen Schubkarren und breiteten frisches aus. Ich stellte Milch fürs Frühstück beiseite, zog eine Jacke an, verschloss die Kanne mit einem Deckel und schnallte sie mir mit zwei ledernen Riemen auf den Rücken.

Über den Hügeln lag fahles Licht, der Nebel löste sich nur langsam. Ich klappte den Kragen hoch. Der Weg, der an unserem Haus entlangführte, machte eine Kurve und führte zu einem Wäldchen, kahle Fichten, die sich bis zum Ufer des Hinterweihers hinunterzogen. Wind schlug mir ins Gesicht und bei jedem Schritt spürte ich, wie die Milch in der Kanne schwappte. Auf dem Schotter lagen vertrocknete Fichtennadeln und eine dünne Schicht Reif, die Tropfen glänzten auf den Steinen. Ein Vogel rief, ein anderer antwortete. Am Wegkreuz unter dem schäbigen Holzstand lagen frische Blumen. Hinterm Wald tauchte rechts in einer Senke die Mühle auf, der Knecht lud Säcke auf einen Wagen, ein Hund bellte. Ich winkte und lief weiter zur Dorfstraße und hinauf zur Käserei.

Wieder daheim, saßen die Frida und die Monik in der Stube. Im Ofen prasselte Feuer und die Katze schlief auf dem Kanapee. Hungrig setzte ich mich an den Tisch, trank einen Schluck Milch. »Wo ist der Sepp?«, fragte der Papa. »Der Bub verschläft den ganzen Tag.«

»Er ist noch klein.« Die Mama stellte eine Kanne Malzkaffee auf den Tisch.

»Helfen könnt er schon.« Der Papa tauchte seinen Löffel in die Mehlsuppe. Die Mama sagte nichts, goss nur Kaffee ein und brach drei Stück Brot für die Frida, die Monik und mich.

Später, als der Vater in den Wald und meine Schwestern nach Herlazhofen zur Schule aufgebrochen waren, ging die Mutter in die Speis. Mit Mehl, Eiern und Zwetschgen kehrte sie zurück.

 

Am Nachmittag, als die Hebamme heimfuhr, hatte die Stöckle-Bäuerin ihr zehntes Kind geboren.

Der Kuchen war noch warm, als die Mutter ihn in ein Tuch schlug. Die Frida und die Monik hatten ihre Schulkleider gegen Werktagskleider getauscht und saßen in der Stube über ihren Hausaufgaben. Der Vater öffnete die oberste Schublade der Kommode, nahm den Kamm heraus, spuckte darauf und fuhr sich durchs Haar. Er setzte seinen Hut auf, betrachtete sich in der Spiegelscherbe neben dem Ofen, zog die Hosenträger straff und seine Jacke an. »Gehen wir«, sagte er und nahm den Sepp bei der Hand.

Es war dunkel und es regnete, als wir zum Stöckle-Hof liefen.

In der Stube waren die Scheiben beschlagen. Es roch nach Pfeifentabak und Most. Verwandte und Nachbarn hatten Kuchen mitgebracht, manche Kleidung für das neue Baby. Kinder spielten Ringewerfen, ein paar kleine hockten barfuß und in Kitteln auf dem Dielenboden und schauten zu. Die Mama stieg mit der Frida, der Monik und mir die Stiege hinauf zu den Schlafkammern. Blass und müde lag die Kindbetterin zwischen den Kissen. Das Baby schlief in einer Wiege. Es hatte schmale Augen, eine winzige Nase und runzlige Wangen. Die Monik kniete nieder. »So ein süßes Butzele …«

Die Frida hatte Tränen in den Augen und sprach ein Gebet. Die Hebamme, ein kräftiges Weib mit schwarzem Haar und groben Gesichtszügen, stopfte blutige Laken in einen Korb. Leise hörte ich sie zur Mama sagen: Schlechte Lage … Füße zuerst …

Später drängten sich alle in der Stube. Ein paar Weiber schnitten Zwetschgendatschi und Hefezopf auf, und ich half und wusch in der Küche Teller und Gläser. Die Hebamme stand am Herd und rührte in einem Kessel. Sie erzählte von einer Bäuerin in Ottmannshofen, die vor kurzem ihr zweites Kind bekommen hatte. »Ein Bub, gesund und kräftig. Aber den Pfarrer haben’s dagehabt, weil das erste Kind, ein Mädle, bald nach der Geburt gestorben ist.«

»Heiliger Vater …«, seufzte die Bäuerin vom Geissler-Hof.

Ich stapelte Kuchenstücke auf einen Teller, und die Hebamme sah zu. Dampf umhüllte ihre groben Züge und ließ sie weicher wirken. Doch ihr Blick machte mich nervös. »Wie alt bist, Mädle?«

Ich strich meine Zöpfe glatt und streckte die Schultern. »Sechzehn.«

 

Schwarz ragten die Bäume in den Himmel, als wir aufbrachen. Eine Krähe schrie, und im Stall trat ein Ross gegen die hölzerne Wand. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Wind blies scharf und der Vater zog den Hut tiefer ins Gesicht und rief: »April, der Spektakel macht, bringet Heu und Korn in Pracht.«

»Bringet Heu in Korn und Pracht …«, plapperte der Sepp, der sich Mühe gab, mit dem Vater Schritt zu halten. Die Frida, die Monik, die Mama und ich lachten und hakten einander unter.

Daheim ging der Vater in den Stall und sah noch einmal nach dem Vieh. Er spritzte jeder Kuh und den beiden Gäulen ein wenig Weihwasser auf die Stirn und wünschte allen eine gute Nacht. Die Mama brachte den Sepp zu Bett. »Und ihr Mädle geht auch schlafen.«

Auf Socken hüpften wir die Stiege hinauf zur Schlafkammer, banden uns gegenseitig die Schürzen auf, zogen die Kleider aus und schlüpften in Unterwäsche unter die kalten Decken. Wir stritten um die Bettflasche, und grad hatte ich sie unter Fridas Füßen hervorgezogen, da rief der Vater meinen Namen. Ich zog eine Weste über und lief hinunter.

Am Tisch in der Stube saß die Hebamme.

»Ich will nicht lange herumreden, Dora. Der Bauer in Ottmannshofen sucht ein Mädle zum Helfen. Willst hingehen?« Im Ofen brannte Feuer und auf der Ofenstange hingen Socken, ein Hemd und Fridas blaue Schürze. Es roch nach Holz und auch ein wenig nach den Krautknödeln vom Nachtessen. Ich hockte mich auf die Ofenbank. »Er hat gesagt, ich soll mich umhören, weil ich in viele Häuser komm.« Die Hebamme sah mich an, wieder mit diesem prüfenden Blick. Eine Fliege landete auf meinem Kinn. Die Pendeluhr schlug; es war Viertel vor zehn.

Die Mutter ging in die Küche und kam kurz darauf mit einem Krug Most zurück. Sie schenkte dem Vater und der Hebamme ein, ihre Hand zitterte ein wenig. Die Hebamme strich ihren Kragen zurecht. Ihr Haar war zu einem dünnen Zopf geflochten, und ihr Gesicht leuchtete im Schein der Petroleumlampe. Sie griff nach einem Becher, hielt ihn mit beiden Händen und trank in kleinen Schlucken. Ich sah von ihr zum Vater und vom Vater zur Mutter.

»Musst selbst wissen, ob du gehen willst«, sagte der Papa.

»Wir schicken keins von euch Kindern fort«, sagte die Mama.

Ich schaute auf meine Füße, die in gestopften Socken steckten und kaum den Boden berührten.

 

In der Früh feuerte die Mutter den Ofen. »Geh schon vor, ich komm gleich.«

Ich zog meine Stallkleider an, nahm eine Lampe und ging zum Vieh. Die Emma leckte der Rosa den Hals und die Berta scharrte mit ihren Klauen im Stroh. Ich nahm einen Melkschemel. Kaum fuhr ich mit den Daumen über die Zitzen, kam auch schon die Milch. »Bist eine ganz feine Kuh.« Die Emma schmatzte und schüttelte ihren riesigen Kopf.

Es dämmerte, als alle Kühe gemolken und gefüttert waren. Der Vater lud die Milchkanne auf, um sie zur Käserei zu fahren, während die Mama und ich frühstückten und in unsere Sonntagskleider schlüpften, um nach Mariä Himmelfahrt in Gebrazhofen zu pilgern.

Es war der Schmerzhafte Freitag.

Die Luft war kühl und frisch. Morgensonne schien auf die Hügel, ließ das Gras leuchten. »So wie die Weiden daliegen, möcht man grad eine Kuh sein«, sagte die Mutter und stieg aufs Fahrrad. Ich raffte meinen Rock und hockte mich auf den Gepäckträger.

»Mir ist’s lieber, du bist keine«, lachte der Vater, lud die leere Milchkanne ab und schirrte die Gäule aus.

Im Wald schrie ein Eichelhäher, und nahe dem Wegkreuz hatten Wildschweine Löcher gegraben und sich in feuchter Erde gesuhlt. Die Mutter trat in die Pedale. »Halt dich gut fest.«

Beim Hinterweiher glänzte das Wasser dunkel, fast schwarz, weil der Regen Torf aus dem Winnismoos heruntergespült hatte. Alle Äcker waren frisch geeggt, auf manchen rupfte der Wind an den zarten Blättern von grad gesetzten Kartoffeln oder Kohlrabi.

Immer wieder dachte ich an die Hebamme.

In Toberazhofen nahm die Mutter den Weg Richtung Nannenbach. Grüne Hügel zogen sich bis zum Horizont, dahinter sah man die Alpen. Hier und da schmiegte sich ein einzelner Hof in eine Talmulde. Ein Weiler, ein paar Bäume. Ein Heustadel. Ein Güllewagen am Ackerrain.

Ich dachte an die fremde Bäuerin.

»Obacht!«, rief die Mama. Im selben Moment polterte das Rad durch ein Schlagloch, beinahe hätte es mich vom Gepäckträger geworfen. Die Mama lachte. »Halt dich gut fest, es wird uneben.« Sie lenkte das Rad durch Kuhlen und über Steine und ich schlang beide Arme um ihren Bauch. Am Himmel trieb der Wind Wölkchen vor sich her wie eine Glucke ihre neugierigen Küken.

Nach einer Weile tauchten in der Ferne der Buchwald und die Kirche von Gebrazhofen auf. Die Kirche mit ihrem mächtigen Glockenturm lag auf einem Hügel und überragte das gesamte Dorf. Ihr Geläut war weithin zu hören. Jedes Jahr strömten die Leut aus den umliegenden Dörfern am Freitag nach dem ersten Fastensonntag nach Mariä Himmelfahrt, um vor dem Bild der Muttergottes niederzuknien und zu beten.

Im Dorf auf dem Platz am Fuß des Kirchenhügels drängten sich die Wallfahrer und aus allen Straßen liefen immer mehr Weiber und Mannsbilder und Mädle und Buben herbei. Die Mutter hielt an, ich stieg ab. Wir schoben das Rad, lehnten es schließlich gegen die Mauer, die den Kirchplatz umgab, und reihten uns ein in die Menge, die die Stufen hinaufschritt, die Hände andächtig gefaltet. An den Gedenksteinen für die Gefallenen und Vermissten des Ersten Weltkriegs hielten manche kurz inne. Das Kreuz auf dem Dach der Kirche glitzerte in der Sonne, die hohen Fenster funkelten.

Durch eine eher unauffällige Holztür traten wir ins Innere. Es roch nach Weihrauch und feuchtem Gemäuer. Im Gestühl saßen die Leut dicht beieinander, es gab kaum noch Sitzplätze, doch die Mama zog mich mit sich und wir schoben uns auf einen freien Platz neben einer Säule unter der Empore, auf der der Organist sich einspielte. »Hier sehen wir gut.« Die Mutter strich mir übers Haar und richtete meinen Kragen.

Hinterm Altar hing das goldgerahmte Bild der Muttergottes.

Auch die Kanzel war prächtig geschmückt, an den Seitenwänden des Kirchenschiffs hingen Bilder und geschnitzte Figuren von Heiligen. Überall schlugen Mannsbilder Kreuze und fromme Weiber knieten in den Bänken, Rosenkränze in den faltigen Händen.

Gegrüßet seist du, Maria,

voll der Gnade,

der Herr ist mit dir,

du bist gebenedeit unter den Weibern,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus …

Hunderte Stimmen beteten, so innig, dass einem das Herz schneller schlug.

Nach der Messe radelten wir eilig heim. Die Sonne wärmte, doch ein kalter Wind fuhr uns ins Gesicht. Die Mutter stemmte sich dagegen, trat in die Pedale, den Rücken gebeugt, die Hände fest um das Lenkrad geklammert. Ich hielt mich an ihr fest und schmiegte meine Wange in ihre Jacke.

Hinter dem Wegkreuz, kurz bevor der Weg in einer langen Kurve auf unser Haus zuführte, hielt die Mutter an. Sie hieß mich absteigen. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Blick traf mich ins Herz. Sie strich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte. »Was wirst tun?«

Ich schluckte. »Ich werd schaffen.«

Den Rest des Wegs schob ich das Fahrrad und die Mama war ganz still.

Daheim hatten die Frida und die Monik Kartoffeln geschält. Ich band eine Schürze um, gab Fett in eine Pfanne und rieb die Kartoffeln zu Mus. Die Mama schnitt Suppengrün, und wieder zitterten ihre Hände. Später trug die Frida die heiße Suppe in die Stube und der Papa sprach ein Tischgebet.

Schweigend aßen wir zu Mittag.

Nach dem Essen stieg ich in die Kammer hinauf, packte Wäsche, zwei Paar Socken, ein Kleid, zwei Schürzen und mein Gebetbüchlein in einen kleinen Koffer. Ich umarmte die Frida und sie sprach ein Vaterunser. Ich umarmte die Monik und der Sepp rief: »Jetzt nehm ich dein Kopfkissen!« Ich gab ihm einen Klaps.

Im Stall sagte ich der Emma und den anderen Kühen Lebewohl. Ich verabschiedete mich von den Gäulen, den Katzen, dem Hund und dem Papa, der im Tor stand und auf einem von seinen Zigarrenstumpen kaute, die ich so mochte, weil sie so gut rochen.

Vor der Scheune stand die Mama mit dem Fahrrad.

 

Wir bogen um die Kurve und folgten dem Weg am Ufer des Hinterweihers, am Wegkreuz vorbei und weiter in den Wald hinein. Über den Bach und vorbei an der Mühle. Die Mama radelte, ich lief nebenher, denn auf dem Gepäckträger hatte der Papa meinen Koffer befestigt.

In Herlazhofen bogen wir auf die Dorfstraße, liefen am Pfarrhaus hinunter ins Unterdorf und hinaus aus dem Ort. Vor uns lagen flache Weiden, die sich bis an die Ränder der Stadt zogen und zwischen denen sich ein Schotterweg wie ein dunkles Band hindurchschlängelte. Vor der Feldkapelle flogen Stare auf. Eine Katze spielte mit einer toten Maus.

»Der Sepp hat mein Kopfkissen genommen«, sagte ich.

»Ja«, sagte die Mama.

In Leutkirch waren die Gassen voll, Weiber trugen Einkaufskörbe, manche schoben Kinderwagen, Mannsbilder fuhren mit Fahrrädern über das Pflaster, dass die Reifen klapperten. Die Mutter stieg ab und schob unser Rad. Wie jedes Mal staunte ich über die vielen Läden. Vor einem Lebensmittelgeschäft in der Marktstraße blieben wir stehen. Regale bis unter die Decke waren gefüllt mit Dosen, Flaschen und bunten Schachteln. Neben der Kasse auf der Theke hatte der Kaufmann Konservendosen zu einem Turm gestapelt. Einmal hatte der Vater eine Fischkonserve heimgebracht, eine Dose mit Heringen. Zuerst schmeckte der Fisch seltsam streng und salzig, doch mit einem Stück Brot war er köstlich.

»Lass uns weitergehen.« Die Mutter zog mich vom Schaufenster fort und hielt auf den Marktplatz zu. Am Brunnen am Gänsbühl standen zwei Männer in Uniform, und als ein Herr mit einem Hut vorbeilief, grüßten sie mit ausgestrecktem Arm. Der Herr nickte und eilte weiter. Auf dem Marktplatz verkaufte ein fliegender Händler bunte Tücher. Im Sommer zum Kinderfest stand unter den Bäumen, wo jetzt die Koffer und Körbe des Händlers überquollen, ein Karussell. Waren wir beim Heuen fleißig gewesen, war der Vater immer mit uns nach Leutkirch gefahren, wir hatten dem Festumzug zugeschaut und für zehn Pfennig Kettenkarussell fahren dürfen.

Wenn ich fortging, gab es daheim einen Esser weniger.

Beim Spital bogen die Mutter und ich ab. Die Sonne stand nun hoch. Seit einer Stunde waren wir unterwegs und hatten die Hälfte des Wegs hinter uns. Er war breit, aber steinig und staubig und führte nun steil bergan. Ab und zu überholte uns ein Auto, doch die meisten Leut waren mit Fuhrwerken oder Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs. Links und rechts wuchsen Fichten, ab und zu eine Weißtanne oder Buche, doch sie warfen keine Schatten. Der erste Hügel machte mir nichts aus, doch beim zweiten begann ich zu schwitzen und die Mama schob das Rad. »Die Bäuerin ist ein gutes Weib«, sagte sie, ein wenig außer Atem. »Sie ist von Herlazhofen, sie hat Verwandtschaft im Dorf.«

»Und der Bauer, von wo kommt der?«

»Der ist von Ottmannshofen.«

Als wir den dritten Hügel erklommen hatten und aus dem Wald heraustraten, erstreckten sich zu beiden Seiten weite Wiesen. Höfe mit Schindeldächern und Scheunen und Häuser mit bunt bemalten Fensterläden und hölzernen Giebeln zogen sich den Hügel hinab. In einer Schreinerei fragten wir nach dem Futscher-Hof. Umständlich beschrieb der Schreiner den Weg zum Dengler-Hof, von dort sei es nicht mehr weit.

Wir liefen am Feuerwehrhaus vorbei. Aus einer Schmiede dröhnten Hammerschläge und Dengelgeräusche, es roch nach Feuer. An der Kirche, die etwas abseits am Hang lag, machte der Weg einen Knick. »Der Bauer und die Bäuerin werden dich sicher mit zur Messe nehmen«, sagte die Mama.

Ich nickte.

Am Ortsausgang gabelte sich der Weg, ein Pfad führte in die Äcker, doch wir folgten dem Schotterweg, der langsam bergab lief. Vor uns lag eine Senke und darin verstreut duckten sich einzelne Höfe.

»Dort muss es sein.« Die Mama deutete auf ein Gehöft. Wir liefen langsamer. Zwei Vögel zogen in gerader Linie über das weite Tal.

Feiner, kalter Regen setzte ein, als wir den Futscher-Hof erreichten. Am Wegrand stand eine mächtige Linde, erste Knospen sprossen an den Zweigen. Hinter einer Scheune mit schiefem Dach, als wollte es sich verstecken, lag das Wohnhaus, grau und etwas schäbig. Im Schutz einer Hecke hatte jemand einen kleinen Garten angelegt, Hühner liefen umher und ein schwarzbrauner Spitz sprang hinter einem Holzstapel hervor. Zögernd hielten die Mutter und ich auf eine Tür zu.

»Geht’s vorn rein!« Ein Weibsbild warf das Stalltor hinter sich zu und stapfte davon, ohne uns weiter zu beachten. Ihre Füße steckten in Holzpantinen, die ihr viel zu groß waren.

Die Mama und ich schauten uns an. Dann liefen wir ums Haus herum.

Die Bäuerin mit ihrem Baby im Arm öffnete, als wir an die vordere Tür klopften. »Grüß Gott«, sagte die Mama.

»Grüß Gott«, sagte ich.

»Kommt’s herein«, sagte die Bäuerin. Sie war ein schönes Weib, schmal, das blonde Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre Augen leuchteten grün wie das Wasser in einem Weiher im Wald. Das Baby war so runzlig und rotbackig wie das von der Nachbarin daheim.

»Du bist also die Dora.«

Ich nickte. Das Baby rülpste.

»Man hat uns schon ausgerichtet, dass du kommst. Der Ullrich, der Bauer, ist draußen. Ich geh ihn holen.« Sie deutete auf eine Tür. »Geht’s ruhig in die Stube und wartet dort.«

Unsere Schuhe waren voller Dreck, drum zogen wir sie aus und ließen sie im Hausgang stehen. Auf Socken betraten wir die Stube. Sie war groß, größer als daheim. Der Ofen brannte und es war sehr warm. Der Ofen hatte einen weiß gekalkten Sockel und darüber grüne Kacheln mit hübschen Verzierungen. Auf der Ofenbank lagen weiche Kissen, auf der Ofenstange hing ein Leintuch. Es gab ein Kanapee, ein Spinnrad und einen großen Tisch mit gedrechselten Beinen, eine Eckbank, mehrere Stühle. Im Herrgottswinkel stand die Jungfrau Maria unter einem Kreuz, zu ihren Füßen eine Kerze und ein Kranz aus getrockneten Schneeglöckchen.

»Du musst nicht fort, wenn du nicht willst«, flüsterte die Mama und suchte meinen Blick.

»Aber ich tät Geld verdienen, wenn ich hier schaff«, flüsterte ich.

Im Hausgang polterten Schritte. Im nächsten Moment blies ein kalter Wind zur Tür herein. »Grüß Gott!«

»Grüß Gott«, antworteten die Mama und ich wie aus einem Mund.

Der Bauer war ein kräftiger Mann mit knochigem Gesicht, spitzem Kinn und dicken wilden Locken. Er wirkte riesig, als er nur ein paar Schritte entfernt von mir stehen blieb und auf mich herabschaute. »Bist ja noch ein Mädle«, sagte er und maß mich mit einem Blick, so wie ein Viehhändler ein Kalb betrachtet.

Ich straffte die Schultern. »Aber ich kann schaffen.«

Er hob sein Kinn und schnaubte: »Wie groß bist?«

Mit fester Stimme sagte ich: »Einen Meter vierzig.«

»Das ist nicht groß.« Er schnaubte wieder. An seiner Weste hing eine Uhrkette, in seinen Mundwinkeln klebten Krümel. Seine dicken Locken waren voller Staub und er roch nach Feuer. Er pulte in seinem Ohr, fuhr sich durchs Haar, musterte mich. Mir war, als würden Stunden vergehen. Dann schlug er in die Hände und reichte mir seine riesige, rissige Pranke. »Aber die Hebamme sagt, du bist ein gutes Mädle.«

»Ich hab daheim müssen melken, mähen und misten. Ich kann Holz hacken, dreschen und Mehl machen. Ich kann kochen, buttern, nähen, stopfen, einwecken. Ich hab …« Ich machte eine Pause und schaute dem Futscher-Bauern mitten ins Gesicht. »Ich hab sogar schon allein einer Kuh ihr Kalb geholt.«

»Soso.« Er rieb sein Kinn. »Und wie alt bist, Mädle?«

»Sechzehn.«

»Und wie viele Kinder seid’s daheim?«

»Vier.«

»Da muss die Älteste beizeiten fort.«

Ich sagte nicht, dass ich Geld verdienen wollte. Ich sagte gar nichts. Stand nur still dort und wartete ab, was geschah.

»Warum gehst nicht zu Verwandten?«, fragte der Bauer.

»Das ist selten gut, lieber zu Fremden«, gab ich zurück.

»Gut.« Der Bauer zog die Uhr aus seiner Westentasche, klappte sie auf und wieder zu. »Kriegst zehn Reichsmark im Monat.«

Ich nickte.

»Dafür musst ordentlich schaffen!«

Wieder nickte ich.

Bald darauf fuhr die Mutter heim. Es war der 11. April 1936.

 

Als ich später am Nachmittag in die Küche kam, stand eine Kasserolle auf dem Herd, an ihren Rändern klebte eingetrocknete Milch. Auf dem Boden lagen Reisigreste und kalte Asche. Ich band die Bänder meiner Schürze fester, klaubte das Reisig zusammen, sammelte ein paar schmutzige Kellen, Schöpfer und Rührlöffel ein, füllte Wasser aus einem Topf in die Kasserolle und scheuerte, bis die Ränder glänzten.

Im Kamin neben dem Herd rumpelte es.

Ich nahm einen Besen, der an einem Schrank lehnte, und fegte die Asche zusammen. Ordentlich reihte ich die Töpfe auf, hängte die Schöpfkellen an die Stange über dem Herd, legte den Schürhaken neben die Luke. Auf einem gemauerten Sims standen drei graue Tonkrüge, ein blauer Krug mit Most und ein Butterfass. Ich öffnete die Schranktür; drinnen waren Teller, Schüsseln, Becher und Tassen gestapelt. Die Bäuerin besaß einiges Geschirr.

Im Kamin polterte es.

In der Schublade unterm Herd fand ich Feuerholz, doch es war kein Reisig zum Schüren da. Ich lief hinaus in den Hausgang. Unter der Treppe lagen sauber aufgestapelt Holzscheite, daneben gebundenes Reisig. Ich nahm ein Bündel.

»Die ist ja schon ganz daheim«, sagte eine Stimme.

Ich fuhr zusammen. In der Stubentür stand die Bäuerin mit ihrem Baby im Arm, dahinter drängte sich ein kräftiges Weibsbild in einer geblümten Schürze. »Ich hab Feuer machen wollen«, sagte ich, es klang fast wie eine Entschuldigung.

»Ist schon recht«, sagte die Bäuerin. Das Baby greinte leise.

»Aber das Feuer muss warten«, rief das Weibsbild in der geblümten Schürze, lauter, als es nötig war. »Der Kaminkehrer ist gekommen!« Die Bäuerin trat beiseite und das Weib drängelte sich vor wie ein neugieriges Mädle. Sie war größer als ich und kräftig, ihr Haar leuchtete wie reifer Weizen.

»Das ist die Cecilia, eine Schwester vom Bauern«, sagte die Bäuerin, schaukelte das Baby und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Cecilia kicherte.

Ich stand dort, das Reisigbündel in den Händen, und wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Komm mit.« Die Bäuerin schob mich in die Küche. »Besser, du bist rührig, als wenn ich dir alles sagen muss.«

Im Kamin krachte und kratzte es.

Ich legte das Reisig in die Schublade unterm Herd und wischte mir die Hände an der Schürze ab. »Kannst kochen?«, fragte die Bäuerin.

Ich nickte.

»Was kannst kochen?«

»Kartoffelsuppe, Erbsenbrei und Krautnudle.«

»Da musst du aber noch manches lernen!« Die Cecilia stand im Türrahmen, beide Hände in die Hüften gestützt. Die geblümte Schürze spannte über ihrer Brust. Sie gab ein gurgelndes Geräusch von sich; ich war sicher, dass es nicht das Baby war.

»Lass gut sein, Cecilia. Die Dora ist grad den ersten Tag hier.«

»Maultaschen kann ich auch.« Ich straffte die Schultern. »Und Biskuit-Torte!« Entschlossen hielt ich Cecilias Blick stand. Sie lachte, es klang ein wenig dümmlich.

Draußen im Hausgang polterten Schritte. Die Cecilia schlug die Augen zum Himmel. Das Baby begann zu weinen. »Ssscht …«, machte die Bäuerin und strich dem Kind über den Kopf.

»Grüß Gott!« Ein Mannsbild in schwarzen Hosen und einer schwarzen Jacke, die ein breiter Gürtel zusammenhielt, betrat die Küche. Über seiner Schulter hing ein Seil mit einer schweren Eisenkugel am einen und einer Bürste mit festen, staubschwarzen Borsten am anderen Ende. Er sah sich um, schloss die Tür hinter sich und ging hinüber zum Schornstein. Mit jedem Schritt hinterließ er einen schwarzen Fußabdruck auf den Holzdielen, und die Cecilia rollte die Augen. Aus einer Schlaufe an seinem Gürtel zog der Kaminkehrer einen Haken und klopfte damit gegen die Tür am unteren Ende des Kamins. Das Baby schrie. Cecilia versuchte, den Buben zu trösten, doch es klang, als würde sie ihn ausschimpfen, ihre Stimme war laut und er schrie noch lauter. Der Kaminkehrer hockte sich nieder und öffnete die Luke. Im selben Moment stürmte ein Bub zur Tür herein. »Meister …«

Eine Rußwolke fuhr aus dem offenen Kamin.

»Herrschaftszeiten!« Der Kaminkehrer sprang auf, hustete und wischte sich die Augen. Die Bäuerin breitete einen Schürzenzipfel über den Kopf des Babys und lief hinaus, die Cecilia hinterher, schimpfend und hustend.

»Mei… Meister …«, stammelte der Lehrbub, der ebenfalls schwarze Hosen und eine Jacke mit einem breiten Gürtel trug und wie angewurzelt stehen blieb. »Ich … ich wollt … ich wollt nur …« Sein Gesicht war dunkel, nur das Weiß seiner Pupillen leuchtete. Er war höchstens ein, zwei Jahre älter als ich.

»Was willst!? Dir ein paar saftige Ohrfeigen fangen?«

»Nein, Meister … ich mein … ohh, Meister …«

»Verschwind!« Der Kaminkehrer wischte sich den Ruß aus dem Gesicht und je mehr er wischte, desto schwärzer wurde es. Auch ich hustete. Meine Augen brannten und tränten und ich sah, wie in der ganzen Küche feiner schwarzer Staub herniederregnete und sich auf Töpfe, Krüge, Bänke, Dielen legte.

Nachdem der Kamin geputzt war und der Kaminkehrer und sein Lehrbub wieder fort waren, machte ich Feuer und setzte einen Kessel Wasser auf. Mit heißem Wasser, Seife und einem Lumpen schrubbte ich den Herd und den Sims, die Krüge und die Kasserollen. Ich nahm alle Teller und Schüsseln und Becher aus dem Schrank und spülte sie und putzte jedes Fach, bevor ich das Geschirr zurückstellte. Zum Schluss warf ich den Lumpen ins Feuer und scheuerte den Boden mit einer Bürste.

Draußen dämmerte es. Mein Gesicht spiegelte sich in einer Fensterscheibe. Das Weiß meiner Pupillen leuchtete. Ich sah aus wie die Kaminkehrer, schwarz vom Scheitel bis zu den Füßen.

 

Im Stall nahm die Bäuerin mich beiseite. »Melken kann ich, wir haben daheim sechs Kühe.«

»Trotzdem werd ich schauen, ob du es recht machst.« Sie reichte mir einen Eimer. Ein Kälbchen blickte neugierig auf. »Bist ein liebes Mockele«, sagte ich und strich ihm über die Stirn. Das Kalb hob den Kopf und leckte meine Hand. Die Kuh sah aufmerksam zu. Ich klopfte ihr auf die Flanke, streichelte ihren faltigen Hals und tat auch ihr schön, damit sie keine Angst um ihr Junges hatte. Dann hockte ich mich ins Stroh. Mit dem Schürzenzipfel wischte ich Stroh vom Euter, fuhr mit den Daumen über die Zitzen und schon floss die Milch. Zügig wechselten meine Hände zwischen den Zitzen hin und her, strichen auf und ab und drückten, bis das Euter leer war, molken gründlich noch den letzten Rest aus. Das Kalb leckte mit seiner rauhen Zunge über meinen Arm. Die Bäuerin nickte und reichte mir einen Melkschemel.

Gemeinsam molken wir zwölf Kühe. Die Cecilia warf Futter vom Heuboden, ein anderes Weib, das ihr sehr ähnlich sah, fütterte das Vieh, der Bauer mistete. Die Kühe kauten, zermalmten das Futter zwischen ihren Zähnen und ab und zu hob eine den Schwanz und ein kräftiger Strahl ergoss sich ins Stroh.

»Kommst mit?«, fragte der Bauer, als er die Milchkannen auf den Karren lud. »Milch fortbringen zur Käserei?«

»Freilich.«

Er trieb den Gaul an, ich lief hinterher. Auf dem unebenen Weg den Hügel hinauf schaukelten die Kannen, und ich gab acht, dass keine umfiel. Der Himmel hing voller Wolken. Wind rauschte durchs Gras, und am Wegrand blühten Palmkätzchen, die kleinen Blüten glänzten silbern. »Das war eine rechte Freud in der Küche, gell?« Der Bauer verzog sein knochiges Gesicht zu einem Grinsen. »Dein Einstand!« Er lachte und sein spitzes Kinn sah noch spitzer aus.

»Ist schon recht«, antwortete ich. Der Karren holperte durch Senken und Mulden, über Steine und Äste. Der Bauer schnalzte und trieb den Gaul an, doch das Ross war müde. Ich lehnte mich gegen die Rückwand und schob.

»Schaffst du’s?«

»Freilich!«

Leichter, kalter Regen setzte ein. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch, stemmte mich gegen den Karren und jedes Mal, wenn der Gaul nachließ, schob ich die Milchkannen den Hügel hinauf. Der Bauer zog ein Taschentuch hervor, wischte sich über die Stirn und schneuzte sich. Sein Blick maß mich, doch bevor er etwas sagen konnte, rief ich: »Ist schon recht!«

Der Gaul schnaubte. Ich schwitzte.

In der Käserei goss der Käser die Milch in einen Kessel. Seine weiße Gummischürze reichte bis zum Boden, darunter trug er blaue Hosen und ein graues Hemd, die Ärmel hatte er bis über beide Ellbogen aufgekrempelt. Er wartete, bis der Messbalken an der Milchwaage die Menge anzeigte, dann zog er einen Bleistift hinterm Ohr hervor, nahm aus einem Setzkasten an der Wand das Kontoheft des Bauern und trug die Zahlen ein. Der Senn füllte die Milch in den Milchkühler. Im Hintergrund glänzten die kupfernen Käsekessel.

Auf dem Heimweg spannte der Bauer aus und führte den Gaul am Geschirr, während ich den Karren mit den leeren Milchkannen den Hügel hinabzog. Der Weg erschien viel kürzer. »Wie weit ist es vom Hof zur Käserei?«

»Einen Kilometer.« Der Bauer runzelte die Stirn. »Warum, machst schlapp?«

»Bestimmt nicht. Daheim ist der Weg doppelt so weit.« Allerdings führte er erst auf den letzten zweihundert Metern bergan, doch das sagte ich nicht.

Während der Bauer den Gaul ausschirrte, wusch ich die Milchkannen aus. »Und?«, fragte der Bauer, als wir ins Haus gingen. »Willst bleiben?«

»Freilich.«

 

Zum Nachtessen fanden sich alle in der Stube ein. Der Bauer saß oben am Tisch, neben ihm die Bäuerin, gegenüber die Cecilia und das weizenblonde Weib, das sicher ihre Schwester war. Geschwind rutschte ich auf die Bank neben die Bäuerin. Die, die die Mutter und mich so barsch angefahren hatte, trug Gelbe-Rüben-Suppe, eine Schüssel mit Schupfnudeln, einen Laib Brot, Käse und Most auf. Dann setzte sie sich ans Ende des Tischs. Der Bauer war das einzige Mannsbild; es gab wohl keinen Knecht auf dem Hof. Er faltete die Hände und sprach das Tischgebet.

Herr, segne uns und diese Gaben, die wir von deiner Güte empfangen haben, durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Dann griff er nach seinem Löffel und deutete mit dem Stiel auf mich. »Das ist die Dora.«

Alle sahen auf. Wie Kühe die Köpfe heben, wenn ein Fremder den Stall betritt.

»Und das ist die Kreszentia.« Der Bauer zeigte auf das Weib neben der Cecilia. »Die beiden sind meine Schwestern.« Die Kreszentia lächelte, so, wie die Cecilia mich vorher in der Küche angelächelt hatte, dümmlich. Ich schätzte beide auf ungefähr dreißig Jahre. Sie waren also alte Jungfern, wenn sie auf dem Hof ihres Bruders lebten.

»Und das …«, der Bauer schwenkte seinen Löffel, so dass der Stiel auf die Magd zeigte, »… das ist die Josefine.«

Sie verzog keine Miene. Sie war nicht viel größer als ich und schlank, sie hatte ein hübsches Gesicht, doch sie starrte grimmig auf den Teller vor sich und schöpfte ihn voll Suppe, ohne einmal aufzusehen. Schließlich schob sie die Schüssel der Kreszentia hin, die nahm sich und schob sie weiter. Als sie bei mir ankam, war sie beinahe leer. Ich nahm von den Schupfnudeln und aß hastig. Die Bäuerin brach ein Stück Brot ab, der Bauer schnitt ein Stück Käse vom Laib und steckte es in den Mund. Alle kauten, niemand sprach, alle hatten Hunger.

Nach dem Essen fuhr sich der Bauer mit dem Ärmel über die Lippen, steckte seinen Löffel in den Lederriemen unterm Tisch, wischte die Hände an den Hosen ab und sprach noch ein Gebet.

Wir danken dir, Herr, Gott, himmlischer Vater, dass du uns Speis und Trank gegeben hast. Amen.

Alle standen auf und ich half der Magd abtragen.

»Bring den Most in die Speis«, sagte sie, als ich den Krug auf den Sims stellte.

Ich trug den Krug in die Speisekammer.

»Überall Staub und Ruß«, schimpfte die Magd, während ich Töpfe schrubbte, und wischte Schmutz fort, der gar nicht da war.

Ich sagte nichts.

Später stieg die Bäuerin mit mir in den ersten Stock. Zwei Betten standen in der Kammer, neben jedem ein Nachtschränkchen. An der Stirnseite ein Bauernschrank mit breiten Türen, eine stand offen. Ein Nachttopf. Ein Herrgottswinkel.

»Dort schläft die Josefine.« Die Bäuerin deutete auf das Bett an der gegenüberliegenden Wand.

Ich stellte meinen Koffer ab. Beide Betten waren an den Kopfenden verziert, ebenso die Türen der Nachtschränke. Jede Matratze war so breit wie die, die ich daheim mit meinen Schwestern geteilt hatte. Durchs Fenster sah man hinunter auf den Hof, die Linde, die sich im Wind wiegte. Ein Gockel krähte.

»Die Schwestern vom Bauern schlafen nebenan. Sie werden dir ein Laken und eine Decke geben.«

»Danke.« Ich setzte mich auf den Rand meines neuen Betts.

»Es wird dir bei uns gefallen.« Die Bäuerin lächelte, und wieder dachte ich an einen Weiher im Wald, als ich in ihre Augen sah. Mein Hals schnürte sich zusammen. Etwas in meiner Brust drückte. Dann schrie irgendwo das Baby und die Bäuerin ging und zog die Tür hinter sich zu.

Minutenlang saß ich dort, horchte auf die fremden Geräusche im Haus. Ich dachte an den Sepp, der nun auf meinem Kopfkissen schlief. An die Mama, die ihre Älteste nicht mehr bei sich hatte. An den Papa, der um diese Zeit wie jeden Tag in den Stall ging, den Kühen geweihtes Wasser auf die Stirn spritzte und ihnen eine gute Nacht wünschte.

Ich stand auf und trat ans Fenster. Draußen war es dunkel. In der Dunkelheit erkannte ich eine Säge und einen Stapel Holz unten auf dem Hof. Der Spitz kläffte, und eine Elster schrie. Ich wandte mich um und kniete vor dem Herrgottswinkel nieder. Ich betete ein Vaterunser für die Mutter und eins für den Vater, eins für meine Geschwister. Eins für die Tiere daheim. Eins für die Bäuerin und den Bauern und dass es gutgehen möge auf diesem Hof.

Ich faltete grad meine Wäsche und hängte mein Kleid in die leere Hälfte vom Schrank, als die Magd hereinkam. Ihr Blick streifte mich, sie schnaubte leise. Ich hielt inne. Als sei ich nicht da, schlüpfte die Josefine aus ihren Schuhen, band ihre Schürze auf, zerrte das Kopftuch von ihren Haaren und warf es auf das Nachtkästchen. Sie schlug die Decke zurück, löschte die Lampe und stieg halb angezogen, wie sie war, ins Bett. Ich schloss die Schranktür, schob meinen Koffer unters Bett und kroch unter meine Decke.

Kurze Zeit später hörte ich leises Schnarchen.

 

»Heut geh ich Mist ausbringen und du hilfst, Dora«, sagte der Bauer am nächsten Morgen nach dem Frühstück. Die Josefine lachte leise.

»Freilich«, antwortete ich. »Mir ist jede Arbeit recht, die getan werden muss.« In der Früh hatte ich den Ofen und den Herd gefeuert, gemolken, gefüttert, gemistet und die Kühe geputzt.

Im Hausgang stand eine Bank und darunter lagen Schuhe, manche achtlos hingeworfen, manche dreckverkrustet. »Zieh die an«, sagte die Cecilia und deutete auf ein Paar Holzpantinen. Ich schlüpfte hinein. Sie waren viel zu groß.

»Kleinere haben wir nicht«, kicherte die Kreszentia.

»Ist schon recht«, antwortete ich schroff, band mein Kopftuch um und ging hinaus. Ich lief über den Hof. Bei jedem Schritt rutschte ich aus den Pantinen. Die Schwestern standen in der Tür und lachten, doch ich scherte mich nicht darum und lief ums Haus herum. Der Himmel über den Wiesen war blau wie Enzian, nirgendwo eine Wolke. Ein sanfter Wind wehte, und Spatzen tschilpten. Ich atmete tief ein; zum ersten Mal, seit der Winter vorüber war, roch man den Frühling.

Hinterm Haus wartete der Bauer. Auch er trug seine ältesten Kleider und Holzpantinen, hohe Ledergamaschen schützten seine Beine. Er hatte einen Wagen, der nur aus einem Brett als Ladefläche und zwei Planken an der Seite bestand, neben den Misthaufen gefahren. Mist aufladen war Arbeit für Mannsbilder, doch ich griff nach einer Mistgabel, stach in den dampfenden Haufen und wuchtete eine Ladung nach der anderen auf den Wagen. Das Stroh war nass und schwer. Es stank. Doch man gewöhnte sich an den Geruch.

Der Bauer sah zu.

Er schien überrascht, als ich aufsah, doch ich wandte den Blick rasch wieder ab und schaffte weiter. Als der Wagen voll war, schlug ich von allen Seiten mit einer Schaufel gegen den Mist, patschte ihn fest, so dass nichts von der kostbaren Fracht herunterrutschte. Der Bauer spannte ein. Ich legte den Kopf in den Nacken und streckte den Rücken.

»Was ist los?«

»Nichts, passt schon.«

»Sicher?«

»Freilich.«

Der Bauer schnalzte und trieb die Gäule an. Ich lief hinterher und gab mir Mühe, nicht bei jedem Schritt aus den Holzpantinen zu rutschen. Auf dem Nachbarhof flatterte Wäsche im Wind, und ein Hund jagte kläffend einen Gockel die Einfahrt hoch. Kinder winkten, und drüben am Waldrand graste eine Herde Schafe.

Draußen auf dem Acker lud ich den Mist ab, türmte alle paar Schritte einen Haufen auf, lief Reih um Reih auf und ab und lockerte sie mit der Mistgabel. Ich streute den Dünger aus, bis überall eine feste Decke auf der vor kurzem geeggten Erde lag. Der Bauer lehnte am Wagen und sah zu.

»Ist es recht so?«, fragte ich.

Er nickte. Er schien nicht unzufrieden, doch in seinem knochigen Gesicht war schwer zu lesen.

»So hab ich’s daheim mit dem Vater gemacht.«

Der Bauer nickte wieder, zog sein Taschentuch hervor und schneuzte sich.

Stur zog ich weiter meine Reihen. Die Erde war noch feucht vom Regen am Vortag, immer wieder blieb ich mit den Holzpantinen stecken. Einen Moment überlegte ich, sie einfach auszuziehen; doch der Geruch würde tagelang nicht vergehen, wie oft ich auch die Füße wusch. Die Josefine würde sich aufregen. Der Gedanke machte mir eine heimliche Freude, doch ich besann mich. Wir würden uns zusammenraufen müssen.

Auf dem Weg zurück zum Hof zog der Bauer einen kleinen Krug mit einem Zinndeckel aus seiner Tasche. Er klappte ihn hoch und nahm einen Schluck. Dann reichte er ihn mir. Der Most war gut, kühl und frisch. Ich leckte mir die Lippen.

»Selbst gemacht«, sagte der Bauer und ließ den Deckel zuschnappen.

Als wir die vierte Wagenladung Mist fuhren, stand die Sonne hoch am Himmel. Fliegen umschwirrten uns und die Gäule schlugen mit ihren Schweifen. Am Nachmittag, als wir die neunte Ladung ausbrachten, sagte der Bauer: »Streu du den Mist, ich hol unterdessen die nächste Fuhre.«

»Ich kann mit aufladen.«

»Ist schon recht.« Der Bauer schnalzte und die Gäule setzten sich in Bewegung. Ich stach mit der Gabel in den Mist und häufelte und streute, bis mir Hände und Rücken brannten.

Am Abend hatten wir vierzehn Fuhren auf den Äckern ausgebracht und der Misthaufen war noch immer riesig. »Wenn wir übermorgen fertig sind«, sagte der Bauer, »musst du Kartoffeln setzen.« Dabei musterte er mich wie eine kranke Sau.

Ich rieb mir den Rücken und nickte.

Blick vom Futscher-Hof hinüber nach Ottmannshofen

In der Küche rümpfte die Josefine ihre Nase. Sie hieß mich Mehl und Schmalz aus der Speis holen und schickte mich im nächsten Moment fort, es wieder zurückzutragen. Sie hieß mich den Herd putzen, obwohl er blinkte. Ich war müde und wollte grad etwas sagen, da baute sie sich vor mir auf und maß mich mit scharfem Blick. »Du hast zu gehorchen. Auf diesem Hof bin ich die Obermagd.«

Ich nahm einen Lumpen und putzte den Herd ein zweites Mal.

 

Am Sonntag richteten sich die Bäuerin, der Bauer und seine Schwestern für die Prozession. »Kommst mit, Dora?«, fragte die Bäuerin.

»Freilich.« Ich trug bereits mein Sonntagskleid, und meine Schuhe waren frisch gewichst. Gemeinsam liefen wir ins Dorf hinauf. Die Kirche war klein und schmucklos, eine niedere Mauer umgab sie, hinten grenzte der Friedhof an. In der Messe las der Pfarrer die Passion und segnete die Palmkätzchenzweige, die die Frauen mitgebracht hatten. Auch ich ließ einen segnen. Beim Hinausgehen füllte ich ein wenig geweihtes Wasser in eine Flasche.

Gleich nach dem Gottesdienst lief ich die drei Hügel hinab, bog am Spital ab, lief die Marktstraße hinunter bis zum Hotel Post, vorbei am Friedhof und die vier Kilometer zur Stadt hinaus und hinüber nach Herlazhofen. Dort traf ich eine Tante. »Grüß dich, Dora, wie ist es auf dem neuen Hof?«

Ich winkte, eilte weiter und rief: »Ist schon recht!«

An der Dorfstraße nahm ich den Weg hinaus zur Mühle. In der Früh hatte es geregnet, noch immer war die Luft feucht und die Erde roch würzig, doch je weiter ich lief, desto blauer wurde der Himmel, bis nur noch ein paar Wolkenstreifen am Horizont hingen. Das Gras leuchtete satt, und in der Ferne hörte ich das Geläut von Kuhglocken wie eine vertraute Musik. Ich lief an der Mühle vorbei, über den Bach in den Wald hinein. An der Gabelung, wo ein verwittertes Schild den Weg in die Viehweid wies, klopfte mein Herz. Als ich dem Weg am Ostufer des Hinterweihers entlang folgte und die sanft geschwungenen Wiesen sah, die Höfe, die sich in die Mulden schmiegten, war mir, als wäre ich sehr lange fort gewesen.

Am Wegkreuz lagen wieder frische Blumen, und Blaumeisen pickten in der Erde. Ich lief schneller, hüpfte und sprang über Pfützen, bis ich schließlich um die Kurve bog und vor meinem Elternhaus stand.

Der Papa saß auf der Bank vorm Haus und rauchte eine Zigarre.

Als er mich sah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er stand auf und rief die Mama, ihre Hände waren voller Mehl, als sie mich in die Arme schloss.

Die Frida sprach ein Gebet und der Sepp fragte: »Willst du jetzt dein Kopfkissen zurück?« Ich zog ihn an den Ohren.

Die Mama stellte meinen Palmzweig in die Vase im Herrgottswinkel. »Möge er das Haus und seine Bewohner vor Unheil schützen.« Sie schlug ein Kreuz, ich tat es ihr nach.